the greatest P... von ling-thesnarf ================================================================================ Kapitel 2: last christmas I gave you my heart --------------------------------------------- Last Christmas I gave you my heart Ein halbes Jahr später hatte sich Josh wieder etwas gefangen. Als Anwalt hatte er immerhin die Möglichkeit seine persönlichen Probleme in Arbeit zu ertränken. So konnte er sich vormachen, dass seine Schlafstörungen Stress bedingt waren. Aber als er sich am Heiligabend des Jahres 2009 in einer Fernseh- Diskussionsrunde wieder fand, kamen ihm leichte Bedenken. So sollte man Weihnachten nicht verbringen. Ironischerweise war das Thema der Diskussion „Die Entwicklung der modernen Familie“. Man hatte Josh dazu gebeten, da sich seine Kanzlei mit Ehe- und Familienrecht befasste und er vielleicht etwas dazu beitragen könnte. Die Talkmasterin hatte ihn vorher augenzwinkernd gebeten sich doch mit den krassesten Scheidungs- und Sorgerechtsstreits zurückzuhalten, schließlich wäre ja Weihnachten- Joshua war sich nicht ganz sicher, ob das ein Scherz gewesen war. Die anderen in der Runde waren eine Sozialarbeiterin, eine allein erziehende Mutter, ein Familienberater und ein Senator. Letzterer war ganz offensichtlich von einer traditionellen, gottesfürchtigen, amerikanischen Familie überzeugt. Er war Anfang fünfzig, weiß, hatte eine Halbglatze und nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen war er der typische Hobby-Faschist. Und außerdem der einzige, der außer Josh im Anzug aufgekreuzt war. Josh schlug nervös die Beine übereinander und drehte Däumchen. Die Mutter sieht dich an als wärst du der Antichrist, dachte Josh unbehaglich, während er in seinem Gedächtnis danach kramte, ob jemand aus seiner Kanzlei ihre Scheidung versiebt- oder ihren Mann vertreten hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Die Sozialarbeiterin, eine resolute, schwarze Lady mit einer randlosen Brille, hingegen musterte ihn fast mitleidig. Josh konnte schon immer gut ahnen, ja fast schon wissen, was andere fühlten, und sie wahr eindeutig der Meinung, dass er als trockener Theoretiker doch keine Ahnung hatte, was Familie wirklich bedeutete. Der Familienberater hatte nur Augen für die Moderatorin, mit der er gerne selbst eine Familie gründen würde, und würdigte die anderen kaum seiner Aufmerksamkeit. Was der Senator dachte, wollte Josh gar nicht wissen. Worauf habe ich mich hier nur eingelassen? Es fing eigentlich ganz gut an. Die Moderatorin stellte dem Publikum ihre Gäste vor und gab dann eine kurze Einleitung zum Thema Familie. Sie gab sich sehr natürlich und sprach von ihren eigenen Vorstellungen, der Senator nickte zufrieden. Das wiederum brachte die Sozialarbeiterin dazu etwas von der Realität zu erzählen, wobei sie sich jedoch kurz fasste. Die Moderatorin wandte sich dann an Joshua, der fast ohne nachzudenken die Scheidungsstatistiken zum Besten gab. Dann fragte sie den Familienberater nach den Gründen für diese Entwicklung; Josh bekam nur noch vage Wortfetzen wie „Entfremdung“, „Alltagsstress“ und „mangelndes Interesse“ mit. Warum war er hier? Was sollte jemand zum Thema Familie sagen, auf den zu Hause nur ein leeres Bett erwartete, in dem er sich auch heute Nacht nur wieder schlaflos hin und her wälzen würde? Er hoffte nur, dass das hier schnell und reibungslos zu Ende ging. Doch das tat es natürlich nicht. Nach der Rede des Familienberaters fing die Mutter an zu lachen. „Sie haben was vergessen.“, sagte sie, „Der Mann entscheidet sich plötzlich schwul zu werden und lässt seine Frau für einen achtzehnjährigen Bengel sitzen.“ Einige Lacher hallten durchs Publikum, gemischt mit mitleidigem Tuscheln und verachtendem Kopfschütteln. Der Senator fuhr wie von Schlag getroffen zu der Frau herum. „Das ist ja unfassbar!“ Er sah sie mitfühlend an. „So etwas kann ich einfach nicht verstehen.“ Josh widerstand der Versuchung tiefer unter den Tisch zu rutschen, an dem sie saßen. Nein, keine Homo-Debatte! Dazu war er jetzt absolut nicht in Stimmung. Dummerweise war das eine Gesprächsrichtung, die die Moderatorin vorausgesehen und auf die sie sich vorbereitet hatte. Im Publikum waren schon mehrere Leute aufgestanden, die dazu etwas sagen wollten. Die Moderatorin holte eine Frau nach vorn, wo sie sich an einen Pult stellte, das mit einem Mikro versehen war. „Also zunächst, Ma’am, es tut mir leid, was ihnen passiert ist. Aber glauben Sie, dass man glücklich werden kann, wenn man eine solche Neigung geheim hält?“ Hatten die vor Joshs Leben auszuwerten? Genauso kam es ihm vor. Die Mutter kam gar nicht zum antworten. Stattdessen meldete sich der Senator zu Wort: „So etwas sollte man sich gefälligst vorher überlegen! Eine Ehe ist etwas Heiliges, was man nicht für eine plötzliche Neigung wegwerfen kann!“ Wer hatte den Kerl bloß eingeladen? War er betrunken, oder warum sagte er so etwas in der Öffentlichkeit? Andererseits war Josh ziemlich sicher, dass ein Großteil der Bevölkerung, gerade der Älteren, diese Ansicht teilte. Die Frau am Pult lächelte. „Gut, andere Frage, Senator… Paxton? Ja. Was halten sie von Homo-Ehen?“ Paxtons Kiefer spannten sich. „Ha. Homo-Ehen. Eine Modeerscheinung.“ „Eine Freundin von mir ist lesbisch und ist seit zwei Jahren verheiratet. Für sie ist das keine Modeerscheinung!“ Kopfschüttelnd beugte sich der Senator vor. „Hat Ihre Freundin Kinder?“ „Ja. Eine Tochter.“ „Aha. Und haben Sie eine Ahnung, was es für ein Kind bedeutet, in solchen Verhältnissen aufzuwachsen?“, fragte er, doch er ließ sie nicht antworten, „Es ist erwiesen, dass Kinder einen Vater brauchen. Wie soll sich ein Mädchen denn richtig orientieren, wenn ihr die Vaterfigur fehlt? Und in der Schule? Kinder von Homosexuellen sind permanent dem Spott ihrer Mitschüler ausgesetzt. Auch das ist hinlänglich bekannt.“ Volltreffer. Die Frau am Pult wich dem Blick des Senators aus; er hatte einen wunden Punkt getroffen. Die Moderatorin schaltete sich wieder ein. Sie dankte der Frau und fragte, ob noch jemand etwas dazu sagen wollte. Das Pult wurde von einem jungen Mann eingenommen, dessen einziges Ziel es anscheinend war, einmal ins Fernsehen zu kommen. „Ja, also ich kann mit dem Senator nur anschließen. Das war echt Scheiße von Ihrem Mann, Ma’am. Also diese Schwuch-… ähh… Homosexuellen, das… ich meine, auch wegen Gott!“ Josh bedeckte die Augen mit der Hand und rieb sich die Schläfen, ihm war egal, ob das arrogant wirkte, bei dem Kerl da vorne bekam er Kopfschmerzen. Menschen wie er waren für Josh ein Grund sehr vorsichtig mit einem Out-coming zu sein. Sogar Paxton war das zu dumm. „Junger Mann, wir sollten es doch bitte bei konstruktiver Kritik belassen.“ „Ja, sonst liegt spätestens Morgen eine Sammelklage beim Sender vor.“, murmelte Josh ohne aufzusehen, doch trotzdem hatten ihn alle gehört. „Danke, Mr. Bennet.“, sagte die Moderatorin und komplimentierte den Gast zurück ins Publikum, „So, eine letzte Meinung vielleicht?“ „Vielleicht mal jemand, der betroffen ist, Madame!“, rief jemand aus dem Publikum. Josh schreckte hoch. Er kannte die Stimme. „Ihr erster Besuch in so einem Etablissement?“ Die Worte klangen ihm noch immer in den Ohren und allein bei der Erinnerung an diesen Abend schoss ihm das Blut in den Kopf- dunkle Haut war wirklich sehr praktisch-, allerdings bei dem Gedanken daran, Jerry jetzt wieder zu sehen, wurde ihm eiskalt. Die Moderatorin jedoch ergriff diese Chance natürlich und winkte den Zwischenrufer hinunter. Josh wagte sich kaum hinzusehen, stattdessen senkte er den Blick und linste zu Paxton hinüber. Dessen Hals war verdächtig rot angelaufen und seine Zähne hatten angefangen zu malmen. War Jerry etwa in einem Minirock aufgetaucht? Es half nichts, das war kindisch, Josh wusste, dass er hinsehen musste. Vorsichtig, fast ängstlich lugte er nach oben. Hallo! Jerry sah heute erheblich weniger freakig aus als bei ihrem ersten Treffen. Er war beim Frisör gewesen, denn seine dunklen Haare waren zwar immer noch leicht gelockt, aber er trug sie jetzt sauber nach hinten gekämmt. Zu diesem hohen Anlass hatte er sich ein Jackett geborgt- es war an den Ärmeln zu kurz. Im Ganzen sah er wie ein rechtschaffener, aber offensichtlich schwuler, Bürger aus. Seine blauen Augen musterten die Versammlung. Bei Josh blieb sein Blick länger haften- er erkannte ihn auch. Doch dann wandte er sich wieder dem Gespräch zu. „Ich glaube die erste Frage der Lady vorhin wurde nicht beantwortet. Hätte es Ihnen besser gefallen, wenn Ihr Mann, sie wegen seiner Neigung belogen hätte, Madame?“ Er stellte die Frage ganz ruhig, ohne die geringste Provokation. Wieder wollte der Senator etwas sagen, doch Jerry schnitt ihm das Wort ab: „Ich habe nicht Sie gefragt, Sir.“ Paxton sah daraufhin ganz offensichtlich wütend aus und spießte Jerry förmlich mit Blicken auf. Jerry konzentrierte sich jedoch völlig auf die Mutter. Die Frau senkte den Blick. „Ich weiß, dass es nicht gut gegangen wäre.“, gestand sie, „Aber die Kinder brauchen doch ihren Vater! Was soll ich ihnen denn sagen?“ „Wie wäre es mit der Wahrheit?“, fragte Jerry. „Die Wahrheit?“ „Ja, ich meine… wäre es etwas anderes, wenn er sie für eine andere Frau verlassen hätte?“ Sie zuckte die Achseln. „Irgendwie schon.“ „Nein, das ist es nicht!“, sagte Jerry entschieden, „Es kommt Ihnen so vor, weil es vielleicht… häufiger passiert. Aber das Hauptproblem ist doch, dass Ihre Kinder mit der Trennung fertig werden müssen. Sie sollten Ihre Kinder lieber dabei unterstützen und nicht darauf herumreiten, dass es ein Mann war, für den er Sie verlassen hat.“ „Nicht darauf herumreiten?“, rief Paxton dazwischen, er klang fassungslos. „Ja.“ Jerry suchte gestikulierend nach Worten. „Es wäre für uns alle vielleicht einfacher, wenn wir nicht so eine große Sache daraus machen würden und-…“ „Ihr macht doch selber eine große Sache daraus!“, fuhr ihm Paxton dazwischen, „Euer komisches Getue ist derartig aufdringlich! Und Ihr müsst immer gleich allen auf die Nase binden… was ihr seid.“ Josh sah unauffällig an sich hinunter. Ob man es ihm auch ansah? Er schlug das Bein wieder herunter. Das war eh ungesund. Auch Jerry widmete sich kurz seiner eigenen Erscheinung. „Also ich finde mich nicht aufdringlich. Vielleicht haben Sie nur ein Auge dafür.“ Er grinste unverschämt. Begeistertes Gegröle ging durch das Publikum. Paxton fand das nicht lustig, er schwoll vor Wut fast an. „Genau das meine ich!“, rief er, „Ihr Tunten könnt es einfach nicht lass-…“ „Sammelklage!“, rief Josh ihm ins Gedächtnis, „Das war eindeutig Diskriminierung.“ Mit funkelnden Augen drehte sich Paxton zu ihm um. „Jetzt fallen Sie mir in den Rücken? Sind Sie etwa auch so einer?“ „Hey, lassen Sie ihn da raus!“, rief Jerry dazwischen, doch Josh brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. „Eben haben Sie noch von konstruktiver Kritik gesprochen, Mr. Paxton, also bitte. Außerdem kann ich Ihnen nicht in den Rücken fallen, ich habe mich schließlich nie auf Ihre Seite gestellt.“ „Verdammte Anwälte!“ Jerry fing an zu lachen. „Ach, jetzt haben Sie was gegen Anwälte?“ Paxton sprang auf. „Das macht mich krank! Es gab mal Zeiten, da hätte man keinem von euch beiden das Wort erteilt! Der eine ne Schwuchtel, der andere ein Ne-…“ „Jetzt halten Sie mal die Luft an!“, rief Josh dazwischen. Augenblicklich fing Paxton an zu Husten und nach Atem zu ringen, so dass er sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ. Josh schluckte. Wieso taten die Leute immer, was er sagte? Jerry warf einen kurzen irritierten Blick in Joshs Richtung, doch dann konzentrierte er sich wieder auf sein Opfer. „Alors, Mr. Paxton, ich will diese fruchtbare Diskussion nicht weiter aufhalten. Doch noch ein Wort zum Abschluss…“ Mit zwei schnellen Schritten war Jerry von dem Pult herunter. Die Moderatorin war so verblüfft, dass sie nicht protestierte, als er ihr das Micro aus der schlaffen Hand nahm. Mit einem zuckersüßen Lächeln baute sich Jerry vor Paxton auf, der sich gerade halbwegs wieder beruhigt hatte. „Für jemanden, der andere dafür verurteilt, dass sie zeigen, dass sie schwul sind, sind Sie verdammt aufdringlich in der Art und Weise zu zeigen, dass Sie es nicht sind.“ Er tippte dem Senator spöttisch mit dem Mikro auf den Kopf, dann beugte er sich noch ein Stück vor und flüsterte Paxton etwas ins Ohr. Josh konnte gar nicht so schnell gucken, wie Jerry zurück sprang und Paxton ihm mit Zorn verzerrtem Gesicht nachsetzte. Bevor der Senator ihn jedoch in die Finger bekam, griff Jerry in seine Brusttasche und zog etwas heraus. Ein elektronisches krack ertönte und was immer Jerry in der Hand gehabt hatte verschwand wieder dort. „W-was?“, murmelte Paxton, der mitten in der Bewegung inne gehalten hatte. Josh stand auf und ging fast gemächlich zu Paxton hinüber. „Das ist wahrscheinlich das Ende Ihrer Karriere, Senator.“, murmelte er, wobei er ihn aber keines Blickes würdigte. Obwohl ihm nicht ganz klar war, wieso, hatte er nur Augen für Jerry. Der klemmte die Daumen in seine Hosentaschen und grinste triumphierend vor sich hin, wo er doch lieber gehen sollte. „Entschuldigen Sie mich.“, sagte Josh zu der Moderatorin und löste sich aus seiner Verkabelung. Die Frau nahm sein Mikrophon entgegen, wobei sie ihn ironisch anlächelte. „Sie haben ganze Arbeit geleistet, Mr. Bennet.“ Josh nickte ihr und den anderen Gästen zum Abschied zu. Die Mutter und der Familienberaterstarrten ihn nur mit offenem Mund an. Die Sozialarbeiterin blickte zwischen ihm und Jerry hin und her, woraufhin sich ihr Mund zu einem breiten Lächeln verzog. Jerry und Josh stiegen zusammen die Treppe zwischen den Sitzen des Publikums hinauf und verschwanden durch die Tür. Hinter ihnen fingen alle an zu pfeifen und zu klatschen. Talkshows! Jerry grinste immer noch als sie das Studio verließen. Er atmete die eisige Nachtluft ein, die ihn noch zusätzlich zu beleben schien und wippte auf den Fußballen bis Josh, der etwas langsamer war, neben ihm ankam. „Haben Sie Hunger?“, fragte Jerry bevor Josh Gelegenheit hatte, sich unter einem Vorwand aus dem Staub zu machen. Nach dem, was da drin passiert war, hatte Josh das untrügliche Gefühl, dass Jerry ein etwas fragwürdiger Umgang war. Genauer gesagt war er genau der Typ Mensch, den ein seriöser Anwalt normalerweise mied, und die Tatsache, dass Josh, wenn er ganz ehrlich war, sich noch nicht von Jerry trennen wollte, beunruhigte ihn. „Ja, schon.“, antwortete Josh ohne darüber nachzudenken. Ein triumphierendes Leuchten erschien in Jerrys Augen. „Verdammt, wie lange sind Sie nicht mehr bei McDonald’s gewesen?“ Mitleidig beobachtete Jerry Joshua dabei, wie er mit wachsender Verwirrung die Anzeigetafeln studierte. Sie waren in einem McDonald’s Restaurant gleich gegenüber vom Studio. Das Angebot überzeugte Josh nicht gerade davon, dass es das wert gewesen war, sich bei der Überquerung einer sechsspurigen Straße beinahe überfahren zu lassen. Normalerweise aß er in anderen Etablissements. „Christmas Double Tasty.“, las er die Bezeichnung unter einem fett aussehenden Burger gigantischen Ausmaßes, dessen elektronische Anzeigetafel mit Plastiktannenzweigen dekoriert war, „Ich glaube nicht, dass das koscher ist.“ „Es ist Rindfleisch aus kontrolliert chemischem Anbau.“, sagte Jerry ungeduldig, „Eiern Sie nicht so rum.“ Entschlossenen Schrittes ging Jerry zum Tresen, hinter dem ein griechisch aussehender Junge mit Weihnachtsmannmütze stand. „Hey, Nikos.“ „Hey, Jerry.“ Josh horchte auf. Die Typen im Kino, der Junge bei McDonald’s, wen kannte Jerry eigentlich nicht? Unauffällig musterte Josh den Bengel, den Jerry Nikos genannt hatte. Schwul. Ganz sicher. Tadellose Frisur, gezupfte Augenbrauen, goldener Ohrring und er kannte Jerry. Schwul. „Zwei Cheeseburger… nein, drei. Pommes, medium, und eine große Cola, bitte.“, bestellte Jerry mit Kennermiene, wahrscheinlich kannte er die Karte auswendig. Nikos tippte die Bestellung in die Kasse und warf dabei einen Blick auf Josh, der sich immer noch bei dem Christmas Double Tasty herumdrückte. „Der sieht chicer aus als die Typen, mit denen du sonst hier warst. Wo hast du ihn aufgerissen?“ „Aufgerissen?“, wiederholte Josh fassungslos. Jerry funkelte den Jungen an, der zufrieden mit der Wirkung seiner Worte zurückgrinste. „Es tut mir Leid, Mr. Bennet. Nikos ist manchmal etwas… hast du nichts zu tun?“ Die letzten Worte galten Nikos, der sich erinnerte, dass er ja hier arbeitete, und Jerrys Bestellung zusammen sammelte. Mit möglichst würdevollem Gesicht trat Josh nun auch an den Tresen zu dem Mädchen, das die andere Kasse bediente. „Dieses Christmas- Ding da und einen Kaffee, bitte.“ Die Kleine unterdrückte ein Lächeln und wandte sich rasch der Kaffeemaschine zu. Bennet entdeckt die Welt, dachte Josh. Er war schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr bei McDonald’s gewesen. Hätte Jerry ihn nicht so überrumpelt, hätte er sich geweigert hierher zu gehen. Und jetzt hielt ihn dieser Nikos auch noch für Jerrys… was auch immer. Geh bloß nicht mit irgendeinem Kollegen hier her! „Ist Arthy nicht sauer, dass du Weihnachten arbeitest?“, fragte Jerry und fummelte sein Geld aus der Brieftasche. Nikos seufzte. „Nee, der muss auch arbeiten. Aber ich hab bald Feierabend, er müsste dann auch zu Hause sein. Und dann… feiern wir beide Weihnachten.“ Der Ton seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, wie sie dieses heilige Fest zu zelebrieren gedachten. Natürlich konnte es sich der Junge nicht verkneifen dabei zwischen Jerry und Josh hin und her zu schielen. Bevor auch noch ein peinlicher Kommentar folgte, schnappte sich Jerry sein Tablett und dirigierte Josh in den hinteren Teil des Restaurants, wo sie vom Tresen aus nicht zu sehen waren. Eigentlich hatte Josh erwartet, dass es gähnend leer sein würde, immerhin war Heiligabend, aber an einigen Tischen saßen allein oder zu mehreren doch ein paar Leute. Jemand hatte sich außerdem große Mühe gegeben, alles festlich zu dekorieren. Panisch suchte Josh die Decke nach Mistelzweigen ab –das hätte ihm gerade noch gefehlt-, doch da war nichts. Sie setzten sich an einen Viersitzer an der Wand, so dass sie einander gegenüber saßen. Als sie gerade Platz genommen hatten, hörten sie das Lied. „Last Christmas I gave you my Heart....” „Dieser kleine Wichser.”, murmelte Jerry. „Wer? George Michael?“ „Nikos. Der Mann am CD- Player. Ich hasse dieses Lied.“ „Ich mag es.“, meinte Josh beiläufig. Natürlich war ihm Nikos’ Anspielung mit diesem Lied nicht entgangen, aber er hatte beschlossen, sich nicht ärgern zu lassen. Stattdessen widmete er sich einem wirklichen Problem: Der Christmas Double Tasty. Die Serviette griffbereit, klappte er erst den Pappdeckel und dann die obere Hälfte des Burgers nach oben. Da war er: Schinken. Mit der Serviette schnappte er sich die beiden Scheiben, wickelte sie ein und legte sie in die Ecke des Tabletts. Dann nahm er die zweite Serviette, mit der er den Burger in die Hand nahm. Wie beiße ich da jetzt rein? Jerry war der Mund aufgeklappt. „Können Sie auch was unkompliziert machen?“ „Schinken ist nicht koscher.“ „Sie haben das ernst gemeint? Sind Sie Jude?“ Das schien Jerry doch sehr unwahrscheinlich vor. „Im Prinzip bin ich Jude.“, sagte Josh genervt. War das so unvorstellbar, nur weil er schwarz war? „Na ja, mein Pa ist Jude.“ „Muss man nicht eine jüdische Mutter haben, um Jude zu sein?“, fragte Jerry, „Oder sind Sie konvertiert?“ „Ich bin nicht konvertiert, aber ich versuche mit trotzdem an bestimmte Richtlinien zu halten.“ Doch sein Vater wäre bestimmt nicht begeistert davon, ihn hier zu sehen. Sein alter Herr hatte um Fastfood- Läden immer einen großen Boden gemacht. Ohne Jerry weiter zu beachten, fing er an umständlich am Rand seines Burgers entlang zu knabbern. Die beiden gaben ein sehr komisches Bild ab: Auf der einen Seite Joshua mit seinem aufgeräumten Tablett, der vorsichtig diesen übergroßen Burger zu sich nahm, und auf der anderen Seite Jerry, der demonstrativ das Papier seiner Cheeseburger auf dem ganzen Tablett verteilte und, ohne die Serviette auch nur zu beachten, beherzt anfing zu essen. Nach Jerrys Berechnung könnte er es durchaus schaffen die drei Cheeseburger zu essen, bevor Josh mit Christmas Double Tasty fertig war. „Sie wissen, dass das absolut kindisch ist?“, fragte Josh zwischen zwei Bissen. Jerry blickte ertappt auf, gab dann aber ein aufforderndes Geräusch von sich und aß weiter. Josh versuchte erst noch dagegen anzukämpfen, doch dann ließ er alle Vorsicht fahren und aß den Burger, wie es sich gehörte. Jerry war trotzdem schneller. Nach diesem Akt höchster Anstrengung ließen sich beide stöhnend zurück sinken und hielten sich die Bäuche. „Ist mir übel.“ „Ich kotz auch gleich.“ Beide fingen an zu prusten, obwohl das ihrer Magentätigkeit nicht besonders förderlich war. „Wieso hast du Paxton fotografiert?“ Jerry zog grinsend die kleine Kamera aus der Tasche. „Mh. Für dich war ich nicht schnell genug.“, murmelte er, „Kennst du die Zeitschrift Factory? Wahrscheinlich nicht; ist eine Klatschzeitschrift. Die machen eine Serie über mehr oder weniger berühmte Leute in peinlichen Situationen. Die haben mich auf Paxton angesetzt.“ Josh nippte an seinem Kaffee- er war fast leer. „Dann bist du Fotograph?“ „Qui. Mal für Zeitungen, aber auch Privatpersonen- Hochzeiten und so.“ Er drehte die Kamera zwischen den Fingern, so dass der Schriftzug Sony aufblitzte. „Ja, dafür habe ich den kleinen Japaner. Ein echter Killer.“ Das Restaurant begann sich nun doch zu leeren. Ab und an kamen noch Nachtschwärmer herein und nahmen sich einen Imbiss mit, außer Josh und Jerry saßen noch zwei ältere Damen in Schwarz im Raum. „Dann sollte ich mir die nächste Ausgabe dieser Zeitung wohl besorgen.“, meinte Josh, „Das Bild von Paxton würde ich ganz bestimmt erkennen.“ „Ich glaube die wollen eine Kollage draus machen, aber sie geben die Namen der Fotographen an.“ „Wie heißt du eigentlich richtig? Ich meine, Jerry ist doch eine Kurzform.“ Josh fiel gerade ein, dass er keine Ahnung hatte. Da saß er hier seit einer halben Stunde mit jemandem, dessen vollen Namen er nicht mal kannte. Normalerweise war das das erste, was er wissen wollte. Andererseits war ihre erste Begegnung alles andere als normal gewesen. „Ich heiße Jeromé Montanière.“, sagte Jerry mit einem reumütigen Lächeln. Jeromé- so nannte ihn heute niemand mehr. Frankreich lag hinter ihm, Amerikaner hießen nicht Jeromé. Seine Freunde hatten es erst mit der englischen Version- Jerome- versucht, aber am Ende war doch „Jerry“ daraus geworden. „Ein schöner Name.“ Josh hatte gar nicht beabsichtigt, das laut zu sagen. Darüber, dass er es doch getan hatte, war er in etwa so erstaunt wie sein Gegenüber. „Danke.“ Jerry nahm seinen letzten Schluck Cola, wobei er Josh über den Rand des Pappbechers hinweg beobachtete. Obwohl er versuchte seine undurchdringliche Anwalt-Maske aufrecht zu erhalten, sah er irgendwie ertappt aus. Komischer Typ, dachte Jerry, obgleich ihm klar war, dass Joshua das gleiche von ihm sagen würde. Trotzdem saßen sie schon geraume Zeit hier, waren mittlerweile per du und hatten sich trotz ihrer Unterschiede einiges zu erzählen. Es hieß ja, dass sich Gegensätze anzogen- und Jerry fand seinen Fleisch gewordenen Gegensatz durchaus anziehend. Während dessen versuchte Josh das ganze zu analysieren. Er saß hier mit einem Mann, der es fertig brachte einen anderen Menschen mit seiner impertinenten Art innerhalb weniger Minuten zur Weißglut zu bringen; einem Mann, den er in einer sehr fragwürdigen Umgebung kennen gelernt hatte. Und er mochte ihn! Obwohl er schon öfters hätte verschwinden können, tat er es nicht. Stattdessen saß er hier mit eben diesem Mann in einen Pestaurant, das sein Vater nie im Leben betreten würde, und sagte Sachen wie: „Ein schöner Name.“ Josh war verwirrt, er benahm sich wie… ein verknallter Teenager. Nein! Nein! Nein! Das darfst du nicht mal denken!, schalt er sich in Gedanken. Aber wieso eigentlich nicht? Jerry sah auf seine Uhr. „Gibst du mir deine Nummer?“, fragte er gerade heraus. Josh schreckte hoch. „Was?“ „Deine Nummer.“, wiederholte Jerry grinsend, „Es ist spät und wir sind noch nicht dazu gekommen uns unsere Jugendsünden zu erzählen.“ Jugendsünden? Ehrlich gesagt zweifelte Josh daran, dass ihn das was anging, was Jerry in seiner Jugend so getrieben hatte. Merkwürdigerweise interessierte es ihn dennoch. Während sein Verstand also noch das Für und Wider abwog, hatten seine Hände schon das Mobiltelefon aus der Manteltasche gekramt. „Gut. Ich hoffe, wir hören uns bald.“, sagte Jerry und steckte sein eigenes Handy, das jetzt um eine Nummer reicher war, wieder in die Tasche, „Dann gute Nacht, Josh.“ „Nacht.“, murmelte Josh. Und er hatte das Gefühl, dass er in dieser Nacht tatsächlich gut schlafen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)