Ka-chans Prosa von KaChan ================================================================================ Kapitel 58: Blind ----------------- Der Regen fließt über sein Gesicht. Tropfen für Tropfen verfangen sich in seinem kurzen schwarzen Haar. Aus den Häusern links und rechts neben der Straße schauen alte Augenpaare. Verkniffen blicken sie auf die Straße. Widersprüche werden gemurmelt. Was fällt ihm ein? Doch die Wände sind dick. Er hört sie nicht. Er weiß, sie sind da. Doch es ist egal. Der warme Regen tut gut. Der Asphalt unter seinem Rücken zwingt ihn, endlich gerade zu liegen. Die kleinen Kieselsteine zwischen seinen Fingern, die er von der Straße geklaubt hat… er kann sie fühlen. Er riecht den beginnenden Frühling, schmeckt den Regen… …Das ist Glück. „Haben Sie das auch gesehen?“, raunte eine gesetzte Dame über den Zaun ihrer Nachbarin zu. „Nein“, entgegnete diese. „Damals war ich gerade beim Arzt. Als es geschehen ist. Ich habe erst durch die Polizisten davon erfahren.“ „Tragisch, tragisch“, entgegnete die eine erneut. „Wobei er ja selbst schuld hatte. Was musste er auch-“ – „Pst!“, zischte die zweite Frau über den Zaun und verzog ihren faltigen Mund. Dann nickte sie in Richtung eines kleinen Hauses. Ein junges Mädchen, fünfzehn Jahre mochte sie sein, trat aus der Tür. Beide Frauen beobachteten die Kleine, als sie durch die Gartentür zu den Blumenbeeten ging, die im hinteren Teil des Grundstücks angelegt waren. Kaum, dass sie außer Sichtweite war, wendeten sie sich erneut einander zu und wisperten. Das Mädchen war nicht blind. Natürlich hatte sie die Alten gesehen. Natürlich wusste sie, worum es ging. Natürlich. Um was auch sonst? Schweigend pflückte sie ein paar schöne Blumen. „Blumen sind sehr dankbar“, hörte sie eine männliche Stimme hinter sich. „Wenn man sie pflegt, dann blühen sie und zeigen somit ihre Dankbarkeit.“ Mit geschlossenen Augen hockte sie so eine Weile da und genoss die Erinnerung an die weiche Stimme, die ihr von so vielen Abenteuern erzählt hat. Die ihr so viel beigebracht hat. An der sie so gehangen hatte. Ja, Blumen waren dankbar. Warum warst du es nicht? …. Nach einer Weile stand sie auf und verließ das Grundstück. Die alten Weiber standen noch immer und tuschelten miteinander. Das Mädchen spürte ihre Blicke, die sie zu durchbohren schienen. Einzelne Wortfetzen schlichen sich an ihr Ohr, ein kalter Schauer huschte über ihren Rücken. Dennoch zwang sie sich zu einem Lächeln. Sei nett zu älteren Menschen. Sei das liebe, nette Mädchen. Sei die, an die sie nicht herankommen. Die, an der alles abperlt. Sei es…. Für ihn. Doch dann wehte der Wind etwas an ihr Ohr, dass sie nicht hätte hören sollen. Ihr Name… Sein Name… „Man sagt, sie sollen sich zugetaner gewesen sein, als es gut für sie gewesen wäre.“ Diese Worte trafen sie durch den Rücken in ihr Herz. Sie drehte sich um, der Blumenstrauß in ihrer Hand wippte mit jedem Schritt, den sie zurückging. Sie stellte sich zu den Alten. Lächelte noch immer. Und machte den Weibern Angst. „Einen guten Tag, wünsche ich“, sprach sie mit eisigem Unterton. „Was willst du?“, keifte eine der Beiden, die sich erwischt fühlte. „Etwas klären.“ Das war alles, was das Mädchen sagte. Dann spukte sie derjenigen, die vor ihr stand, vor die Füße. Drehte sich um und ging. Als sie durch das eiserne Gittertor passierte, glaubte sie noch die Entrüstung der Weiber zu hören. Zielstrebig ging sie an den Säulen und Malen vorbei, die von so vielen verblichenen Leben kündeten. Bis zu seinem. Stumm legte sie die Blumen auf die frische Erde. Kniete sich daneben. Und konnte endlich weinen. „Hallo“, wisperte sie gegen den kalten Stein, auf dem sein Name stand. „Hallo“; zwang sie sich unter Tränen ein Lächeln abzugewinnen. „Wie geht es dir, Liebster? … Wieso antwortest du nicht? … Wie es mir geht?“, das Mädchen lachte hohl. „Nun ja, ich bin verschrien. Es kommt mir vor, als wäre ich Teil einer Hexenjagd. Ich weiß mehr als der Rest. Ich bin mehr als der Rest. Und genau deswegen will der Rest mich vernichten…“ Lange saß sie so da. Sagte nichts. Spürte, wie sich Kieselsteine in ihre Knie bohrten. Sie bemerkte nicht, dass es langsam zu regnen begann. Sie spürte nur seine Nähe… und ihren Schmerz. „Steh auf“, forderte eine sanfte Stimme von ihr. Benommen sah sie nach oben. Wie lang hockte sie nun schon hier? Wie lange stand er schon über ihr? Wie lang schon hatte er den Regenschirm über sie gehalten? Schnell wendete sie ihren Blick wieder ab. Er sollte sie nicht sehen. Niemand sollte sie sehen. „Verschwinde“, flüsterte sie. Dann räusperte er sich. „Ich war sein bester Freund. Ich werde nicht gehen… wenn er mir einen Auftrag gegeben hat.“ „Ein Auftrag?“ Noch immer blickte sie starr geradeaus. Sie hatte keinen Mut mehr. Man hatte sie in ihrer Ruhe gestört. Man hatte sie entdeckt. „Ich soll einen Brief überbringen. Seiner Schwester.“ Mehr sagte er nicht. Er zückte nur einen Briefumschlag. Den legte er neben das Mädchen. Hängt ihr seinen Regenschirm über die Schulter. Und ging. Es dauerte. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie sich der Tragweite dieser Worte bewusst wurde. Der Brief war für seine Schwester. Der Brief war für sie. … „An meine liebste Schwester. An mein Herz. An mein Leben. An dich. Paul hat dir den Brief gegeben, dessen bin ich mir sicher. Paul ist ein guter Kerl. Viel besser als ich. Merk dir diesen Satz. Ich weiß nicht, wie viel Zeit schon vergangen ist, seitdem man mich gefunden hat. Auf der Straße. Den Plan habe ich schon seit längerem. Plan… nein. Diesen Ausweg sah ich schon seit längerem. Mein Leben war kein Leben mehr. Außer Paul hatte ich niemanden mehr…. Und dich. Und gerade dir, der ich so viel verdanke, tue ich damit am meisten weh. Ich würde nie behaupten, dass es falsch war. Nie. Jede Sekunde war einzigartig, jeder Tag mit dir so wunderbar. Alles, was wir nie sagen durften, nie zeigen durften, keiner erfahren sollte. Die Spannung in der Luft. Die Liebe in deinem Blick. Bitte glaube mir, ich wollte dich nicht verlassen. Nicht flüchten. Ich wollte uns nicht verleugnen. Nur immer das Beste für dich. Nachdem ich beim Arzt war, hatte ich entschieden. Du warst noch in der Schule, als es passierte. Ich wusste, dass du es nicht miterleben würdest. Das gab mir Mut. Mein Krebs war weit vorangeschritten. Der Doc sagte, Chemo könnte helfen, doch zu 90% …. Hätte ich nur noch ein Jahr gehabt. Meine Lebensuhr war abgelaufen… vergib mir. Ich liebe dich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)