50 Themes von Lucille (The Wammy Boys) ================================================================================ Kapitel 3: 35 Bonds [Mello, Matt, Near] --------------------------------------- Während die ersten der kleinen Kinder schon wieder ins Bett mussten, nachdem sie ihr Abendgebet gesprochen, die Zähne geputzt und sich umgezogen hatten, roch es draußen nach Sommer und Lavendel. Der Boden war warm und die dunkle Abendsonne, die sich in die Kronen der alten Eichen nestelte, tauchte die Gärten und den Wald in ihr gemütliches Licht. Eine Wildtaube gurrte träge in den Wipfeln. Es war ein außergewöhnlich warmer Tag gewesen. Die Schwestern hatten die Wäsche auf die Leinen gehängt und die Gelegenheit genutzt, die Kinder anzuweisen, die Schuhe zu säubern, die nun wie kleine Zinnsoldaten vor der Hauswand gereiht standen, ein Paar neben dem anderen. Einige Kinder spielten auf der Wiese unter den Wäscheleinen Fußball. Ihr Gelächter war mit dem Abend leiser geworden, um die schlafenden Kinder nicht zu stören. Es war schon recht ungerecht, um sechs Uhr schon leise sein zu müssen, aber Regeln waren Regeln und eben diese Regeln sicherten ein friedliches Zusammensein. Und das war das Wichtigste. Es knallte, als der alte Fußball gegen die Rinde eines Baumes schlug und abprallte. „Mello, pass doch auf!“ Meist zumindest war es das Wichtigste. Desinteressierte dunkle Augen sahen von dem verstaubten Physikbuch auf und beobachteten den Ball, der an seinen Füßen vorbeirollte und im hohen Sommergras zum Stehen kam. „Was machst du denn hier?“ Mellos Stimme klang wütend – Mellos Stimme klang immer wütend. Die meisten Menschen verstanden diesen Zorn nicht, der nicht gegen sie gerichtet war. Aber Near war nicht die meisten Menschen – er verstand es, aber es interessierte ihn nicht. Ihn interessierte ohnehin nicht sonderlich viel, also war das gar nicht erstaunlich – und Mello verstand sein Desinteresse, aber es machte ihn dennoch wütend. Der Junge wickelte eine seiner weißen Strähnen um den Finger. Mello sah, dass seine Haut fast so blass war wie seine Haare. Er schnaubte verächtlich. Wer hatte schon weiße Haare? Sonderlinge. „Ich habe dich etwas gefragt!“, fuhr er auf und verschränkte die Arme. Near sah den Ball weiterhin an, dann meinte er leise: „Schwester Emily meinte, ich solle rausgehen.“ Seine Stimme verriet, was er davon hielt. Mello zog eine Augenbraue hoch, so dass sie unter seinem blonden Pony verschwand. Der Sommer hatte ihm eine leichte Bräune gegeben – ein Überbleibsel der letzten Tage, die er mit Matt, dem mexikanischen Jungen, draußen auf dem Bolzplatz verbracht hatte. Die beiden hatten sich in den paar Tagen anscheinend angefreundet. Mello hatte nie Probleme gehabt, Freunde zu finden. Near war da anders. Er wollte gar keine Freundschaften schließen – er war lieber für sich, zurückgezogen in der Bibliothek oder auf dem Dachboden, auf den sich nur selten eines der Kinder verirrte. Er mied den Hof und die Wiese unter den Wäscheleinen. Und meistens ließen die Schwestern des Wammy’s House ihn. Sie verstanden ihn nicht, wussten nicht, wie sie mit ihm umgehen sollten. Sie widersprachen ihm nicht. Dabei war es eigentlich absurd, wie Mello fand. Near war leicht zu durchschauen. Er machte sich immer die kleinsten Schwierigkeiten. Wenn er nicht hinaus musste, dann tat er es nicht. Forderte man ihn auf, dann tat er es. Er stritt ungern. Es war Arbeit. Es war sinnlos. Nur forderte ihn selten jemand auf – was ungerecht war, dachte Mello. Was war an Near so besonders, dass die Schwestern ihn nie irgendetwas tun ließen? Nicht einmal seine Schuhe musste er putzen, weil er keine Schuhe besaß. Das war eine weitere Dreistigkeit – nicht einmal zum Gottesdienst musste er sie anziehen. Mello runzelte verärgert die Stirn. „Dann stör uns nicht beim Spiel!“ Er griff sich den Ball und rannte mit einem letzten verächtlichen Blick zurück zu den anderen. Near sah ihm kurz nach, dann wandte er sich wieder seinem Buch zu. -- Es war mittlerweile spät. Das Dämmerlicht berührte das Waisenhaus und die spielenden Kinder waren in die alte, ausgediente Kapelle gegangen. Es war immer noch warm. Der Ball lag vergessen im Gras. Das Rascheln von nackten Füßen im Gras vermischte sich mit dem Zirpen der Grillen und dem Gurren der Tauben. Irgendwo schlug jemand einen Fensterladen zu. „Wo gehst du hin?“ Der Junge blieb stehen und das Rascheln hörte auf. Blonde Haare strichen über schmale Schultern, als er sich herumdrehte und den Blick hob. „Zum See. Brauchst nicht mitzukommen.“ Der Junge mit den zerzausten dunkelroten Haaren zuckte mit den Schultern. „Was willst du da? Es ist dunkel.“ Mello verschränkte die Arme. „Ist doch egal.“ Dann drehte er sich wieder um und ging weiter. Matt – der Junge mit der Fliegerbrille, wie er bei den anderen Kindern hieß, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um sich den Namen von Neuankömmlingen zu merken – hob eine Augenbraue, zuckte dann mit den Schultern und folgte ihm. Die Sachen, die Mello machte, waren meist interessanter als zu schlafen. Der See lag weiter im Wald. Er war ein Ort, an den die Schwestern oft mit den Kindern gingen, besonders an Tagen, an denen es warm war. Die Kleinen hatten ihren Spaß und die Neuen vergaßen ihren Kummer, wenn sie mit den anderen im Wasser planschten. Mello ging nie zum See. Nicht mit den anderen. Er blieb bei den älteren Kindern und spielte Fußball mit ihnen – es half ihm, seine Aggressionen abzubauen. Matt spielte meist mit. Fußballspielen, das kannte er aus seiner Heimat. Da hatten sie oft Fußball gespielt. Der See lag ganz ruhig da, spiegelglatt. Das Dämmerlicht ließ die Situation etwas surreal erscheinen. Ein Moskitoschwarm tanzte über dem Wasser. Matt setzte sich neben Mello, der einen kleinen Stein nahm und ihn aufs Wasser schnipste, so dass er Kreise in den See zog. Er sah wütend aus – nicht so hart, ständig wütend wie sonst, sondern frustriert wütend. Besonders wütend eben. Matt war nie gut mit Worten gewesen, er wusste es eben und das reichte. Er sagte nichts. Wenn Mello nichts sagen wollte, dann hakte er nicht nach. So einfach war das. Sein Großvater hatte gesagt, sprechenden Menschen konnte geholfen werden. Matt redete selber nicht viel. „Hast du den Jungen gesehen?“, fragte Mello nach einiger Zeit mit zittriger Stimme und zusammengezogenen Augenbrauen. Er sah seinen Freund an. Matt überlegte kurz, dann erwiderte er: „Den mit den weißen Haaren? Hab schon gemerkt, dass du wütend warst.“ Er warf auch einen kleinen Kiesel aufs Wasser. Er versank sofort. „Was ist denn mit dem?“ Der Blonde schwieg kurz und grub seine Ferse in die weiche Erde. „Er heißt Near. Er ist ein Dreckskerl.“ Matt sah kurz auf mit seinen dunklen Augen und blinzelte dann. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er schwieg. Mello fuhr fort und seine Hand krallte sich in den Stoff seiner schwarzen Hose, dass die Knöchel hervortraten. „Ich habe es so satt. Ich habe ihn so satt. Ich hasse wie er redet, wie er sitzt, wie er isst, verdammt noch mal. Immer heißt es Near hier, Near da, Near ist ja so ein Genie!“ Er imitierte die Stimme von Schwester Erika. Dann schnaubte er und fuhr sich zornig durch die Haare. „Mello, Mello ist ja immer nur die Nummer zwei, der ist ja auch schlau, aber nie gut genug, nie!“ Matt hörte ihm ruhig zu und versuchte weiter, die Kiesel dazu zu bringen, mehr als einmal aufzuspringen. Nach einiger Zeit gelang es ihm. „Ist der so klug?“ „Natürlich. Der Scheißkerl ist verdammt klug. Das bin ich aber auch. Aber das sieht keiner. Ich bin immer nur Zweiter und als Zweiter bist du nur ein Dreck, sonst nichts.“ Seine Stimme klang bitter und hasserfüllt und Matt fragte sich, ob es in Ordnung für einen Zwölfjährigen war, so bitter zu klingen. War aber auch egal. Er rieb sich wieder über die Augen und nieste einmal. Mello sah ihn merkwürdig an. Dann biss er sich auf die Lippe. „Weißt du, Near ist in deren Augen ja was Besonderes, das kleine Genie, weiße Haare und alles und ach nein, so erwachsen für sein Alter. Dabei ist er ein arroganter Idiot. Aber die sind zu blöd, das zu sehen.“ Sie schwiegen eine Weile. Es war keine unangenehme Pause. Es war eine vertraute Pause und das war schon erstaunlich, nach nur ein paar Tagen des Kennens. Aber das machte nichts. Manche Dinge passierten halt. Nach einer Weile meinte Matt: „Ist mir gar nicht aufgefallen, der Kerl.“ Er sah Mello an. Der Blonde sah fast überrascht aus, mit seinen leicht geweiteten Augen. Und jünger, ohne die Wut. Vielleicht wie elf Jahre. Fast. Dann fing er sich und grinste. „Richtig so, gibt’s ja auch nichts zu sehen bei dem Kerl.“ Sie saßen wieder da und wieder entstand eine Pause, aber diese war zufrieden. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Eine Weile warfen sie noch Kiesel ins Wasser. „Scheiße“, bemerkte Matt plötzlich und hielt sich die Hand vor das Gesicht. Seine Stimme klang nasal. Mello sah auf, hob eine Augenbraue und zog seine Hand unwirsch weg. „Was ist?“ Blut tropfte auf das gestreifte Hemd, hinterließ kleine, dunkle Flecken im Dunkeln der eingebrochenen Nacht. Mello runzelte die Stirn. „Du hast Nasenbluten!“ Matt sah ihn an und zuckte mit den Schultern. „Bin allergisch gegen Pollen“, meinte er und nieste und spritzte dabei Blut auf Mello, der ihn angewidert ansah. „Scheiße“, murmelte der Mexikaner und rieb sich die Nase. „Warum bist du Idiot dann mitgekommen? Verdammt, du saust uns beide voll!“, erwiderte Mello nur halb verärgert und griff in die dunkelroten Haare. Er drückte ihn unwirsch hinunter. „Kopf nach unten oder willst du in deinen Mund bluten? Bleib so!“ Selbst wenn Matt hätte antworten wollen, er war damit beschäftigt, den Mund offen zu halten. Er blinzelte nach oben, als er eine nasse Hand im Nacken spürte. Mello sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Geht’s schneller vorbei, okay?“, sagte er und drückte ihn weiter hinunter. Die Blutung schien nicht stoppen zu wollen. Der Boden war schon rot. Matt betrachtete ihn halbwegs interessiert. Seine Augen juckten und waren geschwollen. „Ist interessanter hier“, meinte er fast beiläufig. „Was?“ Mello zog eine Augenbraue hoch und wechselte die Hand. Das Blut tropfte langsamer. Matt drehte den Kopf ein wenig und sah zu ihm auf. Sein Gesicht war blutverschmiert – die Schwestern würden in Ohnmacht fallen. „Ist interessanter hier als im Heim. Gibt’s nur Langweiler. Deshalb bin ich mitgekommen.“ Es dauerte einen Moment, bis Mello reagierte. Er senkte den Blick kurz, dann sah es aus, als wollte er etwas erwidern. Er kam nie dazu, weil Matt sich in diesem Moment tatsächlich an seinem eigenen Blut verschluckte und anfing zu husten. Es half nicht, dass er dabei Mellos Arme vollspritzte – der auffuhr und ihn harsch nach unten drückte. „Kopf nach unten, habe ich gesagt! Du Idiot!“ „Das ist widerlich“, murmelte Matt leise und fuhr sich über die Lippen. Mello rollte nur die Augen, sagte aber nichts. Nach einer Weile des Schweigens meinte er: „Nichts ohne Risiko, was? Gefährliche Einstellung.“ Dann grinste er. „Gefällt mir.“ Matt schnaubte nur und hielt sich die Hand vor das Gesicht, als er dabei den Boden sprenkelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)