Stumme Rufe von jikaku ================================================================================ Kapitel 3: Einsamkeit --------------------- Es ist ein Tag wie jeder andere. Wie immer sitze ich auf dem alten Spielplatz. Dieser Platz hat schon lange kein Lachen mehr gehört. Als ich klein war, war ich oft mit meiner Mutter hier. Wie viel Spaß es mir bereitet hat, wenn ich die Jungs ärgern konnte! Weil ich selbst beim Spielen Kleider trug, haben sie sich über mich lustig gemacht und ich habe es ihnen heimgezahlt. Wie viel Spaß wir hatten! Ich erinnere mich auch noch ganz genau an das lächelnde Gesicht meiner Mutter, wenn sie mir beim Klettern zuschaute. Doch seit dem Tod meines Vaters vor drei Jahren hat sie nie mehr gelächelt. Sie vergoss viele Tränen; man hätte damit einen Swimmingpool füllen können. Schließlich fing sie an zu trinken, da es ihre Traurigkeit hinwegspülte. Doch der Alkohol spülte noch andere Gefühle wie Liebe hinweg. Sie fing an, laut durch die Wohnung zu brüllen, weil ich ihr noch mehr Alkohol holen sollte. Sie fing an, mich zu schlagen. Seit über einem halben Jahr gehe ich nicht mehr zur Schule. Die Menschen dieser Kleinstadt machen sich über uns lustig. Ich kann ihr Gerede nicht mehr hören. Es kotzt mich alles nur noch an. Verdammt, warum musstest du bloß sterben, Papa? Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Am liebsten würde ich hier sitzen bleiben. Bis in alle Ewigkeit. Am Abend mache ich mich doch wieder auf den Weg nach Hause. Ich kann meine Mutti nicht allein lassen. So weh sie mir auch tut, ich liebe sie immer noch. Der nächste Tag bringt nichts Neues. Betrübt über den gestrigen Abend nachdenkend sitze ich auf dem Gerüst. Wir haben einen Brief erhalten, in dem steht, dass sie keine Miete mehr abbuchen können. Unser Konto, auf welchem mal viele tausende Euro waren, ist leer. Wir haben kein Geld mehr. Mama ist ausgerastet. Das kann doch nicht stimmen, meinte sie. Irgendjemand will sich mit ihnen einen schlechten Scherz erlauben. In ihrer Rage nahm sie den Regenschirm, den ich im Flur stehen lassen habe, und schlug damit auf mich ein. Als ich heute Morgen aus meiner Bewusstlosigkeit aufgewacht bin, habe ich mich so schnell wie möglich auf den Weg nach draußen gemacht. Und nun sitze ich wieder hier. Wie jeden Tag. Es ist immer das Gleiche. Nun ja, fast das Gleiche. Heute tut mir der Körper noch mehr weh als sonst. Heute habe ich noch mehr blaue Flecke und Wunden. In wenigen Tagen wird das Gröbste wieder verheilt sein – wenn mich nicht Mutti wieder so schlägt wie gestern. „Willst du sterben?“ Fast wäre ich vom Gerüst gefallen. Seit wann kommen noch andere her? Ich schaue mich um. Hinter mir steht ein Mädchen. Ich hätte auch gerne solch schöne lange, blonde Haare. Aber warum pflegt sie sie nicht? „Natürlich will ich nicht sterben. Blöde Frage.“ „Blöde Frage?“ Sie geht um das Gerüst herum, sodass ich mich nicht mehr umdrehen muss. „In meinen Augen ist das keine blöde Frage. Schließlich ist dein Leben nicht gerade rosig. Jeden Tag haust du von Zuhause ab, weil du es nicht mehr aushältst. Und jeden Abend kommst du zurück, weil du dich nicht lossagen möchtest, weil du deine Mutter immer noch liebst.“ „Warum erzählst du mir das alles?“ „Weil du faul bist!“ „Was?“ „Warum holst du dir keine Hilfe? Warum willst du damit alleine fertig werden? Du allein bist dieser Aufgabe nicht gewachsen. Du kommst jeden Tag hierher, weil du hier deine Ruhe hast, weil du in deinem Inneren merkst, dass du es nicht schaffst. Doch wenn du nicht endlich etwas unternimmst, ist es zu spät! Nimm dein Leben in die Hand, zeige, dass du deine Freunde und alle anderen nicht vergessen hast und bitte sie um Hilfe! Konfrontiere sie mit deiner neuen Lebenslust!“ Es kommt mir so vor, als hätte sie mich mit ihren Worten geschlagen. Neue Lebenslust? Ja, ich möchte nicht mehr so leben wie bisher. Ich möchte ein neues Leben beginnen und gleichzeitig bei meinem alten weitermachen. „Danke.“ Doch das Mädchen ist schon weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)