Die Akte Tanner von abgemeldet ================================================================================ Prolog: -------- Es war ein ganz normaler Frühsommernachmittag auf dem Chicagoer Flughafen O'Hare. Wie immer zur Hauptverkehrszeit war die Ankunftshalle überfüllt. So kümmerte sich auch niemand weiter um den Mann, der gerade ankam. Warum sollten sie auch? Er war ein Flugpassagier wie Tausende andere auch. Gut, er sah etwas seltsam aus: Einerseits machte er in den schwarzen Jeans und dem weissen T-Shirt einen ausgesprochen lässigen Eindruck. Die schwarze Lederjacke, die er sich über die Schulter geworfen hatte, verstärkte den Eindruck noch. Andererseits passten seine traurigen Augen überhaupt nicht ins Bild. Der Mann schaute sich um. Anscheinend suchte er irgendjemanden. Viele Firmen und Reisebüros hatten ihre Empfangsdamen und -Herren geschickt. Aber auf keinem der Schilder schien sein Name verzeichnet zu sein. Schliesslich entdeckte er in einer Ecke einen Mann in einem schwarzen Anzug, der Zeitung las. Das schien die Person zu sein, die er suchte, denn er ging geradewegs auf sie zu. "Mr. Smith?", fragte er. Der angesprochene schaute von der Zeitung auf. Dann legte er sie zusammen, und bot seinem Gegenüber freudig die Hand. "Mr. Tanner! Willkommen in den USA. Ich bin von der Aussenstelle Chicago. Es ist mir eine Ehre, sie persönlich begrüssen zu dürfen." Tanner ergriff Smiths Hand nicht. Sein Blick verfinsterte sich etwas. Die peinliche Situation blieb ein paar Sekunden lang bestehen. "Es wäre mir lieber, wenn Sie meinen Namen nicht quer durch die Halle schreien würden", sagte Tanner schliesslich. Smith liess seine Hand sinken. "Könnten wir jetzt zur Sache kommen?", fragte Tanner. "Ja, natürlich", meinte Smith etwas verwirrt. Er zog einen Umschlag aus einer Tasche seines Anzugs. "Dieser Umschlag enthält alle nötigen Papiere. Reisepass, Führerschein, und so weiter. Die Lizenzen für die Waffen sind auch drinn." Tanner nahm den Umschlag entgegen, und begann, den Inhalt durchzusehen. "Wollen Sie Ihre Waffen wirklich behalten?", fragte Smith. "Die werden Ihnen noch auf die Spur kommen." "Meine Spur wurde sehr gut verwischt. So einfach bin ich nicht zu finden." Plötzlich stutzte Tanner. Er zog einen zweiten, kleineren Umschlag aus dem ersten. "Ihre Schlüssel", erklärte Smith. Tanner nickte, und legte den kleinen Umschlag zurück in den grossen. "Wo werde ich wohnen?", fragte er. "Die Adresse ist auf einem Zettel im Handschuhfach ihres Wagens." "Und mein Wagen?" "Ist in der Flughafengarage." Smith kramte einen Parkschein hervor, und hielt ihn Tanner hin. "Muss ich etwa die Parkgebühr bezahlen?", fragte Tanner in einem erstaunlich sachlichen Ton. "Es soll doch wie echt aussehen", erwiderte Smith. "Ja", sagte Tanner, und nahm den Parkschein. "Ich hoffe für Sie, das niemand mitgehört hat." Kapitel 1: Reine Routine ------------------------ Zwei Monate später... In letzter Zeit war es ziemlich ruhig. Es kamen kaum Kunden in den Waffenladen "Gunsmith Cats". Auch die Kriminellen blieben brav hinter Gittern. Rally Vincent, Ladeninhaberin und Teilzeit-Prämienjägerin, langweilte sich also. Sie stand im Laden, auf ein Wunder hoffend, das ihr etwas Abwechslung verschaffen würde. Das Wunder kam in Form ihrer kleinwüchsigen Assistentin May. "Da ist ein Fax für dich angekommen", sagte sie. "Ein Auftrag?", fragte Rally hoffnungsvoll. "Ja, aber der lohnt sich kaum. Er bringt gerade mal 2000 ein." "Na egal, gib her. Irgendwas muss ich tun, sonst roste ich ein." Rally sah sich das Fax an. Zunächst sah es wirklich nach nichts besonderem aus. Ein kleiner Drogenhändler namens Arthur Cogan. Doch die Beschreibung der Umstände der Festnahme hielt eine Überraschung bereit. "Du, da steht, dass er zehn Kilo 'Kerosin' auf sich trug, als er geschnappt wurde." "Zehn Kilo?", echote May überrascht. 'Kerosin' war eine neuartige und sehr gefährliche Designerdroge, die von Rallys Erzfeindin, der Drogenbaronin Gordi, entwickelt wurde. Nach Gordis Rückkehr nach Italien waren die Preise ins Unermessliche gestiegen. Zehn Kilo waren ein kleines Vermögen. Für Rally war der Fall damit jedenfalls klar: Sie würde den Auftrag übernehmen. Sie war ohnehin nicht besonders gut auf Drogen zu sprechen, aber Kerosin stand weit oben auf ihrer Abschussliste. "Also schön", sagte sie sich. "Du nimmst an", meinte May, wenig überrascht. "Ja", erwiderte Rally knapp. "Kannst du kurz den Laden übernehmen, während ich telefoniere?" "Ach, du meinst nur für den Fall, das ein Kunde kommen könnte?" kicherte May. Rally warf ihr einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts. Sie ging zum Telefon. Rally bestätigte telefonisch, dass sie den Auftrag annehmen würde. Sie würde anschliessend noch kurz vorbeifahren müssen, um den Vertrag zu unterzeichnen. Aber vorher wollte sie noch Becky, ihre Informantin, anrufen. "Hallo?", klang Beckys Stimme aus dem Telefon. "Hallo Becky. Ich bins, Rally." "Oh, Hallo Rally. Hast du etwa auch noch einen Auftrag für mich?" "Wie? Bist du etwa beschäftigt?" "Und wie. Es ist auch ein ziemlich dicker Brocken dabei." "Na toll, und ich sitz hier auf dem trockenen. Die Welt ist nicht gerecht. Hast du trotzdem noch Platz für einen kleinen Auftrag?" "Klar doch. Du bist doch eine alte Freundin. Da lässt sich immer was machen." "Danke Becky." "Vorausgesetzt natürlich, es ist gut bezahlt." Eine kurze Stille folgte diesen Worten. "Wie bitte?", fragte Rally. "Also einen kleinen Anreiz musst du mir schon geben, wenn ich für dich suchen soll. Immerhin muss ich dafür einen gut bezahlten Job aufschieben. Und ausserdem..." "Na gut, dann eben nicht", unterbrach Rally verärgert, und hängte den Hörer ein. "Jetzt sei doch nicht gleich sauer", sagte Becky, bekam aber als Antwort nur noch das Freizeichen zu hören. "Mann." Rally war aber sauer. Becky schien gelegentlich zu vergessen, was wichtiger war: Geld oder die Freundschaft. Zwar hatte sie Rally auch schon aus brenzligen Situationen geholfen. Hinterher hatte sie aber jeweils eine gepfefferte Rechnung gestellt. Mit diesen Gedanken im Kopf ging Rally zurück in den Verkaufsraum. "May", sagte sie, "ich muss weg." "Den Vertrag unterzeichnen, nehme ich an?" "Nicht nur. Becky will derzeit keine Aufträge annehmen, wenn sie nicht gut bezahlt sind. Ich muss also selbst nach unserem 'Kunden' suchen." "Soll das heissen, du gedenkst mich den ganzen Tag im Laden allein zu lassen?" "Tut mir leid, May. Aber für so einen kleinen Fisch kann ich nicht den Laden schliessen." "Warum denn nicht? Mach doch einfach mal Betriebsferien." "Wir können nicht einfach Betriebsferien beschliessen. Sonst verlieren wir noch den Rest der Kundschaft." "Dann gib den Laden doch auf, und werde hauptberuflich Prämienjägerin." "Nein, May. Ich bin immer noch in erster Linie Büchsenmacherin." May gab sich geschlagen: "Na schön. Aber ich werd mich hier wieder zu Tode langweilen." "Hör zu, May: Wenn ich Cogan gefunden habe, ruf ich dich an, und wir schnappen ihn gemeinsam. Ist das ein Angebot?" "Das klingt schon besser!" "Also, einverstanden?" "Klar. Aber vergiss es nicht. Sonst wär ich in Zukunft vorsichtiger beim Drehen des Zündschlüssels", sagte May mit einem diabolischen Grinsen. "Wag das ja nicht", erwiderte Rally. May hatte ihr schon einmal die Motorhaube weg gesprengt. Rally wusste daher, wozu May fähig war. Der Vertrag war schnell unterschrieben. Anschliessend fuhr Rally zum Polizeipräsidium. Cogan war dort kein Unbekannter. Seine Akte war dick genug, jemanden zu erschlagen. Schliesslich erhielt Rally, nicht ganz legal, eine Liste mit häufigen Aufenthaltsorten. Es war eben von Vorteil, mit der Polizei gut auszukommen. Die Liste war allerdings ziemlich lang, und Rally war den ganzen Tag beschäftigt. Gegen Abend, die Sonne stand schon tief, hatte sie endlich Glück: Es handelte sich um eine kleine Hütte, etwas ausserhalb von Chicago. Der Rollladen am Fenster war unten, aber ein Lichtschimmer verriet, dass die Hütte bewohnt war. Rally lies den Wagen ohne Licht bis vor das Häuschen rollen. Das Türschloss war anscheinend schon vor langer Zeit heraus- gebrochen worden, so dass unterhalb der Türfalle ein Loch in der Tür klaffte. Das erlaubte Rally, einen vorsichtigen Blick hinein zu werfen. Kein Zweifel: Da sass Cogan hinter einem Tisch, und schien irgend etwas zu studieren. Rally hätte ihn jetzt einfach festnehmen können, aber schliesslich hatte sie May etwas Action versprochen. Also fuhr sie den Wagen wieder vorsichtig in die Stadt zurück. Dort erst rief sie May an. "Hallo May." "Ah, es wird allmählich Zeit, das du anrufst. Es war den ganzen Tag lang kein Kunde da. Du lässt mich hier einfach verrotten!" "Oh, tut mir leid, dass dein Tag nicht so aufregend war, wie meiner", meinte Rally mit vor Sarkasmus triefenden Stimme. "Aber ich hab eine gute Nachricht für dich." "Du hast ihn gefunden?" "Ja." "Und du hast ihn noch nicht geschnappt?" "Nein." "Bleib, wo du bist. Ich bin in fünf Minuten bei dir." "Warte, warte. Soll ich dir nicht erst sagen, wo ich bin?" Ob so viel Enthusiasmus musste Rally grinsen. Aber sie konnte May verstehen: Es war in den letzten Tagen wirklich langweilig gewesen. Es dauerte dann doch ganze zwanzig Minuten, bis May ankam. In dieser Zeit hatte Rally ständig Cogans Hütte überwacht. Dabei war ihr etwas aufgefallen: Cogan hob in unregelmässigen Abständen eine Lamelle an. Rally vermutete, dass Cogan jedesmal, wenn er ein Geräusch hörte, nachschauen ging, was los war. Er war also nervös. Rally gefiel das nicht, denn das machte ihn unberechenbar. Schliesslich bog ein kleiner, weisser Fiat um die Ecke. Daraus stieg eine energiegeladene May, der es offensichtlich nicht früh genug los gehen konnte. "Da bin ich!", rief sie fröhlich. "Ging doch schnell, oder?" "Schnell?", fragte Rally. Sie schaute auf die Armbanduhr. "Na ja, für deinen Wagen vielleicht." "Na na. Immerhin ist mein Kleiner trotz seines Alters deutlich weniger in der Werkstatt, als dein stolzer Cobra." May berührte mit voller Absicht einen wunden Punkt. Die Reparaturkosten, die für den Cobra so aufliefen, hätten Rally schon lange in den Ruin getrieben, wäre da nicht ihr einträgliches 'Hobby'. Andererseits resultierten die meisten Beschädigungen eben daraus... Jedenfalls hatte Rally keine Lust, um diese Zeit irgendwo am Stadtrand einen Streit zu beginnen. Also sagte sie nur: "Schon gut. Schnappen wir ihn uns, bevor die Sonne untergeht." "Wo steckt er denn?", fragte May. Rally deutete über ihre Schulter zur Hütte. "Da drinn", sagte sie knapp. "Echt? Ist ja nett von ihm, selbst in die Reuse zu latschen. Soll ich ihn ausräuchern?" "Geht nicht. Vor dem einzigen Fenster ist ein Rollladen. Ich denke, wir machens wie damals, als wir Ken gesucht haben." "Okay!" Langsam liess Rally den Wagen vor anrollen. Der Plan sah vor, unerkannt zu Tür zu kommen, eine Granate mit Betäubungsgas rein zu schmeissen, und Cogan hinterher einfach aufzulesen. Als sie jedoch die halbe Strecke zur Hütte hinter sich hatten, beschloss Cogan, aus welchem Grund auch immer, heraus zu schauen. Vermutlich hatte er wieder irgend etwas gehört. "Scheisse, jetzt hat er uns gesehen!", rief Rally. Sie drückte das Gaspedal durch. Der Cobra freute sich lautstark über die plötzliche Benzinzufuhr. Die Räder drehten durch, doch als sie auf der schlechten Strasse halt fanden, machte der Wagen einen ordentlichen Satz nach vorne. Innert weniger Sekunden waren Sie am Ziel. Rally bremste scharf. Sie sprang aus dem Wagen, und rannte zur Hütte. May tat es ihr gleich. Sie postierten sich je auf einer anderen Seite der Tür. May machte die Granate bereit. Als sie fertig war, trat Rally einen Schritt zurück, um die Tür einzutreten. Doch sie kam nicht dazu: Eine Kugel flog durch die geschlossene Tür, und verfehlte Rally nur knapp. Rally drückte sich wieder gegen die Wand neben der Tür. Sie fluchte: Genau darum hasste sie übernervöse Typen. Aber sie wusste auch genau, wie es weitergehen würde: Cogan würde sein Magazin leer schiessen, und dann versuchen, durch das Fenster zu flüchten. Sie musste nur schneller sein. Ihre Vermutung schien sich zu bewahrheiten: Nachdem sechzehn weitere Kugeln die Tür in ein Sieb verwandelt hatten, hörte die Schiesserei plötzlich auf. Rally konnte noch das Geräusch des eiligst hochgezogenen Rollladens hören, und beeilte sich daher. Doch als sie zum zweiten Mal versuchte, die Tür einzutreten, zerschnitt ein scharfer Knall die kurze Stille. Rally starrte erschrocken auf das Loch, das die Kugel in die Tür gerissen hatte. Der Knall und die Form des Lochs liessen keinen Zweifel zu: Das war die Kugel eines Sturmgewehrs. Ein beherzter Tritt liess die Tür aufschwingen. Ein Loch im gegenüberliegenden Fenster zeigt deutlich, woher die Kugel gekommen war. Cogan lag davor auf dem Rücken, und machte keinen besonders gesunden Eindruck. Geistesgegenwärtig holte May ihren Feldstecher aus dem Wagen. Damit rannte sie zum Fenster, und suchte die Umgebung ab. "Und?", fragte Rally, während sie sich über Cogan beugte. May schaute angestrengt durch den Feldstecher. Schliesslich setzte sie ihn ab, und schüttelte den Kopf. "Ich hab den Schützen ausgemacht. Aber die Sonne blendet mich. Ich kann nichts erkennen." Sie seufzte, und wandte sich Rally zu. "Das Gewehr hatte eine etwas seltsame Form. Ich denke, ich werde es wiedererkennen." "Das wird uns vermutlich nicht viel bringen", meinte Rally, "aber es ist besser als nichts." "Wie gehts den unserem Kunden?" Rally grinste. "Besser, als er es verdient. Die Kugel hat nur seine Schulter gestreift. Er ist glatt ohnmächtig geworden." May griff sich an die Stirn. "Ach du meine Güte", sagte sie. Dann wanderte ihr Blick auf den Tisch, an dem Cogan zuvor gesessen hatte. "Du Rally, schau mal." Langsam öffnete Cogan die Augen. "Ich... ich lebe ja noch", sagte er langsam. "Scharf erkannt", erwiderte Rally. Cogan sah sich erschrocken um. Er lag auf einer Pritsche in einem Raum, der ihn unangenehm an eine Gefängniszelle erinnerte. Die Tür stand offen, aber Rally sass auf einem Stuhl genau davor. Cogan setzte sich auf. "Wer sind Sie?", fragte er. "Wo bin ich hier? Was wollen Sie von mir?" "Ein bisschen viele Fragen auf einmal", meinte Rally. "Also der Reihe nach: Mein Name ist Rally Vincent. Ich bin Prämienjägerin. Und ich habe Sie gerade festgenommen. Dies hier ist mein Spezialraum für besondere Gäste wie Sie. Und punkto meiner weit..." "Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten!", unterbrach Cogan. "Sie sind nicht die Polizei. Das ist Freiheitsberaubung. Ich verlange, sofort auf freien Fuss gesetzt zu werden." "Ich habe das Recht, Sie so lange fest zu halten, bis ich Sie der Polizei übergeben habe." "Aber Sie müssen mich auf dem direkten Weg zur Polizei bringen. Das hier..." "Ja!", sagte Rally mit einer Schärfe, die Cogan Einhalt gebot. "Ehrlich gesagt, ich bereue es bereits, Sie nicht direkt der Polizei übergeben zu haben. Aber ich glaube nicht, dass dies in Ihrem Interesse liegen würde." Cogan verstand nicht. "Wie?", fragte er. "Wir haben auf Ihrem Schreibtisch ein paar Dinge gefunden. Eine Karte von Chicago mit eingezeichneten Fluchtwegen, Karten von verschiedenen anderen Städten, und diesen netten Brief hier." Rally hielt ein Stück Papier hoch. Cogan erblasste. "Das... Das dürfen Sie nicht..." Rally begann vor zu lesen: "Hallo Stevenson, Sie alter Aasgeier. Ich weiss wo Ihr Drogenlabor ist. Wenn Sie nicht wollen, dass die Polizei es erfährt, und so weiter, und so weiter." Rally faltete den Brief wieder zusammen. "Ich nehme an, das hier ist eine Kopie. Das Original haben Sie bereits verschickt, richtig?" "Woher... woher wissen Sie...?" "Ganz einfach Sie Idiot! Jemand hat auf Sie geschossen. Und das waren nicht wir! Raten Sie mal, wer es gewesen sein könnte." Das letzte bisschen Farbe wich aus Cogans Gesicht. Er wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton über die Lippen. "Sie sitzen ganz schön in der Scheisse, mein Lieber." Kapitel 2: Interview mit dem Vampir ----------------------------------- Rally kam die Treppe hoch, und ging in den Verkaufsraum. May wartete dort bereits auf sie. Sie ass Pizza. "Hey, konntest du nicht auf mich warten?", fragte Rally. "Die wäre sonst nur kalt geworden", meinte May. "Und da wolltest du sie in deinem Magen wärmen, oder was?" Rally nahm sich selbst ein Stück. Befriedigt stellte sie fest, dass es noch einigermassen warm war. "Und? Hat er gesungen?", fragte May. "Mmm" Rally nickte, und schluckte. "Viel mehr weiss ich jetzt allerdings auch nicht. Dieser Stevenson, den Cogan zu erpressen versuchte, ist sein Boss. Oder zumindest gewesen." "Er hat versucht, seinen Boss zu erpressen? So ein Idiot." "Tja" Rally vernichtete den letzten Rest ihres Pizzastücks, und nahm sofort ein weiteres. "Die ganze Geschichte könnte aber von Vorteil für uns sein. Ich habe Cogan versprochen, ihn vor Stevenson zu schützen. Im Gegenzug hat er mir den Standort des Drogenlabors verraten." "Du hast doch nicht etwa vor..." "Wir könnten uns zumindest mal umsehen." Rally bis herzhaft in ihr neues Stück Pizza. "Das könnten wir auch der Polizei überlassen." Rally schluckte den Bissen hinunter. Sie schüttelte den Kopf. "Die Polizei wird das Labor nicht hochgehen lassen, nur weil Cogan behauptet, es sei dort. Dazu ist er zu unglaubwürdig. Und bevor ich seine Geschichte bestätige, will ich selbst wissen, ob sie stimmt." May schaute Rally misstrauisch an. Rally reagierte nicht. Seelenruhig ass sie den Rest des Pizzastücks. Als sie nach dem dritten, und letzten, griff, fragte sie: "Was ist eigentlich mit dem Gewehr?" May deutete auf einen Stapel Kataloge. "Die hab ich durchsucht", sagte sie. "Und?" "Nix." Das hatte Rally befürchtet. Sie verkaufte eigentlich nur Sport- und Jagdgewehre. Darum hatte sie nur wenige Kataloge von Sturmgewehren. "Ich habe gedacht, du kennst dich vielleicht besser aus", erklärte May. "Daher habe ich die Silhouette aufgezeichnet. Aber wo hab ich die bloss hingelegt..." Schliesslich fand May die Zeichnung wieder. Sie hatte die Pizzaschachtel darauf gestellt. Daher hatte es jetzt einige Fettflecken. Rally nahm die Zeichnung mit einem leicht vorwurfsvollen Blick entgegen. "Ach bevor ichs vergesse:", sagte May. "Ich glaube, der Schütze hat beim Weggehen den Kolben eingeklappt." Rally schob sich den Rest der Pizza in den Mund, kaute kurz und schluckte. "Ja", sagte sie schliesslich. "Diese Gewehre haben serienmässig einklappbare Kolben." "Du weisst, welches es ist?" "Ich denke schon. Komm mal mit." Sie gingen zum Lagerraum hinüber. Rally schaute sich kurz um, und nahm dann ein Gewehr vom Gestell. "Ja, genau das ist es!", rief May. "Wie hast du das so schnell herausgefunden?" "Ganz einfach. Das Gewehr hier ist durchaus bekannt. Die SWAT-Abteilung der Polizei verwendet es." "Der Schütze sah aber nicht wie einer vom SWAT aus." "Das war ganz sicher keiner. SWAT-Leute arbeiten niemals alleine. Aber das Gewehr ist vielleicht eine Spur. Ausserhalb der SWAT verwendet es kaum einer." "Tatsächlich? Warum denn? Die SWAT kauft doch sicher keinen Schrott." "Tja, weisst du, May, das Gewehr ist zwar sehr präzise, aber auch sehr pflegebedürftig. Das schreckt die meisten ab. Es ist eigentlich mehr ein Scharfschützen- als ein Sturmgewehr." Plötzlich verfinsterte sich Rallys Blick. "Moment mal", sagte sie. "Da stimmt was nicht." Dann fragte sie: "Wie weit entfernt war der Schütze?" May überlegte kurz. "Um die zweihundert Meter würde ich sagen. Du meinst, auf diese Distanz..." Rally nickte. "Er hätte Cogan treffen müssen. Wenn er kein völliger Stümper war hätte er ihn treffen müssen." Am nächsten Morgen. Robert ging den Flur entlang. Er hasste das. Wenn irgendwas geklaut wurde, musste *er* Meldung machen. Wenn ein Deal platzte, musste *er* Meldung machen. Und jetzt diese Sache mit Cogan. Wer wurde geschickt, um dem Boss Bericht zu erstatten? Er natürlich. Robert atmete tief durch. Dann klopfte er an die Tür, die mit 'F. Stevenson' beschriftet war. "Herein!", hörte er Stevenson rufen. Er trat ein. Stevenson schaute in missmutig an. "Oh, je. Robert", meinte er. "In diesem Fall sind es wohl schlechte Nachrichten." Robert seufzte. Sogar der Boss war mittlerweile dran gewöhnt. "Ja", gab er zu. "Wir haben den Bericht über Cogan." "Ist er etwa entwischt?" "Nicht wirklich. Als wir gestern Nacht bei der Hütte ankamen, war Cogan verschwunden. Die Tür war von Schüssen durchlöchert, und in der Hütte roch es noch nach frischem Pulverdampf." "Also ein Feuergefecht." "Die Löcher in der Tür waren nach aussen ausgefranst. Sie stammen also vermutlich von Cogan selbst. Was uns aber beunruhigt, ist, dass die Fensterscheibe auch ein Loch hat. Die Scherben liegen innen, also kam der Schuss von aussen. Nur ein Schuss. Entweder hat Cogan sich sofort ergeben, oder er ist tot. Es hat allerdings kaum Blutspuren." "Tot?" Stevenson schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht. Ausser mir will niemand Cogan tot sehen. Sucht weiter nach ihm." "Ja, Sir", sagte Robert, und ging. Stevenson dachte nach. Er wusste von niemandem, der Cogan tot sehen wollte. Aber es fiel ihm auch niemand ein, der in fangen wollte. Eine Abrechnung vielleicht? Aus einem Konflikt, von dem er nichts wusste? Schon möglich. Dann durchfuhr es Stevenson: Es könnte die Polizei gewesen sein! Cogan könnte auf die Idee kommen, sein Wissen gegen Straffreiheit zu tauschen. Dann beruhigte er sich wieder. Sein Maulwurf hatte nichts in der Art gemeldet. Trotzdem war Stevenson beunruhigt. Er griff zur Gegensprechanlage. "Ja?", knarzte es aus dem Lautsprecher. "Hör zu, Tom. Wir könnten Ärger bekommen wegen dieses Verräters Cogan. Das Labor wird geschlossen. Sorg dafür, dass das Kerosin abtransportbereit ist." "Ziehen wir um?" "Nein. Aber ich will, dass alles vorbereitet ist, falls es dazu kommen sollte." "Aye, Sir!" Ausserhalb des Gebäudes, ein paar Blocks weiter die Strasse runter, sass Rally in ihrem Cobra. Sie war wieder allein. May hatte natürlich eine Szene gemacht. Aber Rally wollte diskret sein. Und Diskretion war nicht gerade eine von Mays Stärken. Sie fand das von Cogan bezeichnete Gebäude in einem kleinen Wohnquartier. Es war eine typische Arbeitersiedlung. Kaum jemand war auf der Strasse zu sehen. Um so mehr fiel das Gebäude auf: Die Rolläden waren überall unten, und eine bewaffnete, zivile Wache sass neben dem Eingang. Anscheinend hatte Cogan einen Volltreffer gelandet. Auch wenn Rally nur zu gern wüsste, woher er diese Information hatte. Sie nahm ein Fernglas, und betrachtete die Szenerie eingehend. Sie währe nicht so ruhig gewesen, wenn sie gewusst hätte, was hinter ihrem Rücken vor sich ging. 100 Meter hinter ihrem Rücken, um genau zu sein. Dort endete die Strasse nämlich in einer T-Kreuzung. Dahinter stand eine Bauruine, in der jemand Stellung bezogen hatte. Der Mann holte seinerseits ein Fernglas hervor, um damit den Cobra zu betrachten. Er erkannte Rally darin. Der Mann stellte das Fernglas auf den Boden, und rief jemanden mit seinem Handy an. "Posten 3 hier... Ja, sie ist eingetroffen... Ja... Verstanden." Der Mann legte auf. Dann öffnete er einen grossen Koffer, den er bei sich trug. Darin war ein Gewehr. Eine Spezialanfertigung. Er wusste, dass er so schnell keine zweite Chance erhalten würde. Daher ging er sehr sorgfältig vor. Zuerst wählte er den Standort, um das Gewehr aufzustellen. Dann nahm er ein Magazin, und prüfte, ob es die richtige Munitionsart enthielt. Er schaute nochmals zum Wagen. Um einen sicheren Schuss anzubringen, würde er erst das Rückfenster zerstören müssen. Er entfernte die oberste Patrone des Magazins, und ersetzte sie durch eine SH-Kugel. Das weiche Geschoss würde das Fenster zersplittern, aber nicht durchdringen. Schliesslich lud er das so präparierte Magazin. Dann brachte er das Gewehr in Anschlag, und entsicherte es. Erst ganz am Schluss öffnete er die Abdeckung des Zielfernrohrs. Rally lehnte sich zurück. Das sah ihr nach einem hübschen Ziel aus, um der Kerosinindustrie einen schmerzhaften Stich zu versetzen. Vielleicht konnte sie Roy, einem befreundeten Polizeioffizier, sogar eine Beförderung verschaffen. Irgend etwas blitzte im Rückspiegel auf. Verwundert sah sie genauer hin. Sie erkannte den typischen Wiederschein eines Zielfernrohrs. "Scheisse!", rief sie. Ihre Hand fuhr zum Zündschlüssel. Der Starter heulte auf. Rally hörte noch, wie das Rückfenster zersplitterte. Dann wurde alles schwarz. Ihre Hand fiel leblos herunter. Die Zeit hatte noch nicht einmal gereicht, den Motor zu starten. Auf dem Tisch standen zwei dampfende Kartonbehälter. Den dritten hatte May gerade Cogan vorbeigebracht. Es war chinesischer Fastfood. Wie immer, wenn May das Essen bestellte. Die Jahre in Chinatown hatten eben doch ihre Spuren hinterlassen. May selbst stand etwas abseits am Telefon, und schielte sehnsüchtig zum Essen herüber. "Mann Rally, nimm endlich ab. Ich hab Hunger", murmelte sie. Schliesslich hängte sie auf. "Jetzt reichts. Wer nicht will, der hat schon." Als Rally erwachte, sass sie gefesselt in einem Stuhl. Ihr war so übel, dass sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. "Narkosenachwirkungen", stellte sie fest. Sie versuchte, sich zu bewegen. Dass erwies sich aufgrund der Fesselung als schwierig. Wirklich bewegen konnte sie nur den Kopf. Aber sie konnte immerhin feststellen, dass sie den Körper wieder unter Kontrolle hatte. Bis auf den rechten Arm. Der fühlte sich seltsam dumpf an. Wie wenn ihn jemand in Watte gepackt hätte. Rally versuchte, den Ablauf zu rekonstruieren. Zuerst hatte sie gehört, wie das Rückfenster des Cobra zersplitterte. Dann hatte sie noch kurz gefühlt, wie etwas in ihre rechte Schulter eindrang. Das musste ein Betäubungsgeschoss gewesen sein. Der Treffer war wohl nahe am Nacken, sonst wäre das Projektil von der Panzerweste aufgefangen worden. Alles in allem sehr Profimässig. Nachdem Rally gesehen hatte, wie auffällig Stevensons Labor war, hatte sie ihn erst als Anfänger eingestuft. Sie hatte ihn wohl unterschätzt. Die Übelkeit wurde allmählich unerträglich. Rally würgte. Ihr Mund füllte sich mit säuerlicher Magenflüssigkeit. Angewidert schluckte sie sie wieder runter. Sie atmete schwer. Erleichtert stellte sie fest, dass es etwas besser ging. Sie schaute sich um. Das Zimmer war ein Büro. Ein Einzelbüro. Ein Pult mit Stuhl, ein Wandschrank, eine Lampe. Und der Stuhl, auf dem Sie sass. Mehr gab es nicht. Sie schaute die Möbel etwas genauer an. Alles sehr elegant und teuer. Und dann ein Spannteppich. Richtig weich. Gute Qualität. Rally stutzte. Warum konnte sie den Teppich fühlen? Natürlich. Sie trug keine Schuhe. Und überhaupt... die Kleider die sie trug... das waren doch nicht ihre Strassenkleider. Das war ein schwarzer Pyjama. "Die haben mich umgezogen!", schoss es ihr durch den Kopf. Sie fühlte, wie ihr Herzschlag beschleunigte. Ihr wurde etwas schwindlig. Sie drückte die Augen zu, und zwang sich zur Ruhe. Allmählich normalisierte sich der Herzschlag. Rally öffnete die Augen wieder. Dann fiel ihr noch etwas auf: Der Raum war völlig fensterlos. Das ging irgendwie nicht auf. Von der Möblierung her gehörte das Büro einer wichtigen Person. Das eine solche freiwillig auf ein Fenster verzichtete, sah Rally zum ersten mal. Eine Tür hinter Rallys Rücken öffnete sich. "Ah, sie sind erwacht", sagte jemand mit ruhiger Stimme. Rally konnte den Kopf nicht weit genug drehen, um die Person zu sehen. "Mr. Stevenson?", fragte sie. "Nicht doch", meinte der Mann leicht amüsiert. Rally war verwirrt. Wer könnte es dann sein? Sie wusste keine Antwort. "Sie fragen sich vermutlich, wer ich bin, und wo sie sind", sagte der Mann, und ging nach vorne. Rally konnte jetzt den Rücken sehen. Wer immer es war, er hatte einen seltsamen Kleidungsstil. Er trug eine weisse Jacke, eine weisse Hose... ja sogar die Schuhe waren weiss. Was Rally aber am meisten auffiel waren die schulterlangen, schneeweissen Haare. "Mein Name ist Hal Vector", fuhr der Mann fort. "Man nennt mich auch 'der Vampir'. Ich bin der Geschäftsführer der 'Vector Problemlösungen GmbH'." "Der Vampir also?", fragte Rally schnippisch. "Haben Sie darum Angst vorm Sonnenlicht?" Vector hielt im Schritt inne. "Bitte?", fragte er. "Na, ich sehe doch, dass sie keine Fenster haben." Das schien Vector weiter zu amüsieren. "Gut beobachtet, Miss Vincent", sagte er. "Nun, ich habe nicht gerade Angst vorm Sonnenlicht, aber..." Er setzte sich auf den Stuhl hinter dem Pult. "...ich muss schon vorsichtig sein." Rally war erstaunt. Vectors Haut war ebenfalls völlig weiss. Der einzige Kontrast waren seine beinahe leuchtend roten Augen. "Sie sind ein Albino", sagte sie. "Ganz Recht", antwortete Vector. "Mir fehlt die natürliche Pigmentierung. Daher kann ich nicht einfach so ans Sonnenlicht. Ich hätte sofort einen Sonnenbrand." "Ja, das ist mir bekannt", meinte Rally. "Aber zusammen mit Ihrer Grösse verleiht es Ihnen eine gewisse, natürliche Autorität, nicht wahr? Ich meine, Sie haben schon eine imposante Statur. Ich würde Sie etwa auf 2 Meter schätzen." "1 Meter 96", bestätigte Vector. "Sie scheinen die Dinge ja schnell zu durchschauen. Fast schon wie er... Na gut. Ich denke, die Frage, wer ich bin, ist damit wohl geklärt. Zur Frage, wo Sie sind: Das hier ist mein Büro im Geschäftssitz meiner Firma." "Ehrlich gesagt, mich würde es mehr interessieren, warum ich hier bin. Ihr Scharfschütze hätte mich ohne weiteres töten können. Aber er hat mich statt dessen hergebracht. Sie wollen also irgendwas von mir." Rallys Stimme wurde unvermittelt schärfer. "Ausserdem würde ich gerne wissen, warum man mich umgezogen hat." Aufgrund der Aufregung beschleunigte Rallys Herzschlag wieder, und es wurde ihr wieder schwindlig. Aber diesmal würde sie nicht so rasch nachgeben. Erst wollte sie eine Antwort. "Ach, das hatte ich ja fast vergessen", meinte Vector. "Keine Sorge. Es wurde von Frauen erledigt. Wir haben ein paar in unserer Organisation." Rally war mit der Antwort nicht zufrieden. Sie schaute Vector weiter mit einem stechenden Blick an. "Hören Sie, Miss Vincent. Das Betäubungsmittel im Projektil war ziemlich stark. Es hat zu einer sofortigen Entspannung fast aller Muskeln geführt. Auch derjeniger, die sie... üblicherweise auf dem stillen Örtchen benutzen. Glauben Sie mir. Sie hätten nicht in Ihren Strassenkleidern hier sitzen wollen." Rallys stechender Blick machte einem leicht Überraschten Platz. Sie errötete etwas. "Ausserdem sehen sie hübsch aus in dem Pyjama." Rally errötete weiter. Dann setzte sie wieder einen wütenden Blick auf. "Sie...", begann sie. Weiter kam sie aber nicht, denn das Schwindelgefühl wurde übermächtig. Schwer atmend versuchte Rally, sich wieder zu beruhigen. "Vorsicht, Miss Vincent. Die Nachwirkungen werden noch eine Weile anhalten." Das Schwindelgefühl wich wieder von Rally. Sie stellte fest, dass sich Schweissperlen auf ihrer Stirn gebildet hatten. Sie fasste sich, und sagte: "Na schön. Verraten Sie mir jetzt, warum ich hier bin?" "Selbstverständlich", antwortete Vector. "Ich habe da nämlich ein kleines Problem. Es geht um Stevenson." "Das habe ich mir beinahe gedacht." "Tja. Was wissen Sie über ihn?" Rally wollte mit den Achseln zucken, aber die Fesselung liess das nicht zu. "Nicht all zu viel", sagte sie schliesslich. "Er scheint der Boss eines Syndikats zu sein, das im grossen Stil mit Kerosin handelt. Ich hab bis gestern noch nichts von ihm gehört. Ist wohl neu im Geschäft." Vector nickte. "Ja, stimmt alles. Ich will sie mal weiter aufklären. Stevenson war früher mal ein hohes Tier bei einer Handelsfirma. Er hat seine Position missbraucht, und war dumm genug, sich erwischen zu lassen. Damit hat er sich so ziemlich alle Karrieremöglichkeiten verbaut. Also hat er versucht, ein eigenes Syndikat zu gründen. Er war sogar ganz erfolgreich. Alles in allem ist er aber nur ein kleiner Fisch. Natürlich", erklärte Vector grinsend, "glaubt er der Hecht im Karpfenteich zu sein." Rally musste ebenfalls grinsen. Irgendwie war das am Anfang immer so. Auch sie hatte sich am Beginn ihrer Karriere für *die* Schützin und *die* Prämienjägerin gehalten. Bis sie mal tüchtig auf die Schnauze fiel. Vector fuhr fort: "Wie dem auch sei. Als Gordi verschwand, und die primäre Kerosinquelle mit ihr, hielt Stevenson es für eine gute Gelegenheit, zu den Grossen aufzusteigen. Über einen Strohmann liess er sich etwas Kerosin besorgen. Es gelang ihm, den Stoff zu analysieren. Dann hat er das Zeug kilogrammweise hergestellt, tüchtig gestreckt, und schliesslich eingebunkert. Anschliessend hat er geduldig gewartet, bis der Markt ausgetrocknet, und der Strassenpreis entsprechend hoch war. Jetzt verkauft er die Ware. Weil er sie nicht mühsam importiert, sondern selbst hergestellt hat, kann er sie billig abstossen. Die Qualität ist zwar schlecht, aber das interessiert bei diesen Preisen niemanden. Er hat gute Chancen, den Markt an sich zu reissen." "Und jetzt seht ihr eure Felle davonschwimmen. Alles klar." "Nein." "Nein? Aber was..." "Mein Firma ist normalerweise nicht in den Drogenhandel involviert. Eigentlich ist es uns völlig egal, wer den Markt beherrscht." Vector machte eine rethorische Pause. "Die Aufgabe meiner Firma ist es, Probleme zu beseitigen." Rally ging ein Licht auf. "Ach sooo ist das. Sie meinen, ihr macht gegen die Bezahlung die Drecksarbeit für die anderen Syndikate." Sie erntete dafür einen vernichtenden Blick von Vector, aber damit konnte man Rally nicht beeindrucken. "Ein Punkt für mich", dachte sie. "Wenn Sie es so sehen wollen", brummte Vector schliesslich. "Wie auch immer", meinte Rally. "Sie haben den Auftrag bekommen, Stevenson samt Syndikat aus dem Weg zu räumen, nicht wahr?" "So ist es." "Und was hat das mit mir zu tun?" "Idealerweise gar nichts." Vector fixiert Rally. "Ich nehme an, Sie wissen bereits um die Erpressung von Stevenson durch Cogan. Sonst hätte mein Schütze sie wohl kaum bei seinem Drogenlabor aufgegriffen." "M-Hm", sagte Rally, und nickte. "Aber hat Cogan ihnen auch verraten, woher er die Information hat?" "Nein." "Nun, er hat die Information von mir." Diesmal war Rally wirklich verblüfft. Sie konnte ihr Erstaunen nicht verbergen, wie sie am befriedigten Gesichtsausdruck von Vector ablesen konnte. "Ich will Ihnen mal was über Cogan erzählen", fuhr Vector fort. "Er wurde bereits früh von Stevenson angeheuert, und agierte als Mittelsmann zwischen dem Syndikat und den Strassendealern." "Ach darum hatte er 10 Kilogramm bei sich." "Ach sie meinen, als er damals von der Polizei geschnappt wurde? Ja, da hatte er gerade eine frische Lieferung erhalten. Kennen Sie übrigens die Umstände der Verhaftung?" "Er ist in einer Strassensperre hängengeblieben." "Ja", meinte Vector belustigt. "Sie haben seinen Wagen durchsucht, weil er seinen Führerschein nicht dabei hatte." Rallys Augen weiteten sich. "Oh, mein Gott. Wie kann man nur so behämmert sein." Sie schüttelte den Kopf. "Stevenson war sicher sauer." "Und wie. Aber er hatte alle Hände voll zu tun, und auch nur wenige, professionelle Schläger. Also hat er Cogan einfach rausgeschmissen. Und er hat ihm natürlich das verlorene Kerosin in Rechnung gestellt. Cogan fühlte sich aber ungerecht behandelt. Er war so richtig sauer auf Stevenson. Dazu kommt noch, dass Cogan den Stoff nie direkt beim Labor erhalten hatte. Er wusste also nicht, wo das Labor war. Das alles machte ihn perfekt für meinen Plan." Rally nickte. "Verstehe. Sie haben ihm also den Standort des Labors verraten, in der Hoffnung, dass er Stevenson erpresst. Aber wozu?" "Es war mein Plan, das Kerosin mitlaufen zu lassen, und danach die Polizei die Hauptarbeit erledigen zu lassen. Das Problem ist, dass die Polizei fast täglich irgendwelche Geheimtipps über Drogenlabors, -verstecke usw. bekommt. Hätten wir die Information einfach so zugespielt, oder Cogan bei der Polizei singen lassen, wären sie wahrscheinlich gar nicht erst nachschauen gegangen. Oder sie wären so auffällig vorgegangen, dass Stevenson genug Zeit gehabt hätte, zu verschwinden. Also überlegte ich mir etwas dramatischeres. Ein Informant von mir machte Cogan ausfindig. Wir übermittelten Cogans Aufenthaltsort an Stevenson. Der schickte einen Killer. Weiter sah der Plan vor, dass nach Cogans Tot ein unserer Organisation angeschlossener Notar der Polizei einige kompromittierende Papiere übergab. Dabei sollte er sagen, dass er von Cogan den Auftrag habe, diese Papiere der Polizei zu übergeben, falls Cogan etwas zustossen sollte." "Was für ein Schmierentheater", sagte Rally. "Sie wollten einen Menschen töten, nur um Ihre Geschichte plausibler zu machen?" "Um ein Syndikat zu zerschlagen", berichtigte Vector. "Warum auch nicht? Es sind schon Leute für weniger umgebracht worden. Für viel weniger. Dass Sie noch leben, Miss Vincent, haben Sie einem meiner Informanten zu verdanken." Rally blickte Vector fragend an. "Ich habe Cogan von ihm überwachen lassen. Er hat Sie gesehen, als Sie Cogan verhafteten. Und seither hat er Sie beobachtet. Jeder andere hätte nur Ihren Wohnort gemeldet. Aber das liess seine Berufsehre nicht zu. Er musste natürlich herausfinden, *wer* Sie sind. Das hat Ihnen das Leben gerettet." Rally blickte immer noch verwundert. Was war den so besonders an ihr? "Rally Vincent, einer der bekanntesten Prämienjäger der Stadt, ist eine Frau, knapp über 20, und führt einen kleinen Waffenladen. Ich muss zugeben, dass ich recht überrascht war, als ich den Bericht erhielt. Jedenfalls sind Sie zu bekannt, als das ich Sie einfach aus dem Weg räumen könnte." Das war es also. Vector liess Rally nur am Leben, weil er befürchtete, jemand könnte einen genaueren Blick auf die Sache werfen. Rally war klar, an welch seidenem Faden ihr Leben hing. Vector hatte mit Sicherheit Mittel, sie auszuschalten, ohne das irgendeine Spur zu ihm führte. Es war nur eine Frage des Aufwands. "Wie dem auch sei", begann Rally mit etwas unsicherer Stimme, "wenn es nur darum geht, Cogans Geschichte glaubwürdig zu machen, hätten Sie mich einfach weitermachen lassen können. Ich hatte vor, seine Angaben bei der Polizei zu bestätigen." "Und Ihnen hätte die Polizei geglaubt?", fragte Vector. "Ich habe meine Beziehungen", erwiderte Rally vieldeutig. "Ja, ich weiss. Aber ich führe trotzdem lieber meinen neuen Plan durch." "Und was soll ich dabei tun?" "Nicht sehr viel. Erstens: Ich existiere nicht, und dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Zweitens: Behalten Sie Cogan noch zwei, drei Tage in Arrest. Unser Notar wird dann sagen, Cogan sei verschwunden. Liefern Sie Cogan einfach erst, nachdem Stevenson verhaftet wurde. Drittens, und das ist sehr wichtig: Lassen Sie sich nicht mehr bei Stevenson blicken. Unser Maulwurf hat berichtet, dass Stevenson wegen der Sache mit Cogan nervös ist. Er hat seine gesamten Kerosinvorräte abtransportbereit gemacht. Noch so eine Sache, und er verschwindet." Vector sagte nichts weiter. "Das ist alles?", fragte Rally nach einer Weile. "Ja", war die knappe Antwort. Rally wunderte sich ein wenig, warum Vector solch ausschweifende Erklärungen abgegeben hatte. "Wenn die Sache vorbei ist, was geschieht dann mit mir?" "Sie sind für uns jetzt natürlich ein Sicherheitsrisiko. Aber solange sie kooperieren, werden wir darüber hinwegsehen. Es liegt also an Ihnen." "Das klingt nicht sehr überzeugend." "Sie können natürlich auch ablehnen", sagte Vector in einem bedauernden Tonfall. Er öffnete eine Schublade, nahm daraus eine Spritze, die mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war, und legte sie auf den Tisch. "Das Gift ist nicht nachweisbar", erklärte er. "Ausser, man sucht explizit danach." "Schon gut, ich habe verstanden", maulte Rally. "Dann sind wir uns einig?", fragte Vector. Rally sagte nichts. Sie nickte nur kurz, wobei Sie sich Mühe gab, Vector so vorwurfsvoll wie irgend möglich anzuschauen. Vector, freilich, durchschaute das Spiel. Er lächelte, und nahm eine zweite Spritze aus der Schublade. Sie war identisch mit der ersten, ausser, dass sie mit einem blauen Ring gekennzeichnet war. Dann kam er auf Rally zu. "He, Moment mal!", rief sie. "Das ist nur ein Schlafmittel", beruhigte sie Vector. "Sie werden sich gründlich ausschlafen, und morgen Vormittag erwachen. Bis dahin sollten auch die Narkosenachwirkungen verflogen sein." Vector setzt die Spritze an Rallys linkem Unterarm an. Reflexartig verspannte sie sich. "Lockerlassen, sonst tuts weh", sagte Vector. "Sie haben leicht reden", warf Rally ein. Vector seufzte, und setzte die Spritze am rechten Unterarm an. Er wusste natürlich, dass Rally diesen noch nicht ganz unter Kontrolle hatte. Tatsächlich fühlte Rally noch nicht einmal die Injektion. Nur die Müdigkeit wurde plötzlich stärker. Rally liess sich einfach übermannen, und schlief ein. Sie wusste, dass es sinnlos war, dagegen anzukämpfen. Kapitel 3: May Hopkins private Ermittlungen ------------------------------------------- Rally konnte nicht sagen, wie lange sie bereits ohnmächtig war, als sich eine vertraute Stimme in ihren traumlosen Schlaf schob: "Hey Rally! Wach auf! Frühstück steht auf dem Tisch!" Ganz langsam öffnete sie die Augen. Es war May, die da rief. Sie selbst lag zuhause in ihrem Bett. "Morgen May", sagte Rally, und stand langsam auf. Sie fühlte sich wie ausgepumpt. "Mannohmannohmann. Du siehst vielleicht aus", meinte May. "War wohl ne wilde Nacht, was?" "Ne wilde Nacht?", fragte Rally. Allmählich kam die Erinnerung zurück. "Ne wilde Nacht. Ja, kann man so sagen." Sie ignorierte Mays fragenden Gesichtsausdruck, und ging zur Küche. Doch May liess nicht locker: "Sag mal, wo bist du eigentlich gewesen? Und warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hab mir Sorgen gemacht, verdammt noch mal!" "Später, später", versuchte Rally zu beschwichtigen. Sie hatte noch nicht alle Gedanken beisammen. May liess sich nicht beirren: "Und dann kommst du nach Hause, ohne ein Wort zu sagen. Hätte ich heute Morgen nicht zu dir ins Zimmer geschaut, wüsste ich nicht einmal, dass du hier bist." Rally stöhnte. Ein Streit mit May war jetzt wirklich das letzte, was sie gebrauchen konnte. "Ich bin nicht hergekommen", sagte sie, "ich wurde hergebracht." May erkannte, dass sie jetzt nichts von Rally erfahren würde. Sie zuckte mit den Schultern, und folgte Rally in die Küche. Rally stocherte lustlos in ihrem Essen. Sie hatte zwar Hunger, aber überhaupt keinen Appetit. May verstand. Oder zumindest glaubte sie, zu verstehen. "So so", sagte sie, "wir haben einen Kater, was?" "Seit wann kriegt man von Morphium einen Kater?", erwiderte Rally missmutig. "Von... Morphium? Rally, was zum Teufel ist passiert?" Rally begann zu erzählen. Sie tat dies sehr bruchstückhaft, und May musste häufig nachhaken. Es ging eine Weile, bis May alles verstanden hatte. "Also, fassen wir zusammen:", sagte May schliesslich. "Vector will Stevenson zu Fall bringen. Er bringt Cogan dazu, Stevenson zu erpressen. Stevenson will Cogan aus dem Weg räumen, was Vector zu einer Inszenierung ausnutzt, um die Polizei auf den Plan zu rufen. Wir schnappen Cogan aber direkt vor der Nase des Killers weg. Der Plan ist im Eimer. Vector schnappt dich, und liest dir die Leviten. Ausserdem verlangt er, dass du dich nicht in seinen neuen Plan einmischst. Richtig so?" "So ungefähr", bestätigte Rally. In Wirklichkeit war sie nicht in der Lage gewesen, Mays Zusammenfassung zu folgen. "Und das bringt uns zur hundert Millionen Dollar Frage: Warum lässt Vector uns nicht einfach Cogan ausliefern, und dessen Angaben über Stevenson bestätigen. Dann ginge Stevenson doch genauso hoch." Rally nahm einen guten Schluck Kaffee. "Ich vermute, es liegt daran, dass Vector das Kerosin in Stevensons Labor haben will." Sie setzte die Tasse ab. "Würde er Stevenson einfach überfallen, dann würde der natürlich sofort verschwinden. Vector will aber sowohl das Kerosin für sich, wie auch Stevenson vor Gericht. Also muss er dafür sorgen, dass die Polizei unmittelbar nach dem Überfall bei Stevenson auftaucht. Geht er nach seinem Plan vor, kann er die Reaktion der Polizei einigermassen steuern. Liefern wir Cogan aus, kann er das nicht. Dann landet das Kerosin in einem Polizeitresor." May nickte. "Ja, das macht Sinn." Dann seufzte Sie. "Blöde Geschichte. Wir sind also zum Nichtstun verdammt." "Wer sagt das?", fragte Rally. Sie hatte mittlerweile ihre Sinne genug beisammen, um ihrer Stimme eine unüberhörbare Schärfe zu verleihen. "Was willst du denn machen?", erwiderte May resigniert. Rally gab sich ungerührt. "Vector einen Strich durch die Rechnung", sagte sie. May zog die Augenbrauen hoch. "Mir einfach so seinen Willen auf zu zwingen. Das könnte ihm so passen." Das brachte May ins Grübeln. Klar, Rally liess sich nicht gerne zu etwas zwingen. Aber sie hatte es auch schon geschehen lassen, wenn die Chancen schlecht standen. Es seie denn... "Ah, alles klar. Du willst nicht, das Vector das Kerosin erhält", meinte May triumphierend. Rally schaute May verblüfft an. May hatte Recht. Aber bisher war es nicht einmal Rally selbst aufgefallen. "Ja, stimmt wohl", meinte sie etwas verlegen. "Und was willst du mit dem Kerosin machen? Es verbrennen?" "Verbrennen? Der Gedanke ist gar nicht so übel." Eine halbe Stunde später war ein grundlegender Plan gefasst: Bevor Vector seinen Überfall startete, wollten Rally und May eine Bombe in den Lagerraum des Drogenlabors schmuggeln. Während des Überfalls würde sie dann gezündet. Für Vector würde es aussehen, als wäre die Bombe von Stevenson selbst, der die Drogen lieber vernichtete, als sie sich klauen zu lassen. May war auf dem Weg zum Laden, um Cogan Frühstück zu bringen, und um das 'sind Fischen'-Schild an die Tür zu hängen. Anschliessend wollte sie sich um die Bombe kümmern. Rally zog sich derweil an. Sie trug noch immer den Pyjama, in den sie Vector gesteckt hatte. Ihre alten Kleider hatte er ihr nicht mitgegeben. Als Rally ihr Halfter anlegen wollte, merkte sie, das noch ein paar andere Dinge fehlten. "Mist. Er hat meine Waffen einbehalten", fluchte sie. Rally legte das Ersatzhalfter an. Dann ging sie zum Waffenschrank hinüber. Sie würde sich eben mit der zweiten Garnitur begnügen müssen. Ihr Blick schweifte über die Auswahl. Dann nahm sie eine P210 in die Hand. Mit einigen schnellen Bewegungen prüfte sie den Zustand der Mechanik. Zufrieden lud sie die Pistole, und setzte sie ins Halfter ein. "Eine gute Waffe", dachte sie sich. "Aber kein Vergleich zu einer CZ-75." Ihr Blick verdüsterte sich. Die CZ würde sie zurückerhalten. Koste es, was es wolle. "Was!?" Cogan glaubte sich verhört zu haben. Musste er tatsächlich noch zwei Tage in diesem Loch verbringen? "Jetzt reg dich mal wieder ab", wandte May ein. "Glaubst du, es macht uns Spass, dich hier unten durchzufüttern?" Cogan brummte irgend etwas unverständliches. Dann fragte er: "Habt ihr meine Angaben überprüft?" "Ja, haben wir", bestätigte May. "Warum liefert ihr mich dann nicht einfach aus. Wenn ihr meine Angaben bestätigt, habe ich nichts mehr vor Stevenson zu fürchten." "So einfach ist das nicht. Da ist noch eine dritte Partei involviert." Cogan stutzte. "Eine dritte Partei? Wer denn?" May grinste, und schüttelte den Zeigefinger. "Neugier tötet die Katze". Cogan gab auf. "Noch zwei Tage in diesem Loch", brummte er. "Ich würde dir die Zeit ja gerne versüssen", meinte May lächelnd, "aber ich muss mich leider beeilen." Cogan sah überrascht hoch, doch May war bereits gegangen, und hatte die Tür wieder abgeschlossen. Sie war tatsächlich in Eile. Schliesslich musste sie sich noch um die Bombe kümmern. Rally war ebenfalls mit Vorbereitungen beschäftigt. Um bei Stevenson einsteigen zu können, würden sie die Umgebung etwas unter die Lupe nehmen müssen. Damit Vector sie nicht gleich wieder einsackt, hatte sie ein paar Verkleidungen besorgt. Sie hatte dafür den Bronco nehmen müssen, da Vector den Cobra ebenfalls nicht zurückgebracht hatte. Ein Umstand übrigens, der Rally beinahe zum explodieren brachte. Als sie aber gerade die Karte studierte, um möglich Zu- und Abfahrtswege zu finden, hörte sie plötzlich ein Motorengeräusch, das ihr sehr bekannt vorkam. Sie rannte die Treppe herunter, und stürmte auf die Strasse. Tatsächlich: Da stand ihr Cobra. Vom Fahrer war allerdings keine Spur. Rally besah sich den Wagen. Er hatte keinen Kratzer. Auch die Rückscheibe war ausgewechselt worden. Auf dem Beifahrersitz lag eine Kiste. Rally wollte sie sich ansehen, doch die Türen waren verschlossen. Schliesslich war da noch eine Notiz an der Frontscheibe. Rally las: "Sehr geehrte Miss Vincent. Tut mir leid, das wir so spät dran sind. Wir hatten leider Schwierigkeiten, ein passendes Rückfenster zu finden. In der Kiste auf dem Beifahrersitz befinden sich ihre Sachen von gestern. Der Schlüssel liegt im Briefkasten. Mit freundlichen Grüssen Hal Vector." Rally starrte auf das Papier. "Der will mich wohl fertigmachen", sagte sie leise. Kenichi Takizawa, genannt Ken Taki, war ein begnadeter Bombenbauer. Er hatte früher für die Mafia gearbeitet, sich aber erfolgreich von seiner Vergangenheit getrennt. Er war Mays Lehrmeister was Bomben betrifft... und ihr fester Freund. Nun, wer May ein bisschen kennt, wird sich vielleicht wundern, dass sie einen festen Freund hat. Tatsächlich waren die beiden aber schon länger zusammen. "Also", sagte Ken. "Du brauchst eine Bombe zum Ausbrennen eines Drogenlagers. Und das heute Abend." "Genau", sagte May fröhlich. Sie sass Ken gegenüber, und hatte ihm gerade die ganze Geschichte erzählt. "Unauffällig soll sie natürlich auch sein...", grübelte Ken. "Das wird ein schönes Stück Arbeit." "Oooch, das schaffst du schon." May blickte Ken mit verliebten Augen an. Ken fühlte das bisschen Widerstand zusammenschmelzen. Es war ohnehin eine interessante Aufgabe. Denn egal, wie unauffällig die Bombe war: Sobald sie gezündet wurde, musste sie unweigerlich entdeckt werden. Wie aber würde man das Personal daran hinderen, das Feuer zu löschen, ohne gleich das ganze Haus zu sprengen? May ahnte, worüber Ken nachdachte. "Ich denke, Petroleum wäre nicht schlecht. Das ist sehr schwer zu löschen. Wenn es eine Sprinkleranlage hat, wird das sicher lustig." Ken grinste. Petroleum ist ein Öl, und Wasser in ein Ölfeuer zu giessen, ist allgemein eine sehr schlechte Idee. Aber er war nicht überzeugt: "Sie könnten das Feuer immer noch ersticken", sagte er. "Wenn es ein Kellerraum ist, müssen sie nur die Tür schliessen und abdichten." "Wie wärs dann mit Napalm?" Kenn erwog den Gedanken für einen Moment. Napalm enthält selbst Sauerstoff. Ein Napalmfeuer kann daher nicht erstickt werden. Aber dann fiel ihm ein anderes Mittel ein. "Man könnte es immer noch mit einem chemischen Feuerlöscher bekämpfen. Aber ich habe eine andere Idee: Aerosol." May erschrak. "Wie... bitte? Ist das dein voller Ernst?" "Natürlich", antwortete Ken gelassen. "Das ist doch verrückt. Da könnten wir ja auch gleich eine Atombombe rein schmeissen." "Keine Sorge, May. Wenn ich die Dosis genau berechne, wird lediglich alles im Raum verbrannt. Und zwar innert Sekunden. Es besteht nicht die geringste Chance, solch ein Feuer zu löschen." May war keineswegs beruhigt. Aber sie kannte Kens Fähigkeiten, und beschloss, darauf zu vertrauen. Rally war sauer auf Vector. Und zwar vor allem darum, weil Vector ihr systematisch jeden Grund nahm, auf ihn sauer zu sein. Sogar die CZ-75 hatte er zurückgegeben: Sie lag in der Schachtel im Auto. Nur das Verbot, sich in den Fall Stevenson einzumischen, blieb noch. Um so mehr wollte sie im gerade hier dazwischenfunken. Damit Vectors Späher sie nicht gleich wieder entdeckten, zog sie eine Perücke mit langen, blonden Haaren an, und überpuderte ihre indianische Haut, so dass sie hell erschien. Bei May war es einfacher. Sie machte sich ihre Kleinwüchsigkeit zunutze, indem sie Kinderkleider anzog. Diesen Trick hatte sie bereits mehrmals mit grossem Erfolg angewandt. Dann fuhren die beiden in Mays Wagen, einem Fiat 500, in die Nähe des Drogenlabors. Rally lenkte den Wagen. Während der Fahrt prüfte sie immer wieder, ob ihnen jemand folge. Sie konnte aber niemanden entdecken. Trotzdem war sie unsicher. Sie parkte den Wagen etwas Abseits, und liess May hinaus. Dann fuhr sie wieder weg. May hatte ein Handy bei sich, mit dem sie Rally rasch herbeordern konnte. May spazierte etwas durch die Umgebung. In ihrer Verkleidung konnte sie sich sehr unauffällig bewegen. So konnte sie auch das Gebäude etwas genauer ansehen. Das Haus war ein alter Plattenblockbau mit fünf Geschossen. Er war etwa doppelt so lang wie breit. Vor allen Fenstern waren die Sonnenstoren heruntergelassen, was das Haus doch recht verdächtig aussehen liess. Der Haupteingang war in der Mitte einer der langen Seiten. Wie Rally gesagt hatte, wurde er von einer zivilen Wache bewacht. Nur das sie jetzt im Innern sass, und durch ein Fenster auf die Strasse schaute. Auf der anderen Seite des Hauses fand May eine Feuertreppe. Sie befand sich an der Aussenseite des Hauses, ging aber nur bis zum ersten Stock herunter. Vermutlich befand sich dort einmal eine Treppe, die hinunterklappte, sobald jemand von oben draufstand. Aber das war wohl schon lange her, denn die abgebrochene Halterung machte den Eindruck, als ob sie schon sehr lange abgebrochen gewesen sei. May stellte ausserdem fest, das auch im Erdgeschoss, gleich unter der Feuertreppe, ein Notausgang existierte. Alles in allem war sie aber noch nicht zufrieden mit dem Ergebniss ihrer Ermittlungen. Robert sass hinter dem Fenster beim Eingang. Die Pumpgun hatte er gegen die Mauer gelehnt. Er hasste den Wachdienst. Es war schlichtweg langweilig. Nur gelegentlich musste ein allzu neugieriger Passant abgewiesen werden. Er verstand auch die Kollegen nicht, die mit umgehängter Waffe und betont ernsthaftem Gesichtsausdruck, wenn möglich mit Sonnenbrille, im Eingang standen. Wem versuchten die hier Eindruck zu machen? Und falls tatsächlich mal etwas passieren sollte... Mit umgehängter Waffe weithin sichtbar herumzustehen, war, wie sich ein Schild umzuhängen: "Bitte erschiesst mich". Robert seufzte, und liess den Blick von der Strasse zum Eingang wandern. Ein kleines Mädchen stand dort. Eine Zehntelsekunde später war Robert auf den Beinen. "Da lässt man mal kurz die Gedanken schweifen, und schon...", dachte er sich. "He Mädchen! Da darfst du nicht rein!". Robert versuchte, seine Stimme grimmig erscheinen zu lassen. Es klappte nicht besonders gut. Aber es erfüllte seinen Zweck: Das Mädchen schien eingeschüchtert. "Tut... tut mir leid", sagte sie leise. "Ich suche meinen Hund." "Deinen Hund?", fragte Robert überrascht. "Ja. Er ist mir hier in der Nähe davongelaufen. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?" Robert schüttelte den Kopf. "Nein, hab ich nicht", sagte er knapp. Doch das Mädchen liess nicht locker. "Sicher?", fragte sie. "Er versteckt sich gerne in Kellern. Könnten Sie vielleicht kurz nachsehen?" Im Keller? Stevenson würde niemals zulassen, das dort jemand herumschnüffelte. Das Drogenlabor und das Lager befanden sich dort. "Hör mal", begann er, diesmal etwas gereizt, "wenn ich sage, ich habe keinen Hund gesehen..." "Hey Robert, sei doch nicht so grob." Das war Stevenson. Robert verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, irgendwo anders zu sein. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. "Du musst ihn entschuldigen", sagte Stevenson zu dem Mädchen. "Er ist... wie ein Wachhund eben. Er bellt alle an, die er nicht kennt." Dann wandte er sich Robert zu: "Hast du sicher keinen Hund gesehen?" "Nein Sir", erwiderte Robert, wobei er krampfhaft versuchte, sachlich zu bleiben. "Wenn hier ein Hund hereingekommen wäre, hätte ich ihn mit Sicherheit gesehen." Robert war sich da nicht so sicher, wie er sich gab. Aber vor Stevenson zuzugeben, dass er möglicherweise einen Hund übersehen hätte? Unmöglich. Da hätte er sich auch gleich selbst erschiessen können. Stevenson schaute das Mädchen mit einem bedauernden Blick an. "Tut mir leid, aber dann ist er wohl nicht hier." "Ist schon gut, danke", sagte das Mädchen. "Dann muss ich eben weiter ersuchen." Sprachs, und war verschwunden. "Siehst du Robert? So gehts doch auch." Stevenson ging zum Ausgang. "Jetzt muss ich aber los. Eine nette Party wartet auf mich." "Ja Sir", sagte Robert langsam. Er wartete, bis Stevenson gegangen war. Dann liess er sich in den Stuhl fallen. Es waren Tage wie dieser, die in ihm den Wunsch weckten, einfach alles stehen und liegen zu lassen, und zu verschwinden. Hätte er gewusst, was an diesem Tag noch so alles auf ihn zukam, hätte er es sogar getan. May ging wieder zur Rückseite des Hauses. Ihr kleiner Vorstoss hatte sich gelohnt. Während Sie die Wache mit ihrer Geschichte über den entlaufenen Hund hinhielt, konnte sie einen Blick ins Haus werfen. Hinter dem Eingang befand sich ein Raum, in dem die Wache sass. Hinter dem Raum wiederum war ein Quergang. May konnte bei ihrem kurzen Rundblick feststellen, dass der Gang an beiden Enden nicht einfach aufhörte, sondern abbog. Vermutlich ging er um das ganze Haus herum. Ausserdem fiel May auf, dass im Gang, gegenüber vom Wachraum, eine Stelle mit einer Holzplatte verdeckt war. Offensichtlich wurde hier irgendein Durchgang blockiert. Als sie schliesslich die Wache nach dem Keller fragte, konnte sie an der Reaktion ablesen, dass sich dort wohl etwas wichtiges befand. Das hatten sie und Rally bereits vorher vermutet. Aber es war immer gut, sich sicher zu sein. Alles, was jetzt noch fehlte, war ein sicherer Eingang. Das Erdgeschoss war May zu gut bewacht. Also ging sie zur Feuertreppe. Mit Hilfe einer alten Mülltonne stieg sie hinauf in den ersten Stock. Auf jedem Stockwerk befand sich eine Plattform. Diese war von einer Tür, und vom Fenster links daneben (von aussen gesehen) erreichbar. May horchte am Fenster. Als sie nichts hörte, hob sie vorsichtig eine Lamelle der Storen an. Im Raum war niemand. Es war ein hübsch eingerichtetes Büro. "Ist wohl das vom Boss", dachte sich May. "Gleich bei der Feuertreppe." Sie ging weiter hoch. Das Zimmer im zweiten Stock enthielt lediglich eine Matraze, die einen unbequemen Eindruck machte. Die Zimmer im dritten und vierten Stock waren sogar völlig leer. Schliesslich kam May aufs Dach. Sie schaute sich um. Es gab einen Eingang hier oben. Ansonsten war das Dach völlig leer. Plötzlich klingelte das Handy. May schaute auf die Uhr. Vor fünf Minuten hätte sie Rally anrufen sollen. Sie nahm den Anruf entgegen. "Hallo?", sagte sie mit schuldbewusster Stimme. May konnte Rally erleichtert aufatmen hören. "Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht." "Sorry. Ich hab vergessen anzurufen", entschuldigte sich May. "Wie immer", seufzte Rally. "Und? Hast du was herausgefunden?" "Jede Menge." May fasste kurz ihre bisherigen Beobachtungen zusammen. Dann folgte eine kurze Pause. "Okay", sagte Rally schliesslich. "Das reicht. Sag mir, wo ich dich abholen soll." "Noch gar nicht", antwortete May. "Erst will ich noch herausfinden, wie wir reinkommen können." "Das können wir immer noch heute Abend. Geh kein unnötiges Risiko ein." "Ach komm, Rally. Glaubst du, ich sei zum Spass auf das Dach geklettert?" "Du bist *was*?! Bist du verrückt? Was machst du, wenn Vectors Männer dich entdecken?" "Bisher bin ich noch nicht erschossen worden." "Sehr witzig. Komm da sofort runter." "Erst prüfe ich, ob wir ungesehen durch die Dachtür rein können." "Nein, das tust du nicht! Und schon gar nicht durch die Dachtür. Die ist noch am ehesten gesichert!" May überlegte einen Moment. Dann sagte sie: "Stimmt. Ich nehme einen anderen Weg." "May war..." Aber in diesem Moment unterbrach May die Verbindung. Sie war gut genug, um das durchzuziehen. Und das würde sie Rally jetzt beweisen. May stieg wieder in den vierten Stock hinunter. Sie schaute sich das Fenster an. Die Lamellen der Sonnenstoren liessen sich leicht anheben. Das Fenster selbst war ein einfaches Schiebefenster. Die Verriegelung war aber von aussen nur erreichbar, wenn man die Scheibe zerstörte. May hatte keinen Glasschneider dabei, also liess sie es bleiben. Sie ging zur Tür. Es war eine typische Notausgangtür. Logischerweise hatte es aussen keine Klinke. Aber dort, wo man normalerweise die Klinke vermuten würde, war eine rostige Metallplatte, die von vier ebenso rostigen Schrauben gehalten wurde. May hatte immer etwas Werkzeug dabei, um kleine Bomben bauen zu können. Aus einer ihrer Taschen kramte sie einen Schraubenzieher hervor. Sie setzte ihn an, konnte die Schraube aber nicht lösen. Als sie es nochmals mit mehr Kraft versuchte, brach der Schraubenkopf ab. "Völlig durchgerostet", sagte sich May. Mit gezielten Schlägen enthauptete sie die drei restlichen Schrauben. Dann entfernte sie die Platte. Dahinter war ein Schloss. Offensichtlich diente es dazu, im Notfall die Tür von aussen zu öffnen. Tom, Stevensons Sicherheitschef, sass zufrieden in seinem Büro. Das Labor war geschlossen, die Lieferverträge sistiert, und die Ware abtransportbereit. Alles war vorbereitet für den Fall, das sie evakuieren mussten. Aber eigentlich machte er sich keine Sorgen wegen eines bevorstehenden Angriffs. Stattdessen versuchte er abzuschätzen, wann er wohl wieder den Normalzustand herstellen konnte. Daher war er nicht schlecht überrascht, als plötzlich eines der Warnlichter auf der Kontrolltafel aufleuchtete. Tom betrachtete die Tafel misstrauisch. Aber es gab keinen Zweifel: Jemand war im vierten Stock durch den Notausgang eingedrungen! May hatte keinen Dietrich dabei. Aber Sprengstoff. Und der verwandelte das Schloss in einen Haufen rauchenden Schrott. Mit einem Ruck zog May die Tür auf. Natürlich hätte sie auch durch das Fenster einsteigen können. Aber wenn sie schon etwas zerstören musste, dann lieber die Tür. Die war bequemer. Hinter der Tür war ein kurzer Durchgang, der ins Gebäudeinnere zum Hauptgang führte. May schaute sich um. Auch hier bog der Gang links und rechts am Gebäudeende zur anderen Gebäudeseite ab. Anscheinend ging er tatsächlich um das ganze Gebäude. Direkt gegenüber dem Notausgang war das Treppenhaus. May schaute zum Notausgang hinüber. Das Schloss, oder was davon übrig war, war jetzt ziemlich schwarz. Es war zwar ziemlich dunkel bei der Tür, aber es war trotzdem sichtbar. Eine Patrouille würde es vielleicht entdecken, und die Tür verbarrikadieren. Andererseits brauchte May nur die Verriegelung des Fensters daneben zu öffnen, um problemlos dort einsteigen zu können. Sie betrat also den Raum neben dem Notausgang. Der Raum war annähernd quadratisch, und völlig leer. An der gegenüberliegenden Wand sah May das gesuchte Fenster. Sie wollte bereits zur Tat schreiten, als sie plötzlich jemanden die Treppe hochrennen hörte. May hechtete zur Tür, und schloss sie. "Mist! Schon weg", rief jemand. "Mann oh Mann", sagte jemand anders. "Einfach aufgesprengt." "Na schön. Dann suchen wir eben systematisch das Haus ab. Prüf erstmal den Dachausgang." "Okay." May rannte zum Fenster. Diesmal prüfte sie es auf Kabel. Und tatsächlich: Zwei Drähte führten vom Fenster weg. May kratzte mit einem kleinen Messer die Isolation von den Drähten. Sie musste vorsichtig sein, denn die Drähte waren dünn, und sie durfte sie keinesfalls durchtrennen. Als sie fertig war, nahm sie ein Stück Schnur, um die blanken Stellen zusammenzubinden. Sie hoffte inständig, damit den Alarm zu überbrücken... und nicht auszulösen. Als die Enden sich berührten, hielt sie einen Moment inne. Entsetzt hörte sie, wie sich Schritte näherten. Ein Mann riss die Tür auf, und kam mit vorgehaltener Pistole herein. Es war einer von Stevensons Leuten, der Pech genug hatte, von Tom angetroffen zu werden, als dieser die Treppe hoch stürmte. Er sah sich kurz um. Der Raum war leer. Er wollte bereits wieder gehen, als ihm etwas auffiel: Die Verriegelung des Fensters war offen. Er ging zum Fenster, öffnete es, und hob die Lamellen davor an. Es war aber niemand zu sehen. Missmutig schloss und verriegelte er das Fenster wieder. Dann entdeckte er Mays Überbrückung. Er nahm ein Messer, und schnitt die Schnur durch, ohne die Drähte zu verletzen. Schliesslich verliess er den Raum, und zog die Tür hinter sich zu. "Das Fenster war offen, und der Alarm überbrückt", sagte er. "Er ist wohl schon weit weg." Aber da irrte er sich. 'Er' war noch sehr nahe. Als May erkannt hatte, dass die Zeit nicht mehr reichen würde, um aus dem Fenster zu fliehen, hatte sie sich einfach hinter die Tür gestellt. Es dauerte einige Minuten, bis May sich wieder zu bewegen wagte. Erst, als sie die beiden Männer die Treppe hinab gehen hörte, wagte sie sich wieder zum Fenster. Sie verband die Drähte wieder, und kletterte durch das Fenster auf die Feuertreppe. Überrascht sah sie ihren Fiat an der nächsten Kreuzung. Sie stieg die Treppe runter, und rannte zum Wagen hinüber. "Da bin ich wieder!", rief sie, als sie sich auf den Beifahrersitz setzte. Rally antwortete nicht. Sie sah May nur durchdringend an. "Äh, was ist denn?", fragte May etwas verlegen. "Warum hast du dein Handy abgeschaltet?" "Na ja, damit es nicht klingelt, während ich drinnen bin." "Hab ich dir nicht gesagt, dass du das bleiben lassen sollst?" "Schon. Aber..." "Verdammt, May, wann lernst du das endlich? Man bringt sich nicht unnötig in Gefahr." "Was heisst da unnötig? Die haben eine Alarmanlage installiert. Wenn wir die erst heute Abend entdecken würden, würden wir ganz schön in der Scheisse sitzen." "Und was macht es für einen Unterschied, ob sie dich jetzt schnappen, oder erst heute Abend?" "Sie *haben* mich nicht geschnappt." "Zum Glück nicht, nein." Rally startete den Motor, und fuhr weg. May war sauer. Nur weil Rally ein Jahr älter war, musste sie sich noch lange nicht so rechthaberisch aufführen. Da fiel ihr ein letzter Trumpf ein: "Ich habe übrigens einen Eingang gefunden." "So." Rally klang reichlich desinteressiert. Aber May liess sich davon nicht täuschen. "Beim Fenster im vierten Stock bei der Feuerleiter habe ich die Alarmanlage überbrückt. Wir können rein und raus wie es uns beliebt." Rally sagte einen Moment nichts. Dann seufzte sie. "Na schön, gut gemacht. Aber sei in Zukunft vorsichtiger." "Okay", erwiderte May fröhlich. Aber Rally blieb ernst: "Die Hauptarbeit steht uns nämlich noch bevor." Kapitel 4: Bombenlegen für Fortgeschrittene ------------------------------------------- Am späten Nachmittag fanden Rally und May sich bei Ken ein. Der zeigte ihnen seine Arbeit. Die Bombe war eine kleine Metallbox, etwa so gross wie zwei aufeinander gestapelte Videokassetten. Die einzigen Bedienelemente waren ein Knopf und eine LED. Ken erklärte, wie sie funktionierte: "Das ganze ist sehr einfach gehalten. Wichtig ist nur, das ihr die Bombe gut platziert. Wenn sie scharf ist, darf sie sich auf keinen Fall mehr bewegen. Sonst geht sie sofort los. Sorgt also dafür, das sie einen sicheren Stand hat, gut aufgehängt ist, oder was auch immer." "Alles klar. Ein empfindlicher Bewegungssensor also", sagte May. "Nicht nur das. Im inneren befindet sich ein Netz aus Kleinstdrähten, die bei einem gewaltsamen Öffnen reissen. Bei einem Temperatursturz geht ebenfalls ein Sensor los, so das Tricks mit flüssigem Stickstoff nicht greifen. Der eigentliche Zündmechanismus basiert auf einer simplen Metallfeder, und geht los, wenn die Elektronik ausfällt." May zog die Augenbrauen hoch. "Kann man die überhaupt entschärfen?", fragte sie. "Kaum", erwiderte Ken. "Man könnte versuchen, die Aussenschale so vorsichtig zu entfernen, das weder die Drähte verletzt, noch der Bewegungssensor ausgelöst wird. Aber ich würde die Finger davon lassen." May war einen Augenblick lang still. Sie schaute Ken mit einem scheelen Blick an. "Nicht zu entschärfen", sagte sie schliesslich. Ken nickte. "Wieso?" "Es ist einfacher, eine Bombe zu bauen, die sich nicht entschärfen lässt, als eine, die sich schwer entschärfen lässt. Normalerweise lasse ich mir eine Hintertür offen. Aber diesmal war ich in Eile, also..." May seufzte. "Na schön. Wie macht man sie scharf?" Ken deutete auf den Knopf an der Bombe. "Einfach hier drücken. Als Bestätigung sollte die LED kurz aufleuchten. Wenn sie mal scharf ist, gibt es zwei, voneinander unabhängige Zünder. Der erste ist an die verschiedenen Sensoren gekoppelt. Der zweite...", Ken gab May einen Funkauslöser, "...wird hiermit ausgelöst. Das Signal ist stark genug, um durch mehrere Mauern Stahlbeton zu dringen. Ausserdem geht die Bombe in spätestens drei Tagen von selbst los. Dann ist nämlich die Batterie alle, und die Elektronik fällt aus." "Alles klar." May nahm die Bombe und den Zünder entgegen. "Sei vorsichtig damit", warnte Ken. "Das Ding ist gefährlich." May nickte nur. "Was passiert eigentlich, wenn die Bombe ausgelöst wird?", fragte Rally, der Mays Unbehaglichkeit natürlich nicht entgangen war. "Nun, für etwa zehn Sekunden wird der Raum mit Aerosol gefüllt. Dann wird es gezündet. Das Feuer sollte die Drogen verbrennen, bevor ein Feuerlöscher vor Ort ist." Rally konnte daran nichts finden, was May beunruhigen könnte. Sie würde bei Gelegenheit nachfragen. Als die Sonne unterging, war alles bereit: Rally und May trugen immer noch die Verkleidungen vom Nachmittag, und sie benutzten wieder den Fiat. May bestand darauf, zu fahren. Immerhin war es ihr Wagen. Für Notfälle hatte Rally Ken beauftragt, etwa einen Kilometer weiter mit dem Cobra zu warten. Schliesslich kamen Rally und May in der Nähe von Stevensons Hauptquartier an. Während May die Bombe aus dem Kofferraum holte, prüfte Rally ihre Waffen. Wegen der Verkleidung konnte sie nicht beliebig viel mitnehmen. Sie hatte sich für ihr Lieblingsstück, die CZ-75, entschieden. Ausserdem hatte sie zwei volle Ersatzmagazine dabei, wodurch sie immerhin über 46 Schuss verfügte. Desweiteren hatte sie ihre DUO auf der Schiene im Ärmel versteckt. Die gute, alte 22.-er hatte sie schon mehr als einmal gerettet. May hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, ein paar Granaten mitzunehmen. Rally gefiel das gar nicht, denn sie wollte möglichst unentdeckt bleiben. Granaten waren dafür ein schlechtes Mittel. Immerhin konnte sie May überreden, sich auf vier Stück mit reduzierter Sprengkraft zu beschränken. Der Einstieg erwies sich als einfach. Das Fenster war immer noch entriegelt. Auch die erneute Überbrückung der Alarmanlage war nicht entdeckt worden, wie May zufrieden feststellte. Rally zückte die Waffe und entsicherte sie. Nach Mays Aussagen glaubte sie zwar nicht, das die Zimmer hier oben überhaupt benutzt wurden. Aber es bestand immer die Möglichkeit, dass sie einer Patrouille begegneten. Sie horchte an der Tür. Dann öffnete sie sie vorsichtig. Der Gang war dunkel. Rechts konnte Rally das Treppenhaus erkennen. "Und jetzt?", fragte sie leise. "Da runter?" "Ich denke schon", flüsterte May. "Es gibt noch ein zweites Treppenhaus, aber das ist vermutlich blockiert. Und heute Morgen sind hier zwei Wachen hochgekommen. Es ist wohl schon der richtige Weg." Rally drehte sich zu May um. Es war zu dunkel, um Rallys Gesichtsausdruck zu erkennen. Aber von irgendwo her wusste May, dass sie gerade ziemlich böse angefunkelt wurde. "Sie haben dich entdeckt, nicht wahr?", zischte Rally. May wollte entrüstet Antworten. Im letzten Moment fiel ihr ein, wo sie sich befanden. Sie wählte einen leiseren Tonfall: "Sie haben mich nicht entdeckt. Sie haben... sie haben nur gemerkt, das jemand da war." Rally schüttelte den Kopf. "Das hättest du sagen müssen", seufzte sie. "Die sind jetzt gewarnt. Wir müssen vorsichtig sein." Leise stiegen Rally und May die Treppen hinunter. Sie kamen ohne Schwierigkeiten bis in den zweiten Stock. Im ersten Stock allerdings, soviel war von oben zu sehen, brannte das Licht. Rally ging daher besonders vorsichtig nach unten. Als sie halb unten war, konnte sie einen Blick in den ersten Stock erhaschen. Ihre Vorsicht war nicht umsonst gewesen: Ein ziemlich massiger Typ, Marke Schwarzenegger, sass auf einem Stuhl vor der Treppe, und 'las' eines jener Blätter, die im Kiosk meist ganz oben auf den Regalen zu finden waren, damit die Kinder sie nicht so einfach erreichten. Es war natürlich Tom, der Sicherheitschef. Aber das wusste Rally nicht. Sie wusste nur eines: Irgendwie mussten Sie an dem Kerl vorbeikommen. Es gab zwei Möglichkeiten: Erstens, sie gingen hier nach unten. Diese Möglichkeit gefiel Rally nicht. Nicht so sehr, weil sie dazu Tom überwinden mussten, sondern vielmehr, weil sie so wahrscheinlich Aufsehen erregen würden. Und genau das wollte Rally um jeden Preis vermeiden. Die andere Möglichkeit war, sich einen anderen Abgang zu suchen. "May", fragte Rally leise, "gibt es noch einen anderen Weg nach unten?" May machte ein etwas enttäuschtes Gesicht. Offensichtlich hätte sie lieber etwas Radau gemacht. Aber sie war sich über die Situation durchaus im Klaren. Sie überlegte: "Wie ich schon gesagt habe, gibt es noch eine zweite Treppe auf der anderen Seite des Hauses. Aber soweit ich gesehen habe, ist die blockiert." "Blockiert?" "Ja, mit einer Holzplatte." "Hmmmm..." Rally dachte einen Moment nach. Viel Zeit dazu hatte sie allerdings nicht, denn auf einmal konnte sie von unten Schritte hören. Vorsichtig schaute sie wieder in den ersten Stock hinab. Sie konnte erkennen, das zwei Männer gerade auf die Treppe zu kamen. "Nanu?", sagte einer der beiden. "Du sitzt immer noch hier?" Tom sah missmutig zu ihm auf. "Hast du nicht gehört? Wir hatten heute einen Eindringling! Vielleicht sollte ich deine Sinne mal auf Trab bringen." "Wir hatten heute *Morgen* einen Eindringling. Und soviel ich gehört habe, hast du den armen Hawkins durch das halbe Gebäude gehetzt, bis du überzeugt warst, dass er weg ist." "Und wer sagt dir, dass er sich nicht immer noch irgendwo versteckt?" Toms Gesprächspartner schüttelte nur den Kopf. "Du bist ja paranoid", sagte er. "Mag sein", erwiderte Tom. "Aber bisher hat uns diese Paranoia immer gut beschützt." "Bisher... gab es nichts wovor sie uns beschützen müsste." "Das reicht jetzt aber! Los, ab ins Körbchen, ihr beiden, oder ich prügle euch dorthin!" Mit diesen Worten jagte Tom die beiden lachenden Männer die Treppe hoch. Rally reagierte schnell. Sie rannte die Treppe hoch, wobei sie May mit sich riss, und stürmte oben in das erstbeste Zimmer. Erst zog sie May hinein, und dann die Tür zu. Sie versuchte, ihren Atem zu bändigen, während die Schritte näher kamen. "Du Rally", flüsterte May. "Nicht jetzt", zischte Rally. "Als ich das erste mal hinaufstieg, da habe ich..." "Scht!" "Ich habe eine leere Matratze gesehen." Rally gab auf. "Und?", seufzte sie. "Sie ist nicht mehr leer." Rally sah sich um. Tatsächlich schlief jemand auf der Matratze. Innerlich fluchend horchte sie an der Tür. Keine Chance. Die Schritte waren bereits zu nahe. Rally hielt den Atem an, aber die Männer gingen einfach am Zimmer vorbei. Sie lachten immer noch. "Ach herrje", sagte einer. Vermutlich derselbe, der unten stumm geblieben war. "Nächstes Mal nehmen wir besser den anderen Weg." "Welchen anderen Weg denn? Es gibt keinen anderen Weg." "Oh, hab ich etwas von einem anderen Weg gesagt?" Beide lachten wieder. Allmählich verhallten die Schritte im Gang. Rally und May verliessen das Zimmer. Vorsichtig schlossen sie die Tür hinter sich. Erst dann wagten sie es, auf zu atmen. "Das war knapp", sagte May. "Allerdings", bestätigte Rally. "Aber immerhin wissen wir jetzt sicher, das es noch einen anderen Weg geben muss." May zuckte mit den Schultern. "Vielleicht ist die andere Treppe nur im Erdgeschoss blockiert." "Schauen wir nach", sagte Rally. Langsam schlichen sie sich durch den Gang. Immer bereit, in eines der Zimmer zu springen. Aber sie kamen ohne weitere Zwischenfälle auf die andere Seite. Leider war die andere Treppe aber auch hier blockiert. "War wohl nix", meinte May enttäuscht. Rally sagte nichts. Sie schaute nur angestrengt auf die Holzplatte. Dann drückte sie leicht. Nichts passierte. Sie schaute noch einmal genauer hin, und drückte an einer anderen Stelle. Es knirschte leicht. Rally lächelte triumphierend. Sie drückte stärker, und plötzlich löste sich ein Teil des Brettes. Rally fing es auf, bevor es lärmend in das Treppenhaus fallen konnte. "Das war es also", sagte sie. "Ein geheimer Durchgang", meinte May erstaunt. "Vielleicht um unbemerkt an der Wache vorbei zu kommen?" "Egal. Jedenfalls kommen wir so viel leichter nach unten. Komm schnell." Rally setzte die Platte wieder vorsichtig an ihren Platz, bevor sie und May nach unten gingen. Es war stockdunkel, aber May hatte eine kleine Taschenlampe dabei. Tatsächlich waren auch die anderen Stockwerke blockiert. Durch die Dunkelheit im Treppenhaus konnte man aber auch erkennen, das alle Platten gleich präpariert waren, denn von aussen schimmerte Licht durch die Ritzen. Im Keller war allerdings nichts zu erkennen. Vermutlich war das Licht im Gang ebenfalls abgeschaltet. Rally liess sich davon nicht stören. Sie tastete das Brett ab, und stellte fest, das auch dieses präpariert war. Sie horchte kurz, und als nichts zu hören war, öffnete sie auf die gleiche Weise wie oben den Durchgang. Im Gang schauten sie sich kurz um. Er sah aus, wie die Gänge oben. Ausser, das hier Rohre von der Decke hingen, und das, wie Rally bereits richtig vermutet hatte, das Licht ausgeschaltet war. "So", sagte sie. "Jetzt müssen wir nur noch das Lager finden." Sie versuchte die Tür gegenüber. May leuchtete mit der Taschenlampe herum. Der Raum enthielt jede Menge Geräte, wobei einige offensichtlich abtransportbereit waren. Aber es lagen keine Drogen herum. "Das muss das Labor sein", sagte May. "wir könnten die Bombe auch hier platzieren." Rally schüttelte den Kopf. "Was bringt es, wenn wir das Labor zerstören? In ein oder zwei Tagen ist die Bande sowieso aus dem Geschäft." "Stimmt auch wieder." May und Rally schauten sich die Räume daneben und gegenüber an, aber sie waren alle leer. "Seltsam", sagte May. "Es ist doch nicht üblich, die Drogen weit vom Labor entfernt zu lagern, oder?" "Vielleicht wollen sie umziehen", erwiderte Rally. "Umziehen?", fragte May verdutzt. "Wie kommst du darauf?" "Vector hat erwähnt, das Stevenson nervös ist. Und ausserdem waren einige der Geräte im Labor transportfertig. Sie werden die Drogen wohl irgendwo hin gebracht haben, wo sie schnell wegzuschaffen sind." "Meinst du, sie liegen im Erdgeschoss?" "Kaum. Das Risiko wäre zu gross." "Also noch im Keller." May überlegte: "Vielleicht bei der anderen Treppe... Der Notausgang ist gleich darüber... Was meinst du?" Rally blickte May erstaunt an. "Na klar! Das ist es!", sagte sie. "Gut gedacht, May." Zum Glück konnte Rally Mays siegreiches Grinsen in der Dunkelheit nicht sehen. Sie hätte ihr Lob womöglich bereut. Zurück auf der anderen Seite sahen sie, das Licht im Treppenhaus brannte. Misstrauisch und vorsichtig schauten sie nach oben. Aber es war niemand zu sehen. Also gingen sie zur Tür gegenüber. Rally horchte kurz daran, dann öffnete sie sie schnell, aber geräuschlos. Sie sah sich schnell um. Es war niemand da, aber der Raum war nicht leer. Ganz und gar nicht. Er war Stapelweise mit kleinen grauen Päckchen gefüllt. "Ach du...", sagte May etwas zu laut. Erschrocken schaute sie zur Treppe. Aber sie schien nicht gehört worden zu sein. Leise kam sie hinter Rally her in den Raum, und schloss die Tür. Sie leuchtete etwas herum. Schliesslich fand sie den Lichtschalter. Als sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Der Raum enthielt hunderte von den Päckchen. "Ach du meine Güte", vervollständigte sie den begonnen Satz, diesmal leiser. "Wenn das wirklich alles Drogen sind, dann ist das Zeug hier ein Vermögen wert." Rally hatten einen entschlossenen Gesichtsausdruck angenommen. Sie nahm sich eines der Päckchen, und öffnete es. Es enthielt ein gräuliches Pulver. Rally versuchte davon. "Und?", fragte May. "Ich bin kein Experte," sagte Rally, "aber das sind ziemlich sicher Drogen. Wenn auch grosszügig mit Zucker gestreckt." "Schlechte Qualität was? Der Markt ist wohl ausgetrocknet." "Der Markt *ist* ausgetrocknet", bestätigte Rally. "Und er wird es gleich noch etwas mehr sein. Aber das ist nicht unser Problem." Sie schloss das Päckchen wieder, und legte es zurück. Dann drehte sich zu May um: "Jetzt bist du drann." "Alles klar", sagte May, und begann sich nach einem geeigneten Platz für die Bombe umzusehen. In diesem Moment schnappte das Türschloss zu. Kapitel 5: Sein und Schein -------------------------- "Jetzt hab ich euch, ihr zwei Hübschen!", rief Tom von aussen. "Unbemerkt an mir vorbei zu kommen, ist keine schlechte Leistung. Alle Achtung. Aber ich hab eine Videokamera hier unten, tut mir leid." Rally knirschte mit den Zähnen. Jetzt sassen sie und May im Lagerraum fest. Das wäre an sich ja nicht tragisch gewesen, denn Rally zweifelte keine Sekunde, dass sie hier problemlos ausbrechen konnten. Viel schlimmer war, dass sie überhaupt entdeckt worden waren. Dieser Vorfall war vielleicht genug, um Stevenson zur Evakuierung des Gebäudes zu bewegen. Und wenn das geschah, wäre alles umsonst gewesen. Irgendwie musste sie ihn davon überzeugen, dass von ihr keine Gefahr ausging. Tom meldete sich wieder: "Also Mädels. Ich hatte gerade den Boss am Draht, und der will euch persönlich sprechen. Fühlt euch gefälligst geehrt. Oh, und ich habe eine Wache vor dem Raum plaziert. Seit also so nett, und haut nicht ab." Rally konnte hören, wie Tom sich lachend entfernte. Sie sah sich kurz im Raum um, und entdeckte rechts oberhalb der Tür eine Kleinstkamera. Mit einem gezielten Schuss setzte sie sie ausser Funktion. "Äh, Rally?", fragte May. Rally drehte sich zu ihr um. "Was soll ich jetzt eigentlich damit machen?" May hielt die Bombe in Händen. "Installier sie", entschied Rally. Stevenson hatte beim Aufbau seines Syndikats ein paar kapitale Fehler gemacht. Aber der wohl schlimmste war eine völlige Fehleinschätzung der Gefahrenquellen. Er fürchtete die Polizei, und er misstraute seinen Angestellten. Aber er dachte kaum an die Gefahr, die von den anderen Syndikaten ausging. Im Gegenteil: Er sah sich bereits als Handelspartner. Er ahnte nicht, dass die anderen Syndikate lediglich daran interessiert waren, ihn möglichst schnell aus dem Weg zu räumen. Oder dass sie Vector auf ihn angesetzt hatten. Oder dass dieser sein Labor überwachen liess. Genau so aber war es. Daher war Vector über die Situation an diesem Abend recht gut im Bilde. Als er erfuhr, dass Stevenson frühzeitig zurückkehrte, wusste er, dass die Dinge anders liefen, als geplant. Er rief John, seinen Assistenten, zu sich: "Es scheint, als wäre irgend etwas schief gelaufen. Wir gehen zu Plan B über. Wie lange brauchen wir für die Vorbereitungen?" "Der Computerspezialist meinte, er brauche etwa eine Viertelstunde, um die Daten einzugeben", antwortete John. "Von da an können wir die Aktion jederzeit starten." "Gut. Sag ihm, er soll sofort damit anfangen. Und ich brauche meinen Wagen." "Sir?" "Wir ziehen dass noch heute Nacht durch." "Alles klar." May hatte neben den Stapeln eine Stelle gefunden, wo die Bombe nicht ohne weiteres sichtbar war. Dort hatte sie die Bombe mit einem Packetklebeband befestigt. Sie drückte den Knopf, und, wie versprochen, leuchtete die LED kurz auf. May ging wieder zu Rally hinüber. "So, das wärs", sagte sie. "Die geht jetzt auf jeden Fall hoch." "Fang!", rief Rally. Sie warf May zwei Päckchen mit Kerosin zu. "Wir überzeugen Stevenson davon, dass wir lediglich ein paar von den Päckchen klauen wollen", erklärte sie. May war das nicht ganz geheuer. "Ist das nicht etwas riskant?", fragte sie. "Hast du eine bessere Idee?" "Wie wärs mit abhauen?" "Wenn wir das machen, dann macht sich Stevenson mit Sicherheit aus dem Staub. Er darf den wahren Grund unserer Aktion nicht mitbekommen." "Schon klar." Mays Unbehaglichkeit wurde langsam augenfällig. Rally konnte ihre Neugier nicht länger zügeln: "Sag mal, warum bist du so nervös? Wir waren schon in gefährlicheren Situationen." May seufzte. "Es ist wegen der Bombe", sagte sie schliesslich. "Wegen der Bombe? Seit wann hast du Angst vor Bomben?" "Darum geht es nicht. Weisst du, wie Aerosol wirkt?" Rally schüttelte den Kopf. "Nun, Aerosol sind feinste Tropfen einer Flüssigkeit. So fein, dass sie in der Luft schweben. Für Bomben nimmt man etwas Brennbares. Wenn das ganze entzündet wird... Bumm!" May sagte nichts weiter. "Und?", fragte Rally nach einer Weile. "Bei einigen tausend Grad Celsius", ergänzte May. "Wenn wir noch im Raum sind, wenn die hochgeht, kann man uns bestenfalls noch aufgrund der Zahnabdrücke identifizieren. Mal ganz abgesehen davon ist der Explosionsdruck gewaltig. Falls Ken die Dosis falsch berechnet hat, könnte das ganze Gebäude einstürzen." Rallys Augen weiteten sich. Bisher hatte sie nicht gewusst, was für ein Monster von Bombe Ken da gebaut hatte. Jetzt wusste sie es, war sich aber nicht sicher, ob sie über dieses Wissen glücklich war. Stevenson erreichte das Labor. Er stieg aus seinem weissen Mercedes, und gab dem Fahrer ein Zeichen. Dieser fuhr daraufhin den Wagen in die nächste Garage. Der Mercedes war in dieser Gegend fiel zu auffällig. Normalerweise wäre Stevenson in der Garage ausgestiegen, und zum Labor gelaufen. Aber jetzt hatte er es eilig. Er ging zum Eingang. Neben der Wache wartete Robert auf ihn. Stevenson war nicht sonderlich überrascht. Der arme Robert hatte schlicht kein Durchsetzungsvermögen. Darum erwischte er immer die schlechten Jobs. "Guten Abend, Sir", sagte Robert. "Nett gemeint, Robert, aber der Abend ist auf jeden Fall im Eimer", brummte Stevenson. Er und Robert gingen zum Büro hoch. Die Tür des Lagerraums öffnete sich. Tom stand im Eingang. In seiner rechten Hand hielt er eine Uzi im lockeren Anschlag, als wollte er damit sagen: "Ich bin kräftig genug, eine automatische Waffe aus der Hüfte zu feuern." Rally erkannte aber auf den ersten Blick, das selbst jemand, der so kräftig gebaut war wie Tom, so unmöglich auch nur einigermassen präzise schiessen konnte. Die meisten Schüsse wären vermutlich in der Decke gelandet. Rally konnte der Versuchung, einfach abzuhauen, nur mit Mühe widerstehen. "Also schön!",rief Tom. "Der Boss ist jetzt da, und will euch sehen. Aber vorher soll ich noch eure Waffen einsammeln. Also los." Ein weiterer von Stevensons Männern betrat den Raum. Er hielt eine Kartonschachtel in Händen, welche er neben Tom auf den Boden stellte. Dann ging er auf Rally zu, und streckte die Hand aus. Diesmal juckte es Rally wirklich, denn nun stand er genau zwischen ihr und Tom. Aber sie liess sich nichts anmerken, und gab ihm die Pistole. Er warf sie achtlos in die Schachtel. "Hände hoch", sagte er. Rally tat, wie ihr geheissen. Der Mann ging um sie herum, und griff ihr von hinten an die Brust. "Was soll das!?", schrie Rally ihn an. "Na, ich taste sie nach versteckten Waffen ab", war die Antwort. "Ach was?", fragte Rally sarkastisch. Tom kicherte: "Schon gut, mach weiter. Der Boss wartet." "Okay", sagte der Mann grinsend, und tastete Rally nach unten ab. Er fand die Kerosinpäckchen und die Ersatzmagazine. Beides warf er zur Pistole in die Schachtel. Dann wiederholte er dieselbe Prozedur bei May. Er fand auch ihre Kerosinpäckchen, drei Granaten, das Klebeband, und das Werkzeug. Den Auslöser für die Bombe fand er nicht. "Also Robert, mal ganz von Anfang an." Stevenson hatte sich in seinen Bürosessel gesetzt. Robert stand ihm gegenüber. "Zunächst einmal würde mich interessieren, wie die überhaupt rein gekommen sind." Robert nickte. "Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Heute Vormittag, kurz nachdem Sie das Haus verlassen hatten, ist zwar jemand im vierten Stock durch den Notausgang eingedrungen, und hat die Alarmanlage im Zimmer daneben überbrückt. Aber die Überbrückung wurde entdeckt und entfernt. Ausserdem: Selbst wenn sie dort eingedrungen sein sollten, stellt sich die Frage, wie sie ungesehen in den Keller kamen. Wegen der Sache am Vormittag hielt Tom nämlich bei der Treppe im ersten Stock Wache." "Dann sind sie im Erdgeschoss eingestiegen?" Robert zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Sie haben keine der Alarmanlagen ausgelöst. Ausser dem Haupteingang ist alles gesichert. Und ich bezweifle doch sehr, dass sie dort durch sind. Überhaupt haben wir sie erst entdeckt, als sie in den Lagerraum gingen. Dort haben sie die Kamera übersehen. Trotzdem recht professionell, das ganze." Stevenson nahm es mit Unbehagen zur Kentniss. "Das gefällt mir überhaupt nicht", sagte er. Es klopfte. "Herein!", rief Stevenson. Rally öffnete die Tür, und betrat den Raum. Danach kamen May und Tom. Tom hatte seine Uzi auf die beiden gerichtet. Als Stevenson May sah, klappte sein Kiefer nach unten. Auch Robert konnte seine Überraschung nicht verbergen. "Ja, das darf doch nicht...!", rief Stevenson. "Hi", sagte May verlegen. Tom war sichtlich verdutzt. Rally sah May mit ihrem "Was verbirgst du wieder vor mir"-Blick an. "Äh, können wir später darüber reden?", meinte May. Tom räusperte sich: "Ahem. Das hier hatten die beiden bei sich." Er hielt die Schachtel, mit Rally und Mays Sachen hoch. Stevenson schaute zu Robert. Der holte die Schachtel, und gab sie Stevenson. Der legte die Sachen auf dem Pult aus. Er kratzte sich am Kopf. "Nettes Arsenal habt ihr dabei", meinte er. "Wem von euch gehören die Granaten?" Rally machte eine Kopfbewegung zu May, worauf diese noch etwas verlegener wurde. "Hätt ich mir ja denken können", seufzte Stevenson. Er räumte alles, ausser den Kerosinpäckchen, wieder in die Schachtel, und stellte sie auf seiner Seite des Pults auf den Boden. "Hinsetzen!", befahl er. Rally und May gingen auf den einzigen Stuhl zu, der auf ihrer Seite des Pults stand. Stevenson warf Robert einen Seitenblick zu, worauf dieser aus einer Ecke einen zweiten Stuhl holte, und vor das Pult stellte. Rally und May setzten sich. "Gut", sagte Stevenson. "Das wär dann alles, Tom." "Sie finden mich im Überwachungsraum", erwiderte dieser, und ging. Robert zog seine Pistole, und verschränkte seine Arme. Stevenson wunderte sich. "Nur zur Sicherheit", erklärte Robert ungefragt. Und zu den Mädchen: "Ich trau euch nämlich nicht." Stevenson zuckte mit den Schultern. Dann wandte er sich wieder den Mädchen zu: "Na schön. Ich nehme an, ihr wisst was sich in diesen Päckchen befindet?" Rally wollte antworten, aber May war schneller: "Kerosin. Synthetische Droge. Wirkung ähnlich der von LSD. Hohes Suchtpotential." "Schön. Ich sehe, ihr habt eure Hausaufgaben gemacht. Ihr wolltet wohl eure Kasse etwas aufbessern, was? Sind euch meine Preise nicht tief genug?" "Eigentlich hoffte ich, hier Stoff von besserer Qualität zu finden", meinte Rally. "Ach, reines Zeugs wollt ihr", sagte Stevenson. "Tja, Pech gehabt. Mein Labor ist derzeit geschlossen. Nur meine Lagerbestände sind noch da. Und die sind bereit für den Verkauf." "Bereit für den Verkauf. So nennt ihr das. Nicht genug, dass ihr dieses Gift in Umlauf bringt, ihr betrügt auch noch eure Kunden." "Bitte?" "Glaubt ihr etwa, ich habe es nicht probiert? Da drinn ist mehr Zucker als sonst was." Eine unangenehme Stille folgte, während der sich Rally und Stevenson gegenseitig anfunkelten. Schliesslich ergriff Stevenson wieder das Wort: "Nun, immerhin wird es ja gekauft." "Klar", konterte Rally. "Weil ihr es billig verscherbelt." "Man kriegt, wofür man bezahlt." Rally schüttelte den Kopf. "Ich gebs auf", seufzte sie. "Schön", meinte Stevenson, und lehnte sich zurück. "Nachdem das geregelt wäre, können wir ja zur Fragestunde übergehen. Also. Frage 1: Wie habt ihr dieses Haus gefunden." "Wir haben die Verkaufskette zurückverfolgt. Es war nicht all zu schwer." "Ihr habt keinen Tipp erhalten?" "Nein." Stevenson beäugte Rally misstrauisch. Doch Rally war bereits öfters in derartigen Verhören. Sie hatte gelernt, zu bluffen. "Verstehe", meinte Stevenson schliesslich. "Na schön. Frage 2: Wie seit ihr hier rein gekommen?" "Durchs Fenster neben dem Notausgang im vierten Stock", sagte Rally. "Ich hab die Alarmanlage überbrückt", ergänzte May. "Ich dachte, die Überbrückung sei aufgehoben worden?", fragte Stevenson Robert. "So hat Tom es mir berichtet, Sir", verteidigte sich dieser. "Das ist schon richtig", wandte May ein. "Nur leider war ich da noch im Haus." Stevenson schaute sie etwas scheel an. "Also ich muss schon sagen... Ach egal. Frage 3: Mir ist noch nicht ganz klar, was ihr mit den Drogen wolltet. Also?" "Es schien einfach ein lukratives Geschäft zu sein. Der Markt ist ausgetrocknet. Hochwertiges Material müsste sich da zu Höchstpreisen verkaufen lassen", sagte Rally. "Und da fiel euch nichts besseres ein, als bei mir einzubrechen?" "Warum auch nicht? Es schien uns der einfachste Weg." "Wieso versucht ihr es nicht mit dealen?" "Damit lässt sich doch kein Geld mehr verdienen, seit die Preise wieder runter sind." "Es lässt sich immer noch recht gut davon leben. Und es wäre wenigstens halbwegs anständig." "Moment mal, wir reden hier von Drogen, nicht? Und dazu noch von recht gefährlichem Zeugs. Ich sehe keinen grossen Unterschied, ob ich das Zeugs jetzt 'ehrlich' erworben, oder geklaut habe." "Nette Einstellung." "Gleichfalls." Stevenson und Rally funkelten sich eine Weile lang böse an. May fragte sich bereits, ob Rally nicht vielleicht etwas zu weit gegangen sei. Aber Stevenson beruhigte sich wieder. "Also schön, ihr zwei", meinte er leicht verärgert. "Wenn ihr hier heil raus wollt, solltet ihr besser mit uns kooperieren." "Kooperieren?", fragte Rally. "Inwiefern?" "Nuuun. Zum Beispiel hätte Ich durchaus noch Bedarf für Zwischenhändler." "Sir!", wandte Robert ein. "Unter Überwachung natürlich", beruhigte ihn Stevenson. "Das meinen Sie doch nicht im Ernst?", fragte Rally. "Warum nicht?", fragte May. "Was!?" "Überleg doch mal", flüsterte May. "Es wär nur für ein paar Tage. Wir brauchen das Zeugs ja nicht zu verkaufen." "Und was, wenn die Polizei es bei uns findet?", flüsterte Rally zurück. "Dann tarnen wir es als Granaten." "Sehr witzig." May spielte damit auf das nicht gerade kleine und keineswegs legale Lager an Granaten in Rallys Laden an. Sie waren deswegen bereits einmal in Schwierigkeiten geraten. "Was ist jetzt?", fragte Stevenson ungeduldig. Rally überlegte einen Moment. Es war riskant. Aber andererseits galt das für das ganze Unternehmen. "Meinetwegen", meinte Sie schliesslich. "Wenn es keinen anderen Weg gibt..." "Einen anderen Weg?", fragte Stevenson. "Hmmm... nun ja... vielleicht..." Rally gefiel das Grinsen, das sich auf Stevensons Gesicht bildete, nicht. Es ging einen Augenblick, bis sie realisierte, dass Stevenson die ganze Zeit auf ihre Brust starrte. Rally konnte den Blutdruck förmlich ansteigen fühlen. Zwei solche Typen an einem Abend waren ein bisschen viel. "Ist... das... ein... Scherz...?", fragte sie, sichtlich um ihre Beherrschung ringend. "Ach wirklich?", fragte May zuckersüss. Stevenson war baff. Während Rally jetzt den Eindruck eines Vulkans kurz vor der Explosion machte, war bei May nichts mehr von ihrer vorherigen Kindlichkeit oder Unschuld sichtbar. Rally beruhigte sich wieder. Sie schaute May aber verächtlich an. Natürlich wusste sie, das May damals in Chinatown nicht nur Frühlingsrollen verkauft hatte. Aber solche 'Manöver' gehörten ihrer Meinung nach bestenfalls zum Notrepertoire einer Prämienjägerin. May war da freilich ganz anderer Ansicht. May öffnete die Träger ihrer Latzhose, so dass das Vorderteil herunter klappte. Den Gürtel liess sie noch geschlossen. Dann lehnte sie sich langsam über das Pult, bis ihr Gesicht ganz nahe an dem Stevensons war. "Also", sagte sie, "entweder wir arbeiten künftig als Dealer für dich, oder", sie stand etwas auf, so dass der Ausschnitt ihres T-Shirts in Stevensons Blickfeld kam, "wir... leisten eine kleine Kompensation für den verursachten Ärger". Der Ausschnitt war recht gross, und erlaubte Stevenson einen guten Einblick. "Donnerwetter. Für ein Kind ist die aber gut gebaut", dachte er sich. Robert erkannte an Stevensons Blick, dass er gerade etwas verpasste. Er versuchte, ebenfalls einen Blick auf das, was Stevenson gerade so intensiv betrachtete, zu erhaschen. Aber von seinem Standpunkt aus war das schlicht unmöglich. "Ja", sagte Stevenson schliesslich, "darüber liesse sich diskutieren." "Darf ich noch eine dritte Möglichkeit vorschlagen?", fragte May. "Was für eine denn?", fragte Stevenson zurück. "Nun", sagte May, und schmiegte ihren Kopf an Stevensons, "wir hauen einfach ab." Dann ging alles blitzschnell: May griff sich eines der Kerosinpäckchen, das noch immer auf dem Tisch lag, und zerriss es mit einer schnellen Bewegung. Eine Granate rollte auf den Tisch. Noch bevor Stevenson die neue Situation begriffen hatte, explodierte sie. Es war eine Blendgranate. May hatte die Augen natürlich sofort geschlossen. Auch Rally hatte rechtzeitig den Typ erkannt. Stevenson hingegen schaute direkt in die Flamme, und war komplett geblendet. Robert hatte sich immerhin instinktiv den Arm vor die Augen gehalten, konnte für ein paar Sekunden aber auch nichts sehen. Als sein Augenlicht zurückkehrte hatte Rally von irgend wo her eine Kleinkaliberpistole in ihre Hand gezaubert, und zielte damit auf ihn. "Was?", fragte er. "Woher..." "Die Pistole?", fragte Rally. "Die hatte ich im Ärmel. Nächstes mal solltet ihr mich besser durchsuchen". Robert starrte sie fassungslos an, was Rally sichtlich genoss. Aber er überlegte nicht lange. Er liess seine Waffe fallen, und rannte zur Tür hinaus. Rally liess ihn machen. Sie wollte nach wie vor den Anschein von Professionalität vermeiden. Tom war die Explosion natürlich nicht entgangen. Im ersten Augenblick war er zu erschrocken, um zu reagieren. Dann sah er, wie ein Alarm ausgelöst wurde. Die Türe des Notausgangs neben Stevensons Büro war geöffnet worden. Tom schaute nach aussen, und sah, wie Robert die Feuertreppe hinuntersprang, und auf die nächste Seitengasse zu rannte. "So leicht kommst du mir nicht davon", schrie Tom, obwohl er wusste, das Robert in unmöglich hören konnte. Er schnappte sich die auf dem Tisch liegende Pistole, riss das Fenster auf, und schoss. Zu Roberts Glück hatte Tom nicht die Uzi, sondern nur seine Magnum erwischt. Aber auch so musste Robert die leidvolle Erfahrung machen, das eine grosskalibrige Kugel im Bein meist eine sehr effektive Methode ist, jemanden am wegrennen zu hindern. Vector war mittlerweile am Ort des Geschehens eingetroffen. Er wartete etwas abseits in seinem Wagen. Einer seiner Männer meldete sich über Funk: "Gerade ist im Gebäude eine Blendgranate losgegangen. Kurz darauf hat eine Person, vermutlich einer von Stevensons Männern, versucht, zu fliehen. Aber jemand aus dem Gebäude hat ihm eine Kugel ins Bein verpasst." "Verstanden", sagte Vector. "Sir, was sollen wir mit dem Angeschossenen machen?" "Lasst ihn laufen. Es ist besser für uns, wenn er davonkommt." "Wie sie wünschen." Vector schaltete das Funkgerät ab. "Was zum Teufel geht da drinnen vor sich?", fragte er sich. "Ich seh ihn", sagte May, die aus dem Fenster schaute. "Er scheint ne Kugel abgekriegt zu haben." "Du gehst ja nett mit deinen Mitarbeitern um", sagte Rally zu Stevenson. Sie hatte sich mittlerweile ihre Waffen und Ersatzmagazine zurückgeholt, und zielte nun mit der CZ-75 auf seinen Kopf. Da meldete sich Tom über das Intercom: "Chef? Was ist passiert? Sind Sie in Ordnung?" "Natürlich, du Idiot!", schrie Stevenson. "Mal abgesehen davon, dass ich halb geblendet bin, und jemand mit einer 9mm auf mich zielt, ist es mir noch nie besser gegangen! Hättet ihr die beiden nicht besser durchsuchen können?!" "Weg da", befahl Rally knapp. Sie winkte mit der Waffe zur rechten, hinteren Ecke des Zimmers. Stevenson stand auf, und ging nach hinten. Rally ging ans Intercom, wobei sie Stevenson nicht aus den Augen liess. Sie drückte die Sprechtaste, und fragte: "Mr. Bodybuilder, nehme ich an?" "Ich heisse Tom!", kam die Antwort. "Also Tom. Deinem Boss gehts gut. In ein paar Stunden wird er wieder sein volles Sehvermögen zurück haben. Wenn ihr ernsthaftere Verletzungen verhindern wollt, solltet ihr besser machen, was ich euch sage." "Und das wäre?" "Ich will freien Rückzug über die Feuertreppe." Es vergingen einige Sekunden der Stille. "Mach einfach, was sie sagen, verdammt!", rief Stevenson schliesslich. "Um das bisschen Kerosin ists jetzt auch nicht schade." Tom gab nach: "Also schön. Gebt mir ein paar Minuten, um die Scharfschützen zu verständigen." "In Ordnung", meinte Rally. Tom ärgerte sich. Hatte er die beiden doch tatsächlich unterschätzt. Aber so einfach würde er nicht aufgeben. Er bot die Scharfschützen auf, die innert einiger Minuten verfügbar waren, und plazierte sie in seinem Büro, sowie den angrenzenden Zimmern. Sie sollten versuchen, Rally und May auszuschalten, ohne den Boss zu gefährden. Zur Sicherheit plazierte er auch noch ein paar Leute im Gang des ersten Stocks. Er war sich sicher, die Mädchen zu schnappen. Auch wenn sie gut darin waren, Waffen zu verstecken: Profis waren sie nicht. Dachte er. May hatte mittlerweile Stevenson mittels Klebeband an dessen Stuhl gefesselt. Dabei hatte sie besonders darauf geachtet, dass es nicht so einfach sein würde, ihn wieder zu befreien. Rally hatte ihre Waffe und die Munition geprüft. Bisher hatte sie nur einen einzigen Schuss abgefeuert. Das sollte genug Reserve lassen, um hier auszubrechen. "So. Schätze wir haben alles", sagte sie. Ihr Blick wanderte über den Tisch. "Ah, Moment. Das hatte ich ja fast vergessen." Sie nahm die drei verbliebenen Kerosinpäckchen, und verstaute sie in Innentaschen ihrer Jacke. "Pah. Alles in allem seit ihr doch nur Diebe", brummte Stevenson. "Glauben Sie etwa, es hat Spass gemacht hier einzubrechen?", verteidigte sich Rally. "Ausserdem ist das Zeug hier sowieso nicht viel Wert." "Soll das vielleicht eine Rechtfertigung sein?" "Entschuldige", sagte May betont freundlich, "aber könntest du mal deinen Mund halten?" "Und wieso?", fragte Stevenson missmutig. May riss ein Stück vom Klebeband von der Rolle. "Weil ich dir sonst den Mund nicht richtig zukleben kann. Und wenn ich den Knebel wieder abreissen muss, tuts weh." Stevenson murmelte etwas unverständliches, und ergab sich in sein Schicksal. Der Lautsprecher der Gegensprechanlage knackste. "Hallo?", fragte Tom. Rally ging zum Gerät hinüber. "Wir hören", sagte sie. "Ist der Ausgang frei?" "Erst will ich wissen, wies dem Boss geht." "Keine Sorge. Er hat keinen Kratzer. Wir haben ihn an den Stuhl gefesselt." "Also gut. Ihr könnt jetzt raus. Nehmt das Fenster." "Danke!" Rally schaltete das Gerät ab. "Willst du wirklich die Feuertreppe runter?", fragte May. "Schliesslich weiss er, dass du dort raus willst. Der hat doch noch mehr Leute aufgestellt." "Natürlich hat er das. Darum nehmen wir ja auch den Haupteingang." "Den was!?" "Komm her." Rally ging zur Bürotür. Sie horchte. Ein leises Gemurmel war zu hören. "Okay", sagte sie leise. "Ich hoffte eigentlich, dass er alle Leute zur Bewachung der Feuertreppe einsetzt. Aber da scheinen noch ein paar auf dem Gang zu sein. Bist du bereit?" "Musst du fragen?", sagte May, und machte eine Granate bereit. May drückte sich rechts neben der Tür gegen die Wand. Rally trat die Tür auf. Auf dem Gang standen drei reichlich überraschte Männer. Jeder mit einer Pistole in der Hand. Rally schoss dem in der Mitte in die Schulter. Die anderen beiden reagierten schnell. Sie zogen sich nach rechts zurück, wobei sie ein paar Schüsse in Rallys Richtung abgaben. Die hatte sich aber bereits links neben der Tür gegen die Wand gedrückt. Der einzige, der ernsthaft durch die Schüsse gefährdet wurde, war Stevenson, welcher sich eine mentale Notiz auf der Liste "zu entlassen" machte. Als die Schiesserei aufhörte, wagte Rally einen kurzen Blick. Sie konnte erkennen, das die Männer ins Treppenhaus flohen. "Das Treppenhaus", flüsterte sie. May nickte. Rally zählte mit den Fingern: Drei... zwei... eins... Dann sprang sie nach draussen, und feuerte wild zum Treppenhaus hinüber. May nutzte die so gewonnene Feuerdeckung, um die Granate zu entsichern, und zu werfen. Sie rollte genau ins Ziel. Sofort hörte Rally auf zu schiessen, und rannte nach links den Gang hinunter. May folgte ihr. Etwa auf halbem Weg zur Biegung konnten Sie die Explosion hören. Daraufhin folgten rasche Schritte. Mindestens einer der Männer war offensichtlich rechtzeitig irgendwo in Deckung gegangen. "Halt!", konnte Rally jemanden rufen hören. Aber sie hatte die Biegung fast erreicht, und dachte nicht daran, anzuhalten. Ein Schuss fiel. Die Kugel traf Rallys Rücken wie ein Hammerschlag. Sie stolperte, und wäre beinahe hingefallen. Doch dann erreichte sie die Biegung, und rannte um die Ecke. May folgte ihr gleich darauf. "Die Kugel?", fragte Rally, während sie das fast leere Magazin aus der Pistole zog, und es in einer Jackentasche verstaute. "Ist in der Weste hängengeblieben", beruhigte sie May. Rally atmete auf, und setzte ein frisches Magazin ein. Dem Schlag nach zu urteilen war das ein ziemlich grosses Kaliber. Gut möglich, das ein einzelner Schuss durch die Weste käme. Vorsichtig schaute sie für einen kurzen Augenblick um die Ecke. Zu ihrem Ärger sah sie, das beide Männer es geschafft hatten, der Explosion zu entkommen. Einer kam langsam auf sie zu. Der andere lief von Rally weg den Gang hinunter. "Schnell!", rief Rally May zu. Dann rannte sie weiter den Gang entlang zur anderen Seite des Gebäudes. Ihr Ziel war das blockierte Treppenhaus, welches sie und May bereits vorhin benutzt hatten. Es würde eine gute Deckung bieten. Doch kurz bevor sie es erreichte, sah sie ihren Gegner um die Ecke biegen. Beide bremsten scharf, und feuerten aufeinander. Rally war einen Sekundenbruchteil schneller. Ihre Kugel traf den Lauf seiner Waffe, und lenkte seinen Schuss nach rechts ab. Seine Kugel flog an Rally vorbei, verfehlte May um ein Haar, und schlug schliesslich harmlos in der Wand ein. Rally setzte sofort zwei weitere Schüsse nach, diesmal in den Oberarm und den Oberschenkel des Mannes. Der fluchte, und liess seine Waffe fallen. Rally trat die Holzplatte ein, die die Treppe verstellte. Um Geräuschentwicklung brauchte sie sich diesmal schliesslich keine Sorgen zu machen. Sie griff May, die mittlerweile aufgeschlossen hatte, am Arm, und zog sie ins Treppenhaus. Dann nahm sie die Pistole in Anschlag, und zielte dem Gang entlang zurück zur Ecke, um die sie gerade gekommen waren. Kurz darauf erschien der Schütze, der in ihre Richtung gegangen war. Auch er erhielt je eine Kugel in Oberarm und Oberschenkel. Der Mann, der im Haupteingang stand, war cool. Völlig cool. Er war so cool, dass er sogar nachts eine Sonnenbrille trug. Seine Remington PumpAction, und der beeindruckende Patronengürtel, würden jeden Menschen mit Verstand davon abhalten, all zu nah an das Haus heran zu kommen. Aber im Augenblick hatte er eine andere Aufgabe. Er musste zwei Frauen daran hindern, das Haus zu verlassen, sollten sie es durch den Haupteingang versuchen. Die Schiesserei im ersten Stock, die er hören konnte, verriet ihm, das sie es wahrscheinlich versuchen würden. Aber das war kein Problem. Schliesslich war er ja cool. Und er hatte sein Schrotgewehr durchgeladen und im Anschlag. Und bei der Streuwirkung seiner Munition würde es auch nichts ausmachen, das obgenanntes Gewehr gewaltig zitterte. Als er die Schritte auf der Treppe hörte, wusste er, das seine Stunde gekommen war. Er tastete nach dem Abzug. Die Schritte verklangen genau hinter der Holzplatte, welche das Treppenhaus verstellte. Es folgte ein nervenzermürbender Moment der Stille. Dann flog ihm die Platte entgegen. Er drückte ab. Die Salve traf die sich noch in der Luft befindliche Platte, und schleuderte sie zurück. Die Wache führte eine Ladebewegung durch, und feuerte nochmals. Und nochmals, und nochmals. So wie er es unzählige Male im Schiessstand geübt hatte. Er feuerte weiter, bis ihm ein leises Klicken sagte, das sein Magazin leer war. Er atmete tief durch. Niemand konnte das überlebt haben. Noch nicht einmal mit einer kugelsicheren Weste. Irgend etwas berührte seinen Fuss. Er sah nach unten. Es war eine Granate. Zu seinem Glück war es lediglich eine Rauchgranate, die May da gerade geworfen hatte. Rally hatte damit gerechnet, das in der Tür ein schiesswütiger Kerl stand. Darum war sie sofort wieder in Deckung gegangen, nachdem sie die Platte eingetreten hatte. May hatte daraufhin den Rest besorgt. Als sich der kleine Eingangsraum mit rosa Rauch füllte (Mays Markenzeichen), und die Wache damit ihrer Sicht beraubte, stürmten die beiden nach draussen. Jetzt mussten sie nur noch einen Block lang geradeaus laufen, und dann nach links abbiegen, dann wären sie bei Mays Wagen. Doch so weit kamen sie nicht. Sie hatten sich erst wenige Meter vom Haus entfernt, als jemand "Halt!" rief. Rally blieb augenblicklich stehen. Sie sah nach hinten, und erblickte Tom. Langsam drehte sie sich um. Tom hatte sich neben den Eingang gestellt. Er hielt seine Uzi auf die übliche Art und Weise. Rally würde keine Mühe mit ihm haben. "Wirklich gut, Mädels", sagte Tom. "Soviel Chuzpe hätte ich euch nicht zugetraut. Einfach durch den Haupteingang abzuhauen. Dumm nur, dass ich daran gedacht habe. Dumm auch", fügte er grinsend hinzu, "dass ihr den Boss oben gelassen habt." "Geiselnahme ist nicht unser Stil", erwiderte Rally unbeeindruckt. "Euer Pech. Jetzt wirf mir die Waffe rüber." Rally sah ihn einen Augenblick lang mit gespielter Verärgerung an. Dann warf sie ihm wortlos ihre CZ zu. Als Tom sie auffing, nutzte sie die Gelegenheit, und rannte auf ihn zu. Tom liess Rallys Pistole fallen, und nahm die Uzi in einen korrekten Anschlag. Ein scharfer Knall erklang. Die Uzi wurde aus den Händen des verdutzten Tom gerissen. Geistesgegenwärtig wollte er noch eine andere Waffe ziehen. Doch da war Rally bereits bei ihm, und versetzte ihm einen genau gezielten Schlag in den Solarplexus. Stöhnend brach er zusammen. "Bist du in Ordnung?!", rief May. "Alles klar", sagte Rally, obwohl ihre Hand höllisch schmerzte. Vermutlich war sie angestaucht. Rally hob die CZ auf, und schaute zu Toms Uzi hinüber. Jemand hatte den Verschluss durchschossen, und die Waffe so unbrauchbar gemacht. Als sich Rally umsah, konnte sie auch die Hülse entdecken. Der Schütze musste in der Nähe sein. Und ein Gewehr benutzen, das die Hülsen noch vorne auswarf. Kurzentschlossen hob sie auch die Hülse auf, und verstaute sie in einer Tasche. Dann rannten Sie und May weiter die Strasse runter. "Sie kommen", meldete sich Vectors Funkgerät. "Verstanden. Danke", meldete dieser zurück. Als Rally und May um die Ecke bogen, war dort keine Spur von Mays Wagen. Statt dessen stand dort eine schwarze Limousine. Neben der Limousine stand ein Mann in einem Geschäftsanzug, der mit einem Revolver auf sie zielte. Neben dem Mann stand Vector. Und der sah nicht besonders zufrieden aus. "Scheisse!", rief Rally, denn das war genau das, worin sie jetzt steckte. "Nicht so vulgär, wenn ich bitten darf", meinte Vector. "Und stecken sie bitte ihre Waffe weg. Das wäre der Atmosphäre mit Sicherheit förderlich. Und sie, Miss Hopkins, lassen ihre Granaten, wo sie sind." Rally seufzte, und steckte die CZ zurück ins Halfter. "Schön, das sie so einsichtig sind", sagte Vector. Er ging hinter dem Mann mit der Waffe hindurch, und öffnete die hintere, rechte Tür des Wagens. "Nehmen Sie bitte auf der linken Seite Platz." Rally ging zum Wagen. Die Tür führte zu einem separierten Abteil mit einer Sitzbank hinten, und zwei Stühlen vorne. Die Stühle waren so eingebaut, dass sie nach hinten zeigten. Auf diese Weise konnten während der Fahrt kleine Konferenzen gehalten werden. Rally setzte sich auf die Sitzbank, gefolgt von May, welche sich neben sie setzte. Dann folgte der Schütze, und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Rally. Jetzt konnte Rally noch einen weiteren Vorteil dieser Konstruktion erkennen: Der Schütze hatte sie beide im Visier, ohne den Fahrer zu gefährden. Als letzter folgte schliesslich Vector, der sich auf den verbliebenen Stuhl setzte. Er schloss die Tür. Dann streckte er die Hand aus. "Dürfte ich um den Auslöser bitten?", fragte er. "Oh nein", dachte Rally. "Das wars dann." May schaute unsicher zu Rally hinüber. "Rück in raus", sagte diese konsterniert. "Du hast ihn", sagte May. "Es ist das Päckchen mit dem Kreuz drauf." Rally griff in die Tasche, und holte besagtes Päckchen hervor. Sie gab es Vector. Der öffnete das Päckchen äusserst vorsichtig. Doch es war tatsächlich nur der Auslöser drinn. "Sie werden es nicht verhindern können", sagte Rally. "Was meinen Sie?", fragte Vector. "Die Explosion. Auch wenn Sie den Auslöser besitzen, werden Sie die Explosion nicht verhindern können. Die Bombe ist nicht zu entschärfen." "Lassen Sie das meine Sorge sein." Vector verstaute den Auslöser in seiner Jacke. Dann nahm er wieder das Funkgerät zur Hand: "Bei mir ist alles klar. Schickt das Einsatzteam los, und zieht die Beobachter ab." "Verstanden", krächzte es aus dem Lautsprecher. "Fahren Sie", befahl Vector dem Fahrer. Langsam fuhr der Wagen an. Der Fahrer fuhr nur ein paar Blocks weit, bevor er denn Wagen wieder anhielt. "Wir sind von einem schwarzen Motorrad verfolgt worden", sagte er. "Ein schwarzes Motorrad?", wunderte sich Vector. "Das muss wohl Dantes sein. Der Typ traut mir wirklich nicht." "Warum sollte er? Würde ich auch nicht", bemerkte Rally. "Nana. Das müssen ausgerechnet Sie sagen. Wir hatten doch eine eindeutige Abmachung, oder etwa nicht? Mal ganz abgesehen davon war ihr kleines Kunststück vorhin nicht besonders professionell." "Hoffentlich nicht. Sonst kriegt Stevenson am Ende noch Angst, und haut ab." "Sie meinen, sie haben sich absichtlich dilettantisch verhalten, damit Stevenson sich nicht weiter in Gefahr glaubt?" "Exakt." "So schnell kommt er ohnehin nicht weg", meinte May. "Er ist derzeit... gebunden." "Gebunden?", fragte Vector. "Jepp", bestätigte May grinsend. "Und zwar mit Klebeband an einen Stuhl. Die brauchen allermindestens eine Viertelstunde, um ihn da raus zu kriegen." Vector zog die Augenbrauen hoch. "So ist das also... Aber egal. Die Jungs sind jetzt unterwegs. Sie müssten jeden Moment hier sein. Wenn alles glatt läuft, will ich mal nicht so sein, und euch zwei laufen lassen. Ihr könnte wirklich von Glück reden. Ich bin nicht immer so grosszügig." Rally hatte eine Erwiderung auf der Zunge, liess es dann aber sein. Wenn sie tatsächlich die Chance hatten, hier nochmals mit heiler Haut davon zu kommen, dann würde sie diese Chance nicht leichtfertig verspielen. Es vergingen noch etwa zwei Minuten, bis etwas passierte. Dann fuhr in der Nähe ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit vorbei. "Da sind sie ja", bemerkte Vector. Ein zweiter Wagen folgte kurz darauf. Beim dritten Wagen erkannte Rally den Typ. "Aber... das sind ja Polizeiwagen", sagte sie. "Das ist ja auch die Polizei", meinte Vector. Und während sich Rally noch fragte, was Vector damit meinte, hatte dieser bereits den Auslöser wieder aus der Jackentasche geholt, und auf den Knopf gedrückt. Etwa zehn Sekunden später war ein dumpfer Knall hörbar. Der Fahrer hatte mittlerweile den Polizeifunk eingeschaltet. Sie hörten einen Offizier über ein Feuer im Keller berichten. Ein anderer regte sich über die Vernichtung von Beweismaterial auf. Irgendwann dazwischen kam auch die Meldung von der erfolgreichen Festnahme Stevensons durch. "Das reicht, danke", sagte Vector nach einer Weile. Der Fahrer schaltete den Polizeifunk wieder ab. Rally war baff. Und das sah man ihr auch an. Schliesslich schaffte sie es, ein einzelnes Wort zu artikulieren: "Warum?" "Warum ich die Bombe gezündet habe?", fragte Vector. Rally nickte. "Ich dachte, sie wollten die Drogen stehlen." "Ja, das war ursprünglich meine Absicht. Aber grundsätzlich ging es mir nicht darum, in den Besitz der Drogen zu kommen, sondern den Marktpreis zu erhöhen. Das war nämlich auch Teil des Auftrags. Um das zu erreichen, ist es besser, die Drogen zu vernichten, als sie zu stehlen. Als ich also gehört habe, dass sie eine Bombe rein schmuggeln wollen, habe ich sie einfach machen lassen." Rally griff sich an die Stirn. "Ich... Idiot. Ich habe Ihnen voll in die Hände gespielt!" "Allerdings." "Aber woher wussten Sie die Sache mit der Bombe?" "An ihrer Stelle", antwortete Vector, "würde ich mal ihr Haus untersuchen." Rally dämmerte etwas: "Sie haben mich verwanzt?!" "Na, was glauben Sie denn?", fragte Vector, als ob es das natürlichste der Welt wäre. Rally fühlte ihren Blutdruck ansteigen. Mal wieder. Es wurde allmählich zum vertrauten Gefühl, wenn Vector in der Nähe war. "Lassen sie mich bitte hier raus", sagte sie gepresst. "Sie können jederzeit gehen." Rally öffnete die Tür, und stieg aus. Als sie die Tür schliessen wollte, fiel Vector noch etwas ein: "Ach, Miss Vincent! Ich vergass noch zu erwähnen, dass ich ihnen 10'000 Dollar auf ihr Konto überweisen werde. Für die Mühe." "Was?", fragte Rally. Der Mann, der die ganze Zeit den Revolver in der Hand gehalten hatte, zog die Tür von Innen zu. Dann fuhr der Wagen los. Rally schaute May an, die auf der anderen Seite ausgestiegen war. "Ich werd nicht schlau aus dem Typen", sagte Rally. "Ich auch nicht", meinte May. Zwei Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Sie gehörten zu einem Motorrad, welches ein paar Meter weiter in der Richtung stand, aus der sie mit Vectors Wagen gekommen waren. Vermutlich jenes, welches der Fahrer erwähnt hatte. Das Motorrad machte eine scharfe Wendung, und verschwand in der Dunkelheit. "Soll ich fahren?", fragte May. Rally drehte sich verwundert um. Dann sah sie Mays Fiat. Vectors Männer hatten ihn offensichtlich hier abgestellt. "Oh, ja. Danke", sagte sie. Sie stiegen ein, und May fuhr los. Rally rief Ken auf das Autotelefon an. "Hallo Ken... Ja, sie ist bereits hochgegangen... Sie haben bereits heute Abend zugeschlagen... Nein, keine Probleme... Wir sehen uns bei mir zuhause... Bis dann." Danach lehnte sich May im Autositz zurück. Die Sache, so dachte sie, würde noch ein Nachspiel haben. Sie ahnte nicht, dass es gerade erst begonnen hatte. Kapitel 6: Wer ist Donald Tanner? --------------------------------- Rally sass in ihrem Cobra, und fluchte innerlich. Da sass sie nun: Eine der bekanntesten Prämienjägerinnen, und eine hervorragende Fahrerin. Kein Auftrag zu gefährlich, kein Gegner zu schnell. Alles, was sie tun sollte, war, zum Polizeipräsidium zu fahren. Und jetzt drohte dieser simple Auftrag daran zu scheitern, dass sie keinen Parkplatz fand. Aber das war nicht der wirkliche Grund für ihre schlechte Stimmung. Es war nun einige Wochen her seit ihrer Auseinandersetzung mit Stevenson. In der Folge hatte es einen unglaublichen Wirbel gegeben. Die Zeitungen berichteten auf den Frontseiten davon. Mittlerweile waren die Berichte auf die 'letzte Seite' gewandert, aber das Thema war immer noch präsent. Die Tatsache, dass die Polizei sich hartnäckig weigerte, den Fall für abgeschlossen zu erklären, war mit ein Grund dafür. Genau das machte Rally Sorgen. Bisher wusste die Polizei nicht um ihre Rolle in der ganzen Geschichte. Aber wenn es herauskommen sollte, wartete eine Staffel von Anklagen auf Rally, an die sie lieber noch nicht einmal denken wollte. Ihre Waffenlizenzen und den Laden könnte sie wohl vergessen. Womit sie dann ihren Lebensunterhalt verdienen sollte, war ihr selbst nicht klar. Verständlicherweise war sie nicht gerade davon erbaut, dass Roy sie aufs Präsidium bat. Nach einer langen Irrfahrt hatte sie endlich einen Abstellplatz gefunden. Von hier aus hatte sie zwar knapp eine Viertelstunde zu gehen, aber was besseres würde sie so schnell nicht finden. Während sie die Strasse hinunter ging, überlegte sie sich, was die Polizei gegen Sie in der Hand haben könnte. Sie und May waren vorsichtig genug gewesen, möglichst keine Spuren wie Fingerabdrücke zu hinterlassen. Damit blieben eigentlich nur Zeugenaussagen als belastendes Material. Da sie verkleidet war, eine Spezialperücke trug, und sogar die Haut überpudert hatte, glaubte sie nicht, das jemand von Stevensons Leuten sie hätte erkennen können. Blieben noch Cogan und Vector. Da Cogan von Rally geschnappt und abgeliefert wurde, war er als Belastungszeuge unglaubwürdig. Schwieriger wäre da schon Vector. Aber warum sollte er das tun? Rally seufzte, und schüttelte den Kopf. "Hat keinen Sinn, im Trüben zu fischen", sagte sie sich. Im Präsidium herrschte die übliche Geschäftigkeit. Auch sonst schien nichts besonders. Dieselben Leute wie üblich arbeiteten, dieselben Leute wie üblich lungerten herum, und dieselben Männer wie üblich versuchten, Rally anzumachen. Normalerweise gingen ihr letztere eher auf die Nerven. Diesmal war sie fast froh darüber, denn es war ihr ein Indiz, dass noch niemand auf ihrer Spur war. Oder zumindest war es noch nicht allgemein bekannt. Rally bahnte sich den Weg zu Roys Büro, als ihr Kate, seine Assistentin, mit einer Akte unter dem Arm entgegenkam. "Hallo Rally!", rief sie. "Oh, Hallo Kate. Wie gehts?", antwortete Rally. "Ganz gut, danke. Nur etwas überarbeitet. Der ganze Stevenson-Fall hat ne Menge Arbeit verursacht. Aber jetzt ist der grosse Haufen durch. Und Stevenson wurde heute früh abgeurteilt." "Habs gelesen. Ging ganz schön schnell, was? Was hat er den gekriegt?" "Lebenslänglich." "Oha." Rally war erstaunt. Sie wusste zwar, das Stevenson ein Anfänger war, aber sie dachte doch, dass er sich zumindest einen guten Anwalt leisten könnte. "Ist schon seltsam, was?", fragte Kate. "Was meinst du?", fragte Rally zurück. "Naja, dass alles so schnell ging, dass es so viele Beweise gegen ihn gab, dass der Staatsanwalt so viele Zeugen fand, dann der öffentliche Druck auf den Prozess... Irgendwie schien sich alles gegen Stevenson verschworen zu haben. Ausserdem wäre da noch die Sache mit dem Computer: Als wir den Tipp mit dem Drogenlabor erhielten, waren in unserem System jede Menge Informationen über Stevenson gespeichert, von denen die zuständigen Ermittler schworen, sie hätten sie noch nie gesehen. Und schau mal hier:" Kate öffnete die Akte, und suchte ein einzelnes Stück Papier heraus, welches sie Rally zeigte. Es war ein Bericht der Spurensicherung. Daraus ging hervor, dass eine Bombe Stevensons Drogenvorräte zunichte gemacht hatte. Auch Typ und die vermutete Funktionsweise waren haarklein verzeichnet. "Ja", sagte Rally, "das habe ich auch in der Zeitung gelesen. Aber was ist daran besonders? Ich dachte, es sei durchaus üblich, die Vorräte zu vernichten, bevor sie der Polizei in die Hände fallen." "Schon", meinte Kate. "Aber schau dir mal den Typ an. Das war eine Aerosolbombe. Die 'Atombombe des kleinen Mannes'. Für einen solchen Zweck ist die, milde gesagt, etwas unüblich." "Hmmm... Und was schliesst Miss Marple daraus?" "Keine Ahnung. Ich für meinen Teil vermute, das es ein Konkurrent war, der ihn aus dem Weg haben wollte. Falls ich richtig liege, war das alles sehr sauber geplant und durchgeführt." "Mm-hm" Rally studierte weiterhin den Bericht. Zu ihrer Erleichterung fand sie darin nichts, was auf sie hin deutete. "Ach Rally?", fragte Kate ernst. "Ja?" "Die Akte habe ich dir nie gezeigt." Rally grinste, und gab Kate das Papier zurück. "Welche Akte?", fragte sie. Kate grinste zurück. Sie nahm das Papier, und legte es in die Akte zurück. "Vorläufig bleibt die noch unter Verschluss", erklärte sie. "Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen." "Ich weiss", sagte Rally. "Naja, ich muss zu Roy. Bis später." Sie ging zur Tür von Roys Büro, und wollte sie gerade öffnen, als Kate noch etwas einfiel: "Du, warte Rally. Ich glaube, Roy hat Besuch." "Ach? Wer denn?", wollte Rally fragen. Doch die Frage klärte sich von selbst, als unmittelbar vor ihr die Tür aufschwang. Der Mann, der in der Tür stand, machte einen etwas seltsamen Eindruck. Er war jung. Höchstens ein paar Jahre älter als Rally. Er trug schwarze Jeans, und eine offene, schwarze Lederjacke. Darunter war ein weisses T-Shirt zu sehen. Alles in allem sah er eigentlich wie ein junger Motorradfreak aus, aber irgendwie passte etwas nicht ins Bild. "Entschuldigung", sagte er, und machte einen Schritt zur Seite. Langsam ging er zum Ausgang. Rally sah ihm nach. "Oh Rally, komm doch rein!", rief Roy. Rally betrat das Büro, und schloss die Tür. "Hallo Roy", sagte sie. "Wer war das denn?" "Der? Ist ein komischer Typ, nicht war? Sein Name ist Tanner. Er ist ein Kollege von dir." "Ein Büchsenmacher?" "Ein Prämienjäger." "Ein Prämienjäger? Im Ernst? Den Beruf hätt ich jetzt als letztes vermutet." "Ich glaube, da geht es den meisten Leuten bei dir nicht anders. Aber kommen wir zum Thema. Setz dich doch." Rally setzte sich auf den Stuhl vor Roys Pult. "Also? Worum gehts?", fragte sie. "Eine heikle Sache Rally. Es geht um den Fall Stevenson." "Aha?", sagte Rally scheinbar unbefangen, doch in Wirklichkeit schoss ihr Puls gerade raketenartig in die Höhe. "Genauer gesagt geht es um Stevensons Leibwächter Thomas Martin. Kennst du ihn?" Rally zuckte mit den Schultern. "Ich glaube nicht, nein. Wieso?" "Naja. Eigentlich sollte er ja nächste Woche ebenfalls abgeurteilt werden. Dummerweise ist er abgehauen." "Ach so. Ein Fall für Prämienjäger also?" "Darum hab ich dich nicht herkommen lassen", erklärte Roy. "Es geht um das hier." Er schob Rally einen Zettel zu. "Das hat er zurückgelassen." Rally nahm den Zettel, und las: "An Rally Vincent: Du bist tot! Tom." Sie gab den Zettel an Roy zurück. "Kapier ich nicht." Rally war tatsächlich verwundert. Natürlich kannte sie Tom. Immerhin hatte sie sich beim Zweikampf mit ihm die Hand übel angestaucht. Was sie nicht verstand, war, woher Tom sie kannte, denn zu jenem Zeitpunkt war sie verkleidet gewesen. "Nun... Ich bin mir nicht absolut sicher, aber ich glaube, dass dein letzter 'Kunde' dahintersteckt." "Cogan meinst du?" "Genau der. Unmittelbar bevor Tom verschwand, hatte er Besuch von Cogan bekommen. Was sie genau besprochen haben, ist nicht bekannt, aber es ist schon ein verdächtiger Zufall." Rally atmete hörbar aus. Sie wusste nicht, was ärgerlicher war: Das Tom hinter ihr her war, oder das sie sich unnötig Sorgen wegen der Polizei gemacht hatte. "Alles klar", sagte sie schliesslich. Dann stutzte sie. "Moment. Nichts ist klar. Wieso konnte Cogan... Wieso konnte er diesen Martin besuchen? Er sollte doch noch in U-Haft schmoren." "Er ist freigekommen", sagte Roy. "Wusstest du das nicht?" "Wie bitte?!" "Man hat ihm Straffreiheit geboten, wenn er als Kronzeuge aussagt. Er hat angenommen." "Wie grosszügig", brummte Rally. Sie hatte seit jeher etwas Mühe mit der Kronzeugenregelung, auch wenn ihr der Sinn natürlich klar war. "Ach egal", meinte sie nach einer Weile. "Martin ist doch ein Fall für Prämienjäger, oder? Ich schnapp ihn mir halt, so wie jeden anderen Häftling auch." "Du kannst ja bei seinem Anwalt vorsprechen", sagte Roy. "Aber ich fürchte, da kommst du zu spät." Eine Stunde später war Rally wieder im Laden. May stand hinter dem Tresen. "Hallo Rally", sagte sie. "Was soll den dieser düstere Blick? Ist dir Roy etwa auf die Schliche gekommen?" "Mal den Teufel nicht an die Wand", erwiderte Rally fast erschrocken. "Dann ist ja gut. Allerdings hab ich noch eine gefunden." May nahm etwas kleines vom Tresen auf, und warf es Rally zu. Sie fing es auf. Es war eine 'Wanze'. Eine sehr kleine. Derjenige, der sie gebaut hatte, war wohl recht geschickt darin. Rally kannte den Typ mittlerweile. Nach dem Fall Stevenson hatten sie und May jede Menge davon gefunden. Sie gehörten vermutlich Vector. Rally drehte die Wanze zwischen den Fingern hin und her. "Oh Mann", sagte sie. "Die wievielte ist das eigentlich?" May überlegte kurz. "Naja, das wären mit dieser hier fünf im Laden. Dazu kommen die fünf im Haus, die..." "Schon gut, schon gut. So genau wollte ich es gar nicht wissen." "Mann, du bist mir vielleicht ne Stimmungskanone. Was ist los, hm? Raus mit der Sprache!" Rally seufzte. "Tom ist abgehauen." "Tom? Stevensons Muskelmann?" "Jepp." "Hm. Na und?" "Es ist ein Fall für Prämienjäger, aber..." "Ist dir die Belohnung zu klein, oder was?" "Das ist es ja gerade. Die Belohnung ist recht hoch für einen Typen seines Kalibers. Aber so ein Trottel namens Tanner hat ihn mir weggeschnappt." "Ach so", sagte May, und schaute betont desinteressiert in eine Ecke des Verkaufslokals. Es vergingen einige Sekunden der Stille. "Weisst du, dass du Becky immer ähnlicher wirst?", fragte May, ohne Rally anzusehen. "Halt den Mund", brummte Rally. "Darum gehts doch gar nicht." Wieder war es für einige Sekunden still. "Kennst du diesen Tanner?", fragte May, wiederum ohne den Kopf zu drehen. "Kennen ist zuviel gesagt. Ich bin vorhin auf dem Präsidium fast mit ihm zusammengestossen." "Ach was", sagte May, und begann zu grinsen. "Ja. Ist ein komischer Kerl. Sieht aus wie... wie ein Motorradfreak, der zu lebenslangem Mopedfahren verurteilt wurde. Hoffentlich löst er seine Fälle etwas schneller, als er durch die Gegend marschiert." May dreht sich wieder nach Rally um. Sie grinste immer noch. Und zwar auf eine Art und Weise, die Rally gar nicht gefiel. "Er ist also mit dir zusammengestossen", sagte May. "War er hübsch?" "Was!?" "Oh du hast mich schon verstanden." "Lass den Unsinn, May. Ich bin nur fast mit ihm zusammengestossen. Und ganz sicher nicht absichtlich." "Wirklich?" "Wirklich!" "Och, das ist aber schade. Weisst du, wenn du dich Männern gegenüber weiterhin so verschliesst, wirst du nie..." "Das reicht May! Ich habe..." Rally wurde vom Geräusch eines parkierenden Autos unterbrochen. Sie schaute nach draussen. Es war ein blauer Corsa. Der Fahrer stieg gerade aus. "Na toll", brummte Rally. "Was ist?", fragte May. "Das ist er." "Wer? Der Kopfgeldjäger, der dir den Fall weggeschnappt hat?" Rally nickte nur. "Dann solltest du nicht so verbiestert in die Gegend gucken, Rally. Du solltest lächeln. Sonst wird er sich nie für dich interessieren." Der Blick, den Rally May zuwarf, hätte einen Leoparden in die Flucht geschlagen. May hingegen liess sich davon nicht beeindrucken. Tanner kam herein. In weniger als einer Sekunde hatte Rally ihr 'Verkäufergesicht' aufgesetzt, und sagte: "Guten Tag, mein Herr." May war davon so überrascht, das ein kurzes "Ga" alles war, was sie herausbrachte. Tanner sah zu Rally herüber. "Guten Tag. Miss Vincent nehme ich an?", fragte er, ohne das geringste Anzeichen von Erstaunen. "Ja, das bin ich." "Ah. Mein Name ist Donald Tanner. Ich bin Prämienjäger." Tanner zeigte seine Lizenz. "Ich bin hinter einem Mann namens Thomas Martin her." "Ich weiss. Die Polizei hat mich bereits informiert." "Sehr gut. Da Martin hinter Ihnen her zu sein scheint, dachte ich, es sei eine gute Idee, sich hier mal umzusehen. Und als ich hörte, das sie eine Büchsenmacherin seien, wollte ich ohnehin mal vorbeischauen." "Ich bitte Sie, die privaten Räume nicht zu betreten. Aber sie können sich im Verkaufsraum umschauen, so lange sie möchten. Für Fragen..." Rally schaute sich um, und entdeckte May bei der Tür zum Nebenraum. "Ich überlasse das dir", sagte May. "Ich muss noch die Bücher prüfen, und bis jetzt bin ich noch nicht dazugekommen." Das war natürlich eine blanke Lüge. "Für Fragen können Sie sich an mich wenden", vervollständigte Rally. "Herzloses Biest!" dachte sie, als May die Tür schloss. "Ich wette, du beobachtest uns mit der Überwachungskamera". Wenn das ganze irgendeinen Eindruck auf Tanner machte, so liess er es sich nicht anmerken. Er nickte nur kurz, und begann, die Auslage zu begutachten. Nach einer Weile fragte Rally: "Entschuldigen Sie. Sie sagten, Sie wollten hier ohnehin vorbeischauen, als Sie hörten, das ich Büchsenmacherin bin. Darf ich fragen, warum?" "Selbstverständlich", sagte Tanner, der gerade vor einem Schaukasten mit Pistolen kniete. Er stand auf, so dass er Rally sehen konnte. "Wissen Sie, ich bin erst vor ein paar Wochen angekommen. Daher bin ich auf der Suche nach einem guten Waffenladen. Und dieser hier ist für mich besonders interessant." "Aha?" "Nun ja, soweit ich weiss sind Sie doch ebenfalls Prämienjägerin. Somit sollten Sie über einige Kenntnisse über das Verhalten von Waffen unter Kampfbedingungen verfügen." "Ah ja. Das stimmt schon." Das war eher überraschend für Rally. Die meisten ihrer Kunden kümmerte es nicht, was sie sonst noch tat. Der Grossteil wusste es noch nicht einmal. Tanner holte sie wieder aus Ihren Gedanken: "Da fällt mir ein: Sie sind doch sauer auf mich, weil ich Ihnen den Fall weggeschnappt habe, nicht wahr?" "Öh... Nun..." Rally fühlte sich ertappt. "Ich habe persönliche Gründe, diesen Auftrag anzunehmen. Bitte haben Sie Verständnis dafür." "Ja, natürlich", sagte Rally, obwohl sie sich fragte, was denn das für persönliche Gründe sein könnten. "Ich werde Ihnen nicht in die Quere kommen. Aber wenn ich angegriffen werde, werde ich mich verteidigen." "Selbstverständlich." Tanner kniete wieder vor die Pistolen. Eine schien es im besonders angetan zu haben. "Sagen Sie", fragte er, "ist dieser 'Peacemaker' hier echt?" "Ja. Ein echtes Western-Original. Ein schönes Stück, nicht wahr?" "Ein schönes Stück. Ja, allerdings. Aber das kann ich mir unmöglich leisten." Er lächelte. "Naja. Ich bin ja eigentlich sowieso kein Sammler." Dann stand er auf, und kam zur Theke. Das Lächeln war bereits wieder verflogen. "Wie steht es um Munition?" "Wir haben alle üblichen Kaliber, und viele weniger gebrauchte. Alle anderen kann ich bestellen." "Ich benötige .223 Gewehrmunition. Vollummantelt. Europäische, wenns geht." "Kein Problem. Wie viele?" Nachdem Tanner zwei Pack à 50 Schuss gekauft hatte, ging er wieder. May kam in den Verkaufsraum. "Ist schon ein seltsamer Typ", sagte sie. "Nicht unfreundlich, aber..." "Hast du uns beobachtet?" fragte Rally. "Ehehe... Ja, hab ich." "Dann sag mir: Ist das der Mann, der auf Cogan geschossen hat?" "Was?" "Du weisst schon... Als wir Cogan geschnappt haben, hat doch jemand auf ihn geschossen." May erinnerte sich. Cogan wurde an der Schulter gestreift. May entdeckte den Schützen zwar mit ihrem Feldstecher, aber wegen der untergehenden Sonne konnte sie nicht viel sehen. Trotzdem... "Kann schon sein", sagte sie. "Die Statur stimmt überein. Warum verdächtigst du ihn denn?" "Der Schütze verwendete ein Gewehr. Ein SIG SG551. Erinnerst du dich?" "M-Hm." "Nun, Tanner versteckt ein Gewehr unter seiner Jacke. Von der Grösse her könnte es ein SG551 sein. Und die Munition, die er gerade gekauft hat, würde ebenfalls passen." "Du meinst, er ist einer von Stevensons Killern?" Rally schüttelte den Kopf. "Nein, das glaube ich nicht. Wie ich damals schon sagte, ist das ein äusserst präzises Gewehr. Cogan wurde vermutlich absichtlich 'verfehlt'. Ausserdem glaube ich, das es Tanner war, der Toms Uzi zerschoss, als er uns vor Stevensons Hauptquartier abgefangen hatte." "Wie kommst du darauf?" "Ganz einfach." Rally holte eine leere Patronenhülse unter der Theke hervor. "Diese Hülse fand ich dort auf dem Boden. Es ist ebenfalls eine .223. Und jetzt schau dir das an:" Sie drehte die Hülse in ihrer Hand, so das eine kleine Delle in der Seite sichtbar wurde. "Die Gewehre der SG55x-er Serie werfen die leeren Hülsen nach vorne aus", erklärte sie. "Dabei entsteht diese Delle. Bei keiner anderen Waffe ist das der Fall." May dachte darüber nach. "Das ergibt doch keinen Sinn", sagte sie schliesslich. "Das würde bedeuten, dass Tanner uns zweimal aus einer etwas brenzligen Situation geholfen hat." "Genau das bedeutet es", erwiderte Rally ernst. "Und ich will wissen, warum." Das Telefon läutete und läutete. "Komm schon, Becky", murmelte Rally. "Du bist doch zu Hause." Das Telefon gab sich unbeeindruckt, und läutete munter weiter. "Warum schaltest du den Anrufbeantworter nicht ein, wenn du nicht da bist?" Endlich, Rally wollte bereits auflegen, wurde der Anruf entgegengenommen. "Hallo?" meldete sich Becky reichlich verschlafen. Rally schaute auf die Wanduhr. Es war Viertel nach Zehn. "Hab ich dich etwa geweckt?" fragte sie ungläubig. "Sieht so aus. Hab die ganze Nacht durchgearbeitet. Muss vorm Computer eingeschlafen sein." Rally hörte, wie Becky eine Tasse aufhob, und daraus trank... und sofort wieder ausspuckte. "Baaa. Der ist ja kalt!" "Der was?" "Kaffee." "Na, was hast du denn erwartet? Der bleibt nicht heiss." "Einen Moment." "Becky!" rief Rally, aber es war bereits zu spät. Becky war nicht mehr am Telefon. Nach einer Weile konnte Rally Wasser kochen hören. "So, da bin ich wieder. Was isn?" fragte Becky. "Ich werde dir die Telefonkosten in Rechnung stellen!" "Lass das, Rally. Ich bin nicht..." Becky gähnte. "Ich bin nicht in der Stimmung für solche Scherze. Also?" "Ich hab einen Auftrag für dich." "M-Hm." Becky klang nicht gerade begeistert. "Das gibts doch nicht. Hast du etwa immer noch keine Zeit?" "Eigentlich bin ich ja noch am selben Job, wie letztes Mal, als du mich angerufen hast. Aber ich komme einfach nicht weiter. Wenns also ein Routinejob ist, nehm ich ihn vielleicht an. Worum gehts denn?" "Ich brauch lediglich ein paar Informationen über einen anderen Prämienjäger." "Hm? Willst du dich etwa unliebsamer Konkurrenz entledigen? Ah, es ist heiss." Das Kochen hörte auf. "Unsinn. Es ist nur so, das er solch eine seltsame Person ist. Ich will nicht in seine Schusslinie geraten... Becky?... Bist du noch drann?..." "Ja, ja, da bin ich. Hab nur gerade den Krug geholt. Ich brauch jetzt etwas Kaffee. Wie heisst die Zielperson?" "Tanner. Donald Tanner." "Autsch!" Becky fluchte laut. "Äh, Becky?" "Mmm. Ich habe mir gerade den heissen Kaffee über die Hand geschüttet. Ah, so ein Mist! Äh, du Rally. Ich bin in einer halben Stunde bei dir, okay?" "Alles klar. Bis später." Rally hängte den Hörer ein. "Seltsam", dachte sie sich. "Wieso kommt sie extra hierher? Da steckt doch mal wieder mehr dahinter." Kapitel 7: Ein Pakt mit Becky ----------------------------- Obwohl sie und May den Laden bereits mehr als einmal nach Wanzen abgesucht hatten, war es Rally zu riskant, hier die Sache mit Tanner zu besprechen. Als Becky ankam, fuhren sie daher in die Innenstadt zu einer Bar. Fay, eine Freundin von Rally, arbeitete dort. Normalerweise war die Bar am Vormittag geschlossen. Aber für Rally wurde da schon ab und zu mal eine Ausnahme gemacht. So war es auch an jenem Tag. Rally und Becky setzten sich an einen Tisch. Sie hatten reichlich Auswahl, denn natürlich war das Lokal völlig leer. "Kann ich euch irgendwas bringen?", fragte Fay. "Danke, ja. Ich... nehme einen Kaffee", sagte Rally. "Ich nehme *zwei* Kaffee. Den stärksten, den ihr habt", meinte Becky. "Alles klar." Fay ging nach hinten, und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. "Also", sagte Rally zu Becky, "warum konnten wir das nicht am Telefon besprechen?" "Weil der Fall möglicherweise viel grösser ist, als du denkst", sagte Becky. "Dieser Tanner ist eine ganz schön harte Nuss." "Ist er der Typ, hinter dem du seit Wochen her bist?" "Wie kommst du darauf?" "Ist nur ne Vermutung." Becky nickte. "Ganz genau. Und in dieser Zeit habe ich nicht allzuviel über ihn rausbekommen. Allerdings... Das was ich über ihn rausbekommen habe...", sagte sie mit düsterer Miene. "Nun?", fragte Rally. "Würde dich normalerweise ein kleines Vermögen kosten", vervollständigte Becky. "War ja klar", dachte sich Rally. "Wieviel willst du denn?", fragte sie. "Tja, du hast Glück", meinte Becky. "Meinem Kunden reichen die bisherigen Informationen nicht, und ich komme einfach nicht weiter. Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen." "Ich soll für dich Arbeiten?", fragte Rally überrascht. "M-Hm", bestätigte Becky. "Erstens musst du ja schon etwas über ihn wissen, sonst hättest du mich ja wohl kaum nach ihm gefragt. Dann könntest du mir helfen, ihn zu überwachen. Wäre mir eine grosse Hilfe. Der Kerl ist schlüpfrig wie ein Aal. Und ausserdem seit ihr ja quasi Kollegen. Du könntest, na du weisst schon, Verbindungen knüpfen." Rally errötete leicht. "Äh, ich glaube, dass ist doch eher Mays Fachgebiet." "Wie du meinst. Aber ich glaube, etwas Erfahrung in diesem Gebiet würde dir auch nicht schaden." "Sie hat gar nicht so Unrecht", meinte Fay, die gerade mit den drei bestellten Kaffee ankam. "Alles in allem... In deinem Alter." "Mann...", brummte Rally, "könntet ihr zwei bitte ernsthaft werden?" "Ich bin todernst", sagte Becky grinsend, und nahm sich gierig eine der Kaffeetassen. Noch bevor Fay ein Wort der Warnung aussprechen konnte, hatte Becky den Kaffee schon angesetzt. Die Folgen waren schmerzhaft. Der Kaffee war nämlich noch heiss. Nachdem Becky sich die Lippen etwas gekühlt, und Fay den verschütteten Kaffee aufgewischt hatte, nahm Rally das Gespräch wieder auf: "Also Becky, irgendwie kommt mir das alles ein wenig Spanisch vor. Unter welchen Umständen hast du den Auftrag denn bekommen?" "Das darf ich dir doch nicht sagen. Zumindest nicht, bis wir einen Vertrag geschlossen haben. Aber grob gesagt, ist ein Kunde bei mir aufgetaucht, und hat mir den Auftrag gegeben, so viel wie möglich über Tanner rauszufinden. Und die Bezahlung hängt von der Menge und Qualität der Informationen ab." "Und wer der Kunde war, darfst du mir natürlich nicht sagen?" Becky zuckte mit den Schultern. "Warum auch nicht. Ist eh ein Pseudonym. Er nannte sich Dantes." "Dantes? Hmmm... Den Namen hab ich kürzlich gehört." "Ich würde nicht allzuviele Gedanken darüber verschwenden. Wie schon gesagt: Es ist vermutlich ein Pseudonym. Aber nun zum Geschäft: Die Infos, die ich bisher über Tanner gesammelt habe, sind bereits eine Menge Wert. Aber wenn du mir hilfst, noch weitere zu finden, würde ich dir alles gratis überlassen." "Hmmm..." Rally lehnte sich zurück. Vorsichtig nahm sie einen Schluck Kaffee. Er war mittlerweile genug abgekühlt, um trinkbar zu sein. "Wenn ich das richtig verstanden habe, dann erhältst du um so mehr Geld, je mehr Informationen wir zusammentragen, richtig?" Becky wurde klar, dass sie vorhin eine elementare Grundregel eines jeden Informanten verletzt hatte: Rücke keine Informationen heraus, die dir nichts bringen. Und schon gar keine, die dich etwas kosten! "Ich denke", fuhr Rally fort, "in diesem Fall wäre eine prozentuale Beteiligung angebracht. Sagen wir, 30 Prozent?" Dann trank Rally langsam ihren Kaffee, während Becky sichtlich um ihre Fassung rang. "W... W... Wie bitte!? Wieviel!?", rief sie. "Weisst du, wieviel ich alleine schon für die Infos bekommen würde, die ich selbst schon habe? Fast... 50'000 Dollar! Und die würde ich dir schenken!" "Tanner interessiert mich nur insofern, als dass ich wissen will, warum er mir ständig in die Quere kommt. Deine Infos sind für mich also nicht so wahnsinnig interessant. Vor allem würde ich keine 50 Mille dafür zahlen." Becky überlegte einen Moment. "Also meinetwegen. Du kriegst 10 Prozent der Prämie. Das ist doch was, oder?" "Ich sagte 30" "Erde an Rally, bitte melden! Soviel zahle ich nicht. Niemand würde das." "Das ist aber schade." Becky seufzte. "Was soll das Rally? Soll ich dich etwa auf Knien anflehen, und traurige Geschichten über zu ernährende Kinder erzählen?" Rally grinste, und überlegte einen Moment. "20% der Prämie plus alle Informationen, die diesen Fall betreffen, gratis?", fragte sie. "Hm. Na schön. Einverstanden", brummte Becky. Einen Handschlag später, mit Fay als Zeugin, war der Handel besiegelt. Becky holte einen Stapel Blätter aus ihrer Aktenmappe. "Na, dann wolln wir mal. Erst mal ein grober Abriss: Unser Freund ist Ausländer. Höchstwahrscheinlich Europäer, vermutlich Italiener. Er ist erst seit einigen Wochen oder Monaten hier. Hat Verbindungen aller Art. Sowohl zu legalen wie auch zu illegalen Organisationen. Er ist sehr vorsichtig, was ihn schwer greifbar macht. Ausserdem fürchte ich, dass er Verbindungen zu ein paar hohen Tieren hat." Rally pfiff durch die Zähne. "Und so was hab ich als Kunden." "Als Kunden?" "Ja, er hat Munition bei mir eingekauft. Aber warum meinst du, dass er ein paar hohe Tiere kennt?" "Oh, ganz einfach. Während der Routinekontrolle habe ich die Einwohnerdatenbank abgefragt. Dergemäss ist Tanner von Geburt an Bürger des Staates Illinois. Aber ich konnte keine Verbindung zu einer der eingesessenen Familien ziehen. Das hat mich misstrauisch gemacht, und ich habe die Datenbank mal... genauer angesehen." "Du meinst... gehackt." "Wer? Ich?", sagte Becky mit Unschuldsmiene. Rally und Becky lachten. Dann fuhr Becky fort: "Wie dem auch sei: Sein Eintrag ist gefälscht. Er wurde erst vor 3 Monaten gemacht. Was mich an der ganzen Sache stört, ist, dass die Fälschung hervorragend gemacht wurde. Ohne eine genaue Prüfung der Rohdaten auf der Datenbank ist sie nicht zu entdecken. Wenn du mich fragst, ist sie offiziell angeordnet worden." "Ein Hacker kommt nicht in Frage?" "Unwahrscheinlich. Die Fälschung zu entdecken war schwierig. Sie anzubringen, war aber noch viel schwieriger. Wenn das ein Hacker war, dann war er schweinisch gut." "Gibt es Fälle, wo so etwas offiziell gemacht wird?" "Ja, bei Zeugenschutzprogrammen. Aber ich glaube, dass können wir ausschliessen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, welches Tanners wirkliche Nationalität ist. Aber ich bin mir fast 100-prozentig sicher, dass er kein US-Amerikaner ist." "Ja", bestätigte Rally. "Wenn ichs mir recht überlege, so klangen seine Sätze doch ziemlich wie aus dem Schulbuch. Es klang so, als könne er zwar Englisch sprechen, sei es sich aber nicht gewohnt." "Sowas dachte ich mir", sagte Becky. "Was weisst du denn so alles über ihn?" "Tja", sagte Rally, "da erklär ich dir am Besten die ganzen Umstände, wie ich auf ihn gestossen bin. Was weisst du über den Fall Stevenson?" "Den Fall Stevenson?", fragte Becky. "Der Drogenring? Ah, dann steckst du also doch hinter der Bombe. Ich dachte mir schon, dass sei doch genau Kens Typ. Na, liege ich richtig?" "Äh, ja. Wie ich sehe, bist du gut informiert. Aber sei bitte etwas leiser." "Klar doch", meinte Becky grinsend. "Also, der Fall Stevenson. Und weiter?" "Nun, alles hat angefangen mit dem Fall Cogan. Du weisst schon. Der, wegen dem ich dich angefragt hatte. Als ich Cogan einsacken wollte, hat ihn jemand angeschossen. Ich vermute, dass das Tanner war." "Hast du was Handfestes?" "Leider nicht, aber... sag mal, hat Tanner eine Lizenz für ein SIG Sturmgewehr Typ SG550 oder so?" "Ein Sturmgewehr? Augenblick." Becky sah die Blätter durch. Schliesslich fand sie, wonach sie gesucht hatte: "Hier. Lizenz für ein Sturmgewehr SIG SG551." "Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch. Jedenfalls hatte der Schütze genau so ein Gewehr." "Meinst du? Immerhin sind die SIG Waffen doch recht verbreitet, oder?" "Nicht dieses Gewehr. Es ist teuer und sehr pflegebedürftig. Darum wird es fast nur von offiziellen Stellen verwendet." "M-Hm. Könnte eine Spur sein. Und weiter?" "Nun, in der Folge sind wir in den Fall Stevenson hinein geraten. Und dabei hat wiederum jemand mit solch einem Gewehr mir kurz geholfen, indem er die Waffe von Thomas Martin, Stevensons Sicherheitschef, zerstörte. Ausserdem ist Tom gestern abgehauen, und anscheinend hat sich Tanner sofort auf dessen Fersen geheftet." Becky zog die Augenbrauen hoch. "Na schau mal einer an. Nur zu deiner Information: Der Auftrag, Martin zurückzuholen, wurde nie ausgeschrieben. Tanner hat ihn direkt erhalten." "So ist das also. Ich hatte bei dem Job also gar keine Chance. Oh, jetzt weiss ich wieder, wo ich den Namen Dantes schon mal gehört habe. Vector hat ihn erwähnt." "Vector? Doch nicht der Syndikatsboss Vector, oder?" Beckys Gesichtsfarbe wurde sichtlich heller. "Genau der. Kennst du ihn?" "Machst du Witze? Jeder bessere Informant hatte schon mal Besuch von diesem netten Herrn oder einem seiner Untergebenen." "Oh. Naja, jedenfalls hat er..." "Ich wills nicht wissen", warf Becky ein. Sie nahm ihren zweiten Kaffee, und leerte die Tasse in einem Zug. Rally war perplex. Dass letzte Mal, das Becky etwas *nicht* wissen wollte... Nein, sie konnte sich nicht erinnern, dass sowas bisher je der Fall gewesen war. "Du... willst es nicht wissen?", fragte sie. "Wenn Vector rauskriegt, dass du Informationen über ihn herausgibst, dann bist du so gut wie tot", erklärte Becky. "Glaub mir, es ist besser, wenn ich nichts darüber weiss. Nur soviel: Was glaubst du, war die Verbindung zwischen Vector und Dantes?" "Nun, Vector sagte, dass Dantes ihm misstraue. Dantes war wohl ein Auftraggeber. Ich vermute, er gehört zu einem der anderen Syndikate." Becky atmete hörbar auf. "Gut. Das ist immer noch viel angenehmer, als für Vector selbst zu arbeiten. Lass mich dir einen Tipp geben: Vector heuert gelegentlich Leute von ausserhalb seines Syndikats an. So ziemlich alle, die einem solchen Handel zugestimmt haben, haben sich daran die Finger verbrannt. Also halte dich fern von ihm." "Ich kann dir versichern, dass ich absolut keine Absicht habe, mich nochmals mit ihm zu befassen." "Gut. Also, überlegen wir uns mal wie weiter. So, wie ich das sehe, haben wir zwei Spuren, die wir verfolgen können. Die eine ist Martin. Die andere wäre sein Einkauf bei dir. Er hat doch mit Kreditkarte bezahlt, oder?" Kurze Zeit später erschienen Becky und Rally wieder im Laden. Rally ging die Kassenbelege durch, und fischte den von Tanners Munitionskauf heraus. Becky notierte sich Tanners Kreditkartennummer. "Sag mal", flüsterte Rally, "du willst dich doch nicht in den Bankencomputer einhacken." Den Gedanke, was Becky dort alles anstellen könnte, fand Rally etwas beängstigend. Aber Becky beruhigte sie: "Nein, das habe ich nicht vor. Banken sind grundsätzlich paranoid, und ihre Systeme entsprechend gut geschützt. Ein direkter Angriff wäre viel zu umständlich. Aber es gibt noch andere Mittel und Wege, um an Informationen zu gelangen. Wie auch immer. Ruf mich an, wenn du weiterkommst, ja?" Daraufhin ging Becky wieder. May, die sich bisher zurückgehalten hatte, konnte ihre Neugierde nicht weiter bezähmen. "Was habt ihr denn besprochen?", fragte sie. "Gehn wir rasch rüber", meine Rally, und ging zum Raum nebenan. Rally und May hatten diesen Raum besonders gründlich auf Wanzen abgesucht, um das Telefon darin einigermassen sicher benutzen zu können. Die Wahrscheinlichkeit, abgehört zu werden, war hier also bedeutend kleiner, als in irgend einem anderen Teil des Ladens. "Also", begann Rally. "Becky ist schon eine ganze Weile hinter diesem Tanner her. Aber ihrem Auftraggeber reichen die Informationen noch nicht. Und weil sie einfach nicht weiterkommt, helfen wir ihr aus. Im Gegenzug bekommen wir Beckys Infos zum Fall gratis, und einen Fünftel der Erfolgsprämie." "Was!? Becky bezahlt uns?" May konnte das kaum glauben. Aber Rally nickte nur lächelnd. "Die muss ganz schön verzweifelt sein", meinte May. "Wie dem auch sei", fuhr Rally fort, "ich brauche deine Hilfe bei der Sache. Und als erstes habe ich einen Job für dich und Ken, wo ich eure speziellen Fähigkeiten brauche." "Echt? Wann? Wo?" "So schnell wie möglich. Was genau und wo werde ich dir draussen erklären. Sicher ist sicher." Mays Augen hatten einen Rally gut bekannten, und normalerweise gefürchteten, Glanz angenommen. May konnte es anscheinend kaum erwarten. Für sie war das zu schön, um wahr zu sein. "Alles klar, ich hole das 'beim Fischen'-Schild, und..." "Das wird nicht nötig sein", unterbrach Rally. "Ich habe von der Bar aus eine Vertretung organisiert." "Eine Vertretung?" "Ja. Für den Laden. Während wir weg sind." May setzte einen halb verwunderten, halb fragenden Blick auf. Doch Rally schien entschlossen zu sein, May auf die Folter zu spannen. Die 'Folter' dauerte indes nicht lange. Die rote Lampe über der Tür zum Verkaufsraum begann zu blinken, was bedeutete, dass jemand den Laden betreten hatte. Rally und May gingen hinüber. Das heisst, Rally ging. May stürmte eher. "Hallo?", fragte Misty etwas verloren. Es kam ihr seltsam vor, dass niemand im Verkaufsraum war. Doch kurz darauf flog die Tür zum Nebenraum auf, und May stürmte herein. "Misty?", fragte May überrascht. "Genau", bestätigte Rally. Dann wandte sie sich Misty zu. "Danke, dass du kommen konntest." "Aber für dich doch immer", erwiderte Misty. "Also, hier hast du eine Schürze", begann Rally zu erklären. "Das ist der Schlüssel für den Munitionsschrank. Die hier sind für die Waffenschränke. Das Lager lass ich zu. Komplexere Aufträge wie Spezialanfertigungen oder Sonderbestellungen bringst du mir einfach am Abend nach Hause. Ich seh sie mir dort an." "Alles klar", sagte Misty, und legte sich die Schürze um. "Du Rally?", fragte May. "Jetzt, wo Misty da ist, können wir doch anfangen, oder?" "Klar doch", meinte Rally beschwichtigend. "Gehn wir." Draussen erklärte Rally May kurz, was sie tun sollte: "Also, du nimmst jetzt deinen Wagen, und fährst nach Hause. Ken wartet wahrscheinlich schon dort. Er wird dir alles weitere erklären." "Bin schon unterwegs", meinte May. "Und was machst du?" "Ich statte einem alten Freund einen Besuch ab." Eine halbe Stunde später befand sich May im Keller ihres gemeinsamen Hauses, und hantierte mit einem elektronischen Gerät. Sie war sauer, und man sah es ihr an. Ihre Laune besserte sich auch nicht, als Ken durch die Tür kam. "Bist du fertig?", fragte Ken. "Gleich", brummte May. Einige Sekunden später schaltete sie das Gerät ab. "So, das wärs." Gemeinsam gingen sie zur Kellertreppe. "Warum bist du eigentlich so sauer?", fragte Ken. "Als Rally von unseren besonderen Fähigkeiten sprach, dachte ich eigentlich an Bomben, nicht an Elektronik. Und unser Haus zu entwanzen finde ich nicht gerade aufregend", murrte May vor sich hin. "Ach so, Rally hat dir also nicht gesagt, worum es sich bei der Aufgrabe genau handelt." "Hmpft. Hast du eigentlich welche gefunden? Bei mir war keine einzige." "Ja, am Lüftungsgitter war eine." Ken griff in die Jackentasche, und holte besagte Wanze hervor. Der Typ war May wohlbekannt. Es waren dieselben, die sie im Laufe der letzten paar Wochen immer wieder gefunden hatten. "Die hier scheint allerdings tot zu sein", fuhr Ken fort. May hielt im Schritt inne. "Tot?", fragte sie. "Keine Signale", erklärte Ken. "Ich hab sie auch mit einem Multimeter geprüft. Anscheinend ist ihr die Batterie ausgegangen." "A-Aber wenn alle Wanzen vom gleichen Typ sind, dann ist unsere Arbeit vielleicht..." "Nicht so voreilig. Es könnten ja auch welche nachträglich platziert worden sein." Ken ging weiter zur Treppe, und stieg ins Erdgeschoss hinauf, um auch dieses zu prüfen. May folgte ihm. Aber nicht, bevor sie ein lautes "Warum ich?!" durch die Gänge schallen lies. Arthur Cogan war guter Laune. Zum einen hatte er für seine Aussage als Kronzeuge Straffreiheit erhalten. Zum anderen hatte er seinen Wegzug aus dieser Stadt organisieren können. Nicht mehr lange, und er konnte die meisten seiner Feinde hinter sich lassen. Nicht zu vergessen seine Unterkunft, eine Wohnung in einer Bruchbude, die irgend ein Witzbold als Wohnhaus eingestuft hatte. Noch dazu in einem heruntergekommenen ex-Industrieviertel. Aber immerhin waren die Mieten niedrig, und die Umgebung ruhig. Wie schon gesagt, er war guter Laune. So guter Laune sogar, dass es ihn nicht weiter störte, dass die Ganglichter schon wieder ausgefallen waren. Das passierte so häufig, dass er mittlerweile darin geübt war, das Schüsselloch im Dunkeln zu treffen. Das war auch tagsüber nötig, da der Gang keine Fenster hatte. Er hatte gerade den Schlüssel in die Hand genommen, als er hinter sich eine ihm bekannte Stimmer hörte. "Guten Abend Mister Cogan", sagte Rally. Das genügte, um bei Cogan den Angstschweiss ausbrechen zu lassen. Einen Moment dachte er daran, über die Feuertreppe am anderen Ende des Ganges zu flüchten. Aber dann fiel ihm ein, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen wäre. Der Notausgang war blockiert. Die Leute hier fürchteten Einbrecher mehr als Brände. Langsam drehte er sich um. Es war tatsächlich Rally, die da vor ihm stand. Er sah keine Waffe, aber er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie mindestens eine bei sich trug. "N'Abend", sagte er langsam. "Wollen wir nicht reingehen?", fragte Rally. Cogan nickte nur kurz. Er schloss die Tür auf und ging geradewegs ins Wohnzimmer. Das war der einzige Raum, der gross genug war, dass sich zwei Personen darin aufhalten konnten, ohne sich auf die Füsse zu treten. "Verdammt!", dachte er sich. "Die ist sicher nicht da, um sich nach meiner Gesundheit zu erkundigen. Und dabei hätte ich es fast geschafft." Er hörte, wie Rally die Tür schloss, und ihm folgte. Ihr fiel sofort auf, dass die Wohnung fast leer war. Mal abgesehen von ihr und Cogan waren da nur noch die beiden grossen Koffer bei der Tür, und der alte Sessel im Wohnzimmer, der zu sperrig war, um ihn mitzunehmen. Ungefragt setzte sie sich. "Du ziehst weg?", fragte sie. "Mmmm... ja. Auf Anraten meines Arztes. Die... Atmosphäre in dieser Stadt ist nicht gut für mich." "Jaja... Der Bleigehalt ist in den letzten Wochen deutlich gestiegen. Das kann einem ganz schön ans Herz gehen." "Öh... So in der Art." Cogan warf einen flüchtigen Blick zum Fenster. Sollte er es riskieren, und rausspringen? Immerhin waren sie hier nur im ersten Stock. Andererseits... weh tun würde es auch so. Rally war der Blick offenbar aufgefallen, den sie stand auf, und lehnte sich, sehr zu Cogans Missfallen, gegen das Fenster. Damit war die Sache auch entschieden. "Sag mal", fuhr Rally fort, "so ein Umzug kostet doch einen Haufen Geld. Vor allem, sicherzustellen, das man am neuen Ort *nicht* erreichbar ist." "Oh, das Zeugenschutzprogramm..." "...hast du nicht in Anspruch genommen. Misstraust wohl der Polizei, was?" Cogan schluckte leer. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Das gefiel ihm gar nicht. "Na schön", brummte er, "ich habe ein paar Dinge verkauft, um an das nötige Geld zu kommen." "Dinge wie Informationen über meine Verwicklung in den Fall Stevenson?" Das hatte Cogan befürchtet. Rally wusste bereits alles, und war nur da, um abzurechnen. Aber sie hatte einen entscheidenden Fehler gemacht. Jetzt, wo sie am Fenster stand, war der Weg durch die Tür frei! Cogan drehte sich um, rannte zur Tür, und riss sie auf. Doch die Tür öffnete sich nur ein Stück weit. Rally hatte beim hereinkommen die Kette eingehängt. Geistesgegenwärtig versuchte Cogan noch, die Kette zu lösen, doch da war Rally bereits neben ihm, und schlug die Tür wieder zu. "Schluss mit den Spielchen!", rief sie. "Was hast du Tom erzählt?!" "Tom? Wer ist Toooo?" Rally zog ihn an an einem Ohr zurück ins Wohnzimmer, und drückte ihn in den Sessel. Dann zog sie betont langsam und mit einer sehr verärgerten Miene die CZ-75, ihre Lieblingspistole, aus dem Seitenhalfter. "Ist ja gut, ist ja gut!", schrie Cogan in Panik. "Ich habe so einem Typen von Stevensons Sicherheitstruppe verraten, dass du hinter der Sache gesteckt hast. Mehr nicht, ich schwörs! Und er Kerl hiess Martin, nicht Tom!" "Martin ist sein Nachname. Wo steckt er jetzt?" "Woher soll ich das Wissen! Ich kenn den Typen doch gar nicht!", jammerte Cogan. Rally stieg wieder in den Wagen. Ihr Verhör von Cogan war nicht besonders ergiebig gewesen. Natürlich wusste sie, dass Cogan nie selbst im Labor war. Trotzdem hatte sie gehofft, dass Stevenson ihn zumindest in einige wenige Dinge eingeweiht hatte. Sie rief Becky mit dem Autotelefon an, und brachte sie auf den aktuellen Stand der Dinge. "Tja, das ist Pech", sagte Becky. "Aber wenigstens wird er sich jetzt wohl hüten, uns weiteren Ärger zu machen." "In der Tat", meinte Rally grinsend. "Aber leider bringt uns das auch nicht weiter." "Kopf hoch. Ich hab hier eine nette, kleine Liste mit Toms üblichen Verstecken." "Ah schön, dann werd ich die mal überprüfen." Rally öffnete das Handschuhfach, und holte daraus einen Notizblock. "Also, schiess los." "Nicht so hastig", wandte Becky ein. "Das sind neue Informationen. Die verrechne ich dir." "Nix da", protestierte Rally. "Laut Abmachung bekomme ich alle Informationen gratis, die diesen Fall betreffen. Nicht nur diejenigen, die bereits vorher bekannt waren." "Aasgeier!" Rally musste ob dieser letzten Bemerkung Beckys grinsen, denn üblicherweise war die Situation umgekehrt. Becky gab schliesslich, wenn auch zähneknirschend, die Adressen heraus, und Rally notierte sie sich. "Gut", sagte Rally schliesslich. "Ich werd mal noch so viele prüfen, wie ich heute schaffe. Ken und May sollten auch bald fertig sein. Wir können uns also heute Abend bei mir treffen. Sagen wir, um acht?" "Kein Problem. Aber an deiner Stelle würde ich mich beeilen. Tanner ist mit Sicherheit selbst bereits auf der Suche nach Tom. Und die alten Verstecke zu prüfen, ist Routine." "Jaja. Ich mach diesen Job auch nicht erst seit gestern, weist du." "Wie du meinst. Aber ruf mich an, falls du Tanner findest, okay?" "Meinetwegen", brummte Rally und legte auf. Ihr Plan war einfach. Gerade deshalb hoffte sie auf Erfolg. Da Tom noch nicht bei der Polizei abgeliefert worden war, war er ja offensichtlich noch frei, und Tanner logischerweise hinter ihm her. Sollte Rally Tom finden, bevor Tanner das tat, würde Tanner ihr früher oder später in die Arme laufen. Rally klaubte einen Stadtplan hervor, und suchte die Standorte der Verstecke heraus. Natürlich waren sie über die ganze Stadt verteilt. Rally beeilte sich daher. Die ersten drei Verstecke waren ein Reinfall. Weder von Tom noch von Tanner war die geringste Spur vorhanden. Das beunruhigte Rally nicht weiter, doch allmählich wurde es später, und Rally wusste, dass sie die Suche bald abbrechen musste, wenn sie noch rechtzeitig zu Hause sein wollte. Beim vierten Versteck erwartete sie jedoch eine Überraschung. Vor dem Haus stand ein blauer Corsa. Genau so einer, wie ihn auch Tanner fuhr. Jetzt waren diese Wagen zwar alles andere als selten, doch dieser hier stand ganz alleine auf weiter Flur. "Mal sehen", dachte sich Rally, und wartete in sicherer Distanz. "Vielleicht..." Sie wurde nicht enttäuscht. Kurze Zeit später kam Tanner, offensichtlich unverrichteter Dinge, aus dem Gebäude. In seiner rechten Hand hielt er ein Gewehr. Es war tatsächlich ein SG551. Mit ihrem Kennerblick erkannte Rally sofort das überlange Magazin. Das erstaunte sie, denn mit 30 Schuss war dieses Magazin doch recht gross für ein halbautomatisches Gewehr. Es seie denn, natürlich, es würde sich um die vollautomatische Armeeversion handeln. Aber dann wäre diese Waffe in den Händen eines Zivilisten normalerweise illegal. Das Geräusch von Tanners startendem Corsa holte sie aus ihren Gedanken. Vorsichtig verfolgte sie ihn im Cobra. Als sie vor einer roten Ampel halten musste, rief sie Becky an: "Du Becky, ich hab Tanner. War ein Riesenglück. Ich hab ihn zufällig gesehen, wie er eines von Toms Verstecken verliess." "Spitze! Wo seit ihr jetzt?" "Er ist wieder unterwegs. Von der Fahrtrichtung her zu urteilen, ist er auf dem Weg zu einem der anderen Verstecke." Rally gab die Adresse des Versteckes durch, von dem sie vermutete, das Tanner es ansteuerte. "Alles klar", sagte Becky. "Ich mach mich sofort auf den Weg. Unternimm nichts, bevor angekommen bin, hörst du?" "Ist ja gut." Rally legte wieder auf. Das Lichtsignal schaltete ebenfalls gerade wieder auf grün, so dass sie Tanner weiter folgen konnte. So allmählich bereute sie es, den Auftrag angenommen zu haben. Dass die Tatsache, dass sie für Becky arbeitete, auch bedeutete, dass sie nach Beckys Regeln arbeitete, hatte sie schlicht nicht bedacht. Sie machte sich so ihre Gedanken, als Tanner mitten in einem Industrieviertel unvermittelt vor einem Haus anhielt. Dass war dumm, denn es war deutlich nach Feierabend, und die Gegend dementsprechend ruhig. Rally konnte hier nicht einfach anhalten, ohne das es auffiel. Daher fuhr sie an Tanner vorbei, und bog in die nächste Seitenstrasse ein. Erst dort stellte sie den Wagen ab. Sie stieg aus, und sah um die Ecke. Auch Tanner war mittlerweile ausgestiegen, und betrachtete das Haus gegenüber. Es war ein altes Lagerhaus, dass anscheinend schon seit einiger Zeit leerstand. Ideal für ein Versteck also. Das Problem lag lediglich darin, dass dies nicht das Haus war, welches Rally gemeint hatte. Es stand noch nicht einmal auf der Liste. Rally schnappte sich das Autotelefon, und versuchte, Becky zu erreichen. Doch Becky antwortete nicht. Sie war wohl schon unterwegs. Rally riskierte, den Hörer in der Hand, einen zweiten Blick. Tanner ging mittlerweile, das Gewehr gut sichtbar, zum Lagerhaus hinüber. Zufällig sah Rally, wie sich im ersten Stock des dreigeschossigen Gebäudes die Überreste dessen, was wohl mal ein Vorhang gewesen war, bewegten. Tanner schien es nicht zu bemerken. "Idiot!", dachte Rally. "Du wirst noch erschossen!" Als Tanner schliesslich die Tür erreichte, und Becky noch immer nicht antwortete, wurde es Rally zufiel. Sie schmiss den Hörer auf die Gabel, und schloss den Wagen ab. Dann zückte sie die Pistole, und rannte selbst zum Eingang, den Tanner gerade hinter sich geschlossen hatte. Kapitel 8: Überraschungen und andere Unannehmlichkeiten ------------------------------------------------------- Rally entsicherte die Waffe, und öffnete vorsichtig die Tür, durch die Tanner eben gegangen war. Tanner war nicht zu sehen. Vermutlich war er bereits nach oben gegangen. Leise schloss Rally die Tür wieder, und sah sich kurz um. Sie stand in einem Gang, der gerade von der Eingangstür wegführte, und an der gegenüberliegenden Hauswand endete. An der rechten Seite hatte es verschiedene Türen, die vermutlich zu ehemaligen Büros führten. Ganz hinten rechts war ein Treppenhaus. An der linken Seite hatte es lediglich zwei Durchgänge. Einen gleich beim Eingang, und einen gegenüber des Treppenhauses. Rally hörte ein Geräusch von links oben. Vorsichtig ging sie durch den Durchgang neben ihr. Unvermittelt stand sie in einem grossen, praktisch leeren Lagerraum. Ein kurzer Rundblick zeigte, dass, wer immer auch das Geräusch verursacht hatte, bereits wieder weg war. Auch hier sah sich Rally kurz um. Der Lagerraum nahm drei Stockwerke ein. Im Erdgeschoss befand sich eine grosse Schiebetür, die jedoch zugenagelt worden war. Im ersten und zweiten Stock waren jeweils Laufgänge, die rund um den Raum führten. Sie waren, wie im Erdgeschoss, mit je zwei Durchgängen mit dem anderen Gebäudeteil verbunden. Ausserdem hatte es beim Durchgang, durch den Rally gerade gekommen war, sowie in der Ecke schräg gegenüber, jeweils eine Leiter. Am Durchgang im zweiten Stock, auf halber Strecke zwischen der hinteren Leiter und dem hinteren Durchgang, hatte jemand ein Seil befestigt, welches jetzt von dort bis zum Boden des Raums herunterhing. "Tanner durchsucht das Gebäude vermutlich von unten nach oben", dachte sich Rally. "Wenn ich also von oben nach unten suche, können wir Tom in die Zange nehmen." Rally kletterte die Leiter hoch in den zweiten Stock. Von dort aus ging sie auf den Gang hinüber. Auch hier waren Bürotüren auf der rechten Seite. Rally wollte die Zimmer einzeln prüfen. Sie ging zur ersten Tür, um sie rasch und lautlos zu öffnen. Leider hatten die Scharniere schon bessere Tage gesehen. Die Tür schwang zwar auf, aber ein lautes Quietschen liess sich nicht vermeiden. Der Raum wahr leer. Rally schloss die Tür wieder, und ging zur nächsten. Gerade, als sie die Tür öffnen wollte, hörte sie Schritte im Treppenhaus. Sie ging ein paar Schritte zurück, damit sie Notfalls im Durchgang Deckung nehmen konnte. Aber es war nur Tanner, der da heraufkam. Er hatte das Gewehr nicht im Anschlag. Aber so, wie er es hielt, war dies nur eine Frage eines Sekundenbruchteils. Keine Frage: Er wusste, wie man damit umgeht. "Sie hatten mir doch versprochen, sich da rauszuhalten", sagte er, während er zu Rally hinüberging. Er sagte dies nicht vorwurfsvoll. Eher schon im Tonfall einer sachlichen Feststellung. "Tut mir leid", entschuldigte sich Rally. "Jedenfalls sollten sie nicht den Cobra nehmen, wenn sie jemanden verfolgen", meinte Tanner. "Der Wagen ist wohl etwas zu auffällig", sagte Rally etwas verlegen. "Allerdings", bestätigte Tanner leicht schmunzelnd. In diesem Moment wurde die Bürotür beim Treppenhaus eingetreten. Tom stürmte heraus, und zielte mit einer Uzi auf Rally. Tanner, der zu diesem Zeitpunkt etwa in der Mitte des Gangs stand, fuhr herum, und zielte auf Tom. Rally tat es ihm gleich. "Schau an, wenn das nicht Rally Vincent ist", brüllte Tom. "So siehst du also wirklich aus." "Hallo Tom. Neue Waffe?", erwiderte Rally. Tanner gab sich ebenfalls unbeeindruckt. "Mr. Martin, Sie sind verhaftet", sagte er schlicht. "Nun mal langsam, Freundchen. Sonst ist deine Kollegin hier nur noch als Sieb zu gebrauchen", meinte Tom. "Ich glaube nicht", konterte Rally. "Du schätzt deine Lage falsch ein." "Ach, ist das so? Inwiefern denn?", fragte Tom. "Nun, du hattest die Wahl, entweder auf mich oder auf Mr. Tanner zu zielen. Das du auf mich zielst, ist eine ziemliche Dummheit." Rally demonstrierte, was sie meinte, indem sie durch den Durchgang sprang, und auf dem Laufgang abrollte. Tom war damit seines Zieles beraubt. Aus dem Gang hörte Rally einen Gewehrschuss, und dann wie jemand alles andere als lautlos die Treppe hinunterstürmte. Rally kletterte die Leiter hinunter ins Erdgeschoss, und rannte wiederum durch den Durchgang. Gerade noch rechtzeitig, um Tom aus dem Treppenhaus stürmen zu sehen. Tom sah Rally ebenfalls, und rannte geradewegs weiter in den Durchgang beim Treppenhaus. Rally stürmte wiederum zurück, aber Tom war nicht im Lagerraum. Sie lief in den Gang zurück, aber dort war er ebenfalls nicht. Er war im Durchgang stehengeblieben, wie Rally klar wurde, als Tom eine Salve auf den ihn über die Treppe verfolgenden Tanner abfeuerte. "Geben Sie auf, Martin!", rief Tanner mit seltsam nasaler Stimme. "Du kannst mich mal!", rief Tom zurück. "Sie können nicht ewig hier bleiben." "Das gilt aber auch für euch! Mal sehen wer länger durchhält!" Rally war in der Zwischenzeit in die Lagerhalle gegangen, und der Wand entlang zum Durchgang geschlichen, in dem sich Tom verbarg. Jetzt sprang sie mit entsicherter Waffe hervor. Aber Tom war viel schneller als erwartet. Er sprang seinerseits in den Gang, und rannte zum Ausgang. Rally sprang ihm hinterher, und feuerte einen Warnschuss zu seiner Linken. "Hier kommst du nicht raus!", rief sie. Tom rannte durch den Durchgang bei der Tür. Rally fluchte, und rannte ihrerseits zurück in den Lagerraum. Sie konnte gerade noch sehen, wie Tom die Leiter hinaufkletterte, und hörte Schritte auf dem Laufgang im ersten Stock. "Er ist oben!", rief sie Tanner zu. Dann rannte sie zur Leiter gegenüber, die jetzt näher war. Als sie bis in den ersten Stock geklettert war, hörte sie wiederum Schritte auf dem Laufgang im zweiten Stock, der von der Leiter zum Durchgang führte. Rally machte ein paar Schritte auf den anderen Laufgang, so dass sie freies Blickfeld nach oben hatte. Es war Tom. Er war wirklich extrem schnell. Rally brachte die Pistole in Anschlag. "Keine Bewegung!" Tom fuhr herum, und zielte auf Rally. Doch diesmal war Rally schneller. Ihre Kugel drang schräg in den Lauf der Uzi ein, und machte die Waffe unbrauchbar. Ein zweiter Schuss riss die Waffe aus Toms Hand. Der zweite Schuss stammte nicht aus Rallys Waffe. Es war Tanner, der Tom mittlerweile gefolgt war. Er kam gerade, mit dem Gewehr im Anschlag, auf den Laufgang heraus. Nun konnte Rally sehen, warum Tanners Stimme vorhin so nasal geklungen hatte. Tanner hatte zwei Schläuche in der Nase, die aussahen, als ob sie zu einem Atemgerät gehören würden. "Geben Sie auf", forderte Tanner. "Auch eine kugelsichere Weste nützt Ihnen nichts gegen diese Kugeln." Da hatte Tanner vermutlich recht. Gegen .223-er Gewehrkugeln, wie er sie verwendete, hilft nur eine Weste, die zusätzlich mit Keramikplatten verstärkt worden ist. Tom ging kein Risiko ein, und hob die Hände. Er sah zur Uzi hinüber, die sich im Geländer des Laufgangs verfangen hatte. Der Verschluss war sauber durchschossen worden. Genau wie damals, als Rally aus dem Labor flüchtete. "Zwei auf einen Streich", murmelte Tom. Langsam drehte er sich um, so dass er Tanner den Rücken zeigt. "Ich habe nichts von umdrehen gesagt", sagte Tanner. Tom sprang. Mit Händen und Füssen griff er die Aussenseite der Leiter, und liess sich hinabgleiten. Tanner reagierte schnell. Aus einer Innentasche seiner Jacke holte er ein Bremsseilrolle, und hängte diese an dem Seil ein, das am Laufgang hing. Rasch liess er sich hinunter. Doch Tom war etwas schneller gewesen, und erwartete ihn unten bereits. Mit einer schnellen Bewegung schlug er Tanner das Gewehr aus der Hand. Es schlitterte quer durch die Halle. Tanner revanchierte sich mit einem Tritt in Toms Bauch, doch dessen Bauchmuskulatur schien aus Stahl zu bestehen. Tom taumelte lediglich etwas zurück, und griff dann sofort wieder an. Rally konnte nicht einschreiten, denn sie hatte zwar eine freie Sichtlinie, in dem Gerangel aber kein klares Ziel. Das Problem war, dass ihre Kugeln Tom problemlos durchschlagen konnten. Und sie wollte Tanner auf keinen Fall gefährden. Andererseits war es überdeutlich das Tanner Tom unterlegen war. Er wich immer weiter zurück... in Richtung seines Gewehrs, wie Rally plötzlich erkannte. Als er nur noch zwei Schritte davon entfernt war, drehte er sich um, und wollte das Gewehr aufheben. Tom aber hatte seine Absichten durchschaut, und hielt ihn an der Jacke fest. Als Tanner sich wieder umdrehte, um sich zu befreien, liess Tom unvermittelt los. Tanner verlor das Gleichgewicht. Er war zwar sofort wieder auf den Beinen, aber inzwischen hatte sich Tom das Gewehr geschnappt. Und natürlich stand er genau zwischen Tanner und Rally. Tom nahm das Gewehr locker in Anschlag, und hielt es gegen Tanner. "Und nun?", fragte er höhnisch. "Das Gewehr ist gesichert", erwiderte Tanner. "Sehr witzig." "Nicht wirklich." Ein gezielter Tritt Tanners in die rechte Hand von Tom entwaffnete diesen wieder. Das Gewehr wirbelte herum. Tanner wollte es auffangen, aber da traf ihn eine rechte Gerade Toms mitten ins Gesicht. Er taumelte zur Wand zurück. Die Schläuche in seiner Nase färbten sich rot. Tom, wohl wissend, dass Rally leicht auf ihn schiessen konnte, wenn er zu weit von Tanner weg war, liess das Gewehr liegen, und baute sich direkt vor Tanner auf. Aus seinem Gürtel zog er einen kleinen Colt 25, den er Tanner vors Gesicht hielt. Rally machte sich bereit zu schiessen, denn jetzt war es nicht mehr so wichtig, ob Tanner ebenfalls verletzt wurde. Aber sie musste eine Stelle treffen, die höchstwahrscheinlich nicht geschützt war, und die Tom sofort ausser Gefecht setzen würde. Da bemerkte sie, wie Tanner seine Jacke etwas zurückzog. "Okay, Tom, du hattest deinen Spass!", rief Rally. "Jetzt steck brav deine Pistole wieder ein, und nimm die Hände hoch." "Ich denke nicht daran", rief Tom, ohne sein Gesicht von Tanner abzuwenden. "Ich glaube nämlich, ich bin hier in der stärkeren Position." "So? Soll ich dich vielleicht in Notwehr erschiessen? Jedes Gericht der Welt würde das in dieser Situation akzeptieren." "Und deinen Freund hier? Den willst du doch nicht verletzen, oder?" "Wenn es nicht anders geht..." Tom drehte den Kopf zu Rally. "Also hör mal!", rief er. Genau darauf hatte Tanner gewartet. Blitzschnell zog er das Messer, das er unter der Jacke versteckt hatte, und rammte es längs in Toms Handgelenk. Kurz darauf traf die Polizei ein, um Tom einzusammeln. Aber es dauerte noch eine halbe Stunde, bis der Tatbestand aufgenommen, und die Spurensicherung abgezogen war. Tanner diskutierte draussen, mit einem Polizisten, während Rally in der Lagerhalle stand, und versuchte, einem anderen Polizisten die Situation zu erklären. "Also, sie standen da oben auf dem Laufgang, und Martin und Tanner kämpften hier unten, richtig?", fragte er. "Genau", bestätigt Rally. "Und während des Kampfes hat dann Martin Tanner das Gewehr entrissen." "Nein! Martin hat Tanner das Gewehr gleich zu Beginn des Kampfes aus der Hand geschlagen." "Aber sie haben doch gesagt, Martin habe mit dem Gewehr auf Tanner gezielt?" "Ja, nachdem Martin es wieder aufgelesen hatte." "Warum hat Tanner es denn nicht aufgelesen." "Weil er nicht ran gekommen ist, verdammt!" "Ganz ruhig, Miss Vincent. Aufregen bringt sie hier auch nicht weiter. Also, danach wurde Tanner gegen die Wand geschlagen, und dann haben sie von dort oben aus auf Martin geschossen." Es ging noch eine ganze Weile so weiter. Als der Polizist schliesslich darauf beharrte, Rally mit auf die Wache zu nehmen, hätte sie ihn am liebsten erwürgt. Zum Glück kam da gerade der andere Polizist, der mit Tanner geredet hatte, herein. Dieser meinte knapp, es sei nicht nötig Rally oder Tanner auf die Wache zu nehmen, zumal beide bei der Polizei bekannt waren. Rallys Polizist war zwar offensichtlich nicht damit einverstanden, fügte sich aber in sein Schicksal. Missmutig ging er nach draussen. Rally folgte ihm. Draussen waren mittlerweile die meisten Wagen wieder verschwunden. Ausser der Polizeiabsperrung deutete nichts mehr auf die Ereignisse hin. Tanner lehnte sich gegen die Hauswand. Er sah etwas mitgenommen aus. Zwei rote Striche unter der Nase zeugten vom Nasenbluten. Sein Gewehr lehnte an der Wand. Die Jacke hatte er ausgezogen, und auf den Boden gelegt. Denn Ausbuchtungen nach zu schliessen, enthielt sie recht viel Ausrüstung. Rally konnte jetzt sehen, dass Tanner ziemlich gut gepanzert war. Unter seinem ärmellosen Hemd trug er anscheinend eine ziemlich dicke, schusssichere Weste. Auch die Arme waren durch etwas, dass wie 'schusssicherer Ärmel' aussah, geschützt. Nur die Gelenke waren frei. "Ah, Miss Vincent", sagte Tanner. "Sie sehen etwas mitgenommen aus." Rally stutzte einen Moment. Dann antwortete sie: "Ach, der Kerl hat mich ein bisschen durch die Mangel genommen." Sie deutete auf den Polizisten, der gerade in den letzten, bereitstehenden Polizeiwagen eingestiegen war. "Ich mache mir mehr sorgen um Sie." "Wieso, wegen des Faustschlags? Ich hab schon schlimmeres erlebt. Ich glaube, Toms Schrei hat mir fast mehr geschadet." "Naja, immerhin haben Sie ihm ja auch ins Handgelenk gestochen. Das tut ganz schön weh." "Ich denke eigentlich, ich war ziemlich nett zu ihm. Ich habe nur seine Fingersehnen durchtrennt, so dass er die Waffe losliess. Immerhin hätte ich ihn ja auch töten können." Der andere Polizist kam aus dem Gebäude. Er hielt das Seil, dass an den Laufgang gehängt war, aufgewickelt in der rechten Hand. "Da hast du dein Seil zurück, Donald", sagte er, und warf das Seil Tanner zu. "Danke Paul", erwiderte dieser. "Aber sag deinem Azubi, er soll künftig nicht mehr so übereifrig sein." "Geht klar", meinte Paul grinsend. "Dein Messer ist leider Beweisstück. Das kann ich dir nicht aushändigen." "Das ist Verbrauchsware. Behaltet es als Souvenir." "Okay. Für die Bestätigung musst du dich noch auf der Wache melden. Bis dann!" Dann stieg Paul ins Auto, und fuhr weg. Auch Tanner machte sich daran, zu gehen. Er legte das Seil um seine Schulter. "Ich... wollte mich noch entschuldigen", sagte Rally. "Wofür?", fragte Tanner. "Nun ja, weil ich mich in Ihren Fall eingemischt habe." Tanner zuckte mit den Schultern. "Solange das Ergebnis stimmt..." "Naja. Unter einem perfekten Ergebnis hätte ich mir vorgestellt, Tom zu schnappen, ohne das jemand von uns verletzt wird." "Ach was..." "Hm. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, was?" Die Luft um Tanner schien schlagartig abzukühlen. Rally fragte sich, ob sie nicht etwas falschen gesagt hatte. "Da irren sie sich, Miss Vincent", sagte Tanner ernst. "Schmerzen sind mir sehr wohl bekannt." Er öffnete den Ärmel an seinem linken Oberarm. Darunter kam eine riesige Brandnarbe zum Vorschein. Rally erschrak. "Tut... tut mir leid", stammelte sie. "Schon gut. Das konnten sie ja nicht wissen." Tanner schnallte den Ärmel wieder an. Dann nahm er seine Jacke und sein Gewehr, und ging zu seinem Wagen. Auch Rally ging zu ihrem Cobra, der immer noch in der Seitengasse geparkt war. Kaum sass sie drinnen, da läutete auch schon das Autotelefon. Verwundert nahm es Rally ab. "Du hast es vermasselt!", brüllte Beckys Stimme aus dem Hörer. "Oh Hallo Becky. Was meinst du mit..." "Tu nicht so. Ich beobachte dich seit einer Viertelstunde. Glaubst du, ich sei nicht fähig, Polizeifunk abzuhören? Wir sehen uns bei dir! Und ich hoffe, du hast ein paar gute Erklärungen zur Hand!" Becky legte auf. Rally tat es ihr gleich. "Toll!", dachte sie sich. "Genau das, was mir zum krönenden Abschluss eines erfolgreichen Tages noch fehlt." Die Stimmung zuhause war nicht die beste. Becky war sauer, May war sauer und Misty schien beunruhigt zu sein. Nur Ken machte einen ziemlich unbeteiligten Eindruck. Rally machte sich auf ein paar unangenehme Fragen gefasst. Sie sollte nicht enttäuscht werden. "Also?", fragte Becky. "Darf ich mal erfahren, was dein Alleingang sollte?" "Alleingang?", fragte Misty noch mehr beunruhigt also vorher. "Rally! Du hast doch nicht etwa...", rief May. Rally hob beschwichtigend die Hände. "Ja. Ich habe Tanner gesehen, wie er gerade Tom verhaften wollte. Und ich habe in den Kampf eingegriffen", gab sie zu. "Na, das ist mal wieder typisch", meinte May. "Ich darf hier das ganze Haus nach Wanzen durchwühlen, und du machst dich auf die Jagd. Die Action findet mal wieder ohne mich statt, was?" "Die Action? Ein Glück dass du nicht dabei warst!", warf Becky ein. "Was bitteschön soll das jetzt wieder heissen?" "Du hättest alles noch schlimmer gemacht! Wahrscheinlich hättest du das ganze Haus gesprengt." "Na Und?" "Was heisst da, na und? Der Trick beim observieren ist es, unbemerkt zu bleiben. Nicht, mitten rein zu spazieren." "He, he, beruhigt euch", beschwichtigte Rally. Dann fuhr sie fort. "Tut mir leid, Becky. Aber als Tanner so offen auf den Hauseingang zuging, dachte ich, er sei Tom vielleicht nicht gewachsen. Und ich glaube nicht, dass dein Auftraggeber noch an den Informationen interessiert ist, wenn Tanner tot ist. Ausserdem hatte Tanner meinen Wagen schon vorher erkannt." "Dann nimm halt nicht den Cobra. Der ist für solche Sachen ja wohl nicht geeignet. Und was Tanners Fähigkeiten betrifft: Weist du wieviele der schon eingelocht hat? Der Kerl ist ein Profi!" "Ja, *das* ist mir auch klar geworden. Aber Tom ist auch nicht gerade langsam. Er ist viel besser, als es den Anschein macht." "Also, nach allem, was ich im Polizeifunk mitgekriegt habe, hat Tanner Tom ausgeschaltet, nicht du." "Ja. Tanner hat ihm ein Messer ins rechte Handgelenk gerammt. Können wir jetzt das Thema wechseln?" Becky war anscheinend nicht einverstanden. Rally erkannte das. "Habt ihr noch Wanzen gefunden, May?", fragte sie, bevor Becky einen Einwand bringen konnte. "Nein", antwortete May knapp. "Nein?", fragte Rally überrascht. "Wir haben ein paar gefunden", erklärte Ken, wobei er geflissentlich Beckys Versuche, das Gespräch wieder an sich zu reissen, ignorierte. "Aber bei allen waren die Batterien leer. Von der Leistung des Senders und der Grösse der Batterie her geschätzt, würde ich sagen, dass die Dinger nicht länger als zwei Wochen durchhalten." "Hmmm, sind wohl zur kurzfristigen Überwachung gedacht", meinte Rally. "Und genau das macht mir Sorgen", fuhr Ken fort. "Misty hat nämlich eine gefunden." "Genau", sagte Misty nervös, und legte besagte Wanze auf den Tisch. "Die hier klebte an der Ladentheke." "Ich habe die Batterie abgetrennt", sagte Ken, "aber vorher war sie noch aktiv. Es ist derselbe Typ, wie die anderen. Sie muss also relativ neu sein." "Die ist definitiv neu", meinte May. "Die Theke hab ich sicher drei mal gründlich abgesucht. Die wäre mir nicht entgangen." "Hmmm...", sagte Rally, und betrachtete die Wanze genauer. Es war wirklich derselbe Typ wie diejenigen, die sie schon früher gefunden hatten. "Hast du irgendwas bemerkt, Misty?" Misty schüttelte den Kopf. "Vielleicht hat sie einer der Kunden angebracht, aber ich habe nichts bemerkt." "Einer der Kunden", echote Rally. "Könnte es sein..." "Sagt mal, bin ich eigentlich Luft!?", rief Becky dazwischen. "Schon gut, Becky, beruhige dich wieder", sagte Rally, und steckte die Wanze ein. "So tragisch ist die Sache nicht. Tanner hat keinerlei Anzeichen gegeben, dass er vermutet, ich sei wegen ihm dort gewesen. Wahrscheinlich glaubt er, ich sei ebenfalls hinter Tom her gewesen." "Das hoffe ich für dich", brummte Becky, gab sich aber zufrieden. "Die Frage ist eher, wie weiter", fuhr Rally fort. "Ich habe keine Anhaltspunkte mehr. Wie siehts bei dir aus?" "Ich habe die Kreditkartennummer einem Insider gegeben. Aber noch habe ich nichts zurück bekommen. Ausserdem habe ich von Tanners Narbe eine Fotografie gemacht. Die zeige ich mal einem Doktor." "Hm? Was denn für eine Narbe?", fragte May dazwischen, die sich nicht an eine Narbe erinnern konnte. "Tanner hat eine grosse Brandnarbe am linken Oberarm", erklärte Rally. "Ach und Becky: Im Kampf hatte Tanner zwei Schläuche in der Nase, die nach einem Atemgerät aussahen. Vielleicht hilft das auch noch weiter." Becky nickte. "Ja, das könnte helfen. Hoffentlich erbringt dass eine Spur. Naja, vielleicht hast du ja auch mehr Glück als Verstand, und Tanner kreuzt nochmals in deinem Laden auf." "Ich denke schon", murmelte Rally. "Ich hab so das Gefühl, dass er das tun wird..." Kapitel 9: Wie ein Licht im Nebel --------------------------------- Die nächsten zwei Tage war es ruhig. Rally nutzte die Gelegenheit, um Misty im Laden etwas einzuführen. Schliesslich konnte es gut sein, dass sie nochmals gebraucht würde. May und Ken hatten einen unverdächtigen Wagen aufgetrieben. May hätte lieber ihren Fiat 500 behalten, aber Ken befürchtete, dass Tanner diesen Wagen bereits kennen könnte. Am dritten Tag war es mit der Ruhe vorbei. Rally, sie hatte gerade den Laden geöffnet, sah Tanners blauen Corsa vorfahren. Misty war einkaufen gegangen. Rally und May mussten also selbst zurechtkommen. "Guten Tag, Mister Tanner", begrüsste ihn Rally freundlich, als er zur Tür hereinkam. "Guten Morgen", erwiderte dieser. "Wie läuft das Geschäft?" "Kommt drauf an, welches sie meinen", meinte Rally lächelnd. "Jedenfalls würde ich das gerne sagen. Aber Tatsache ist leider, dass im Moment beides nicht besonders läuft." "Naja, vielleicht kann ich ja wenigstens beim Waffengeschäft etwas nachhelfen. Bei der Auseinandersetzung mit Martin habe ich bemerkt, dass ich mich zu sehr auf des Gewehr verlasse. Also habe ich meine Pistolen wieder hervorgeholt. Könnten Sie sich die mal ansehen?" "Natürlich." Tanner holte eine SIG P210 aus einem Seitenhalfter unter der Jacke, und eine SIG P226 aus einer Tasche, die links unterhalb seines linken Knies befestigt war. Bei beiden entfernte er die Magazine, entlud sie, und legte sie dann auf den Tisch. Rally nahm die P210, und demontierte sie. Sie betrachtete die Bauteile eingehend. "Sie haben ihr Gewehr ja heute gar nicht dabei", sagte sie, während sie den Lauf untersuchte. "Warum sollte ich?", fragte Tanner. "Weiss nicht. Aber beim letzten mal hatten sie es unter der Jacke versteckt." "Ach ja. Ich habe vergessen, dass ich mich im Laden eines Profis befinde", meinte Tanner schmunzelnd. "Zuviel der Ehre", erwiderte Rally. "Die P210 ist jedenfalls in gutem Zustand. Ich schau mir mal die 226er an." Die P226 war, aufgrund ihrer einfachen Konstruktion schneller überprüft. Auch hier fand Rally nichts zu beanstanden. "Sind beide in gutem Zustand", sagte sie, nachdem sie auch die P226 wieder zusammengesetzt hatte. "Ich würde damit bedenkenlos auf die 'Jagd' gehen." "Zuallererst brauche ich aber Munition", sagte Tanner. "Sie haben doch welche?" "9mm Luger? In allen Geschmacksrichtungen." "Dann hätte ich gerne GECO Dynamit Nobel, wenn sie welche haben." "Jede Menge. Die benutze ich selber. Wieviel denn?" "Für den Anfang 500 Schuss. Damit habe ich mal etwas Vorrat. Und ich würde gerne ihren Schiessstand benutzen." Nachdem Tanner die verlangte Munition erhalten hatte, ging er zum Schiessstand hinüber. Rally schaltete den Überwachungsmonitor ein, und beobachtete, wie er mit den Waffen umging. Nachdem Tanner zwei Übungsserien geschossen hatte, ging sie zum Nebenraum, wo May sass. "Komm mal rüber", sagte sie, und ging wieder zum Monitor. May folgte ihr. "Wer ist den im Schiessstand?", fragte May, als sie erkannte, das Rally auf den Monitor schaute. "Tanner", antwortete Rally knapp. "Echt?" May lief ebenfalls zum Monitor. "Wie schlägt er sich denn?" "Ganz gut. Er hat auf jeden Fall schon mit den Waffen trainiert." Tanner hatte gerade eine weitere Übungsserie abgeschlossen, und liess die Scheibe zurückkommen. Die Einschusslöcher waren zwar nicht so nahe beisammen, wie May das von Rally gewohnt war, aber das Resultat konnte sich durchaus sehen lassen. "Hmmm... Scheint so, als könnte er nicht nur mit einem Gewehr umgehen", meinte May. Tanner schoss noch ein paar Serien. Dann war er mit dem Ergebnis offenbar zufrieden. Er steckte die Waffen ein, und kam in den Verkaufsraum zurück. "Oh. Guten Tag Miss Hopkins", sagte er, als er May erblickte. "Guten Tag. Wie liefs denn?", fragte May. "Gar nicht schlecht. Muss wieder etwas in Übung kommen. Aber jetzt wollen wir erstmal abrechnen." "Selbstverständlich", meinte Rally, und holte die entsprechenden Formulare hervor. "Und May, ich glaube, du hast was anderes zu tun, nicht?" "Bin schon unterwegs", sagte May in seltenem Enthusiasmus, und verschwand wieder im Nebenzimmer. May hatte tatsächlich etwas anderes zu tun. Sie verschwand durch den Hinterausgang, und ging zum etwas abseits geparkten Ford Sierra, den Ken für die Verfolgung ausgewählt hat. Wie üblich hatte May den Wagen präpariert, so dass sie ihn trotz ihrer Kleinwüchsigkeit fahren konnte. Vom Wagen aus beobachtete sie den Laden. Sie brauchte nicht lange zu warten. Nach kurzer Zeit kam Tanner heraus, und fuhr mit seinem Wagen davon. May heftete sich auf seine Fersen. "Das ist ein interessanter Fall, Miss Farrah", sagte der Arzt. "Was ist es denn genau?", fragte Becky. Der Arzt legte die Aufnahme, die ihm Becky gegeben hatte, auf den Tisch. "Verbrennungen zweiten bis dritten Grades. Noch nicht all zu lange her. Von der Vernarbung her würde ich sagen, dass der Arm eine Weile lang unter oder in einem brennenden Gegenstand eingeklemmt war. Aber das ist mehr Spekulation, als ein Befund." "Sie meinen also, es sei ein Brand gewesen?" Der Arzt nickte, und zeigte auf das Foto. "Sehen Sie. Der Rand der Verbrennung ist fliessend. Hätte man ihn gefoltert oder sonstwie absichtlich verbrannt, wäre eine scharfe Abgrenzung zwischen verbrannter und nicht verbrannter Haut sichtbar. Nur hier ist ein Streifen sichtbar, wo die Haut weniger verbrannt ist. Möglicherweise ist hier ein Balken aufgelegen." "Verstehe", sagte Becky. "Das würde vermutlich auch erklären, warum er ein Atemgerät benutzt, wenn er etwas Anstrengendes unternimmt." "Ist gut möglich. Wenn er tatsächlich in einen Wohnungsbrand oder etwas ähnliches verwickelt war, dann hat er vermutlich eine Rauchvergiftung und möglicherweise ein Hitzetrauma erlitten. Bei anstrengenden Tätigkeiten kann die Lunge dann das Blut nicht mehr mit genügend Sauerstoff versorgen. Das Inhalieren von Luft mit hohen Sauerstoffanteil ist eine häufige Therapie in solchen Fällen. Wenn er es allerdings ausschliesslich dazu braucht, um anstrengende Tätigkeiten auszuführen, ist es äusserst ungesund." "Ich glaube nicht, dass er auf sie hören wird. Aber danke für die Auskunft." "Ach, ich könnte doch niemandem einen medizinischen Ratschlag vorenthalten." Den Beisatz, "jedenfalls nicht bei der Bezahlung", sprach er nicht aus. Aber Becky kannte ihn auch so. "Eine Frage hätte ich noch", sagte Becky. "Sie sagten, die Narbe sei noch nicht all zu alt. Wie alt schätzen sie denn?" Der Arzt überlegte einen Augenblick. "Zu lange kann es nicht her sein. Die Narbe ist noch relativ frisch. Drei oder vier Monate vielleicht. Sechs Monate, wenn seine Haut langsam verheilt. Aber auf keinen Fall länger." Becky nickte. "Danke. Ich werd mal sehen, ob ich damit etwas anfangen kann." May verfolgte Tanner. Wie Becky es ihr gesagt hatte, fuhr sie ihm sehr vorsichtig hinterher. Sie war sich ziemlich sicher, dass Tanner sie noch nicht bemerkt hatte. Tanner seinerseits machte es ihr aber auch einfach. Er fuhr hauptsächlich über dicht befahrene Strassen. Anscheinend rechnete er nicht mit einer Beschattungsaktion. Als Tanner seinen Wagen aber in der Innenstadt einparkte, kam May etwas in Bedrängnis, denn natürlich war weit und breit kein anderer Parkplatz frei. Ausser einem gerade neben dem, den Tanner gerade benutzt hatte. May liess es drauf ankommen. Sie drehte eine Runde um den Block, so dass Tanner ausgestiegen war, als sie zurückkam. Sie schaffte es, den Wagen in die letzte Parklücke zu setzen, ohne das Tanner etwas zu bemerken schien. Der ging einfach von seinem Wagen weg, und verschwand hinter der nächsten Ecke. May schnappte sich die Kamera, die sie für solche Fälle im Handschuhfach deponiert hatte, und folgte ihm. An der Kreuzung sah sie vorsichtig um die Ecke. Die Querstrasse war sehr belebt. Trotzdem konnte May Tanner rasch ausmachen. Er hatte die Strasse überquert, und ging nun zu einem Kiosk auf der anderen Seite. Ein Mann in einem schwarzen Anzug stand dort vor dem Zeitungsständer. Tanner beachtete in anscheinend nicht, aber an den Lippenbewegungen konnte May erkennen, dass die beiden sich durchaus unterhielten, ohne sich aber anzusehen. May schoss ein paar Fotos von den beiden. Dann ging sie selbst so rasch wie möglich über die Strasse, und schlich sich an den Kiosk heran. "Wie weit ist er denn schon?", hörte sie Tanner fragen. "Ziemlich weit. Er sucht schon die Standorte aus", sagte der Andere. "Viel zu früh. Warum eilt es ihm so?" "Nach allem, was ich weiss, steht er ziemlich unter Druck." "Diese Idioten. Das macht alles komplizierter. Auf jeden Fall müssen wir unseren Terminplan beschleunigen. Sonst hat er schon zuviel Macht, wenn wir eingreifen." "Ja. Der Boss hat bereits eine Besprechung angeordnet." "Wie lautet der Code?" "Brief 257" "Ich werde da sein." Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, entfernte sich Tanner wieder vom Zeitungsstand. Er ging nicht direkt zu seinem Wagen zurück. May folgte ihm unauffällig, um zu sehen, ob er vielleicht an einen Ort in der Nähe wolle. Aber Tanner umrundete lediglich den Block, und stieg dann wieder in den Wagen. May wartete, bis Tanners Wagen aus der Parklücke fuhr. Dann stieg sie selber ein, und nahm die Verfolgung wieder auf. Becky sass vor ihrem Computer. Sie durchforstete verschiedene Datenbanken nach aussergewöhnlichen Brandfällen in Europa innerhalb der letzten drei bis sechs Monate. Was sie fand, ermutigte sie nicht gerade. Es gab eine ungeheure Anzahl ungeklärter Fälle, und es war nicht gerade leicht, die banalen von den wirklich interessanten zu trennen. Becky hatte gerade eine Datenbank der italienischen Kriminalpolizei angezapft, und eine Suchabfrage abgesetzt, als das Faxgerät sich meldete. Die Nachricht kam über den Scrambler, einem Verschlüsselungsgerät für Faxe. Sie war also definitiv wichtig. Becky schaute sich die Seiten an, die nach und nach ausgespuckt wurden. Sie stammten vom Insider, den sie auf Tanners Kreditkartennummer angesetzt hatte. Sie machte sich eine mentale Notiz, ihm mal wieder eine Gefälligkeit zukommen zu lassen. Einen 'Maulwurf' in einem derart neuralgischen Informationszentrum zu haben, war einfach unbezahlbar. "Gute Arbeit, mein Junge", murmelte Becky, als sie die Seiten durchsah. Die Informationen waren wichtig genug, um ein neues Treffen mit Rally zu vereinbaren. Aber erst wollte Becky sehen, was die Datenbankabfrage gebracht hatte. Sie setzte sich wieder an den Computer. Die Ergebnisse kamen gerade herein. Als Becky die Einträge durchsah, fiel ihr etwas auf. Sie startete die Abfrage erneut, diesmal mit einem zusätzlichen Kriterium: Vermutete Beteiligung eines nicht italienischen Syndikats. Und sie staunte nicht schlecht darüber, was dabei herauskam. Eine halbe Stunde später klingelte bei Rally im Laden das Telefon. Misty, die gerade im Nebenraum war, nahm den Hörer ab. "Oh, Hallo Becky", sagte sie. "Tag Misty", antwortete Becky. "Sag mal, könnt ihr heute Abend wieder ein Treffen einrichten?" "Von mir aus kein Problem, aber da musst du Rally fragen. Ich hol sie mal." "Danke" Misty legte den Hörer auf den Tisch, und ging in den Verkaufsraum, wo Rally auf zu bedienende Kunden wartete. "Da ist jemand für dich am Telefon", sagte Misty. Das war ein Code für "Becky am Apparat". Rally reagierte dementsprechend schnell. "Ich komme", sagte sie. "Übernimm doch bitte kurz den Laden." "Okay", sagte Misty, und schnappte sich eine Schürze vom Gestell. Derweil ging Rally in den Nebenraum, und nahm den Hörer wieder auf. "Ja?", fragte sie. "Bist du das, Rally?" "Leibhaftig" "Sehr witzig. Hör zu, ich hab einen Haufen neuer Informationen. Können wir uns heute Abend treffen?" "Sicher. Allerdings ist May gerade auf Tour. Ich weiss nicht, wie lange das noch dauern wird." "Dann soll sie halt später kommen. Das Zeug hier ist hochinteressant." "Schon gut, ich hab verstanden. 8 Uhr?" "Wäre ideal." "Okay, wir sehn uns dann." "Bis später." Rally legte auf. Becky hatte sehr aufgeregt geklungen. Allem Anschein nach würde sie heute Abend ein paar nette Details über Tanner präsentieren. Gut Gelaunt ging Rally in den Verkaufsraum zurück. Misty war dort gerade dabei, mit einem Kunden die Formulare für einen Waffenkauf auszufüllen. Rally riskierte einen Blick auf die Papiere. Die Waffe, welche der Kunde kaufen wollte, kostete über 800 Dollar. "Sag mal", fragte sie Misty, als der Kunde gegangen war, "wie kommt es eigentlich, dass die guten Kunden immer genau dann kommen, wenn du an der Theke stehst?" May verfolgte Tanner weiter. Tanner seinerseits fuhr einen äusserst seltsamen Kurs kreuz und quer durch die Stadt. May war sich nicht ganz sicher, ob er eventuelle Verfolger abschütteln wollte, oder ob er schlicht den Weg nicht kannte. In Gedanken versunken entging ihr beinahe, dass Tanner wieder in eine Seitenstrasse eingebogen war. May folgte ihm, und fand sich unvermittelt auf einer Landstrasse am Stadtrand wieder. Tanner war in letzter Zeit häufiger beschattet worden. Daher hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, regelmässig in den Rückspiegel zu schauen. Die Tatsache, das seit einiger Zeit jedesmal ein weisser Ford zu sehen war, schien ihm seltsam, selbst wenn er bedachte, dass diese Wagen relativ häufig waren. Auch als er ein paar sinnlose Abbieger innerhalb der Stadt machte, änderte es sich nicht. Schliesslich fuhr er auf eine Landstrasse, um sich Gewissheit zu verschaffen. Und tatsächlich folgte ihm, in sicherem Abstand, genau so ein weisser Ford, wie er ihn schon die ganze Zeit gesehen hatte. "Dacht ichs mir doch!", sagte Tanner. "Hartnäckig ist sie ja, muss ich schon sagen." Dann trat er das Gaspedal durch. "Scheisse, er hat mich entdeckt!", dachte May, als Tanners Wagen plötzlich beschleunigte. Aber so leicht wollte sie denn doch nicht aufgeben: Sie beschleunigte ebenfalls, und nahm die Verfolgung auf. "Unsere Motoren sind etwa gleich stark", dachte sich May. "Es kommt also völlig aufs Fahrgeschick an... leider." Mays leise Selbstkritik schien aber fehl am Platz, denn sie konnte Tanner mühelos folgen. Tanner bemerkte dies. Er fuhr in ein nahegelegenes Waldstück. Vermutlich wollte er dort May abschütteln. Das Waldstück verfügte über viele Kreuzungen, die darüber hinaus relativ nahe beieinander lagen. Tanner steuerte auf die erste Kreuzung zu, bremste scharf, hinterliess dabei zwei Bremsstreifen, drehte scharf nach links, und beschleunigte wieder, wobei die Räder durchdrehten. May waren die blockierenden Räder beim Bremsen, sowie die durchdrehenden Räder beim Beschleunigen nicht entgangen. "Haha! Du hast weder ABS noch Traktionskontrolle!", rief sie. "Jetzt komme ich!" Tatsächlich war Mays Ford mit beidem ausgerüstet. Und das ermöglichte ihr ein perfektes Bremsen und Beschleunigen ohne grosse Mühe. Gerade auf der Landstrasse, mit eingeschränkter Strassenhaftung, ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Und den bekam Tanner jetzt zu spüren. Er bog noch einmal scharf ab, ohne dass dies May beeindruckte. Dann noch zwei mal direkt hintereinander. Aber May war zu schnell an der ersten Kreuzung, und sah ihn, ehe er um die zweite biegen konnte. Tanner wurde klar, dass er seine Verfolgerin so nicht abschütteln konnte. Also änderte er seine Taktik. Er fuhr ein Stück lang geradeaus, dann bog er wieder rechts ab. May folgte ihm natürlich unverzüglich, aber als sie um die Ecke bog, war von Tanners Wagen nichts zu sehen. In einiger Entfernung war eine weitere Kreuzung, aber May konnte sich nicht erklären, wie Tanner so schnell dahin kommen konnte. Sie fuhr auf die Kreuzung, und bremste scharf. Sie schaute nach links und nach rechts, aber auf beiden Seiten war keine Spur von Tanner zu sehen, obwohl auf beiden Seiten lange Zeit keine Kreuzung mehr kam. May schaute nach hinten, aber es gab keine Anzeichen, das Tanner ins Gestrüpp gefahren wäre. Schliesslich schaute sie wieder nach vorn. Ein Stück weiter war eine Biegung. "Das ist doch nicht möglich", sagte May leise. Trotzdem fuhr sie den Wagen um die Biegung. Die Strasse führte aus dem Wald über freies Feld zurück in die Stadt. Auf der Strasse konnte sie, schon ziemlich weit entfernt, einen blauen Wagen ausmachen. Ein Blick durch den Feldstecher brachte die Bestätigung: Es handelte sich um Tanner. "Wie hat er das nur gemacht?", fragte sich May, als sie sich frustriert in den Sitz zurückfallen liess. "Er ist also davongekommen", resümierte Becky wenig überrascht. "Tja", gestand May. "Keine Ahnung, wie er das gemacht hat. Sein Wagen muss wesentlich stärker beschleunigt haben, als dies für einen Corsa normalerweise möglich ist." "Wahrscheinlich hat er einen Turbo eingebaut", erklärte Rally. "Schneller wird er damit zwar nicht, aber er kann die Höchstgeschwindigkeit wesentlich schneller erreichen." Becky, May und Rally sowie Misty waren in Rallys Wohnung, um die Resultate ihrer Nachforschungen zu zeigen. "Hat die Beschattung wenigstens sonst was gebracht?", fragte Becky. "Naja, Tanner hat sich in der Stadt mit einer verdächtig aussehenden Person getroffen. Aber ich habe nur einen Teil des Gesprächs mitbekommen. Es ging um irgend eine Person, die offensichtlich etwas plant, und die gestoppt werden müsse, bevor sie zu mächtig würde. Ich hatte den Eindruck, dass Tanner und jener Mann Kollegen sind." "Seltsam. Weisst du irgendwas über eine grosse Sache, Becky?", fragte Rally. "Etwas grosses? Nein", sagte Becky überrascht. "Aber ich habe in letzter Zeit ja auch nicht in diese Richtung ermittelt. Hast du ein Foto, May?" "Hier! Frisch aus dem Schnellentwicklungslabor!", rief May triumphierend. "Wunderbar! Ich wusste doch, es lohne sich, dich in der Kunst der Beschattung zu unterweisen", freute sich Becky. Doch als sie die Fotos in die Hände bekam, änderte sich ihr Stimmung wieder. "Die sind aber unscharf", meinte sie etwas verärgert. "Sorry. Vielleicht solltest du mich auch in der Kunst der Fotografie unterweisen." Becky ging nicht weiter darauf ein, sondern schaute die Fotos durch. So unscharf waren sie nun auch wieder nicht. Man konnte immer noch Details erkennen, wie zum Beispiel... Becky stutzte. "Hast du mal eine Lupe, Rally?", fragte sie. "Klar", antwortete Rally, und gab Becky eine Leselupe, welche sie einst gekauft, aber nie im Leben benutzt hatte. Becky schaute sich zwei der Fotos mit der Lupe nochmals genauer an. Dann legte sie Fotos und Lupe auf den Tisch. Ihr Gesichtsausdruck verhiess nichts gutes. "Der Mann, mit dem sich Tanner unterhielt, hatte eine kleine Anstecknadel in Form einer Rose auf der rechten Brust. Das muss nichts heissen, aber... Es wird gerne als Erkennungszeichen verwendet, und zwar von Vectors Leuten." "Nicht doch!", rief May. "Tanner ein Angestellter Vectors?!", rief Rally. Misty, welcher der Name nichts sagte, wunderte sich über die entsetzten Gesichtsausdrücke Rallys und Mays. Sie hatte nicht den Eindruck, dass die Geschichte einen Weg nahm, der ihr gefiel. "Ich glaube nicht", sagte Becky nach einigem Zögern. "Ich glaube nicht, das Tanner ein normaler Angestellter Vectors ist. Sie würden sich sonst nicht so treffen. Wahrscheinlich ist Tanner ein 'externer'. Ein angeheuerter Mitarbeiter. Sein Hintergrund weist ebenfalls darauf hin." "Sein Hintergrund?", fragte Misty, die bis dahin stumm gewesen war. Becky schaute kurz überrascht in Mistys Richtung, dann begann sie zu erklären: "Ich habe die Fotografie von Tanners Brandnarbe einem Doktor gezeigt. Der war der Meinung, dass Tanner kürzlich in einen Brand geraten sei. Also habe ich im fraglichen Zeitraum mal alle ungeklärten Brände in Europa abgesucht. Das waren natürlich ziemlich viele, Aber eine Reihe ist mir dann aufgefallen: Es gab mehrere Dutzend Brände, in denen die Beteiligung eines Syndikats vermutet wurde. Dieses Syndikat hatte sich anscheinend auf Mord durch Brandstiftung spezialisiert. Mehr noch: Alle Anschläge waren gegen mutmassliche Mafiamitglieder gerichtet. Es kann natürlich ein Zufall sein, aber wenn Tanner ein Opfer eines solchen Anschlags war, dann hätte er auf jeden Fall Grund genug, hierher zu flüchten." "Das wird ja immer besser", brummte Rally. "Aber warum glaubst du dann, dass er kein fest Angestellter Vectors ist?" "Vectors fest Angestellte sind ausnahmslos Leute, die er bereits seit Jahren kennt. In seiner Organisation herrscht ein grosses, gegenseitiges Vertrauen, dass macht sie so stark. Ich bezweifle, dass Vector Tanner gegenüber ein genug grosses Vertrauen aufbringt, um ihn gleich fest einzustellen. Aber ich kann mir vorstellen, warum Tanner mit Vector zusammenarbeitet. Wenn er tatsächlich wegen einer Streitigkeit zwischen Syndikaten fliehen musste, hat er jetzt möglicherweise einen Hass auf die Mafia. Und Vectors Syndikat ist insofern speziell, als dass es von den Streitereien der anderen Syndikate lebt. Auch bei den Fällen, die er als Kopfgeldjäger angenommen hat, ist er sehr wählerisch. Es waren alles Fälle von Leuten, bei denen Verbindungen zu einem Syndikat vermutet wurden." Die vier Frauen lehnten sich zurück, und liessen sich die Sache durch den Kopf gehen. "Seltsamer Typ", sagte Misty schliesslich. "Kann man wohl sagen", bestätigte May. "Je mehr Indizien zusammenkommen, desto mysteriöser wird der Kerl", sagte Rally. "Hast du sonst noch irgendwas, Becky?" "Naja, etwas habe ich noch. Wegen der Kreditkarte habe ich zwei Dinge rausbekommen. Erstens: Er hat die Kreditkarte noch nie benutzt. Ausser in deinem Laden, meine ich. Verstehe dass wer will. Und das zweite: Ich habe jetzt seine Adresse." Rally setzte sich ruckartig auf. "Du hast was!?", rief sie. "Seine Adresse", wiederholte Becky grinsend. "Du hast dir das bis zum Schluss aufgespart, nicht wahr?", meinte May. Becky sagte nichts, und holte nur den Insiderbericht hervor. Darauf stand tatsächlich Tanners Adresse. "Ich war heute mal kurz dort, und hab ihn gesehen, wie er seinen Wagen in die Garage fuhr. Er wohnt also tatsächlich dort." "Na das ist doch endlich mal was", freute sich Rally. "Misty, ich hoffe, du hast dein Handwerk noch nicht verlernt." "Willst du bei ihm einbrechen?", fragte Misty. "Nicht doch, ich will ihn besuchen", meinte Rally. "Nur eben dann, wenn er nicht zuhause ist." Kapitel 10: Enthüllungen ------------------------ Bevor Misty von Rally aufgenommen wurde, war sie eine berüchtigte Diebin. Ihre Spezialität war das Schlösserknacken. Sie war dafür bekannt, dass im Haus praktisch nichts auch nur auf einen Einbruch hinwies. Misty versuchte eigentlich, dieses Kapitel ihres Lebens zu vergessen. Aber gelegentlich half sie Rally beim "inspizieren von potentiellen Verstecken". So auch diesmal. Rally ging das ganze routiniert an. Sie und May waren über Funk-Headsets miteinander in Verbindung. May hatte einen Beobachtungsposten bezogen, Rally und Misty warteten in der Nähe. Das bedeutete zwar, dass sie den Laden schliessen mussten, aber Rally wollte sich diese Gelegenheit um nichts in der Welt entgehen lassen. Sie warteten schon eine ganze Weile. Rally hatte kurz die Beobachtung übernommen, damit May etwas zu Mittag essen konnte. Danach hatte sie für sich und Misty ebenfalls ein paar Sandwichs und etwas Kaffee geholt. Sie waren noch mit essen beschäftigt, als May sich meldete: "Rally? Tanner hat gerade das Haus verlassen." Rally schluckte einen Bissen herunter. Dann fragte sie: "Bist du sicher?" "Absolut. Er hat seinen blauen Corsa benutzt. Und ich habe seine Silhouette erkannt." "Mmmm... Naja, was solls. Wir gehen." Hastig packten Rally und Misty die Sandwichreste weg. Wehleidig blickend schüttete Misty den Kaffee den nächsten Gulli hinunter. "Der ist kalt, bis wir zurück sind", erklärte sie. "Lässt sich nicht ändern", meinte Rally. Dann machten sie sich auf den Weg. Tanners Wohnung war in einem unauffälligen Wohnblock. Die Haustür war zwar verschlossen, konnte Mistys Dietrichen aber keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen. Sie fanden keine Wohnung mit Tanners Namen. Die Tür im zweiten Stock war aber als einzige nicht beschildert. Misty betrachtete sie genauer. "Soso. Dafür, dass die Wohnung unbenutzt ist, wurde die Tür in letzter Zeit aber recht häufig geöffnet", meinte sie, nachdem sie einen Blick auf Türklinke und Boden geworfen hatte. Dann legte sie Latexhandschuhe an, und untersuchte die Türschlösser. Es waren insgesamt deren vier. Während sie beschäftigt war, streifte sich auch Rally Handschuhe über. "Hmmm. Automatische Schlösser. Standardfabrikate. Mittlerer Schwierigkeitsgrad. Ganz gut... Aber nicht gut genug." Sie begann, die Schlösser, eines nach dem anderen, zu öffnen. Als sie das letzte geschafft hatte, zog sie die Tür einen kleinen Spalt weit auf. "So, jetzt brauche ich den Spiegel, und den Stock", sagte sie zu Rally. Rally hatte beides auf Wunsch von Misty mitgenommen. Sie hatte sich zwar darüber gewundert, aber Misty hatte nur gemeint, sie brauche diese Dinge, wenn sie bei einem Profi einbrechen sollte. Misty demonstrierte nun, wozu sie dienten. Sie führte den Spiegel, der an einem Draht befestigt war, durch den Spalt in der Türe, und nutzte ihn so als Periskop. Vorsichtig drehte sie ihn ein wenig, um einen Rundumblick des Raumes zu erhalten. "Dacht ichs mir doch", sagte sie triumphierend. "Big Brother links neben der Tür." Was sie damit meinte, war eine Überwachungskamera. Sie nahm den Stock zur Hand. Der 'Stock' war eine Teleskopstange, die sich auf eine Länge bis zu zehn Metern ausziehen liess. Damit konnte Misty auch weit entfernte Kameras erreichen. In diesem Fall war die Kamera allerdings gerade mal zwei Meter entfernt, was nicht das geringste Problem darstellte. Vorsichtig, und mit Hilfe des Spiegels, führte Misty den Stock zur Kamera, und drückte diese nach oben. "Schiess mal ein paar Aufnahmen von der Decke", meinte Misty. Dann öffnete sie die Tür vollständig, und sie und Rally gingen hinein. Sie schauten sich um. Die Wohnung war nicht all zu gross. Gleich hinter der Tür war ein relativ grosser Raum, der wohl gleichzeitig als Wohnzimmer wie auch als Arbeitszimmer diente. Daneben gab es eine kleine Küche, und ein separates Zimmer, welches sich Tanner mittels Bett und Kleiderschrank als spartanisches Schlafzimmer eingerichtet hatte. Das Wohn- und Arbeitszimmer war wesentlich ausführlicher möbliert. Zunächst einmal fiel der Computer auf. Es war eines jener Modelle, welche für Anfänger ausgelegt waren, und passte farblich überhaupt nicht zum Rest der Ausstattung. Daneben stand ein Fernsehgerät mit Stereoanlage und Videorekorder. Der Videorekorder lief. Vermutlich zeichnete er nun Aufnahmen aus dem aufregenden Leben einer Stubenfliege an der Decke auf, was allerdings wohl auch nicht viel langweiliger war als das Fernsehprogramm. Auf einem grossen Tisch schliesslich stand eine gut ausgebaute Lötstation. Ganz offensichtlich war Tanner durchaus im Fach der Elektronik bewandert. Ein Gestell in einer Ecke, welches lauter Schubladen enthielt, weckte das Interesse der beiden. Zur ihrer Enttäuschung waren die meisten Schubladen allerdings leer, enthielten elektronische Bauteile, oder Papiere, von welchen Becky schon längst eine Kopie besass. In der rechten unteren Ecke fand Rally schliesslich etwas interessantes: Die Schublade war vollgestopft mit diversen elektronischen Geräten. "Was haben wir denn da", sagte sie vor sich hin. "Wanzen, Kleinstkameras, elektronische Stetoskope... Alles für den kleinen Abhörer. Und die Bauweise der Wanzen kommt mir doch sehr bekannt vor." Auch Misty erinnerte sich. Eine solche Wanze, wie sie in dieser Schublade war, hatte sie vor kurzem im Laden gefunden. Als sie die linke Schubladenreihe untersuchten, stiessen sie noch auf Richtmikrofone, ein paar weitere Geräte, deren Zweck Rally nicht erkennen konnte, sowie einen Funkempfänger. Ein zweites Exemplar, so erkannte Rally jetzt, war an der Stereoanlage angeschlossen. Anscheinend verwendete Tanner diese nicht nur, um entspannende Musik zu hören. In einer der Schubladen schliesslich befand sich eine schwarze Metallschatulle. Diese war, wie Misty schnell erkannte, von der Innenseite her mit der Schublade verschraubt. Desweiteren war die Schublade so gefertigt, dass sie sich nicht vollständig aus dem Gestell entfernen liess. "Ohne brachiale Gewalt kann man die nicht mitnehmen", sagte Misty. Dann strich sie mit der Hand über die Oberfläche, klopfte an verschiedenen Stellen, schaute aus verschiedenen Blickwinkeln darauf, und betrachtete schliesslich das Schloss genauer. Es vergingen einige Minuten, bis sie endlich etwas sagte: "Gute Arbeit. Die Schatulle ist vermutlich aus mehrwandigem Edelstahl. Man muss schon mit grobem Geschütz kommen, um den zu durchtrennen. Ich glaube nicht, dass der Inhalt das überleben würde. Ausserdem ist die Schatulle anscheinend verkabelt. Wahrscheinlich durch den Boden der Schublade. Wenn die Kabel durchtrennt werden, löst das wohl irgend einen Alarm aus." "Und das Schloss?", fragte Rally. "Eine echte Herausforderung", sagte Misty, und zückte grinsend ihr Spezialwerkzeug. Es waren nicht die üblichen Dietriche. Misty machte sich damit an die Arbeit. Vorsichtig, aber offensichtlich gut gelaunt, stocherte sie mit den Werkzeugen im Schloss. "Kommst du voran?", fragte Rally nach einigen Minuten. "Geht schon. Aber ich brauche noch etwas Zeit", meinte Misty. Wieder vergingen einige Minuten. Da meldete sich auf einmal May: "Rally, er kommt zurück. Er war nur kurz weg." "Verstanden. Behalt ihn im Auge", sprach Rally ins Headset. Dann wandte sie sich an Misty: "Tanner kommt zurück. Beeil doch, oder lass es bleiben." "Ich habs gleich", sagte Misty. Sie wusste, dass es nur noch eine Frage von Sekunden sein konnte. Und sie wollte zumindest wissen, was in der Schatulle drinn war. "Ich habs gleich", sagte sie nochmals... Das Schloss klickte. Aber es klickte nicht so, wie Misty es erwartet hatte. Daher wusste sie sofort, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Aber es war bereits zu spät. Die Schublade fuhr mit Gewalt zu, und klemmte Mistys rechte Hand ein. Es knackste bedenklich. Misty wollte schreien, aber Rally hielt ihr geistesgegenwärtig die Hand vor den Mund. Erst, als Misty den Impuls überwunden hatte, nahm Rally die Hand wieder weg. "Sorry Misty", sagte Rally. "Schongutbittemachdieschubladeaufdastutweeeeh", wimmerte Misty leise. Rally zog an der Schublade, aber der Motor, der in die andere Richtung zog, war stark. Erst, als sie ihr Knie gegen das Gestell stemmte, gelang es ihr, die Schublade ein Stück weit zu öffnen. Misty zog die Hand heraus, und Rally liess los. Die Schublade schloss sich mit einem Knall. Misty betrachtete kurz ihre lädierte Hand. Selbst durch den halbdurchsichtigen Handschuh hindurch konnte sie eine rote Linie auf beiden Seiten erkennen. Dann fiel ihr etwas ein: "Das Werkzeug ist noch in der Schublade", sagte sie. Rally zog kurz daran, aber die Schublade war nun fest verschlossen. "Keine Chance, da komm ich jetzt nicht ran", sagte sie. Ihre Hand fuhr zur Sprechtaste des Headsets. "May! Wo ist er jetzt?", fragte sie. "Tanner ist bereits im Treppenhaus. Seit ihr etwa noch da drinn?" Tanner schloss die Tür auf, und betrat seine Wohnung. Er hatte ein paar Besorgungen gemacht, und wollte sie gerade in der Küche abladen, als ihm auffiel, dass der Motor der Schublade mit der Kassette surrte. Erstaunt stellte er die Tüten auf seinem Arbeitstisch ab, und griff in eine Tasche auf der Innenseite seiner Jacke, von wo er eine Fernsteuerung heraus holte. Ein Tastendruck später hörte das surren auf. Tanner öffnete die Schublade. Darin fand er zwei feinmechanische Werkzeuge. Er kannte sich auf diesem Gebiet zwar nicht aus, aber es war ihm klar, dass sie dazu gedacht sein mussten, Schlösser zu knacken. Also setzte er sich vor seinen Fernseher, spulte das Band etwas zurück, und sah es sich an. "Miss Vincent", sagte er nach einer Weile. "An ihrer Stelle würde ich allmählich aus dem Wandschrank kommen. Im Übrigen wäre es, glaube ich, besser, wenn ich mal einen Blick auf die Hand ihrer Freundin werfen würde. Der Motor in der Schublade ist ziemlich stark." Rally wusste, wann sie geschlagen war. Missmutig öffnete sie den Schrank, und ging ins Arbeitszimmer hinüber. Das Headset hatte sie abgenommen, zusammengeklappt, und in einer Jackentasche verstaut. Tanners Gesichtsausdruck zeigte weder Triumph noch Genugtuung noch Verärgerung. Das Fernsehbild demonstrierte zumindest, warum sie aufgeflogen waren. Aufgrund des Bildwinkels erkannte Rally, dass die Aufnahme unmöglich aus dem Eingangsbereich heraus gemacht sein konnte. Sie blickte nach oben, und fand zwischen Wand und Decke gut versteckt eine Kleinstkamera. "Sie haben also zwei Kameras", meinte sie resigniert. "Nein, nur eine. Die im Eingang ist eine Attrappe", korrigierte Tanner. "Genau wie das Schloss, nicht wahr?", fragte Misty, die mittlerweile nachgekommen war. "Bitte?", fragte Tanner. "Das Schloss der Schatulle", erklärte Misty. "Es ist eine Falle, nicht wahr? Man kann die Schatulle dort nicht öffnen." "Gut erkannt", sagte Tanner anerkennend. "Nur etwas spät, wie mir scheint. Na, kommen Sie mal mit." Tanner ging zur Küche hinüber, und setzte sich an den Esstisch. Mit einer Handbewegung hiess er Misty, sich ihm gegenüber zu setzen. Misty tat dies, und legte anschliessend die verletzte Hand auf den Tisch. Tanner zog vorsichtig den Handschuh von Mistys Hand, was nicht ganz einfach und auch nicht ganz schmerzfrei war, zumal der Handschuh sehr eng anlag. Dann drückte er an verschiedenen Stellen leicht auf die Handfläche. "Sind Sie denn gar nicht wütend?", fragte Rally. "Ach, ich dachte mir schon, dass die früher oder später hier aufkreuzen würden. Nur das es so schnell gehen würde, dass überrascht mich zugegebenermassen ein wenig." An der nächsten Stelle, an der Tanner drückte, gaben die Knochen etwas nach. Misty zog vor Schmerz die Luft ein. "Tja, die ist gebrochen", sagte Tanner. "Miss Vincent. Seien sie doch so nett, und holen sie meinen Erste Hilfe Koffer. Er ist im Gestell im Arbeitszimmer, in der Schublade ganz oben links." "Öh, ja klar", antwortete Rally. Sie ging zum Gestell hinüber, und holte das Gewünschte. Dabei fragte sie sich, was Tanner eigentlich für ein Spiel mit ihnen trieb. Ahnte er tatsächlich schon, dass sie kommen würden? Und falls ja: warum? Und warum rief er nicht die Polizei, oder schmiss sie zumindest aus der Wohnung? Als sie mit dem Koffer in die Küche zurückkahm, holte Tanner aus einer Schublade gerade einige kleine Holzspachtel hervor. "Damit sollte es gehen", sagte er. "Ich werde die Hand jetzt notdürftig schienen. Aber Sie sollten sie unbedingt einem Arzt zeigen. Ah, danke Miss Vincent." Tanner öffnete den Koffer, und entnahm ihm eine Schere und Verbandszeug. Dann machte er sich daran, Mistys Hand zu schienen. Rally erkannte, dass Tanner dies nicht zum ersten Mal machte, oder es zumindest schon geübt hatte. Tanner führte die Arbeit sauber und professionell durch. Danach nahm er das Gespräch wieder auf: "So. Jetzt hätte ich doch eine kleine Frage an Sie: Was machen Sie eigentlich hier?" "Ich dachte, Sie hätten uns erwartet?", entgegnete Rally schnippisch. "Nun ja, mir ist durchaus aufgefallen, dass Ihr Interesse an mir über eine normale Kundenbeziehung hinaus geht. Aber warum, das würde ich schon gerne wissen." Rally überlegte kurz, und entschied dann, in die Offensive zu gehen. Sie nahm eine Wanze aus der Jackentasche, und warf sie auf den Tisch. Es war diejenige, die Misty im Laden gefunden hatte. "Das ist doch Ihre, oder?", fragte sie. Tanner nahm die Wanze auf, und betrachtete sie ein wenig. "Ja, das ist meine Bauart", sagte er schliesslich. "Ich habe eine Reihe davon verkauft. Sie hatten wohl Ärger mit jemandem." "Die haben wir unmittelbar nach ihrem ersten Besuch in meinem Laden gefunden. Und die Batterie war noch taufrisch. Vielleicht möchten Sie uns ja erzählen, warum Sie uns nachspionieren." Tanner seufzte. Dann schmiss er die Wanze in einen bereitstehenden Abfallkorb, und stand auf. "Ich schätze, das wird etwas länger dauern. Kaffee?" Ein paar Minuten später hatte Tanner drei Tassen dampfenden Cappuccino auf den Tisch gezaubert. Misty war froh darüber, hatte sie doch vorhin den Kaffee wegschütten müssen. Rally hingegen war ungeduldig, und wollte endlich ihr Gespräch mit Tanner fortsetzen. "So, das hätten wir", sagte Tanner, als er die Tassen abgesetzt hatte. "Vorsicht, er ist noch heiss." "Also, wie siehts aus?", fragte Rally. "Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie dürfen mir einige Fragen stellen, und ich werde sie wahrheitsgetreu beantworten, sofern dies meine Sicherheit nicht gefährdet. Als Ausgleich dafür will ich von Ihnen ein Ehrenwort als Prämienjägerin, dass sie mich nicht weiter bespitzeln werden. Ist das ein Angebot?" "Woher soll ich Wissen, ob Ihre Auskünfte für mich ausreichend sind? ", fragte Rally. "Das kann ich natürlich nicht garantieren. Aber sie werden in nützlicher Frist auch nicht mehr über mich rausbekommen. Ich bin ganz gut darin, meine Spuren zu verwischen." Das war keineswegs übertrieben, und Rally wusste das. Immerhin war Becky bereits seit Wochen auf der Jagd nach Informationen über Tanner. "Also gut", sagte Rally schliesslich. "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich Ihnen nicht weiter nachspionieren werde." "Und auch niemanden damit beauftragen", sagte Tanner. "Einverstanden." "Miss Hopkins auch nicht." "Gut." "Und sie Miss...", sagte Tanner zu Misty. "Brown", antwortete sie. "Für Sie gilt dasselbe." Misty schaute zu Rally, aber Rally nickte nur kurz. "In Ordnung", sagte Misty. "Na, dann schiessen sie mal los." "Gut", sagte Rally. "Zunächst einmal: Wollen Sie denn überhaupt nichts über mich wissen?" "Nein", sagte Tanner. "Und selbst wenn, würde ich es auch so herausfinden. Ich bin nämlich auch noch Informant, wissen Sie." "So einfach bin ich nicht auszuspionieren." "Und ob. Sie sind zwar eine hervorragende Prämienjägerin, aber vom Spuren verwischen haben Sie nicht so viel Ahnung Miss Eileen Vincent." "Eileen?", fragte Misty. Rally versuchte, es nicht zu zeigen, aber sie erschrack fürchterlich. Eileen war ihr wirklicher Name. Wenn Tanner den wusste, dann kannte er vermutlich auch ihr wahres Alter. Und damit hatte er etwas gegen sie in der Hand, denn Rally war nach amerikanischem Recht eigentlich noch minderjährig, und durfte somit keinen eigenen Laden führen. Von ihrem Waffenbesitz, und ihrer Tätigkeit als Prämienjägerin ganz zu schweigen. "Für wen Arbeiten sie denn als Informant?", fragte Rally etwas nervös. "Och, eigentlich nur noch für mich selbst. Früher hatte ich mal fest für eine bestimmte Organisation gearbeitet, aber natürlich kann ich ihnen nicht sagen, wer das war." "Natürlich", sagte Rally erleichtert. Sie nahm einen Schluck vom Kaffee, spie ihn aber beinahe wieder aus. "Meine Güte, ist der stark!", rief sie. Misty versuchte ebenfalls davon. Auch ihr zog es jeden Gesichtsmuskel zusammen. "Kann man danach überhaupt noch schlafen?", fragte sie. "Natürlich", meinte Tanner leicht amüsiert. "In meiner Heimat trinkt man den immer so stark. Nur halt nicht literweise. Der hier gehört noch zu den Schwächeren." "Können Sie uns Ihren Heimatort etwas genauer umschreiben", fragte Rally, während sie vorsichtig am Kaffee nippte. "Mitteleuropa", sagte Tanner kurz angebunden. "Und ihr wahrer Name?" "Meine Identität muss geheim bleiben." "Ihre Pseudonyme vielleicht?" "Ich hab noch ein paar weitere. Aber es sind aus gutem Grund verschiedene. Die Leute, mit denen sie Umgang pflegen, kennen mich alle unter dem Namen Tanner." "Na schön. Warum sind sie überhaupt hier?" "Ich musste aus Europa fliehen." "Warum?" "Vergessen Sies." Rally seufzte. "Also, besonders kommunikativ sind Sie ja nicht!" Tanner schaute sie einige Zeit eindringlich an. Rally hielt dem Blick stand. "Bleibt das unter uns?", fragte Tanner schliesslich. "Natürlich." "Keine Scherze bitte. Miss Hopkins können Sie von mir aus informieren. Aber wenn sie es sonst jemandem sagen, bringen sie mich in ernsthafte Gefahr, verstanden?" Rally zögerte kurz, nickte dann aber. Das bedeutete natürlich, dass sie Becky nichts sagen durfte. Aber sie war einfach viel zu neugierig, um sich diese Informationen entgehen zu lassen. "Gut," sagte Tanner. "Ich habe als Informant für ein Syndikat gearbeitet. Ich hatte auch Verbindungen zu verschiedenen hohen Tieren, sowohl in der Unterwelt, wie auch in offiziellen Stellen. Tja, vermutlich hätte ich eine glänzende Unterweltskarriere vor mir gehabt." Rallys Augen verengten sich. Tanner war anscheinend ein 'Puppenspieler'. Jemand, der andere für sich die Drecksarbeit erledigen liess, und selten selbst in Erscheinung trat. Sie mochte solche Leute nicht besonders. "Was ist passiert?", fragte sie. "Tja, ich kannte unter anderem den Sohn eines Syndikatbosses. Er hätte später höchstwahrscheinlich das Syndikat übernommen. Wenn er nicht ermordet worden wäre. Irgendwie sind seine Mörder auf meine Verbindung zu ihm gekommen, also haben sie versucht, auch mich zu beseitigen. Ironisch, nicht wahr? Die Verbindung, die mir später Kontakt zur absoluten Spitze garantiert hätte, wurde mir zum Verhängniss." Rallys Mundwinkel zogen sich etwas nach oben. Irgendwie befriedigte es sie, das selbst jemand wie Tanner nicht unbesiegbar war. "Die Mörder legten einen Brand, um den Mordversuch zu vertuschen, nicht wahr?", fragte sie. Tanner zuckte unmerklich zusammen. "Ja, das haben sie", sagte er. Dann nahm er einen grossen Schluck Kaffee. "Bis hierhin und nicht weiter. Mehr werde ich Ihnen dazu nicht sagen." "Schon gut, wechseln wir das Thema." "Wir haben Sie beobachtet, wie sie mit einem Mann aus dem Vector Syndikat gesprochen haben. Was ist Ihre Beziehung zu diesem Syndikat?" "Oh, dann waren *Sie* das gestern. Nun, ich arbeite gelegentlich für das Syndikat." "Haben die Wanzen im Laden damit etwas zu tun?" "Nur zum Teil. Ich habe einige an Vector verkauft, und er hat sie offensichtlich gegen Sie eingesetzt. Ich selbst habe lediglich routinemässig zwei platziert, als ich hinter Tom her war." "Zwei?" "Ach ja, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie nur die an der Theke gefunden. Die andere ist am Schaukasten mit den alten Pistolen." "Hmpft. Na schön. Aber warum arbeiten Sie überhaupt für ihn?" "Weil ich ein neues Beziehungsnetz brauche, wenn auch diesmal nur für Informationen. Vector ist häufig einer der ersten, der von Bewegungen im Untergrund erfährt. Ausserdem... brauche ich das Geld. Die Flucht hat mich viel gekostet." "Waren Sie damals der Schütze, der auf Arthur Cogan geschossen hat?" "Ja, das war mein Auftrag. Ich sollte sicherstellen, das Cogan geschnappt wird, ohne ihn selbst zu töten. Eigentlich hatte ich mit Stevensons Leuten gerechnet, die allesamt Amateure waren, also ging ich auf Nummer Sicher." "Und was war mit dem Schuss durch Thomas Martins Uzi vor Stevensons Hauptquartier? Waren Sie das auch?" "Ja. Vector wollte, das sie sicher wieder raus kommen." Das überraschte Rally. "Vector wollte uns helfen?" "Naja, so wie ich ihn kenne, war nicht die Sorge um Sie im Vordergrund. Ich vermute eher, er hat sich Sorgen um das Gelingen der Mission gemacht. Wenn sie geschnappt worden wären, hätte das nicht mehr zur Story gepasst, das Stevenson die Vorräte selbst vernichtete, damit sie nicht der Polizei in die Hände fallen." "Ja, das entspricht eher Vectors Charakter. Und die Jagd nach Tom, nachdem er geflohen war, war wohl auch auf sein Kommando hin?" "So ist es. Eine erfolgreiche Flucht hätte die Untersuchung weiter verzögert. Und Vector wollte sie so schnell wie möglich abgeschlossen haben." Rally trank den Kaffee aus. Sie vermutete zwar, dass sie damit den Koffeinbedarf für die gesamte, nächste Woche abdeckte, aber sie wollte auch nicht unhöflich erscheinen. "Nun gut, mehr will ich gar nicht wissen", sagte sie, und stand auf. "Danke für den Kaffee." "Sie sind jederzeit willkommen. Jedenfalls, solange sie keinen Dietrich verwenden, um hier reinzukommen." "Das brauchte schon mehr als einen Dietrich", sagte Misty mit einem doch etwas gekränkten Unterton. Sie trank ebenfalls aus, und stand auf, vergass aber für einen Augenblick die Bandage, und stützte sich auf die rechte Hand. Der Schmerz liess das Wasser in ihre Augen schiessen. "Vergessen Sie nicht, Ihre Hand einem Doktor zu zeigen", erinnerte sie Tanner. "Oh, und Miss Vincent: Falls Sie mein Gespräch mit dem Angestellten Vectors mitgehört haben sollten: Halten Sie sich besser aus dem Fall raus. Er ist eine Nummer zu gross für Sie." Tags darauf führte May wieder den Laden. Rally hatte Misty zu einem Arzt gefahren, und danach ein Treffen mit Becky ausgemacht, um sie über die Resultate ihrer Nachforschungen zu informieren. Sie war schon den ganzen Vormittag weg. Kurz nach Mittag endlich hörte May das vertraute Motorengeräusch von Rallys Cobra. Einige Minuten später stand Rally im Laden. Sie sah etwas mitgenommen aus. "Hallo Rally", sagte May. "Wo hast du Misty gelassen?" "Tag May. Misty ist direkt nach Hause", antwortete Rally. "Wie geht es ihr?" "Den Umständen entsprechend gut. Sie hat ihre Hand fixiert bekommen. In ein paar Wochen sollte alles verheilt sein." "Tja, Tanner springt nicht gerade zimperlich mit Leuten um, die an seine Papiere wollen, was?" "May... Ach übrigens: Hast du die Wanze gefunden?" "Ja. Sie war dort, wo Tanner es gesagt hatte." Rally nickte, sagte aber nichts weiter. "Sag mal Rally, wie hat es Becky eigentlich aufgenommen?", fragte May. Rally seufzte. "Nicht besonders gut. Sie hat mir eine Standpauke gehalten, weil ich mich von Tanner habe erwischen lassen. Und dass ich mich aus der Sache zurückziehe hat ihr erst recht nicht in den Kram gepasst. Sie hat mir vorgeworfen, ich würde mich nur zurückziehen, weil ich alle für mich selbst wichtigen Informationen zusammen habe." "Oh je. Und die Informationen, die du ihr gegeben hast?" "Damit war sie natürlich auch nicht zufrieden. Naja, so viel wars ja auch nicht." "Hast du ihr die Sache mit Tanners Vorgeschichte verschwiegen?" "Jaaa." "Du weisst, wenn du es ihr gesagt hättest, wäre sie vielleicht zufrieden gewesen." "Ich pflege meine Versprechungen zu halten!", sagte Rally gereizt. "Schon gut. Schon gut. Aber wie sieht es jetzt mit Kohle aus? Immerhin haben wir einigen Aufwand betrieben." "Becky hat mir fünf Riesen in die Hand gedrückt, und mich rauskomplimentiert." "5000?! Das ist wenig! Wir haben wegen der Sache mit Tanner vielleicht Aufträge sausen lassen, die mehr einbrachten, und einfacher gewesen wären!" "Ich weiss. Es ist mit Sicherheit zuwenig. Es sind 10 Prozent vom geschätzten Wert der Informationen, bevor wir unsere Nachforschungen begonnen haben. Ausgemacht waren 20 Prozent vom entgültigen Wert. Aber ich wollte Becky so schnell wie möglich loswerden. Tut mir leid." "Schon gut, das lässt sich jetzt wohl nicht mehr ändern. Wenigstens haben wir jetzt erstmal wieder unsere Ruhe." Rally nickte lächelnd, aber irgendwie hatte sie so ihre Zweifel. Tanners Worte liessen sie darauf schliessen, dass irgend etwas grosses im Anzug war. Irgend etwas, dass die Ruhe der Stadt nachhaltig stören würde. Sie vermutete, dass die Geschichte noch lange nicht vorbei war. Und wie so häufig, sollte sie damit recht behalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)