Die Geschichte von Raphael von Yossi ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Man kann nur über etwas schreiben, an das man glaubt. Ich habe einen Engel kennen gelernt. Für Steff und alle, die noch an Engel glauben können. Die Geschichte von Raphael "Das Klirren von Schwertern unterbrach die Stille. Die gläsernen Wände Yetzirahs zerbrachen, getränkt in Engelsblut. Lange noch sollte dieser grausame Krieg währen, bis die Abtrünnigen endlich kapitulierten, doch Er ließ uns erstarken." Er schaute von seinem Buch auf und betrachtete mit kindlichem Ernst in den Augen einen Teddy, der -liebevoll mit einer Schleife geschmückt- vor ihm saß, das eine Ohr ausgefranst, mit mehrfach geflicktem Fell, die Glasaugen durch zahlreiche Kratzer getrübt. "Ganz schon schlimm, dieser Krieg, nicht wahr? Mikhael sei Dank sind die Bösen jetzt alle weg. Er hat sie einfach verjagt. Mikhael ist toll, weißt du??" Er legte das Buch beiseite, aus dem er eben noch vorgelesen hatte, sprang auf, ergriff den Teddy an der rechten Pfote (was er wohl öfter tat, denn trotz einiger Nähte in den verschiedensten Farben drohte der Arm des Bären abzureißen) und rannte aus dem Zimmer. Für einen Augenblick hatte ein lautes Lachen den Raum erfüllt. Ein Lachen, wie es nur von einem sorglosen, naiven und unschuldigen Kind kommen konnte, welches gerade hinaus auf den Spielplatz zu seinen Spielkameraden stürmte. Doch noch ehe er die Türpforte überschritten hatte, verstummte er, als hätte man dem Kind einen Riegel vorgeschoben. Er sah über seine Schulter noch einmal in das verlassene Zimmer zurück. Sein Blick wanderte über ein zerwühltes, unter etlichen Kissen und Kuscheltieren begrabenes Bett, über zahlreiche Glasvitrinen, in denen die verschiedensten skurrilen Figuren standen und über einige Schränke, in denen sich dicke, verstaubte Bücher stapelten, die schein-bar seit Jahrhunderten keines Blickes mehr gewürdigt wurden. Zuletzt musterte er die Uhr, die unweit eines kleinen Marmortisches an der Wand hing. Sie hatte kein Gehäuse, so dass man in ihrem Inneren Tausende von Zahnrädern und Schrauben erkennen konnte. Über das Glas, welches zum Schutz der fragilen Zeiger diente, schlängelten sich kleine Risse, die das Ablesen der genauen Uhrzeit erschwerten, aber das war ohnehin nicht nötig - "Aber sag, wenn das gut so ist ... Wenn alles so sein soll ... Warum ... Warum tut mir dann das Herz so weh?" Denn die Uhr war stehen geblieben. Der Engel warf die zotteligen, bernsteinfarbenen Haare zurück. Jegliche Melancholie war aus seinen blassblauen Augen ge-wichen. Das Kind war wieder frei. Er warf die Tür hinter sich zu und flitzte mit seinem Teddy auf dem Arm durch die hohen, aus weißem Marmor gefertigten Gänge Yetzirahs, bis die Wand zu seiner Rechten in Pfeiler überging und er außerhalb des Gebäudes eine weite Grünfläche erkennen konnte. Ein leichter Windhauch trug den Geruch von frischem Gras und Rosen zu ihm. Seine Aufmerksamkeit blieb an einer Person hängen, die er in einiger Entfernung unter einem mäch-tigen Baum ausmachen konnte. Ohne zu zögern stürmte er auf sie zu und fiel ihr in die Arme. Nachdem die Überrannte sich aus seinem Klammergriff lösen konnte, sah sie zu ihm auf und lächelte ihn und den Teddy freundlich an. "Schön, dass du gekommen bist, Raphael. Ich fühle mich sehr geschmeichelt, dass du auch deinen Freund mitgebracht hast." Sie lächelte noch breiter, so dass ihre blütenweißen Zähne zum Vorschein kamen. Mit ihren sanften, violetten Augen sah sie dem Windengel tief in die Augen, bis sie sich zufrieden umdrehte und ihn über ihre schmalen Schultern hinweg bat, im Schatten der Weide Platz zu nehmen. Sie selbst begab sich zu einem kleinen Glastisch, auf dem feinsäuberlich ein Teeservice darauf wartete, benutzt zu werden. Raphael tat, wie ihm gesagt wurde und ließ sich ins weiche Gras fallen. Den Teddy eng umschlungen beobachtete er seine freund-liche Gastgeberin, die leichtfüßig mit zwei zarten Teetassen auf ihn zukam. Feiner Dampf stieg aus ihnen auf, der auf das wohlige Aroma des Getränkes hinwies. Der Engel schenkte ihr ein breites Grinsen, als sie ihn ansah und die Worte polterten schneller aus ihm heraus, als er sie selbst verstehen konnte. "Erwollteunbedingtmitkommen,weißtdu?Weilichsovielvondirer-zählthatte!!WasistdasfürTee?Schmecktdergut?RaphaelmagkeinenbitterenTee!Undaußer----" Raphael stockte, als er bemerkte, dass sein Gegenüber sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnte. "O-Oh ... Tut mir leid, Gabriel. Ich wollte das nicht, ich freu mich nur so, dass wir heute wieder zusammen Tee trinken können ... Bist du mir jetzt böse?", fragte er unbeholfen, während er sich immer weiter hinter seinem Bären verkroch. "Aber nein, Raphael,", versuchte Gabriel ihn zu beruhigen und reichte ihm eine Tasse des süß duftenden Tees, "Aber nein. Ich bin sehr erfreut über deine gute Laune und es spricht nichts dagegen, dass du sie auch auslebst. Lass dich nicht zügeln, egal, wie oder durch wen. Wenn dir die Freude so sehr zu Kopf steigt, dass du der Meinung bist, alle deine Gedanken binnen weniger Sekunden äußern zu müssen, dann tu das - auch wenn es zur Folge hat, dass du alles mehrmals sagen musst, weil keiner dir so schnell folgen kann.", sprach sie und begann erneut zu lachen. Auch Raphael musste jetzt lachen, so erleichtert war er, dass der Wasserengel ihm seine Unhöflichkeit verzieh. Doch das fröhliche Lachen wurde jäh von einem Aufschrei des Windengels unter-brochen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht starrte er auf seine Hand, über die sich honigbrauner, kochendheißer Tee ergoss. "Hsssss ... Gabriel!! Mach was! Das tut Raphael weh! Es ist so heiß!" In seinen Augen sammelten sich Tränen, die er nicht mehr zu halten vermochte und er schluchzte lauthals auf. "Ganz ruhig.", tröstete ihn Gabriel, nahm ihm die Tasse mitsamt überschwemmtem Teller aus der zitternden Hand ab und stellte sie neben sich. "Es ist nur heißes Wasser, kein Grund zur Sorge. Gib mir deine Hände." Zögernd befolgte der Weinende ihren Rat. "Die verbrannte Hand legst du in meine, die gesunde oben drauf." Sie umschloss die immer noch bebende Hand sanft und küsste sie. Anschließend ergriff sie seine Linke, die er an seine Brust gepresst hielt und legte sie auf die verbrannten Stellen. "Gut so. Jetzt beruhige dich und lenke deine ganze Konzentration auf deine linke Hand." Raphael schloss die tränenden Augen und versuchte seine Kräfte zu sammeln, bis plötzlich ein warmes, grünes Licht aus seinen Fingerspitzen trat und sich auf die Rötungen legte. Geblendet von den Lichtstrahlen, kniff er die Augen noch weiter zusammen und erlebte eine Überraschung, als er sie wieder öffnete: Die Brand-wunden waren vollkommen verschwunden und auch der Schmerz hatte sich in Nichts aufgelöst. Völlig erstaunt sah er auf Gabriel, die sich sehr zufrieden zeigte. "Boaaahh!! Toll! Wie hast du das gemacht?" "Aber nicht doch. Das war nicht ich, Raphael, sondern du ganz allein und du besitzt sogar die Fähigkeit, noch viel größere Wunden zu heilen, wenn du es wünschst." "I-Ich war das??", fragte Raphael ungläubig ohne etwas von seiner Begeisterung zu verlieren, "Ich hab das geheilt? Kann Raphael dann alle Wunden heilen? Kann er alles wieder ganz machen, kann er das, ja?", bohrte er voller Ungeduld weiter. Gabriels Lächeln verschwand von ihren Lippen. "Sicher, in dir schlummern gigantische Kräfte, aber ...", sie wich seinem wissbegierigen Blick aus, " ... aber es gibt Verletzungen, die kannst nicht einmal du heilen, verstehst du?" "Mhmmh", bestätigte der Windengel mit einem schnellen Kopfnicken, auch wenn er nicht ganz verstand, was der schöne Engel ihm gesagt hatte. Er beschloss für sich, später darüber nachzudenken und sich an dieser Fähigkeit auszuprobieren. Vielleicht würde er ja dann begreifen, was das genau für Wunden sind, die man nicht heilen kann. Stattdessen setzte er eine schuldbewusste Miene auf und nuschelte: "Aber jetzt habe ich trotzdem den schönen Tee vergossen, den du gemacht hast. Es tut mir leid!" Gabriel hatte ihr Lächeln wiedergefunden. "Keine Sorge, das ist nicht so schlimm. Aber ich glaube, du hattest heute schon genug Aufregung, da möchte ich dich nicht hier festhalten. Es ist dir doch von der Nasenspitze abzulesen, dass du jetzt viel lieber über die Wiesen tollen möchtest!" Verlegenheit schoss Raphael ins Gesicht. War er so leicht zu durchschauen? Dabei hatte er sich doch wirklich so auf die Teestunde mit Gabriel gefreut. Jetzt jedoch war er so aufgeregt, dass er am liebsten sofort aufgesprungen und davongerannt wäre, hin zu den Rosenbüschen, wo man so herrlich spielen konnte! Mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete er sich von dem schweigsamen Engel, ergriff seinen Teddy erneut am Arm und schleifte ihn aus dem Schatten des Baumes hinaus in eine weite Ebene. Raphael holte herzlich Luft und spürte, wie der angenehme Duft von Rosen in seine Lunge strömte. Als er sich umsah, entdeckte er in der Ferne die Urheber dieses Geruches. Vor ihm erstreckte sich ein endloses Beet voller Rosenbüsche mit magentaroten, samtenen Blüten. Völlig außer sich stürmte er mitten in das labyrinthartige Gebilde hinein und gönnte sich und dem Bären eine Verschnaufpause, indem er sich im Schneidersitz auf den Boden inmitten des Dickichts setzte, die Augen schloss und dem Säuseln des Windes in den Blättern lauschte. Als ihm dies nach einiger Zeit zu langweilig wurde, kramte der Windengel den Teddy hervor, der zuvor hinter ihm gelegen hatte, setzte ihn vor sich hin und begann mit ihm zu sprechen, als wäre es das Verständlichste auf der Welt. "Siehst du, das ist der Ort, den ich dir zeigen wollte. Es ist wun-derschön hier, nicht war? Aber du musst vorsichtig sein, sonst piekst du dich an den Dornen oder bleibst daran hängen, und vielleicht entsteht dann so eine Verletzung, die Raphael nicht heilen kann, weißt du? Also pass auf. Raphael will nämlich nicht, dass dir etwas passiert!" Er nahm das Kuscheltier in die Arme und drückte es fest an sich. "Ich pass auf dich auf.", sagte er mit unbewusst zitternder Stimme und presste ihn noch stärker an seinen Körper, bis er die Glasaugen durch seine Kleidung hindurch spüren konnte. Entferntes Getuschel lies ihn aufschrecken. "Wir sollten hier nicht sein!", konnte er eine Stimme energisch flüstern hören. "Komm schon, du Feigling! Es ist doch nichts dabei!", zischte eine andere. Raphael stand auf und erblickte zwei junge Engel, die ein ganzes Stück kleiner waren als er. Über die Hecken, die ihm bis kurz unter die Brust ragten, konnte er nur noch ihre Gesichter sehen. Erschrocken wichen die beiden zurück und begannen sich, wild gestikulierend, dafür zu entschuldigen, dass sie "diesen Ort" aufgesucht hatten. Der Windengel verstand nicht, warum sie sich entschuldigen wollten und gab ihnen mit einem Fingerzeig zu verstehen, dass kein Grund zur Sorge bestünde. "Wer sagt denn, dass ihr hier nicht herdürft? Und warum? Wo es doch so ein schöner Platz zum Spielen ist!", protestierte er. Die jungen Engel schenkten ihm offenen Mundes ungläubige Blicke. "Ein Spielplatz?!? S-Soll das heißen, du weißt nicht, was das hier ist?", riefen sie entgeistert. Raphael wurde unruhig. Was sollte mit diesem Ort sein? Es war doch nur ein ganz normaler Rosengarten, oder nicht? Oder nicht? Was sollte Schlimmes an dem Ort sein, den er so gern besuchte? Er langte nach seinem Teddy und marschierte wie in Trance an den Jungen vorbei auf einen besonders majestätischen Strauch zu, der sich im Zentrum der Beete befand. In seinem Rücken konnte er die Stimmen der Beiden noch hören. "Mein Vater hat es mir erzählt. Das hier ist der Ort, an dem sich die Abtrünnigen vor dem Krieg trafen, um ihre hinterhältigen Pläne zu schmieden. Es heißt, dass die Rosen hier früher alle strahlend weiß waren, bis sie das Blut der Engel in sich aufsogen, dass die Verräter auf diesem Boden vergossen. Daraufhin erhielten sie erst diese tiefrote Farbe.", berichtete einer der beiden lauthals, scheinbar stolz auf sein Wissen. Ein wenig ängstlich fügte sein Begleiter hinzu: "Mein Bruder hat mir gesagt, dass man von hier aus noch immer in Kontakt mit den Dämonen treten kann, die Geister der ermordeten Engel jedoch jeden heimsuchen, der dies versucht. Genau dort, wo du jetzt stehst," , begann er und deutete auf die Rosen, die Raphael noch immer mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, "genau dort soll Leviathan seinen let----" Stille. Raphael wirbelte herum, um zu sehen, was die jungen Engel plötzlich verstummen lies, doch irgendetwas hielt ihn ruckartig zurück, bevor er richtig begreifen konnte, was er gesehen hatte. Er wandte sich erneut dem Rosenbusch zu und musste feststellen, dass der Arm des Teddys sich in den Dornen der Rosen verfangen hatte und abgerissen war. Verzweifelt versuchte der Windengel, die Gliedmaße zu befreien, wieder Herr der Lage zu werden, als er plötzlich erkannte, dass es sich bei den Rosen vor ihm gar nicht um einen Busch handelte, wie er angenommen hatte. Es waren Ranken, die irgendetwas umwickelt hatten. Nachdem er den Plüscharm gerettet hatte, machte er sich daran, die Rosen beiseite zu schieben, um zu sehen, was sie verbargen. Für den Bruchteil einer Sekunde entdeckte er eine Gravur. Eine Gravur in einer Sprache, die er schon lange nicht mehr gelesen hatte, doch noch ehe er die Schriftzeichen entschlüsseln konnte --- Ein lautes Gähnen erfüllte für einen kurzen Augenblick den hellerleuchteten Raum. "Guten Mooorgen!", begrüßte Windengel Raphael seinen Teddy, während er völlig planlos probierte, sich die zwei langen Strähnen seines goldschimmernden Haares aus dem Gesicht zu streichen. Nachdem er die Sinnlosigkeit dieser Bemühung eingesehen hatte, reckte er sich kurz und sprang mit einem Satz aus dem großen Himmelbett. "Weißt du, ich hatte einen seltsamen Traum! Ab sofort werde ich keine Geschichtsbücher mehr vor dem Schlafengehen lesen!" Raphael wurde leicht stutzig, als er den Bären näher betrachtete. Die Naht an dessen rechter Pfote war um einen weiteren bunten Faden gewachsen. "Sag, ist dein Arm schon wieder abgerissen? Du solltest besser aufpassen, was du tust, sonst wirst du Raphael noch ganz traurig machen!" Mit einem Grinsen wandte er sich von seinem Bett ab und begann, in seine Pluderhosen zu schlüpfen und sich eine seiner knall-bunten Blusen überzuwerfen. Er gab dem Plüschtier einen Kuss zum Abschied und ging aus dem Zimmer. Im Türrahmen stehend, sah er sich wie jeden Morgen noch einmal in seinem Zimmer um, ob er auch nichts vergessen hatte: Das Bett war -wie sonst auch- nicht gemacht, das Bücherregal noch immer nicht angerührt, die Figuren in den Vitrinen übertrafen sich gegenseitig im Staubfangen und die Uhr an der Wand ging wie immer ... rückwärts? 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