Hölleneis und Himmelsfeuer von Salim (Die Geschichte Lucifers - und des Teufels, der hinter ihm stand) ================================================================================ Kapitel 5: Kampfeslust und Übungsfrust -------------------------------------- „Reg dich doch nicht so auf-“ stöhnte Varga und fiel unsanft auf den steinigen kiesübersäten Boden unter ihr. Die gleißend blitzende Klinge hielt nur eine Handbreite über ihr inne. Mit einem grimmigen Ausdruck grollender Entschlossenheit streckte der Mann über ihr schließlich seine Hand nach ihr aus. Dankbar ergriff Varga sie und rieb sich die unzähligen schmerzenden Stellen an ihren Armen, als sie wieder aufrecht stand. Sie musste bereits mit einem Dutzend blauer Flecken übersäht sein. „Hör endlich auf, deine Wut an mir auszulassen“, forderte sie unmutig und warf ihrem Gegenüber einen anklagenden Blick zu. „Tu ich doch gar nicht“, knurrte Lucifer und schwang sein langes silbernes Schwert, als wolle er ihren Kopf mit dem nächsten Schlag ins All befördern. Varga legte seufzend ihre eigenes Schwert beiseite und entfernte sich vorsorglich einen Meter von ihm. Sie befanden sich auf einer hell erleuchteten Lichtung, in mitten eines dichten Waldes an einem sanft abfallenden Hügels. „Es ist wirklich nicht meine Schuld. Ich habe ihm ja gesagt, dass wir auf dich warten sollten.“, versuchte sie erneut, Lucifer dazu zu bewegen, sie nicht weiter als Sandsack zu benutzen. Sie hatte ihm heute, ein paar Tage nach der Zusammenkunft des Rates, so vorsichtig wie möglich mitgeteilt, was sich gestern zugetragen hatte. Leider hatte Lucifer, schlimmer als erwartet, äußerst unerfreut auf die Tatsache reagiert, dass Michael verkündet hatte, man würde den Tempel an besagter Ort und Stelle in der Menschenwelt bauen. Dabei waren diese Tempel durchaus keine üppigen, schmucklastigen Huldigungsbauten, mit denen man Göttern oder gesichtslosen Geistern huldigte. Vielmehr stellten sie eine Art Zeichen des Schutzes dar, den die Engel den Menschen gaben. In ihnen gingen viele ihrer Rasse ihrer gütigen Bestimmung nach und nutzten ihre einzigartigen Gaben zum Wohle aller: Engel mit heilenden Kräften kümmerten sich um Kranke, sie schlichteten kleinere Streitereien, wenn es denn einmal welche gab, unter den Menschen, die sich trotz des immerwährenden Friedens doch hin und wieder nicht einigen konnten, teilten ihr uraltes, tiefes unendliches Wissen aus unbekannten, lang vergangenen Tagen, von denen niemand mehr zu künden wusste, mit den Herrschern der Menschenvölker, nahmen sich eines jeden an, der ihrer Hilfe bedurfte und regelten auf sanfte, liebevolle Weise das Leben derer, die ihnen anvertraut wurden. Die Engel liebten die Menschen wahrlich, die nach ihrem Abbild erschaffen worden waren, als das Himmelreich und Eden sich aus den Untiefen des Nichts geformt hatten. Sie teilten alles mit ihnen, sorgten und behüteten sie und sahen lächelnd über ihre kleinen Fehler, die ihnen eine höhere Macht gegeben hatte, hinweg. Denn auch die Engel waren nicht vollkommen und sich dieser Tatsache durchaus bewusst. Auch zwangen sie den Menschen weder ihre Hilfe noch ihr Wissen auf. Sie ließen ihre Könige regieren, die dies beinahe immer mit Gerechtigkeit und Sorge taten, anstatt ihnen etwa ihre eigenen Vorstellungen von gemeinsamen Beschlüssen und Gesetzen aufzudrängen. Ja, die Engel liebten die Menschen wahrhaftig, denn sie waren ihre Kinder, die sie zu hegen und zu hüten hatten, lange bevor auch den Engeln die Gabe der Menschen gegeben war, selbst Leben hervorzubringen und ihre Art zu vergrößern. Noch nicht einmal zwanzig Jahre waren sie nun selbst zu dem in der Lage, was die Menschen schon immer konnten: Leben gebären. Doch obwohl nun ein Bau solch eines Tempels eine gut gemeinte Sache war, musste er trotzdem in der Menschenwelt errichtet werden und die Engel hüteten sich sorgsam, dieses Land einfach als ihr eigenes zu betrachten. Deswegen wurde stets lange über den Standort diskutiert, schließlich wollte man sich niemals am Eigentum der Menschen vergreifen oder einfach ohne ihre Mitsprache darüber bestimmen. Eben diese Verknüpfung zwischen Himmel und Eden, war Lucifers Aufgabenbereich. Er kannte die Menschen und ihre Eigenarten sehr gut und er hatte letztendlich darüber zu entscheiden, inwiefern man in ihre Welt eingreifen durfte. Varga verstand nur allzu gut, warum Lucifer durch Michaels Eingreifen gekränkt war. Aber er hatte auch seinen Teil dazu beigetragen. „Du bist selbst schuld“, sagte sie tadelnd und sah seufzend zu, wie Lucifer seine Wut nun an einem knorrigen Baum ausließ. „Du hättest nur kommen müssen!“ „Ihr hättet warten können!“, schimpfte Lucifer und hieb dem unschuldigen Baum einen Ast nach dem anderen ab. „Was, wie lange denn, etwa eine ganze Nacht?“ erwiderte Varga streng. „Du warst die ganze Zeit weg und hast dich nicht blicken lassen.“ Lucifer bemühte sich trotz ihres klagenden Blickes, möglichst bedrohlich dreinzusehen. „Er hatte trotzdem nicht das Recht dazu.“ „Wenn du nicht zur Versammlung kommst, ist das deine eigene Schuld. Michael hat getan, was er für das Richtige hielt und eine Entscheidung getroffen, weil du nicht da warst, ihm dabei zu helfen. Also hör endlich auf, dich wie ein Kind aufzuregen. Wo warst du überhaupt?“, fragte Varga und unterdrückte einen erneuten Seufzer. Lucifer schlug der kleinen Eiche den letzten Ast ab, stierte sie daraufhin noch böser an, als hätte sie sich absichtlich nicht mehr davon wachsen lassen und antwortete: „Ich habe versucht, mich im Wasserbeherrschen zu verbessern.“ Verständnislos ließ sich Varga auf dem moosbewachsenen Baumstamm nieder und bedachte den unglücklichen Baum mit einem mitleidsvollen Blick, der jetzt Stück für Stück auch noch seinen Stamm verlor. „Lucifer... du willst mir doch nicht erzählen, dass du das immer noch versuchst?“ Das bitterböse Funkeln in seinen Augen war Antwort genug. „Du bist wirklich unverbesserlich.“, sagte Varga ächzend. „Finde dich doch einfach damit ab, dass das Feuer deine Stärke ist. Sieh mal, niemand von uns beherrscht alle Elemente gleichermaßen! Jeder hat eines, das ihm besonders liegt, das zu seinem Charakter und seinem Wesen passt. Es ist schon erstaunlich, wenn man die anderen drei auch noch leidlich beherrscht. Du hast es sowohl im Feuer, als auch mit Wind- und Erdmagie zur Perfektion gebracht. Das ist weit mehr, als wir alle behaupten können. Selbst Gabriel versteht sich nur auf die Luft ausgezeichnet.“ Lucifer hielt inne und lehnte sich an sein Schwert, das nun untätig im Boden steckte. „Gabriels wahre Stärke ist die Lichtmagie.“ „Deine auch“, sagte Varga leise lächelnd und war froh, dass er endlich aufgehört hatte, seine Umgebung zu verunstalten. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie stur Lucifer nach diesem Können strebte, wo er doch ohnehin bereits weiter als alle anderen gekommen war. Mit nachdenklicher Miene stützte Lucifer sich auf den Griff seines Schwertes und sah Varga eindringlich an. „Ich möchte es können. Koste es was es wolle. Verstehst du das nicht?“ Varga hob die Hände. „Aber du kannst es doch!“ „Nur oberflächlich, ich schaffe es immer noch nicht, Eis daraus zu formen“, widersprach Lucifer, während er sich müde mit der Hand über das Gesicht fuhr. „Nun hör aber mal“, empörte sich Varga und trat auf ihn zu, „das ist äußerst schwierig, etwa so, wie Feuer aus dem Nichts heraufzubeschwören. Wenn das das Einzige ist, was du noch nicht beherrschst, bist du sowieso schon fast ein Meister.“ Sie legte sacht ihre Hand auf die seine. „Wieso bist du nicht zufrieden mit den Fähigkeiten, die du schon hast?“ Lucifer sah zur ihr hinab. Für einen Moment lang hatte er die Antwort im Kopf. „Ich will es eben versuchen...“, wich er ihr dann doch aus. Sie zog langsam ihre Hand zurück. „Als nächstes versuchst du noch, ein Meister der Schattenmagie zu werden“, sagte sie scherzend, um ihn aufzumuntern. „Warum nicht?“, erwiderte Lucifer bedächtig. Varga starrte ihn an. „Was?“, fragte sie und sah ihn dabei fast entgeistert an, „das ist doch nicht dein Ernst?“ „Nein nein“, Lucifer grinste durchtrieben, „keine Sorge.“ Sie lächelte wieder. „Gut, wenn du also fertig damit bist, mich zu verhauen, gehen wir zurück? Ich habe Ezekiel versprochen, ihm mit deiner Hilfe bei einem Buch zu helfen.“ Mit einem Ruck zog Lucifer die Klinge seines Schwertes aus der steinigen Erde und legte sie sich über die Schulter. „Mit meiner Hilfe?“ „Ja“, sagte Varga verschmitzt und hackte sich an seinem Arm unter, bevor sie sich gemeinsam zurück auf den Weg zur Stadt der Engel machten. Es war ein lauer Abend und die Sonne stand noch als hell glühende Scheibe hinter einem zarten Schleier aus Dunst und Wolkenfetzen hoch am bläulichen Himmel über dem sanft dahinschwappenden türkisen Meereswellen, als sich Lucifer am selben Tag noch auf den Weg zum Strand gemacht hatte. Auriel und er hatten sich oft getroffen in der letzten Zeit. Ihr beständiges Lehren und Üben hatte sich von einer schulischen Routine zu einer selbstverständlichen, freundlichen Gewohnheit entwickelt. Mit der Zeit wurde ihm der von sich aus stille und in sich gekehrte Junge zutraulicher. Lucifer fand heraus, dass der silberhaarige Engel, der ihn so gerne verspottete, so gut er sich auch auf das Heraufbeschwören von eisigen Flutwellen verstand, ihm lange nicht das Wasser reichen konnte, wenn es um heiße Flammen und züngelnde Funken ging. Es war ein einem kühlen Morgen, nachdem Auriel ihn aus reiner Freude an seinem missmutigen Gesicht zu einer wirklich unheiligen Zeit aus dem Bett gescheucht hatte, um anschließen darauf zu bestehen, ihn mit nichts als einer Art dünnen Morgenmantel bekleidet auf einem einsamen Felsen inmitten der Brandung stehen zu lassen, angeblich um sein „Gespür für die Wellen“ zu erweitern. Schlotternd und zitternd stand Lucifer also auf einem verlassenen, mit glitschigen Algen übersäten Stück Stein und glaubte, allmählich Eiszapfen an seinen Fingern und Beinen zu spüren. Ein Teil von ihm hoffte, dass Auriel das vielleicht als einen gelungenen Erfolg anerkennen würde, der Rest von ihm bebte und verspürte den unwiderstehlichen Drang, seinen Lehrer mit einem gezielten Schlag auf den Meeresgrund hinab zu befördern. Irgendwann wurde es ihm dann, nach unendlichen sturen Dastehens und vielen „guten“ Ratschlägen Auriels zu dumm; er ließ sich zitternd auf den Felsen unter ihm nieder und beschwor ein großes Feuer herauf, um sich nicht doch noch in eine Eisskulptur zu verwandeln (vielleicht wartete Auriel insgeheim auch genau darauf). Höhnisch baute sich Auriel nach einem kurzen Flug über das Wasser auf der ohnehin viel zu engen Insel neben ihm auf. „Das ist doch nicht zu fassen. Und du willst ein großer Krieger sein?“ „Stell dich doch selbst einmal hierher“, fauchte Lucifer aufgebracht. „Hier könnte sich sogar ein Engel eine saftige Lungenentzündung holen! Ich bin ja wohl nicht bescheuert und steh mir hier die Beine in den Bauch, während du dich kringelig lachst. Das ist keine Übung, sondern ein Scherz.“ „Ach, du bist nur zu empfindlich.“, entgegnete Auriel mit einer wegwerfenden Handbewegung. Zu Lucifers Empörung huschte ein kurzer, äußerst hinterhältiger Zug über sein Gesicht, der seine Vermutung nur zu gut bestätigte. Doch nachdem sich Lucifer in stumm anklagendes Schweigen hüllte, ließ sich Auriel nach einigen Minuten ebenfalls neben ihm nieder um sich zu wärmen. „Ha! Mach dir gefälligst dein eigenes Feuer!“, rief Lucifer gehässig und übersah geflissentlich die Tatsache, dass nicht einmal genug Platz für sie beide und das eine Feuer vor ihm war. Daraufhin reckte Auriel mit giftigem Blick das Kinn, straffte den Rücken und schnippste leicht mit den Fingern. Mit leuchtendem Blick sah Lucifer, dass das bisschen Feuer, das daraufhin vor Auriel entstand, nur kurz aufleuchtete, um danach gleich wieder zu erlöschen. Auch nach mehreren Versuchen brannte als Einziges noch immer Lucifers eigenes Feuer. Zu Anfang war dies Balsam für seinen geknickten Stolz gewesen, der immer wieder hart auf die Probe gestellt wurde, doch schließlich wollte er sich revangieren. Nun übten sie gemeinsam, waren beide Lehrmeister und Schüler zugleich, überprüften sich gegenseitig, verhöhnten den anderen, um gleich darauf selbst eine Schwäche zu entblößen, korrigierten und berieten sich, jeder um es in seiner eigenen Kunst zur Vollendung zu bringen. Doch eigentlich war es etwas anderes, das Lucifers Herz für den jungen Engel öffnete. Es war Auriels Art, wie er gleichermaßen ebenso wie er nach Verbesserung strebte, sich mit nichts als der Perfektion zufrieden gab, immer weiter wollte, höher, höher hinaus als alle anderen. In dieser Hinsicht waren sie gleich; gaben sich nicht mit den Grenzen ihrer Art zufrieden. Sie wollten beide weiter, weiter als irgendjemand sonst jemals gegangen war. So war ihr anfänglich eher feindschaftliches Grundgefühl einer Achtung gewichen zwischen ihnen gewichen. Lucifer hatte herausgefunden, dass Auriels arrogantes Gehabe eine seiner Eigenarten, jedoch nicht wirklich hochmütig war, er schien sich einfach gerne so zu geben. Eigentlich war er eher verschlossen, sprach nur wenig und hing die meiste Zeit seinen eigenen Gedanken nach, sodass er vielleicht deswegen mit niemanden sonst zu tun hatte. Lucifer dachte, im Grunde müsse er sehr einsam sein, aber er machte nicht den Eindruck von Verlassenheit. Vielmehr schien er einfach gerne allein zu sein und sich nicht im Geringsten daran zu stören, dass niemand da war. Vielleicht lag es auch daran, dass seine Eltern gestorben waren. Der Tod war etwas unnatürliches für Engel. Sie wurden in der Regel nie, oder nur sehr selten krank und lebten ewig. Auch bestand Auriel aus lauter Gegensätzen. Mal war er ausgelassen und heiter, dann wieder stumm und wortlos, aber nicht bedrückt, im nächsten Moment wieder herablassend und spöttisch, schließlich träumerisch, in eine andere Welt versunken und letzten Endes wieder auf zurückgezogene Art fröhlich und gelöst. In gewisser Weise war Lucifer davon fasziniert. Er wollte ergründen, was dahinter steckte. Dennoch war der Junge ein verschlossenes Siegel, obgleich dies ihn nur noch mehr reizte. Letzendlich gab es jedoch eine Sache, die Lucifer dazu bewegte, sich Auriel immer mehr anzuvertrauen. Sie saßen nun beide am Strand, ganz in der Nähe des feuchten Sandes, der unter den immer wiederkehrenden sanften Wellen nass glitzerte. Ein jeder von ihnen hatte die Hände vor sich ausgestreckt. Über ihren Fingern flossen träge Wassertropfen in der Schwebe, die sich immer wieder teilten und kreisend umherflogen, um sich schließlich wieder zu vereinigen. Es machte Lucifer keine Mühe mehr, dem Wasser zu befehlen, wie es seine Gestalt wandeln sollte und so sah er abwartend den sich langsam wirbelnden Tropfen. Dass er dies ungewöhnlich schnell gemeistert hatte, verschwieg Auriel ihm. Nach langem Überlegen hatte er Auriel von seinem Zorn auf Michael und dessen Entscheidung, die eigentlich er hätte fällen sollen, berichtet. Auriel sah über seine Hände hinweg in die Ferne und beobachtete so tief versunken den Horizont, dass Lucifer schon glaubte, er hätte ihm nicht zugehört, was durchaus passieren konnte, wenn Auriel plötzlich Lust hatte, ihn auf die Palme zu bringen. Dann ließ er das Wasser endlich in den Sand sickern und begann zu reden. „Du wurdest nicht gefragt?“ „Nein!“, schoss es prompt aus Lucifer hervor. Auriel wartete stumm. Nach einigen Sekunden gab Lucifer dann doch zähneknirschend zu: „Naja... genau genommen wusste ich schon, dass wir noch darüber reden mussten, ob wir den Tempel dort bauen würden oder nicht.“ „Hast du von der Versammlung gewusst?“, fragte Auriel nachdenklich weiter. „Ähm...“ Auriel blickte in den Himmel und beobachtete eine schwarz weiß gestreifte Möwe dabei, wie sie sich todesmutig in die Fluten stürzte. „Aber es war ja nicht so, als hätten sie mit dieser nicht warten können. Schließlich läuft uns so ein Tempel nicht davon.“, brachte Lucifer erregt hervor, weil er das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. „Es ist schlichtweg eine Unverschämtheit, sich einfach über meinen Kopf hinwegzusetzen und so zu tun, als würde ich nicht zum Rat gehören!“ „Außerdem hast du den Zweithöchsten Rang.“ „Ganz genau, und außerdem-“, rief Lucifer und brach im nächsten Moment verblüfft ab. „Was meinst du?“ „Nun, du bist schließlich einer der Ersten von uns. Es geht nicht an, dass man nicht auf dich wartet.“, erklärte Auriel und sah erneut in den Himmel. „So ist es!“, gab Lucifer mit erzürnter Gebärde zu verstehen und schlug mit der Faust in den Sand. Fast erwartete er empörte Blicke, aber Auriel neben ihm betrachtete seelenruhig weiter das sich allmählich heller verfärbende Blau über ihnen „Lass uns weiter üben.“, sagte er plötzlich unvermittelt und stand auf. Überrascht erhob sich Lucifer ebenfalls und wartete. Mit bedächtig fließenden Fingern ließ Auriel eine dünne Eiskruste auf den schaumbedeckten Wellen erscheinen, die durch die unaufhörliche Bewegung des Wasser sogleich wieder zerbarst. Mit einem Blick forderte er Lucifer auf, dasselbe zu tun. Eine tiefe Falte bildete sich zwischen dessen Augenbrauen, als er es, angestrengt und hoch konzentriert versuchte, aber nichts weiter erreichte, als dass sich das Wasser ein wenig mehr kräuselte. Auriels Lippen zuckten. „Das war ja schon einmal gut“, sagte er sanft, „als nächstes versuchen wir, einen Fuß vor den Anderen zu setzen.“ Zornfunkelnd wandte Lucifer ihm den Kopf zu und hätte ihm, wenn Blicke hätten töten können, vermutlich mehrere Brandlöcher in der Kleidung beschert. Aber anstatt ihm eine Erwiderung entgegenzuschleudern, verschränkte er die Arme und wandte sich Auriel zu. „Wie wäre es, wenn wir mit dir weitermachen?“ „Wie du willst“, sprach Auriel gleichgültig und drehte sich, sodass sich ihre Gesichter ansahen.. Lucifer lächelte. „Wir beginnen hiermit“, und mit einem winzigen Fingerschnippen verwandelte sich die warme Abendluft über seiner Handfläche in knisternde, funkensprühende Flammen von der Größe eines Vogels. Nach einem winzigen Moment des Zögerns ahmte auch Auriel die Handbewegung nach. Ein kleiner Flammenstoß, etwa von der Größe eines Hühnereis, flammte für eine Sekunde hell auf, dann erlosch er wieder und hinterließ nichts als eine sanfte Brise. Ein breites Grinsen malte sich auf Lucifers Gesicht. Auriel warf ihm einen giftigen Blick zu und versuchte es erneut. Dieses Mal war es nicht mehr als ein kurzlebiges Rauchwölkchen. „Tjaaah“, sagte Lucifer gedehnt und grinste noch breiter, „das war ja schon mal nicht schlecht...“ Ein gefährliches Glitzern erschien in Auriels Augen. Lucifer grinste nur noch umso mehr. Er wusste, Auriel konnte es nicht ausstehen, wenn man ihm sagte, dass er etwas nicht konnte oder in einer Sache nicht gut war, und Lucifer bereitete es hämisches Vergnügen, ihn darauf hinzuweisen und ihm so all die kleinen Sticheleien heimzuzahlen, die er selbst von ihm zu ertragen hatte. „Vielleicht fangen wir noch einmal mit den Grundlagen an...“, schlug er vor und konnte einen gewissen schadenfrohen Unterton nicht unterdrücken. „Sei still“, befahl Auriel ruhig, doch das angriffslustige Glitzern in seinen Augen strafte seine Ruhe Lügen, als er sich noch einmal abmühte, das zuckende Feuer wie Lucifer aus dem Nichts heraufzubeschwören. Lucifer beugte sich weit vor und nahm sein Ergebnis in Augenschein. „Nichts außer Rauch“, stellte er fest und ahmte Auriels hochmütigen Tonfall nach, „Feuermagie unterscheidet sich nicht besonders von der des Wassers... Nur sind die Quelle in dir nicht die Ruhe, oder deine nicht vorhandenen Gefühle, sondern eine Art innerer Aufgewühl-“, der Rest des Satzes ging wortwörtlich unter, als Lucifer jäh ausrutschte und mit einem Platsch im seichten Wasser der Flut landete. Nachdem sich ein Jeder wieder gerächt hatte, verbrachten sie die restlichen frühen Abendstunden damit, weiterhin sowohl die Erschaffung von Eis als auch von Feuer zu erproben und üben. Es wurde bereits dunkel und die aufziehende Schwärze der Nacht hüllte den Horizont Schritt für Schritt immer mehr in tiefsamtenes Blau, als sie später langsam nebeneinander am Strand entlang gingen. Nach einander blitzte ein Stern nach dem anderen über ihren Köpfen auf. Auriel hatte seine Schuhe ausgezogen und wanderte barfuß durch den nassen Sand, der immer wieder überschwemmt wurde, sobald das Meer seine langen Finger nach dem Land ausstreckte. Lucifer schlenderte ein wenig weiter vom Wasser entfernt dahin. Die Stille zwischen ihnen hatte nichts Feindseliges. Lucifer hing seinen eigenen Gedanken nach. Es tat ihm gut, nichts sagen zu müssen. Es tat gut, nicht denken zu müssen. Seine Wut war verraucht. Er hatte sich bei der Beschwörung des Wassers abgeregt und fühlte sich lange nicht mehr so unzufrieden wie zuvor. Vielleicht hatte Varga recht. Morgen oder noch heute würde er mit Michael sprechen. Dieses Problem musste doch zu klären sein. Schließlich wollte er nicht wirklich Streit. Ja, er würde mit ihm sprechen und die Sache wäre gegessen. Er war manchmal wirklich zu stolz und stur. „Wer war die Frau heute?“, fragte Auriel auf einmal. „Wie?“ Für einen Moment sah Lucifer ein wenig irritiert drein. Kopfschüttelnd versuchte er, sich aus seinen eigenen Gedanken zu befreien und erinnerte sich anschließend daran, dass Varga ihn fast den ganzen Weg lang zum Strand begleitet hatte, um sich anschließend mit Ezekiel zu treffen. Mit einem leisen Lächeln bemitleidete er ihn ein klein wenig: Varga war heute in ausgesprochen redseliger Laune. „Wo hast du sie gesehen?“ Auriel nickte leicht mit dem Kopf in Richtung der Stadt, deren weiße Türme funkelnd im Abendlicht auf den hohen Felsen des inselgleichen, von Meer umschlossenen, Landes thronten: „Ich habe euch auf den Felsen oben gesehen.“ Lucifer nickte gedankenverloren. „Ihr Name ist Varga“ „Dann ist sie eine von euch.“ Lucifer lachte. „Sind wir für dich eine eigene Art? Uns Erzengel unterscheid nichts von den anderen Engeln.“ „Doch“, widersprach Auriel, blieb stehen und hob eine rosa glänzende Muschel aus dem Sand, „ihr führt uns und gehört zu den Mächtigsten unter uns.“ „Aber das ist doch Unsinn – sieh doch nur Dratwar an. Dem macht so schnell keiner Konkurrenz, niemand beherrscht Licht- oder Schattenmagie besser als er.“, wehrte Lucifer ernst ab. „Gabriel ist ein Meister der Lichtmagie und er ist der Jüngste von euch.“, gab Auriel trotzdem zu bedenken. „Jaah, aber Dratwar steht dennoch über ihm.“ „Er war sein bester Schüler...“ „Richtig aber was ich sagen will ist, dass wir nicht mehr sind als...“ „...ihr?“ Ein wissendes Lächeln stahl sich auf Auriels Lippen. Ertappt zog Lucifer die Schultern hoch. „Du sagst es selbst“, stellte Auriel fest und ging in die Knie, um die Muschel im Wasser von Sandkörnern zu befreien, „Du verwendest das Wort „wir“ und „ihr“ “ Lucifer protestierte: „Ich habe es noch gar nicht gesagt-.“ „Aber du wolltest es“, unterbrach Auriel ihn noch immer lächelnd und hielt die nun sauber und matt glänzende Muschel hoch. Seufzend gab sich Lucifer geschlagen. „Gut, du hast Recht. Aber ich sage es aus dem Wissen heraus, dass wir als Rat eine Einheit bilden.“ Auriel antwortete nicht, als er sich aufrichtete, aber sein alles in Frage stellendes Lächeln blieb. Stattdessen schritt er leichtfüßig weiter ins Meer hinaus, ohne darauf zu achten, dass seine Kleidung nass wurde. Hinter ihm, zurückgeblieben auf dem Trockenen verschränkte Lucifer die Arme. „Du glaubst wohl, dass du alles durchschaust, was?“ Auriel lachte und ging noch weiter hinaus, bis ihm das Wasser bis über die Knie reichte. „Vielleicht.“, rief er ihm zu und ließ sich die silbernen Haare ins Gesicht blasen. Halb verärgert, halb belustigt fragte sich Lucifer hinter ihm, ob er ihm nachgehen sollte. Das letzte bisschen Licht der Sonne verschwand nun entgültig, als sie vollends über den Rand der Welt hinabrutschte und nichts als einen violetten Horizont zurückließ. Mit einer ungewohnten Ruhe sah er ihr dabei zu und ließ seine Gedanken wieder abdriften. „Wenn du tun könntest was du wolltest... was wäre es?“, fragte er schließlich in die Stille der erblühenden Nacht hinein. Es war eine sinnlose, vielleicht kindische Frage, das wusste er, doch das störte Lucifer nicht. Irgendwie hatte er sie stellen wollen. Vielleicht hatte man manchmal das Bedürfnis nach sinnlosen Fragen und er war gespannt auf Auriels Antwort. Falls er denn eine geben würde. Ein Augenblick nach dem anderen verging. Dann breitete Auriel die Arme aus und ließ den salzigen, angenehm kühlen Seewind durch seine weiten Ärmel wehen. Er hatte die Augen geschlossen und schien zu überlegen. Mit einem Mal lächelte er wieder leicht und sagte: „Ich würde reisen. Weiter, immer weiter, so fern wie möglich, bis ans Ende dieser Welt. Und dann bis ans Ende der nächsten Welt. Immer so fort. Ich würde an Orte gehen, die noch nie jemand betreten hat. Dinge sehen, die noch nie ein Auge zuvor erblickt hat. Und noch weiter, immer weiter.“ Diese Antwort erstaunte Lucifer. Er war es nicht gewohnt, soviel auf einmal von Auriel zu hören, es sei denn, er machte sich über ihn lustig. Aber die Antwort schien ihm die Rechte zu sein. „Und du?“, sagte Auriel weiterhin mit geschlossenen Augen und wehenden Haaren. Ein leises Platschen ertönte, als Lucifer durch das Wasser ging und sich neben ihn stellte. Der Wind ließ auch seine beinahe bodenlangen nachtschwarzen Haare fliegen. „Ich glaube ich würde das gleiche wollen. Endlos zu reisen scheint mir ein schöner Traum zu sein.“ Beim Zurückgehen musste Lucifer dauerhaft eine kleine Feuerkugel auf seiner Hand knistern lassen, um den steinigen Rückweg über die Felsen zu erklimmen. Der Himmel hatte sich vollends verdunkelt und dicke Wolken verhüllten das Antlitz der Sterne wie Rauchschwaden Von der Ferne rollte leises Donnergrollen heran. Der Rückweg war steiler und beschwerlicher als das Herkommen. Fliegen wollte Lucifer nicht, er befürchtete, dass es bald zu regnen beginnen würde. Nasse Federn und Flügel konnten ihnen gefährlich werden, wenn sie sich hoch oben in den Lüften befanden. In der klammernden Dunkelheit leuchtete ihnen das Feuer wie ein Wegweiser, denn auch die scharfen Augen der Engel mussten sich schließlich der Schwärze beugen. Trotz des herannahenden Gewitters war Lucifer froh und leicht zumute. Es hatte ihm gut getan, sich bei Auriel aussprechen zu können, ohne wie bei Varga oder Ezekiel strenge Worte zu erwarten. Nun hatte er neue Zuversicht und fest vor, später sofort noch mit Michael zu sprechen. Nachdem er einen besonders steilen Felsen erklommen hatte, drehte er sich um und hielt Auriel seine Hand hin. Dieser sah nur kurz auf, bevor ein bekannter spöttischer Zug in seinem Gesicht auftauchte. „Pass auf.“ „Wieso denn?“ Jäh prasselten tausende Regentropfen auf sie nieder. Auriel hatte sich gerade noch unter einen niedrigen Strauch flüchten können, als der Himmel sich öffnete und offensichtlich beschlossen hatte, seine gewaltigen Wassermassen nur auf sie beide herabzulassen. Im Nu flüchtete Lucifer patschnass ebenfalls unter den Strauch, auf dessen Blätter die Tropfen unaufhörlich hämmerten und blieb dort sitzen, während sich Auriel diebisch über die kurze Dusche, die Lucifer abbekommen hatte, freute. Glücklicherweise dauerte der sintflutartige Regen nur kurz an und hörte ebenso schnell wieder auf, wie er gekommen war. Verärgert kroch Lucifer unter dem Strauch hervor und schüttelte sich wie ein Hund. „Nein, wie lieblich siehst du jetzt aus“, ertönte es heiter hinter ihm und Auriel kletterte ihm nach und amüsierte sich noch immer köstlich. „Ja ja, ist ja wieder gut!“, maulte Lucifer und stierte finster auf seine nassen Kleider. „Einfach goldig.“, flötete Auriel, „und diese sorgsam zerzausten Haare.“ „Ach, halt die Klappe.“ „Nein, was sind wir wieder freundlich.“ „Ich meine es ernst.“ „Wie schade, dass ich mir davon kein Bild machen kann – warte, würdest du kurz so bleiben? Ich hole schnell meine Malsachen und werde-„ „Schnauze!“, schimpfte Lucifer und stapfte den Rest des Hanges hoch. Frohlockend hüpfte Auriel ihm hinterher, offensichtlich überglücklich darüber, ihn wieder aufziehen und auf die Palme bringen zu können, und begutachtete schadenfroh Lucifers Erscheinung. Der sah schlichtweg aus, als wäre er geradewegs aus dem Meer gefischt worden. „Wie eine Wasserleiche!“ „Was für ein Vergleich.“, meinte Lucifer trocken und fing an, weiter den rutschigen Hang hinaufzuklettern. „Und fast genauso hässlich.“ Empört warf ihm Lucifer einen beleidigten Blick zu. „Jetzt reicht es aber!“ „Na gut du hast recht“, gab Auriel ernst nach und sah ganz zerknirscht drein, „Ich will keine Wasserleichen beleidigen.“ Kurz darauf musste er sich ducken, um einem fliegenden Erdklumpen zu entgehen. „Als ob du schon einmal eine Wasserleiche gesehen hättest, du Grünschnabel“, grummelte Lucifer und musste erbost sehen, dass sein Angriff missglückte. „Natürlich, ich war ja nicht im Krieg dabei, mein Herr Feldmarschall.“ „Herr General, wenn ich bitten darf!“ „Na schön, mein Herr General von Wüterich, wie wäre es denn, wenn wir unser Gemüt wieder beruhigen-„ „Du hast angefangen!“ „- und uns nicht weiter wie ein rasender Ziegenbock benehmen.“ „Schon wieder!“ „Was denn?“ „Spiel nicht den Unschuldigen!“ „Ich weiß wirklich nicht, wovon ihr sprecht, eure Empfindlichkeit...“ „Das reicht! Geh doch alleine zurück.“ „Tz tz... wie man sich nur so aufregen kann“ „Du regst mich auf!“ „Aber mit Nichten.“ „Ooh doch!“ „Tz tz.“ „Da, schon wieder!“ „Das nennt man auch Wahnvorstellungen.“ „Das halt ich ja im Kopf nicht aus!“ „Oh, sei nicht traurig, irgendwann werden wir ein neues Gehirn für dich finden, da bin ich mir sicher.“ „Noch ein Wort und...“ Sich unaufhörlich kabbelnd und leicht keuchend kamen sie vor den großen beeindruckenden Toren der Stadt an. Selbst in der Finsternis schien ein beruhigendes Glimmen von ihnen auszugehen, das den Namen der Stadt des Lichtes rechtfertigte. Brodelnd strich Lucifer mit den Fingern über den seltsam warmen Marmor, während er still nach ein paar besonders starken Kraftausdrücken suchte, und sah mit dunklem Blick zu, wie sich die hohen Tore langsam für sie öffneten. Als die beiden in die im Schlaf versunkene Stadt eingetreten waren, schlossen sie sich geräuschlos erneut hinter ihnen. „Wohin gehst du jetzt eigentlich?“, fragte Lucifer mit leiser Stimme, um Auriel davon abzubringen, sich weiter frank und frei über ihn lustig zu machen. „Nach Hause“ „Und wo wohnst du?“, hakte er stirnrunzelnd nach. Er hatte ihn nie in irgendein Gebäude verschwinden sehen. „In einem Haus“ „Ach, sag bloß“, flüsterte Lucifer und ging mit Auriel bis zur rund angelegten Stadtmitte, der dort die Hand hob. „Gute Nacht“, und damit verschwand er nach links in der Dunkelheit. Kopfschüttelnd sah Lucifer ihm nach. Seltsamerweise machte sich Auriel jedes Mal in eine andere Richtung davon, sodass Lucifer meinte, er müsse entweder einen stark unterentwickelten Orientierungssinn haben oder aber Nacht für Nacht in einem anderen Haus einbrechen, um dort zu übernachten. Schlussendlich machte er sich langsamen Schrittes auf den Weg zu den vier Hallen und hoffte, Michael würde noch wach sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)