Die Akte Tanner von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 7: Ein Pakt mit Becky ----------------------------- Obwohl sie und May den Laden bereits mehr als einmal nach Wanzen abgesucht hatten, war es Rally zu riskant, hier die Sache mit Tanner zu besprechen. Als Becky ankam, fuhren sie daher in die Innenstadt zu einer Bar. Fay, eine Freundin von Rally, arbeitete dort. Normalerweise war die Bar am Vormittag geschlossen. Aber für Rally wurde da schon ab und zu mal eine Ausnahme gemacht. So war es auch an jenem Tag. Rally und Becky setzten sich an einen Tisch. Sie hatten reichlich Auswahl, denn natürlich war das Lokal völlig leer. "Kann ich euch irgendwas bringen?", fragte Fay. "Danke, ja. Ich... nehme einen Kaffee", sagte Rally. "Ich nehme *zwei* Kaffee. Den stärksten, den ihr habt", meinte Becky. "Alles klar." Fay ging nach hinten, und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. "Also", sagte Rally zu Becky, "warum konnten wir das nicht am Telefon besprechen?" "Weil der Fall möglicherweise viel grösser ist, als du denkst", sagte Becky. "Dieser Tanner ist eine ganz schön harte Nuss." "Ist er der Typ, hinter dem du seit Wochen her bist?" "Wie kommst du darauf?" "Ist nur ne Vermutung." Becky nickte. "Ganz genau. Und in dieser Zeit habe ich nicht allzuviel über ihn rausbekommen. Allerdings... Das was ich über ihn rausbekommen habe...", sagte sie mit düsterer Miene. "Nun?", fragte Rally. "Würde dich normalerweise ein kleines Vermögen kosten", vervollständigte Becky. "War ja klar", dachte sich Rally. "Wieviel willst du denn?", fragte sie. "Tja, du hast Glück", meinte Becky. "Meinem Kunden reichen die bisherigen Informationen nicht, und ich komme einfach nicht weiter. Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen." "Ich soll für dich Arbeiten?", fragte Rally überrascht. "M-Hm", bestätigte Becky. "Erstens musst du ja schon etwas über ihn wissen, sonst hättest du mich ja wohl kaum nach ihm gefragt. Dann könntest du mir helfen, ihn zu überwachen. Wäre mir eine grosse Hilfe. Der Kerl ist schlüpfrig wie ein Aal. Und ausserdem seit ihr ja quasi Kollegen. Du könntest, na du weisst schon, Verbindungen knüpfen." Rally errötete leicht. "Äh, ich glaube, dass ist doch eher Mays Fachgebiet." "Wie du meinst. Aber ich glaube, etwas Erfahrung in diesem Gebiet würde dir auch nicht schaden." "Sie hat gar nicht so Unrecht", meinte Fay, die gerade mit den drei bestellten Kaffee ankam. "Alles in allem... In deinem Alter." "Mann...", brummte Rally, "könntet ihr zwei bitte ernsthaft werden?" "Ich bin todernst", sagte Becky grinsend, und nahm sich gierig eine der Kaffeetassen. Noch bevor Fay ein Wort der Warnung aussprechen konnte, hatte Becky den Kaffee schon angesetzt. Die Folgen waren schmerzhaft. Der Kaffee war nämlich noch heiss. Nachdem Becky sich die Lippen etwas gekühlt, und Fay den verschütteten Kaffee aufgewischt hatte, nahm Rally das Gespräch wieder auf: "Also Becky, irgendwie kommt mir das alles ein wenig Spanisch vor. Unter welchen Umständen hast du den Auftrag denn bekommen?" "Das darf ich dir doch nicht sagen. Zumindest nicht, bis wir einen Vertrag geschlossen haben. Aber grob gesagt, ist ein Kunde bei mir aufgetaucht, und hat mir den Auftrag gegeben, so viel wie möglich über Tanner rauszufinden. Und die Bezahlung hängt von der Menge und Qualität der Informationen ab." "Und wer der Kunde war, darfst du mir natürlich nicht sagen?" Becky zuckte mit den Schultern. "Warum auch nicht. Ist eh ein Pseudonym. Er nannte sich Dantes." "Dantes? Hmmm... Den Namen hab ich kürzlich gehört." "Ich würde nicht allzuviele Gedanken darüber verschwenden. Wie schon gesagt: Es ist vermutlich ein Pseudonym. Aber nun zum Geschäft: Die Infos, die ich bisher über Tanner gesammelt habe, sind bereits eine Menge Wert. Aber wenn du mir hilfst, noch weitere zu finden, würde ich dir alles gratis überlassen." "Hmmm..." Rally lehnte sich zurück. Vorsichtig nahm sie einen Schluck Kaffee. Er war mittlerweile genug abgekühlt, um trinkbar zu sein. "Wenn ich das richtig verstanden habe, dann erhältst du um so mehr Geld, je mehr Informationen wir zusammentragen, richtig?" Becky wurde klar, dass sie vorhin eine elementare Grundregel eines jeden Informanten verletzt hatte: Rücke keine Informationen heraus, die dir nichts bringen. Und schon gar keine, die dich etwas kosten! "Ich denke", fuhr Rally fort, "in diesem Fall wäre eine prozentuale Beteiligung angebracht. Sagen wir, 30 Prozent?" Dann trank Rally langsam ihren Kaffee, während Becky sichtlich um ihre Fassung rang. "W... W... Wie bitte!? Wieviel!?", rief sie. "Weisst du, wieviel ich alleine schon für die Infos bekommen würde, die ich selbst schon habe? Fast... 50'000 Dollar! Und die würde ich dir schenken!" "Tanner interessiert mich nur insofern, als dass ich wissen will, warum er mir ständig in die Quere kommt. Deine Infos sind für mich also nicht so wahnsinnig interessant. Vor allem würde ich keine 50 Mille dafür zahlen." Becky überlegte einen Moment. "Also meinetwegen. Du kriegst 10 Prozent der Prämie. Das ist doch was, oder?" "Ich sagte 30" "Erde an Rally, bitte melden! Soviel zahle ich nicht. Niemand würde das." "Das ist aber schade." Becky seufzte. "Was soll das Rally? Soll ich dich etwa auf Knien anflehen, und traurige Geschichten über zu ernährende Kinder erzählen?" Rally grinste, und überlegte einen Moment. "20% der Prämie plus alle Informationen, die diesen Fall betreffen, gratis?", fragte sie. "Hm. Na schön. Einverstanden", brummte Becky. Einen Handschlag später, mit Fay als Zeugin, war der Handel besiegelt. Becky holte einen Stapel Blätter aus ihrer Aktenmappe. "Na, dann wolln wir mal. Erst mal ein grober Abriss: Unser Freund ist Ausländer. Höchstwahrscheinlich Europäer, vermutlich Italiener. Er ist erst seit einigen Wochen oder Monaten hier. Hat Verbindungen aller Art. Sowohl zu legalen wie auch zu illegalen Organisationen. Er ist sehr vorsichtig, was ihn schwer greifbar macht. Ausserdem fürchte ich, dass er Verbindungen zu ein paar hohen Tieren hat." Rally pfiff durch die Zähne. "Und so was hab ich als Kunden." "Als Kunden?" "Ja, er hat Munition bei mir eingekauft. Aber warum meinst du, dass er ein paar hohe Tiere kennt?" "Oh, ganz einfach. Während der Routinekontrolle habe ich die Einwohnerdatenbank abgefragt. Dergemäss ist Tanner von Geburt an Bürger des Staates Illinois. Aber ich konnte keine Verbindung zu einer der eingesessenen Familien ziehen. Das hat mich misstrauisch gemacht, und ich habe die Datenbank mal... genauer angesehen." "Du meinst... gehackt." "Wer? Ich?", sagte Becky mit Unschuldsmiene. Rally und Becky lachten. Dann fuhr Becky fort: "Wie dem auch sei: Sein Eintrag ist gefälscht. Er wurde erst vor 3 Monaten gemacht. Was mich an der ganzen Sache stört, ist, dass die Fälschung hervorragend gemacht wurde. Ohne eine genaue Prüfung der Rohdaten auf der Datenbank ist sie nicht zu entdecken. Wenn du mich fragst, ist sie offiziell angeordnet worden." "Ein Hacker kommt nicht in Frage?" "Unwahrscheinlich. Die Fälschung zu entdecken war schwierig. Sie anzubringen, war aber noch viel schwieriger. Wenn das ein Hacker war, dann war er schweinisch gut." "Gibt es Fälle, wo so etwas offiziell gemacht wird?" "Ja, bei Zeugenschutzprogrammen. Aber ich glaube, dass können wir ausschliessen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, welches Tanners wirkliche Nationalität ist. Aber ich bin mir fast 100-prozentig sicher, dass er kein US-Amerikaner ist." "Ja", bestätigte Rally. "Wenn ichs mir recht überlege, so klangen seine Sätze doch ziemlich wie aus dem Schulbuch. Es klang so, als könne er zwar Englisch sprechen, sei es sich aber nicht gewohnt." "Sowas dachte ich mir", sagte Becky. "Was weisst du denn so alles über ihn?" "Tja", sagte Rally, "da erklär ich dir am Besten die ganzen Umstände, wie ich auf ihn gestossen bin. Was weisst du über den Fall Stevenson?" "Den Fall Stevenson?", fragte Becky. "Der Drogenring? Ah, dann steckst du also doch hinter der Bombe. Ich dachte mir schon, dass sei doch genau Kens Typ. Na, liege ich richtig?" "Äh, ja. Wie ich sehe, bist du gut informiert. Aber sei bitte etwas leiser." "Klar doch", meinte Becky grinsend. "Also, der Fall Stevenson. Und weiter?" "Nun, alles hat angefangen mit dem Fall Cogan. Du weisst schon. Der, wegen dem ich dich angefragt hatte. Als ich Cogan einsacken wollte, hat ihn jemand angeschossen. Ich vermute, dass das Tanner war." "Hast du was Handfestes?" "Leider nicht, aber... sag mal, hat Tanner eine Lizenz für ein SIG Sturmgewehr Typ SG550 oder so?" "Ein Sturmgewehr? Augenblick." Becky sah die Blätter durch. Schliesslich fand sie, wonach sie gesucht hatte: "Hier. Lizenz für ein Sturmgewehr SIG SG551." "Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch. Jedenfalls hatte der Schütze genau so ein Gewehr." "Meinst du? Immerhin sind die SIG Waffen doch recht verbreitet, oder?" "Nicht dieses Gewehr. Es ist teuer und sehr pflegebedürftig. Darum wird es fast nur von offiziellen Stellen verwendet." "M-Hm. Könnte eine Spur sein. Und weiter?" "Nun, in der Folge sind wir in den Fall Stevenson hinein geraten. Und dabei hat wiederum jemand mit solch einem Gewehr mir kurz geholfen, indem er die Waffe von Thomas Martin, Stevensons Sicherheitschef, zerstörte. Ausserdem ist Tom gestern abgehauen, und anscheinend hat sich Tanner sofort auf dessen Fersen geheftet." Becky zog die Augenbrauen hoch. "Na schau mal einer an. Nur zu deiner Information: Der Auftrag, Martin zurückzuholen, wurde nie ausgeschrieben. Tanner hat ihn direkt erhalten." "So ist das also. Ich hatte bei dem Job also gar keine Chance. Oh, jetzt weiss ich wieder, wo ich den Namen Dantes schon mal gehört habe. Vector hat ihn erwähnt." "Vector? Doch nicht der Syndikatsboss Vector, oder?" Beckys Gesichtsfarbe wurde sichtlich heller. "Genau der. Kennst du ihn?" "Machst du Witze? Jeder bessere Informant hatte schon mal Besuch von diesem netten Herrn oder einem seiner Untergebenen." "Oh. Naja, jedenfalls hat er..." "Ich wills nicht wissen", warf Becky ein. Sie nahm ihren zweiten Kaffee, und leerte die Tasse in einem Zug. Rally war perplex. Dass letzte Mal, das Becky etwas *nicht* wissen wollte... Nein, sie konnte sich nicht erinnern, dass sowas bisher je der Fall gewesen war. "Du... willst es nicht wissen?", fragte sie. "Wenn Vector rauskriegt, dass du Informationen über ihn herausgibst, dann bist du so gut wie tot", erklärte Becky. "Glaub mir, es ist besser, wenn ich nichts darüber weiss. Nur soviel: Was glaubst du, war die Verbindung zwischen Vector und Dantes?" "Nun, Vector sagte, dass Dantes ihm misstraue. Dantes war wohl ein Auftraggeber. Ich vermute, er gehört zu einem der anderen Syndikate." Becky atmete hörbar auf. "Gut. Das ist immer noch viel angenehmer, als für Vector selbst zu arbeiten. Lass mich dir einen Tipp geben: Vector heuert gelegentlich Leute von ausserhalb seines Syndikats an. So ziemlich alle, die einem solchen Handel zugestimmt haben, haben sich daran die Finger verbrannt. Also halte dich fern von ihm." "Ich kann dir versichern, dass ich absolut keine Absicht habe, mich nochmals mit ihm zu befassen." "Gut. Also, überlegen wir uns mal wie weiter. So, wie ich das sehe, haben wir zwei Spuren, die wir verfolgen können. Die eine ist Martin. Die andere wäre sein Einkauf bei dir. Er hat doch mit Kreditkarte bezahlt, oder?" Kurze Zeit später erschienen Becky und Rally wieder im Laden. Rally ging die Kassenbelege durch, und fischte den von Tanners Munitionskauf heraus. Becky notierte sich Tanners Kreditkartennummer. "Sag mal", flüsterte Rally, "du willst dich doch nicht in den Bankencomputer einhacken." Den Gedanke, was Becky dort alles anstellen könnte, fand Rally etwas beängstigend. Aber Becky beruhigte sie: "Nein, das habe ich nicht vor. Banken sind grundsätzlich paranoid, und ihre Systeme entsprechend gut geschützt. Ein direkter Angriff wäre viel zu umständlich. Aber es gibt noch andere Mittel und Wege, um an Informationen zu gelangen. Wie auch immer. Ruf mich an, wenn du weiterkommst, ja?" Daraufhin ging Becky wieder. May, die sich bisher zurückgehalten hatte, konnte ihre Neugierde nicht weiter bezähmen. "Was habt ihr denn besprochen?", fragte sie. "Gehn wir rasch rüber", meine Rally, und ging zum Raum nebenan. Rally und May hatten diesen Raum besonders gründlich auf Wanzen abgesucht, um das Telefon darin einigermassen sicher benutzen zu können. Die Wahrscheinlichkeit, abgehört zu werden, war hier also bedeutend kleiner, als in irgend einem anderen Teil des Ladens. "Also", begann Rally. "Becky ist schon eine ganze Weile hinter diesem Tanner her. Aber ihrem Auftraggeber reichen die Informationen noch nicht. Und weil sie einfach nicht weiterkommt, helfen wir ihr aus. Im Gegenzug bekommen wir Beckys Infos zum Fall gratis, und einen Fünftel der Erfolgsprämie." "Was!? Becky bezahlt uns?" May konnte das kaum glauben. Aber Rally nickte nur lächelnd. "Die muss ganz schön verzweifelt sein", meinte May. "Wie dem auch sei", fuhr Rally fort, "ich brauche deine Hilfe bei der Sache. Und als erstes habe ich einen Job für dich und Ken, wo ich eure speziellen Fähigkeiten brauche." "Echt? Wann? Wo?" "So schnell wie möglich. Was genau und wo werde ich dir draussen erklären. Sicher ist sicher." Mays Augen hatten einen Rally gut bekannten, und normalerweise gefürchteten, Glanz angenommen. May konnte es anscheinend kaum erwarten. Für sie war das zu schön, um wahr zu sein. "Alles klar, ich hole das 'beim Fischen'-Schild, und..." "Das wird nicht nötig sein", unterbrach Rally. "Ich habe von der Bar aus eine Vertretung organisiert." "Eine Vertretung?" "Ja. Für den Laden. Während wir weg sind." May setzte einen halb verwunderten, halb fragenden Blick auf. Doch Rally schien entschlossen zu sein, May auf die Folter zu spannen. Die 'Folter' dauerte indes nicht lange. Die rote Lampe über der Tür zum Verkaufsraum begann zu blinken, was bedeutete, dass jemand den Laden betreten hatte. Rally und May gingen hinüber. Das heisst, Rally ging. May stürmte eher. "Hallo?", fragte Misty etwas verloren. Es kam ihr seltsam vor, dass niemand im Verkaufsraum war. Doch kurz darauf flog die Tür zum Nebenraum auf, und May stürmte herein. "Misty?", fragte May überrascht. "Genau", bestätigte Rally. Dann wandte sie sich Misty zu. "Danke, dass du kommen konntest." "Aber für dich doch immer", erwiderte Misty. "Also, hier hast du eine Schürze", begann Rally zu erklären. "Das ist der Schlüssel für den Munitionsschrank. Die hier sind für die Waffenschränke. Das Lager lass ich zu. Komplexere Aufträge wie Spezialanfertigungen oder Sonderbestellungen bringst du mir einfach am Abend nach Hause. Ich seh sie mir dort an." "Alles klar", sagte Misty, und legte sich die Schürze um. "Du Rally?", fragte May. "Jetzt, wo Misty da ist, können wir doch anfangen, oder?" "Klar doch", meinte Rally beschwichtigend. "Gehn wir." Draussen erklärte Rally May kurz, was sie tun sollte: "Also, du nimmst jetzt deinen Wagen, und fährst nach Hause. Ken wartet wahrscheinlich schon dort. Er wird dir alles weitere erklären." "Bin schon unterwegs", meinte May. "Und was machst du?" "Ich statte einem alten Freund einen Besuch ab." Eine halbe Stunde später befand sich May im Keller ihres gemeinsamen Hauses, und hantierte mit einem elektronischen Gerät. Sie war sauer, und man sah es ihr an. Ihre Laune besserte sich auch nicht, als Ken durch die Tür kam. "Bist du fertig?", fragte Ken. "Gleich", brummte May. Einige Sekunden später schaltete sie das Gerät ab. "So, das wärs." Gemeinsam gingen sie zur Kellertreppe. "Warum bist du eigentlich so sauer?", fragte Ken. "Als Rally von unseren besonderen Fähigkeiten sprach, dachte ich eigentlich an Bomben, nicht an Elektronik. Und unser Haus zu entwanzen finde ich nicht gerade aufregend", murrte May vor sich hin. "Ach so, Rally hat dir also nicht gesagt, worum es sich bei der Aufgrabe genau handelt." "Hmpft. Hast du eigentlich welche gefunden? Bei mir war keine einzige." "Ja, am Lüftungsgitter war eine." Ken griff in die Jackentasche, und holte besagte Wanze hervor. Der Typ war May wohlbekannt. Es waren dieselben, die sie im Laufe der letzten paar Wochen immer wieder gefunden hatten. "Die hier scheint allerdings tot zu sein", fuhr Ken fort. May hielt im Schritt inne. "Tot?", fragte sie. "Keine Signale", erklärte Ken. "Ich hab sie auch mit einem Multimeter geprüft. Anscheinend ist ihr die Batterie ausgegangen." "A-Aber wenn alle Wanzen vom gleichen Typ sind, dann ist unsere Arbeit vielleicht..." "Nicht so voreilig. Es könnten ja auch welche nachträglich platziert worden sein." Ken ging weiter zur Treppe, und stieg ins Erdgeschoss hinauf, um auch dieses zu prüfen. May folgte ihm. Aber nicht, bevor sie ein lautes "Warum ich?!" durch die Gänge schallen lies. Arthur Cogan war guter Laune. Zum einen hatte er für seine Aussage als Kronzeuge Straffreiheit erhalten. Zum anderen hatte er seinen Wegzug aus dieser Stadt organisieren können. Nicht mehr lange, und er konnte die meisten seiner Feinde hinter sich lassen. Nicht zu vergessen seine Unterkunft, eine Wohnung in einer Bruchbude, die irgend ein Witzbold als Wohnhaus eingestuft hatte. Noch dazu in einem heruntergekommenen ex-Industrieviertel. Aber immerhin waren die Mieten niedrig, und die Umgebung ruhig. Wie schon gesagt, er war guter Laune. So guter Laune sogar, dass es ihn nicht weiter störte, dass die Ganglichter schon wieder ausgefallen waren. Das passierte so häufig, dass er mittlerweile darin geübt war, das Schüsselloch im Dunkeln zu treffen. Das war auch tagsüber nötig, da der Gang keine Fenster hatte. Er hatte gerade den Schlüssel in die Hand genommen, als er hinter sich eine ihm bekannte Stimmer hörte. "Guten Abend Mister Cogan", sagte Rally. Das genügte, um bei Cogan den Angstschweiss ausbrechen zu lassen. Einen Moment dachte er daran, über die Feuertreppe am anderen Ende des Ganges zu flüchten. Aber dann fiel ihm ein, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen wäre. Der Notausgang war blockiert. Die Leute hier fürchteten Einbrecher mehr als Brände. Langsam drehte er sich um. Es war tatsächlich Rally, die da vor ihm stand. Er sah keine Waffe, aber er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie mindestens eine bei sich trug. "N'Abend", sagte er langsam. "Wollen wir nicht reingehen?", fragte Rally. Cogan nickte nur kurz. Er schloss die Tür auf und ging geradewegs ins Wohnzimmer. Das war der einzige Raum, der gross genug war, dass sich zwei Personen darin aufhalten konnten, ohne sich auf die Füsse zu treten. "Verdammt!", dachte er sich. "Die ist sicher nicht da, um sich nach meiner Gesundheit zu erkundigen. Und dabei hätte ich es fast geschafft." Er hörte, wie Rally die Tür schloss, und ihm folgte. Ihr fiel sofort auf, dass die Wohnung fast leer war. Mal abgesehen von ihr und Cogan waren da nur noch die beiden grossen Koffer bei der Tür, und der alte Sessel im Wohnzimmer, der zu sperrig war, um ihn mitzunehmen. Ungefragt setzte sie sich. "Du ziehst weg?", fragte sie. "Mmmm... ja. Auf Anraten meines Arztes. Die... Atmosphäre in dieser Stadt ist nicht gut für mich." "Jaja... Der Bleigehalt ist in den letzten Wochen deutlich gestiegen. Das kann einem ganz schön ans Herz gehen." "Öh... So in der Art." Cogan warf einen flüchtigen Blick zum Fenster. Sollte er es riskieren, und rausspringen? Immerhin waren sie hier nur im ersten Stock. Andererseits... weh tun würde es auch so. Rally war der Blick offenbar aufgefallen, den sie stand auf, und lehnte sich, sehr zu Cogans Missfallen, gegen das Fenster. Damit war die Sache auch entschieden. "Sag mal", fuhr Rally fort, "so ein Umzug kostet doch einen Haufen Geld. Vor allem, sicherzustellen, das man am neuen Ort *nicht* erreichbar ist." "Oh, das Zeugenschutzprogramm..." "...hast du nicht in Anspruch genommen. Misstraust wohl der Polizei, was?" Cogan schluckte leer. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Das gefiel ihm gar nicht. "Na schön", brummte er, "ich habe ein paar Dinge verkauft, um an das nötige Geld zu kommen." "Dinge wie Informationen über meine Verwicklung in den Fall Stevenson?" Das hatte Cogan befürchtet. Rally wusste bereits alles, und war nur da, um abzurechnen. Aber sie hatte einen entscheidenden Fehler gemacht. Jetzt, wo sie am Fenster stand, war der Weg durch die Tür frei! Cogan drehte sich um, rannte zur Tür, und riss sie auf. Doch die Tür öffnete sich nur ein Stück weit. Rally hatte beim hereinkommen die Kette eingehängt. Geistesgegenwärtig versuchte Cogan noch, die Kette zu lösen, doch da war Rally bereits neben ihm, und schlug die Tür wieder zu. "Schluss mit den Spielchen!", rief sie. "Was hast du Tom erzählt?!" "Tom? Wer ist Toooo?" Rally zog ihn an an einem Ohr zurück ins Wohnzimmer, und drückte ihn in den Sessel. Dann zog sie betont langsam und mit einer sehr verärgerten Miene die CZ-75, ihre Lieblingspistole, aus dem Seitenhalfter. "Ist ja gut, ist ja gut!", schrie Cogan in Panik. "Ich habe so einem Typen von Stevensons Sicherheitstruppe verraten, dass du hinter der Sache gesteckt hast. Mehr nicht, ich schwörs! Und er Kerl hiess Martin, nicht Tom!" "Martin ist sein Nachname. Wo steckt er jetzt?" "Woher soll ich das Wissen! Ich kenn den Typen doch gar nicht!", jammerte Cogan. Rally stieg wieder in den Wagen. Ihr Verhör von Cogan war nicht besonders ergiebig gewesen. Natürlich wusste sie, dass Cogan nie selbst im Labor war. Trotzdem hatte sie gehofft, dass Stevenson ihn zumindest in einige wenige Dinge eingeweiht hatte. Sie rief Becky mit dem Autotelefon an, und brachte sie auf den aktuellen Stand der Dinge. "Tja, das ist Pech", sagte Becky. "Aber wenigstens wird er sich jetzt wohl hüten, uns weiteren Ärger zu machen." "In der Tat", meinte Rally grinsend. "Aber leider bringt uns das auch nicht weiter." "Kopf hoch. Ich hab hier eine nette, kleine Liste mit Toms üblichen Verstecken." "Ah schön, dann werd ich die mal überprüfen." Rally öffnete das Handschuhfach, und holte daraus einen Notizblock. "Also, schiess los." "Nicht so hastig", wandte Becky ein. "Das sind neue Informationen. Die verrechne ich dir." "Nix da", protestierte Rally. "Laut Abmachung bekomme ich alle Informationen gratis, die diesen Fall betreffen. Nicht nur diejenigen, die bereits vorher bekannt waren." "Aasgeier!" Rally musste ob dieser letzten Bemerkung Beckys grinsen, denn üblicherweise war die Situation umgekehrt. Becky gab schliesslich, wenn auch zähneknirschend, die Adressen heraus, und Rally notierte sie sich. "Gut", sagte Rally schliesslich. "Ich werd mal noch so viele prüfen, wie ich heute schaffe. Ken und May sollten auch bald fertig sein. Wir können uns also heute Abend bei mir treffen. Sagen wir, um acht?" "Kein Problem. Aber an deiner Stelle würde ich mich beeilen. Tanner ist mit Sicherheit selbst bereits auf der Suche nach Tom. Und die alten Verstecke zu prüfen, ist Routine." "Jaja. Ich mach diesen Job auch nicht erst seit gestern, weist du." "Wie du meinst. Aber ruf mich an, falls du Tanner findest, okay?" "Meinetwegen", brummte Rally und legte auf. Ihr Plan war einfach. Gerade deshalb hoffte sie auf Erfolg. Da Tom noch nicht bei der Polizei abgeliefert worden war, war er ja offensichtlich noch frei, und Tanner logischerweise hinter ihm her. Sollte Rally Tom finden, bevor Tanner das tat, würde Tanner ihr früher oder später in die Arme laufen. Rally klaubte einen Stadtplan hervor, und suchte die Standorte der Verstecke heraus. Natürlich waren sie über die ganze Stadt verteilt. Rally beeilte sich daher. Die ersten drei Verstecke waren ein Reinfall. Weder von Tom noch von Tanner war die geringste Spur vorhanden. Das beunruhigte Rally nicht weiter, doch allmählich wurde es später, und Rally wusste, dass sie die Suche bald abbrechen musste, wenn sie noch rechtzeitig zu Hause sein wollte. Beim vierten Versteck erwartete sie jedoch eine Überraschung. Vor dem Haus stand ein blauer Corsa. Genau so einer, wie ihn auch Tanner fuhr. Jetzt waren diese Wagen zwar alles andere als selten, doch dieser hier stand ganz alleine auf weiter Flur. "Mal sehen", dachte sich Rally, und wartete in sicherer Distanz. "Vielleicht..." Sie wurde nicht enttäuscht. Kurze Zeit später kam Tanner, offensichtlich unverrichteter Dinge, aus dem Gebäude. In seiner rechten Hand hielt er ein Gewehr. Es war tatsächlich ein SG551. Mit ihrem Kennerblick erkannte Rally sofort das überlange Magazin. Das erstaunte sie, denn mit 30 Schuss war dieses Magazin doch recht gross für ein halbautomatisches Gewehr. Es seie denn, natürlich, es würde sich um die vollautomatische Armeeversion handeln. Aber dann wäre diese Waffe in den Händen eines Zivilisten normalerweise illegal. Das Geräusch von Tanners startendem Corsa holte sie aus ihren Gedanken. Vorsichtig verfolgte sie ihn im Cobra. Als sie vor einer roten Ampel halten musste, rief sie Becky an: "Du Becky, ich hab Tanner. War ein Riesenglück. Ich hab ihn zufällig gesehen, wie er eines von Toms Verstecken verliess." "Spitze! Wo seit ihr jetzt?" "Er ist wieder unterwegs. Von der Fahrtrichtung her zu urteilen, ist er auf dem Weg zu einem der anderen Verstecke." Rally gab die Adresse des Versteckes durch, von dem sie vermutete, das Tanner es ansteuerte. "Alles klar", sagte Becky. "Ich mach mich sofort auf den Weg. Unternimm nichts, bevor angekommen bin, hörst du?" "Ist ja gut." Rally legte wieder auf. Das Lichtsignal schaltete ebenfalls gerade wieder auf grün, so dass sie Tanner weiter folgen konnte. So allmählich bereute sie es, den Auftrag angenommen zu haben. Dass die Tatsache, dass sie für Becky arbeitete, auch bedeutete, dass sie nach Beckys Regeln arbeitete, hatte sie schlicht nicht bedacht. Sie machte sich so ihre Gedanken, als Tanner mitten in einem Industrieviertel unvermittelt vor einem Haus anhielt. Dass war dumm, denn es war deutlich nach Feierabend, und die Gegend dementsprechend ruhig. Rally konnte hier nicht einfach anhalten, ohne das es auffiel. Daher fuhr sie an Tanner vorbei, und bog in die nächste Seitenstrasse ein. Erst dort stellte sie den Wagen ab. Sie stieg aus, und sah um die Ecke. Auch Tanner war mittlerweile ausgestiegen, und betrachtete das Haus gegenüber. Es war ein altes Lagerhaus, dass anscheinend schon seit einiger Zeit leerstand. Ideal für ein Versteck also. Das Problem lag lediglich darin, dass dies nicht das Haus war, welches Rally gemeint hatte. Es stand noch nicht einmal auf der Liste. Rally schnappte sich das Autotelefon, und versuchte, Becky zu erreichen. Doch Becky antwortete nicht. Sie war wohl schon unterwegs. Rally riskierte, den Hörer in der Hand, einen zweiten Blick. Tanner ging mittlerweile, das Gewehr gut sichtbar, zum Lagerhaus hinüber. Zufällig sah Rally, wie sich im ersten Stock des dreigeschossigen Gebäudes die Überreste dessen, was wohl mal ein Vorhang gewesen war, bewegten. Tanner schien es nicht zu bemerken. "Idiot!", dachte Rally. "Du wirst noch erschossen!" Als Tanner schliesslich die Tür erreichte, und Becky noch immer nicht antwortete, wurde es Rally zufiel. Sie schmiss den Hörer auf die Gabel, und schloss den Wagen ab. Dann zückte sie die Pistole, und rannte selbst zum Eingang, den Tanner gerade hinter sich geschlossen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)