Die Akte Tanner von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 10: Enthüllungen ------------------------ Bevor Misty von Rally aufgenommen wurde, war sie eine berüchtigte Diebin. Ihre Spezialität war das Schlösserknacken. Sie war dafür bekannt, dass im Haus praktisch nichts auch nur auf einen Einbruch hinwies. Misty versuchte eigentlich, dieses Kapitel ihres Lebens zu vergessen. Aber gelegentlich half sie Rally beim "inspizieren von potentiellen Verstecken". So auch diesmal. Rally ging das ganze routiniert an. Sie und May waren über Funk-Headsets miteinander in Verbindung. May hatte einen Beobachtungsposten bezogen, Rally und Misty warteten in der Nähe. Das bedeutete zwar, dass sie den Laden schliessen mussten, aber Rally wollte sich diese Gelegenheit um nichts in der Welt entgehen lassen. Sie warteten schon eine ganze Weile. Rally hatte kurz die Beobachtung übernommen, damit May etwas zu Mittag essen konnte. Danach hatte sie für sich und Misty ebenfalls ein paar Sandwichs und etwas Kaffee geholt. Sie waren noch mit essen beschäftigt, als May sich meldete: "Rally? Tanner hat gerade das Haus verlassen." Rally schluckte einen Bissen herunter. Dann fragte sie: "Bist du sicher?" "Absolut. Er hat seinen blauen Corsa benutzt. Und ich habe seine Silhouette erkannt." "Mmmm... Naja, was solls. Wir gehen." Hastig packten Rally und Misty die Sandwichreste weg. Wehleidig blickend schüttete Misty den Kaffee den nächsten Gulli hinunter. "Der ist kalt, bis wir zurück sind", erklärte sie. "Lässt sich nicht ändern", meinte Rally. Dann machten sie sich auf den Weg. Tanners Wohnung war in einem unauffälligen Wohnblock. Die Haustür war zwar verschlossen, konnte Mistys Dietrichen aber keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen. Sie fanden keine Wohnung mit Tanners Namen. Die Tür im zweiten Stock war aber als einzige nicht beschildert. Misty betrachtete sie genauer. "Soso. Dafür, dass die Wohnung unbenutzt ist, wurde die Tür in letzter Zeit aber recht häufig geöffnet", meinte sie, nachdem sie einen Blick auf Türklinke und Boden geworfen hatte. Dann legte sie Latexhandschuhe an, und untersuchte die Türschlösser. Es waren insgesamt deren vier. Während sie beschäftigt war, streifte sich auch Rally Handschuhe über. "Hmmm. Automatische Schlösser. Standardfabrikate. Mittlerer Schwierigkeitsgrad. Ganz gut... Aber nicht gut genug." Sie begann, die Schlösser, eines nach dem anderen, zu öffnen. Als sie das letzte geschafft hatte, zog sie die Tür einen kleinen Spalt weit auf. "So, jetzt brauche ich den Spiegel, und den Stock", sagte sie zu Rally. Rally hatte beides auf Wunsch von Misty mitgenommen. Sie hatte sich zwar darüber gewundert, aber Misty hatte nur gemeint, sie brauche diese Dinge, wenn sie bei einem Profi einbrechen sollte. Misty demonstrierte nun, wozu sie dienten. Sie führte den Spiegel, der an einem Draht befestigt war, durch den Spalt in der Türe, und nutzte ihn so als Periskop. Vorsichtig drehte sie ihn ein wenig, um einen Rundumblick des Raumes zu erhalten. "Dacht ichs mir doch", sagte sie triumphierend. "Big Brother links neben der Tür." Was sie damit meinte, war eine Überwachungskamera. Sie nahm den Stock zur Hand. Der 'Stock' war eine Teleskopstange, die sich auf eine Länge bis zu zehn Metern ausziehen liess. Damit konnte Misty auch weit entfernte Kameras erreichen. In diesem Fall war die Kamera allerdings gerade mal zwei Meter entfernt, was nicht das geringste Problem darstellte. Vorsichtig, und mit Hilfe des Spiegels, führte Misty den Stock zur Kamera, und drückte diese nach oben. "Schiess mal ein paar Aufnahmen von der Decke", meinte Misty. Dann öffnete sie die Tür vollständig, und sie und Rally gingen hinein. Sie schauten sich um. Die Wohnung war nicht all zu gross. Gleich hinter der Tür war ein relativ grosser Raum, der wohl gleichzeitig als Wohnzimmer wie auch als Arbeitszimmer diente. Daneben gab es eine kleine Küche, und ein separates Zimmer, welches sich Tanner mittels Bett und Kleiderschrank als spartanisches Schlafzimmer eingerichtet hatte. Das Wohn- und Arbeitszimmer war wesentlich ausführlicher möbliert. Zunächst einmal fiel der Computer auf. Es war eines jener Modelle, welche für Anfänger ausgelegt waren, und passte farblich überhaupt nicht zum Rest der Ausstattung. Daneben stand ein Fernsehgerät mit Stereoanlage und Videorekorder. Der Videorekorder lief. Vermutlich zeichnete er nun Aufnahmen aus dem aufregenden Leben einer Stubenfliege an der Decke auf, was allerdings wohl auch nicht viel langweiliger war als das Fernsehprogramm. Auf einem grossen Tisch schliesslich stand eine gut ausgebaute Lötstation. Ganz offensichtlich war Tanner durchaus im Fach der Elektronik bewandert. Ein Gestell in einer Ecke, welches lauter Schubladen enthielt, weckte das Interesse der beiden. Zur ihrer Enttäuschung waren die meisten Schubladen allerdings leer, enthielten elektronische Bauteile, oder Papiere, von welchen Becky schon längst eine Kopie besass. In der rechten unteren Ecke fand Rally schliesslich etwas interessantes: Die Schublade war vollgestopft mit diversen elektronischen Geräten. "Was haben wir denn da", sagte sie vor sich hin. "Wanzen, Kleinstkameras, elektronische Stetoskope... Alles für den kleinen Abhörer. Und die Bauweise der Wanzen kommt mir doch sehr bekannt vor." Auch Misty erinnerte sich. Eine solche Wanze, wie sie in dieser Schublade war, hatte sie vor kurzem im Laden gefunden. Als sie die linke Schubladenreihe untersuchten, stiessen sie noch auf Richtmikrofone, ein paar weitere Geräte, deren Zweck Rally nicht erkennen konnte, sowie einen Funkempfänger. Ein zweites Exemplar, so erkannte Rally jetzt, war an der Stereoanlage angeschlossen. Anscheinend verwendete Tanner diese nicht nur, um entspannende Musik zu hören. In einer der Schubladen schliesslich befand sich eine schwarze Metallschatulle. Diese war, wie Misty schnell erkannte, von der Innenseite her mit der Schublade verschraubt. Desweiteren war die Schublade so gefertigt, dass sie sich nicht vollständig aus dem Gestell entfernen liess. "Ohne brachiale Gewalt kann man die nicht mitnehmen", sagte Misty. Dann strich sie mit der Hand über die Oberfläche, klopfte an verschiedenen Stellen, schaute aus verschiedenen Blickwinkeln darauf, und betrachtete schliesslich das Schloss genauer. Es vergingen einige Minuten, bis sie endlich etwas sagte: "Gute Arbeit. Die Schatulle ist vermutlich aus mehrwandigem Edelstahl. Man muss schon mit grobem Geschütz kommen, um den zu durchtrennen. Ich glaube nicht, dass der Inhalt das überleben würde. Ausserdem ist die Schatulle anscheinend verkabelt. Wahrscheinlich durch den Boden der Schublade. Wenn die Kabel durchtrennt werden, löst das wohl irgend einen Alarm aus." "Und das Schloss?", fragte Rally. "Eine echte Herausforderung", sagte Misty, und zückte grinsend ihr Spezialwerkzeug. Es waren nicht die üblichen Dietriche. Misty machte sich damit an die Arbeit. Vorsichtig, aber offensichtlich gut gelaunt, stocherte sie mit den Werkzeugen im Schloss. "Kommst du voran?", fragte Rally nach einigen Minuten. "Geht schon. Aber ich brauche noch etwas Zeit", meinte Misty. Wieder vergingen einige Minuten. Da meldete sich auf einmal May: "Rally, er kommt zurück. Er war nur kurz weg." "Verstanden. Behalt ihn im Auge", sprach Rally ins Headset. Dann wandte sie sich an Misty: "Tanner kommt zurück. Beeil doch, oder lass es bleiben." "Ich habs gleich", sagte Misty. Sie wusste, dass es nur noch eine Frage von Sekunden sein konnte. Und sie wollte zumindest wissen, was in der Schatulle drinn war. "Ich habs gleich", sagte sie nochmals... Das Schloss klickte. Aber es klickte nicht so, wie Misty es erwartet hatte. Daher wusste sie sofort, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Aber es war bereits zu spät. Die Schublade fuhr mit Gewalt zu, und klemmte Mistys rechte Hand ein. Es knackste bedenklich. Misty wollte schreien, aber Rally hielt ihr geistesgegenwärtig die Hand vor den Mund. Erst, als Misty den Impuls überwunden hatte, nahm Rally die Hand wieder weg. "Sorry Misty", sagte Rally. "Schongutbittemachdieschubladeaufdastutweeeeh", wimmerte Misty leise. Rally zog an der Schublade, aber der Motor, der in die andere Richtung zog, war stark. Erst, als sie ihr Knie gegen das Gestell stemmte, gelang es ihr, die Schublade ein Stück weit zu öffnen. Misty zog die Hand heraus, und Rally liess los. Die Schublade schloss sich mit einem Knall. Misty betrachtete kurz ihre lädierte Hand. Selbst durch den halbdurchsichtigen Handschuh hindurch konnte sie eine rote Linie auf beiden Seiten erkennen. Dann fiel ihr etwas ein: "Das Werkzeug ist noch in der Schublade", sagte sie. Rally zog kurz daran, aber die Schublade war nun fest verschlossen. "Keine Chance, da komm ich jetzt nicht ran", sagte sie. Ihre Hand fuhr zur Sprechtaste des Headsets. "May! Wo ist er jetzt?", fragte sie. "Tanner ist bereits im Treppenhaus. Seit ihr etwa noch da drinn?" Tanner schloss die Tür auf, und betrat seine Wohnung. Er hatte ein paar Besorgungen gemacht, und wollte sie gerade in der Küche abladen, als ihm auffiel, dass der Motor der Schublade mit der Kassette surrte. Erstaunt stellte er die Tüten auf seinem Arbeitstisch ab, und griff in eine Tasche auf der Innenseite seiner Jacke, von wo er eine Fernsteuerung heraus holte. Ein Tastendruck später hörte das surren auf. Tanner öffnete die Schublade. Darin fand er zwei feinmechanische Werkzeuge. Er kannte sich auf diesem Gebiet zwar nicht aus, aber es war ihm klar, dass sie dazu gedacht sein mussten, Schlösser zu knacken. Also setzte er sich vor seinen Fernseher, spulte das Band etwas zurück, und sah es sich an. "Miss Vincent", sagte er nach einer Weile. "An ihrer Stelle würde ich allmählich aus dem Wandschrank kommen. Im Übrigen wäre es, glaube ich, besser, wenn ich mal einen Blick auf die Hand ihrer Freundin werfen würde. Der Motor in der Schublade ist ziemlich stark." Rally wusste, wann sie geschlagen war. Missmutig öffnete sie den Schrank, und ging ins Arbeitszimmer hinüber. Das Headset hatte sie abgenommen, zusammengeklappt, und in einer Jackentasche verstaut. Tanners Gesichtsausdruck zeigte weder Triumph noch Genugtuung noch Verärgerung. Das Fernsehbild demonstrierte zumindest, warum sie aufgeflogen waren. Aufgrund des Bildwinkels erkannte Rally, dass die Aufnahme unmöglich aus dem Eingangsbereich heraus gemacht sein konnte. Sie blickte nach oben, und fand zwischen Wand und Decke gut versteckt eine Kleinstkamera. "Sie haben also zwei Kameras", meinte sie resigniert. "Nein, nur eine. Die im Eingang ist eine Attrappe", korrigierte Tanner. "Genau wie das Schloss, nicht wahr?", fragte Misty, die mittlerweile nachgekommen war. "Bitte?", fragte Tanner. "Das Schloss der Schatulle", erklärte Misty. "Es ist eine Falle, nicht wahr? Man kann die Schatulle dort nicht öffnen." "Gut erkannt", sagte Tanner anerkennend. "Nur etwas spät, wie mir scheint. Na, kommen Sie mal mit." Tanner ging zur Küche hinüber, und setzte sich an den Esstisch. Mit einer Handbewegung hiess er Misty, sich ihm gegenüber zu setzen. Misty tat dies, und legte anschliessend die verletzte Hand auf den Tisch. Tanner zog vorsichtig den Handschuh von Mistys Hand, was nicht ganz einfach und auch nicht ganz schmerzfrei war, zumal der Handschuh sehr eng anlag. Dann drückte er an verschiedenen Stellen leicht auf die Handfläche. "Sind Sie denn gar nicht wütend?", fragte Rally. "Ach, ich dachte mir schon, dass die früher oder später hier aufkreuzen würden. Nur das es so schnell gehen würde, dass überrascht mich zugegebenermassen ein wenig." An der nächsten Stelle, an der Tanner drückte, gaben die Knochen etwas nach. Misty zog vor Schmerz die Luft ein. "Tja, die ist gebrochen", sagte Tanner. "Miss Vincent. Seien sie doch so nett, und holen sie meinen Erste Hilfe Koffer. Er ist im Gestell im Arbeitszimmer, in der Schublade ganz oben links." "Öh, ja klar", antwortete Rally. Sie ging zum Gestell hinüber, und holte das Gewünschte. Dabei fragte sie sich, was Tanner eigentlich für ein Spiel mit ihnen trieb. Ahnte er tatsächlich schon, dass sie kommen würden? Und falls ja: warum? Und warum rief er nicht die Polizei, oder schmiss sie zumindest aus der Wohnung? Als sie mit dem Koffer in die Küche zurückkahm, holte Tanner aus einer Schublade gerade einige kleine Holzspachtel hervor. "Damit sollte es gehen", sagte er. "Ich werde die Hand jetzt notdürftig schienen. Aber Sie sollten sie unbedingt einem Arzt zeigen. Ah, danke Miss Vincent." Tanner öffnete den Koffer, und entnahm ihm eine Schere und Verbandszeug. Dann machte er sich daran, Mistys Hand zu schienen. Rally erkannte, dass Tanner dies nicht zum ersten Mal machte, oder es zumindest schon geübt hatte. Tanner führte die Arbeit sauber und professionell durch. Danach nahm er das Gespräch wieder auf: "So. Jetzt hätte ich doch eine kleine Frage an Sie: Was machen Sie eigentlich hier?" "Ich dachte, Sie hätten uns erwartet?", entgegnete Rally schnippisch. "Nun ja, mir ist durchaus aufgefallen, dass Ihr Interesse an mir über eine normale Kundenbeziehung hinaus geht. Aber warum, das würde ich schon gerne wissen." Rally überlegte kurz, und entschied dann, in die Offensive zu gehen. Sie nahm eine Wanze aus der Jackentasche, und warf sie auf den Tisch. Es war diejenige, die Misty im Laden gefunden hatte. "Das ist doch Ihre, oder?", fragte sie. Tanner nahm die Wanze auf, und betrachtete sie ein wenig. "Ja, das ist meine Bauart", sagte er schliesslich. "Ich habe eine Reihe davon verkauft. Sie hatten wohl Ärger mit jemandem." "Die haben wir unmittelbar nach ihrem ersten Besuch in meinem Laden gefunden. Und die Batterie war noch taufrisch. Vielleicht möchten Sie uns ja erzählen, warum Sie uns nachspionieren." Tanner seufzte. Dann schmiss er die Wanze in einen bereitstehenden Abfallkorb, und stand auf. "Ich schätze, das wird etwas länger dauern. Kaffee?" Ein paar Minuten später hatte Tanner drei Tassen dampfenden Cappuccino auf den Tisch gezaubert. Misty war froh darüber, hatte sie doch vorhin den Kaffee wegschütten müssen. Rally hingegen war ungeduldig, und wollte endlich ihr Gespräch mit Tanner fortsetzen. "So, das hätten wir", sagte Tanner, als er die Tassen abgesetzt hatte. "Vorsicht, er ist noch heiss." "Also, wie siehts aus?", fragte Rally. "Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie dürfen mir einige Fragen stellen, und ich werde sie wahrheitsgetreu beantworten, sofern dies meine Sicherheit nicht gefährdet. Als Ausgleich dafür will ich von Ihnen ein Ehrenwort als Prämienjägerin, dass sie mich nicht weiter bespitzeln werden. Ist das ein Angebot?" "Woher soll ich Wissen, ob Ihre Auskünfte für mich ausreichend sind? ", fragte Rally. "Das kann ich natürlich nicht garantieren. Aber sie werden in nützlicher Frist auch nicht mehr über mich rausbekommen. Ich bin ganz gut darin, meine Spuren zu verwischen." Das war keineswegs übertrieben, und Rally wusste das. Immerhin war Becky bereits seit Wochen auf der Jagd nach Informationen über Tanner. "Also gut", sagte Rally schliesslich. "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich Ihnen nicht weiter nachspionieren werde." "Und auch niemanden damit beauftragen", sagte Tanner. "Einverstanden." "Miss Hopkins auch nicht." "Gut." "Und sie Miss...", sagte Tanner zu Misty. "Brown", antwortete sie. "Für Sie gilt dasselbe." Misty schaute zu Rally, aber Rally nickte nur kurz. "In Ordnung", sagte Misty. "Na, dann schiessen sie mal los." "Gut", sagte Rally. "Zunächst einmal: Wollen Sie denn überhaupt nichts über mich wissen?" "Nein", sagte Tanner. "Und selbst wenn, würde ich es auch so herausfinden. Ich bin nämlich auch noch Informant, wissen Sie." "So einfach bin ich nicht auszuspionieren." "Und ob. Sie sind zwar eine hervorragende Prämienjägerin, aber vom Spuren verwischen haben Sie nicht so viel Ahnung Miss Eileen Vincent." "Eileen?", fragte Misty. Rally versuchte, es nicht zu zeigen, aber sie erschrack fürchterlich. Eileen war ihr wirklicher Name. Wenn Tanner den wusste, dann kannte er vermutlich auch ihr wahres Alter. Und damit hatte er etwas gegen sie in der Hand, denn Rally war nach amerikanischem Recht eigentlich noch minderjährig, und durfte somit keinen eigenen Laden führen. Von ihrem Waffenbesitz, und ihrer Tätigkeit als Prämienjägerin ganz zu schweigen. "Für wen Arbeiten sie denn als Informant?", fragte Rally etwas nervös. "Och, eigentlich nur noch für mich selbst. Früher hatte ich mal fest für eine bestimmte Organisation gearbeitet, aber natürlich kann ich ihnen nicht sagen, wer das war." "Natürlich", sagte Rally erleichtert. Sie nahm einen Schluck vom Kaffee, spie ihn aber beinahe wieder aus. "Meine Güte, ist der stark!", rief sie. Misty versuchte ebenfalls davon. Auch ihr zog es jeden Gesichtsmuskel zusammen. "Kann man danach überhaupt noch schlafen?", fragte sie. "Natürlich", meinte Tanner leicht amüsiert. "In meiner Heimat trinkt man den immer so stark. Nur halt nicht literweise. Der hier gehört noch zu den Schwächeren." "Können Sie uns Ihren Heimatort etwas genauer umschreiben", fragte Rally, während sie vorsichtig am Kaffee nippte. "Mitteleuropa", sagte Tanner kurz angebunden. "Und ihr wahrer Name?" "Meine Identität muss geheim bleiben." "Ihre Pseudonyme vielleicht?" "Ich hab noch ein paar weitere. Aber es sind aus gutem Grund verschiedene. Die Leute, mit denen sie Umgang pflegen, kennen mich alle unter dem Namen Tanner." "Na schön. Warum sind sie überhaupt hier?" "Ich musste aus Europa fliehen." "Warum?" "Vergessen Sies." Rally seufzte. "Also, besonders kommunikativ sind Sie ja nicht!" Tanner schaute sie einige Zeit eindringlich an. Rally hielt dem Blick stand. "Bleibt das unter uns?", fragte Tanner schliesslich. "Natürlich." "Keine Scherze bitte. Miss Hopkins können Sie von mir aus informieren. Aber wenn sie es sonst jemandem sagen, bringen sie mich in ernsthafte Gefahr, verstanden?" Rally zögerte kurz, nickte dann aber. Das bedeutete natürlich, dass sie Becky nichts sagen durfte. Aber sie war einfach viel zu neugierig, um sich diese Informationen entgehen zu lassen. "Gut," sagte Tanner. "Ich habe als Informant für ein Syndikat gearbeitet. Ich hatte auch Verbindungen zu verschiedenen hohen Tieren, sowohl in der Unterwelt, wie auch in offiziellen Stellen. Tja, vermutlich hätte ich eine glänzende Unterweltskarriere vor mir gehabt." Rallys Augen verengten sich. Tanner war anscheinend ein 'Puppenspieler'. Jemand, der andere für sich die Drecksarbeit erledigen liess, und selten selbst in Erscheinung trat. Sie mochte solche Leute nicht besonders. "Was ist passiert?", fragte sie. "Tja, ich kannte unter anderem den Sohn eines Syndikatbosses. Er hätte später höchstwahrscheinlich das Syndikat übernommen. Wenn er nicht ermordet worden wäre. Irgendwie sind seine Mörder auf meine Verbindung zu ihm gekommen, also haben sie versucht, auch mich zu beseitigen. Ironisch, nicht wahr? Die Verbindung, die mir später Kontakt zur absoluten Spitze garantiert hätte, wurde mir zum Verhängniss." Rallys Mundwinkel zogen sich etwas nach oben. Irgendwie befriedigte es sie, das selbst jemand wie Tanner nicht unbesiegbar war. "Die Mörder legten einen Brand, um den Mordversuch zu vertuschen, nicht wahr?", fragte sie. Tanner zuckte unmerklich zusammen. "Ja, das haben sie", sagte er. Dann nahm er einen grossen Schluck Kaffee. "Bis hierhin und nicht weiter. Mehr werde ich Ihnen dazu nicht sagen." "Schon gut, wechseln wir das Thema." "Wir haben Sie beobachtet, wie sie mit einem Mann aus dem Vector Syndikat gesprochen haben. Was ist Ihre Beziehung zu diesem Syndikat?" "Oh, dann waren *Sie* das gestern. Nun, ich arbeite gelegentlich für das Syndikat." "Haben die Wanzen im Laden damit etwas zu tun?" "Nur zum Teil. Ich habe einige an Vector verkauft, und er hat sie offensichtlich gegen Sie eingesetzt. Ich selbst habe lediglich routinemässig zwei platziert, als ich hinter Tom her war." "Zwei?" "Ach ja, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie nur die an der Theke gefunden. Die andere ist am Schaukasten mit den alten Pistolen." "Hmpft. Na schön. Aber warum arbeiten Sie überhaupt für ihn?" "Weil ich ein neues Beziehungsnetz brauche, wenn auch diesmal nur für Informationen. Vector ist häufig einer der ersten, der von Bewegungen im Untergrund erfährt. Ausserdem... brauche ich das Geld. Die Flucht hat mich viel gekostet." "Waren Sie damals der Schütze, der auf Arthur Cogan geschossen hat?" "Ja, das war mein Auftrag. Ich sollte sicherstellen, das Cogan geschnappt wird, ohne ihn selbst zu töten. Eigentlich hatte ich mit Stevensons Leuten gerechnet, die allesamt Amateure waren, also ging ich auf Nummer Sicher." "Und was war mit dem Schuss durch Thomas Martins Uzi vor Stevensons Hauptquartier? Waren Sie das auch?" "Ja. Vector wollte, das sie sicher wieder raus kommen." Das überraschte Rally. "Vector wollte uns helfen?" "Naja, so wie ich ihn kenne, war nicht die Sorge um Sie im Vordergrund. Ich vermute eher, er hat sich Sorgen um das Gelingen der Mission gemacht. Wenn sie geschnappt worden wären, hätte das nicht mehr zur Story gepasst, das Stevenson die Vorräte selbst vernichtete, damit sie nicht der Polizei in die Hände fallen." "Ja, das entspricht eher Vectors Charakter. Und die Jagd nach Tom, nachdem er geflohen war, war wohl auch auf sein Kommando hin?" "So ist es. Eine erfolgreiche Flucht hätte die Untersuchung weiter verzögert. Und Vector wollte sie so schnell wie möglich abgeschlossen haben." Rally trank den Kaffee aus. Sie vermutete zwar, dass sie damit den Koffeinbedarf für die gesamte, nächste Woche abdeckte, aber sie wollte auch nicht unhöflich erscheinen. "Nun gut, mehr will ich gar nicht wissen", sagte sie, und stand auf. "Danke für den Kaffee." "Sie sind jederzeit willkommen. Jedenfalls, solange sie keinen Dietrich verwenden, um hier reinzukommen." "Das brauchte schon mehr als einen Dietrich", sagte Misty mit einem doch etwas gekränkten Unterton. Sie trank ebenfalls aus, und stand auf, vergass aber für einen Augenblick die Bandage, und stützte sich auf die rechte Hand. Der Schmerz liess das Wasser in ihre Augen schiessen. "Vergessen Sie nicht, Ihre Hand einem Doktor zu zeigen", erinnerte sie Tanner. "Oh, und Miss Vincent: Falls Sie mein Gespräch mit dem Angestellten Vectors mitgehört haben sollten: Halten Sie sich besser aus dem Fall raus. Er ist eine Nummer zu gross für Sie." Tags darauf führte May wieder den Laden. Rally hatte Misty zu einem Arzt gefahren, und danach ein Treffen mit Becky ausgemacht, um sie über die Resultate ihrer Nachforschungen zu informieren. Sie war schon den ganzen Vormittag weg. Kurz nach Mittag endlich hörte May das vertraute Motorengeräusch von Rallys Cobra. Einige Minuten später stand Rally im Laden. Sie sah etwas mitgenommen aus. "Hallo Rally", sagte May. "Wo hast du Misty gelassen?" "Tag May. Misty ist direkt nach Hause", antwortete Rally. "Wie geht es ihr?" "Den Umständen entsprechend gut. Sie hat ihre Hand fixiert bekommen. In ein paar Wochen sollte alles verheilt sein." "Tja, Tanner springt nicht gerade zimperlich mit Leuten um, die an seine Papiere wollen, was?" "May... Ach übrigens: Hast du die Wanze gefunden?" "Ja. Sie war dort, wo Tanner es gesagt hatte." Rally nickte, sagte aber nichts weiter. "Sag mal Rally, wie hat es Becky eigentlich aufgenommen?", fragte May. Rally seufzte. "Nicht besonders gut. Sie hat mir eine Standpauke gehalten, weil ich mich von Tanner habe erwischen lassen. Und dass ich mich aus der Sache zurückziehe hat ihr erst recht nicht in den Kram gepasst. Sie hat mir vorgeworfen, ich würde mich nur zurückziehen, weil ich alle für mich selbst wichtigen Informationen zusammen habe." "Oh je. Und die Informationen, die du ihr gegeben hast?" "Damit war sie natürlich auch nicht zufrieden. Naja, so viel wars ja auch nicht." "Hast du ihr die Sache mit Tanners Vorgeschichte verschwiegen?" "Jaaa." "Du weisst, wenn du es ihr gesagt hättest, wäre sie vielleicht zufrieden gewesen." "Ich pflege meine Versprechungen zu halten!", sagte Rally gereizt. "Schon gut. Schon gut. Aber wie sieht es jetzt mit Kohle aus? Immerhin haben wir einigen Aufwand betrieben." "Becky hat mir fünf Riesen in die Hand gedrückt, und mich rauskomplimentiert." "5000?! Das ist wenig! Wir haben wegen der Sache mit Tanner vielleicht Aufträge sausen lassen, die mehr einbrachten, und einfacher gewesen wären!" "Ich weiss. Es ist mit Sicherheit zuwenig. Es sind 10 Prozent vom geschätzten Wert der Informationen, bevor wir unsere Nachforschungen begonnen haben. Ausgemacht waren 20 Prozent vom entgültigen Wert. Aber ich wollte Becky so schnell wie möglich loswerden. Tut mir leid." "Schon gut, das lässt sich jetzt wohl nicht mehr ändern. Wenigstens haben wir jetzt erstmal wieder unsere Ruhe." Rally nickte lächelnd, aber irgendwie hatte sie so ihre Zweifel. Tanners Worte liessen sie darauf schliessen, dass irgend etwas grosses im Anzug war. Irgend etwas, dass die Ruhe der Stadt nachhaltig stören würde. Sie vermutete, dass die Geschichte noch lange nicht vorbei war. Und wie so häufig, sollte sie damit recht behalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)