In Nottingham von -Moonshine- ================================================================================ Kapitel 22: Confrontation ------------------------- Kate zog sich gerade ihre Schuhe an und schnappte sich den Regenschirm, als Claire aus ihrem Zimmer kam. Sie sah noch sehr verschlafen aus und blinzelte, als sie Kate fertig angezogen im Flur stehen sah. "Wo willst du denn hin?" Dann warf sie einen Blick auf die runde Wanduhr. "Wir haben erst kurz vor zehn!" "Zu dieser freiwilligen Literaturvorlesung, weißt du nicht mehr?" Sie hatten vor einiger Zeit mal Flyer bekommen, in denen diese Vorlesung angekündigt wurde. Sie war für sämtlich Sprachwissenschafts-, Literatur- und Journalistikstudenten und für alle, die sich sonst noch dafür interessierten. Kate jedenfalls war interessiert, denn eine berühmte Harvard-Literaturprofessorin würde diesen Vortrag halten. Und auch Claire hatte groß rumgetönt, dass sie sicherlich auch anwesend sein würde. "Wolltest du nicht auch mit?" Claire gähnte demonstrativ und fuhr sich mit der Hand durch die ungekämmten, ungezähmten blonden Haare. Sie erweckte den Eindruck, wild und verrucht zu sein, aber ihr müder Gesichtsausdruck sprach da eine ganz andere Sprache. "Hab's mir anders überlegt. Und du willst da nur hin, um nicht zu Hause herumsitzen und nachdenken zu müssen", warf sie ihrer Freundin vor. Kate verdrehte die Augen. "Ich will da hin, weil es interessant wird." Sie wussten natürlich beide, dass Claire recht hatte, aber warum nicht etwas gegen das Trübsalblasen tun? Sich in die Arbeit stürzen war eine gute Möglichkeit, und so würde Kate ein paar ihrer Freunde aus der Uni treffen, mit denen sie sich auch gut verstand. Sophie zum Beispiel würde auch da sein und diese hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Ein bisschen Ablenkung tat ganz gut. Claire starrte sie an. "Aha." "Warte noch", murmelte Kate plötzlich, bevor Claire wieder in ihr Zimmer gehen und weiterschlafen konnte, und kramte in ihrer Jeanstasche, bis sie schließlich ein gefaltetes Blatt Papier herauszog. "Hier steht, die Vorlesung findet im Saal... MI 5.30 statt. Weißt du zufällig, wo das ist?" Claire blinzelte noch einmal. So früh nachdenken war sie nicht gewöhnt. "Ich glaub, das ist irgendwo hinten bei den Physikern. Oder den Naturwissenschaften oder so. Im fünften Stockwerk." Das war ihr keine wirklich große Hilfe gewesen, aber sie bedankte sich dennoch und steckte den Zettel wieder ein. "Bis dann", verabschiedete sie sich von Claire. "Erzähl mir nachher, wie's war", rief diese ihr nach und hob zum Abschiedgruß die Hand, um dann, entgegen Kate’s Vermutungen, ihren Weg ins Bad anzutreten. Kate hätte nie erwartet, sich in ihrer eigenen Uni zu verirren, aber genau das war jetzt eingetreten. Sie kannte die Gebäude, in denen sie täglich ein und aus ging, wie ihre eigene Westentasche, aber hier befand sie sich auf fremdem Terrain. Sie konnte nicht einmal genau sagen, wo sie war, denn sie wusste es einfach nicht! Wie Claire ihr geraten hatte, war sie zu den Physikern gegangen, aber dort, wo sie das Physikgebäude erwartet hätte, waren plötzlich Sportstudenten unterwegs gewesen. Das hatte sie erfahren, nachdem sie einen von ihnen angehalten und gefragt hatte, wo sie sich befand. Er hatte sie zwar seltsam angeguckt, aber ihr dennoch erklärt, sie wäre im Sporttrakt. Gott, wie groß konnte diese Uni denn nur sein? Nach dem reichlich merkwürdigen Blick des Sportheinis hatte sie sich nicht mehr getraut, ihn zu fragen, wo es zu den Physikern ging und ansonsten befanden sich auch nicht allzu viele Stundenten an der Uni, es waren ja Ferien. Langsam bekam sie schlechte Laune vom vielen Herumirren. Wenn das so weiterging, würde sie bestimmt zu spät kommen oder gar die ganze Vorlesung verpassen. Missgelaunt blieb sie in einem größeren Raum stehen, von dem es in zwei Hörsäle, in die verschiedenen Treppenhäuser und zu den Toiletten ging. In einer Ecke standen ein paar Bänke zum Hinsetzen. Sie hätte gerne Platz genommen, aber sie konnte es sich nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren. Hätte sie doch daran gedacht, einen Gebäudeplan auszudrucken! Erst jetzt fiel ihr ein, was sie alles hätte tun können, allerdings hatte sie den Entschluss, hierher zu kommen, direkt nach dem Aufwachen gefasst und hatte sich dann schnell fertig machen müssen. Es war mehr ein Wegrennen vor der Realität gewesen, wie immer, denn als sie die Augen aufschlug, nein, vielmehr genau zwei Sekunden danach, war ihr alles vom Vorabend wieder eingefallen und sie hätte sich am liebsten wieder unter der Decke verkrochen und nie wieder daran gedacht. Wie selig waren Schlafende doch, so unwissend und sorglos! Sie wünschte, sie könnte diese Phase ihres Lebens einfach durchschlafen und wenn sie aufwachte, wären all ihre Probleme bereits von alleine gelöst. Sie war allerdings klug genug, um sich eingestehen zu können, dass wohl jeder diesen Wunsch hatte und man seine Sorgen immer selbst in die Hand nehmen musste, anstatt davor zu fliehen. Und trotzdem tat sie gerade nichts anderes. Und sie würde wohl so lange nichts anderes tun, bis sie endlich wusste, was sie zu tun und wie sie auf das alles angemessen zu reagieren hatte. "Verdammt noch mal", fluchte sie, was sehr untypisch für sie war, und seufzte dann, was sich eher wie ein unzufriedenes Knurren anhörte. Sie trottete ein Treppchen hoch, das zum nächsten langen Gang mit irgendwelchen Stundenten, die höchstwahrscheinlich auch keine Physiker waren, und noch mehr geschlossenen Bürotüren führte. Die Raumnummern waren von MI 5.30 weit entfernt und, warum, verflixt noch mal, war hier eigentlich nirgends etwas ausgeschildert? Ihr war das vorher nie aufgefallen, aber sie wusste ja normalerweise immer auch ohne Schilder, wohin sie zu gehen hatte. Zumindest in ihrem Gebäudetrakt. Auf dem Treppchen abgekommen, blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um, um sich den Raum genauer anzusehen, nur für den Fall, dass sie im Kreis lief und hier gleich noch mal vorbeikommen würde. In diesem Moment kamen aus einem anderen Gang ein paar männliche Stundenten, die sich fröhlich unterhielten und lachten. Einer, ein schwarzhaariger Typ mit einem Pferdeschwanz in der vorderen Reihe, gestikulierte wild mit den Händen und schien eine witzige Geschichte zum besten zu geben. Sie wollte gerade zu ihnen herüber und sie nach dem Weg fragen, ganz egal, wie sie sie angucken würden, als ihr etwas - oder besser gesagt, jemand - auffiel. Ihre Blicke trafen sich genau gleichzeitig, und sie erstarrte auf den Stelle, unfähig, wegzusehen. Er schien genauso erschrocken, aber an einer hastigen Bewegung vorwärts bemerkte sie, dass er zu ihr herüberkommen wollte. Jake versuchte sich durch die Menge zu kämpfen und Kate's Herz klopfte unsagbar laut und schnell. Sie wollte weglaufen, zumindest sendete ihr Körper sämtliche Signale aus, aber wie sähe das denn aus, wenn sie jetzt einfach abhauen würde? Außerdem war sie viel zu erstarrt, um sich zu bewegen. Panik füllte ihren Kopf aus und ihr sonst so klarer Verstand setzte vollkommen aus. Oh Gott, oh Gott, war das einzige, das sie noch denken konnte, während sie gleichzeitig ihr Gehirn nach einer schnellen und einfachen Lösung durchscannte. Vergeblich. Jemand tippte ihr auf die Schulter. Als sie nicht reagierte, schob sich von hinten ein großer Typ vor sie. Er verdeckte ihr die Sicht auf Jake und beugte sich zu ihr herunter, um Kate direkt ins Gesicht zu schauen. "Hey", sagte er und lächelte sie an, da sie scheinbar gar nicht auf ihn reagierte. Kate blinzelte und schüttelte leicht den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Sie starrte den Kerl unbeteiligt an, denn ihr wollte partout nicht einfallen, wer das war. Mit den Gedanken war sie noch immer bei ihrem besten Freund, der... irgendwo da hinten war. "Hi", krächzte sie, um ihre Stimme auszuprobieren. Sie funktionierte anscheinend noch, wenn sie auch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen war. "Du bist doch Kate, oder? Ich bin Colin, weißt du noch?" Wieder blickte sie ihn an und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, aber sie kam einfach nicht drauf. "Auf der Semesterabschluss-Party", half er ihr freundlich nach. Da klingelte es. "Ach ja. Colin! Entschuldige." Sie lachte nervös, was allerdings weniger an Colin lag. "Der Freund von Lucy. Ich bin ein bisschen verwirrt." Er hob fragend eine Augenbraue. "Und anscheinend auch verirrt. Willst du auch zu dieser Vorlesung?" Sie nickte unbehaglich und war sich vollkommen dessen bewusst, dass Jake irgendwo da hinten herumlungerte und sie höchstwahrscheinlich beobachtete. Der Teil der Gruppe, den sie sehen konnte, stand gerade vor dem Aufzug und wartete darauf, dass die Türen sich endlich öffneten. Wenn Jake wollte, wäre er schon längst hier herübergekommen. Aber entweder wollte er nicht, oder Colin war tatsächlich ihre Rettung gewesen. Das gewährte ihr noch ein paar Minuten, Stunden oder Tage Aufschub, in denen sie sich weiterhin mit ihrem Problem befassen konnte. Momentan jedoch konnte sie es noch nicht. "Tja, ich auch. Ich hab mich ein bisschen verlaufen, aber jetzt weiß ich, wohin wir müssen. Kommst du mit?" Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Ganges, in den sie gerade sowieso hatte einbiegen wollen. Erleichtert stimmte Kate zu. Als er an ihr vorbeiging, erhaschte sie noch einen kurzen Blick auf Jake, der sie aus Argusaugen beobachtete. Sein Gesichtsausdruck war ernst, aber auch ein bisschen verloren, doch so richtig einschätzen konnte sie ihn nicht. Sie schaffte es nicht, ein Lächeln zustande zu bringen, nicht einmal ein klägliches, und wand schnell den Blick ab. Sollte es wirklich so weit gekommen sein, dass sie und ihr bester Freund nicht einmal mehr miteinander reden konnten? Schweigend und in ihre Gedanken versunken folgte sie Colin. "Wie kommst du eigentlich darauf, dass Lucy meine Freundin ist?", hakte er amüsiert nach. Kate zuckte mit den Schultern und versuchte, sich Colin zuliebe ein wenig zu konzentrieren. Sie erinnerte sich an diese Party, und wie Claire ihr ihn und Lucy vorgestellt hatte. Tatsächlich hatte sie nichts davon gesagt, dass die beiden zusammen waren, aber Kate hatte es automatisch angenommen. Beide waren ähnlich attraktiv und gleich und gleich gesellte sich ja bekanntlich gern. "Ist sie nicht?", fragte sie deshalb, nur der Höflichkeit halber. Colin schüttelte den Kopf. "Sie ist meine Schwester", erklärte er grinsend. "Das wird sie gar nicht freuen, zu hören, dass jemand uns für ein Pärchen gehalten hat." Kate verzog ihr Gesicht und wurde ein bisschen rot. "Oh. Das wusste ich nicht, entschuldige." "Hey, kein Problem." Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Schau, gleich sind wir da. Sie haben den Saal bei den Medizinern gebucht, weil die da meistens viel größer sind." Kate hätte sich am liebsten die Hand vor's Gesicht geschlagen. Die Raumbezeichnung MI stand für den Medizinertrakt! Sie hätte es wissen müssen, vor allem, da Jake Medizin studiert und ihr täglich etwas von seinen verschiedenen Hörsälen und Räumen vorfaselte. Allerdings hätte es ihr nichts genützt, denn sie war noch nie bei den Medizinern gewesen. Jetzt war ihr auch klar, warum sie auf Jake getroffen war. Was, in Herrgotts Namen, machte er an einem Ferientag in der Uni?! Von allen Menschen, die sie hatte treffen können, musste sie natürlich ausgerechnet ihm begegnen. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihr. Andererseits hatte Colin sie vor Schlimmerem bewahrt, also hatte sie noch mal Glück im Unglück gehabt. Als sie in den Hörsaal kamen, war es schon brechend voll, doch Colin’s Freunde hatten ein paar Plätze reserviert, also musste sie weder auf der äußerst unbequemen Treppe sitzen, noch stundenlang herumstehen. Sie war zwar noch immer nicht ganz über die Begegnung mit Jake eben hinweg, aber hier fühlte sie sich seltsam sicher und konnte endlich entspannen. Vielleicht konnte sie Colin zu ihrem persönlichen Bodyguard machen, ging ihr durch den Kopf, doch dann musste sie grinsen, als ihr bewusst wurde, was sie da eben gedacht hatte. "Danke", sagte sie zu ihm und meinte es wirklich ehrlich. Und sie bedankte sich nicht nur dafür, dass er sie hierher begleitet hatte, aber das wusste er natürlich nicht. Colin lächelte, aber bevor er etwas sagen konnte, fing die Vorlesung schon an. Nach einem so katastrophalen Start in den Tag hätte man erwarten können, dass es nur besser werden konnte. Und so entspannte sich Kate auch, sich wissend in der Sicherheit einer für Jake vollkommen uninteressanter Vorlesung über neuzeitige Literatur und deren Zusammenspiel mit den modernen Medien und eines überfüllten Hörsaals, in dem er sie sicherlich nicht würde ausfindig machen können. Und wenn doch, würde er es nie und nimmer schaffen, bis zu ihr vorzudringen. Sie lehnte sich zurück und nach wenigen Minuten war sie voll und ganz in den Stoff der Vorlesung vertieft, die wirklich sehr interessant war. Außerdem sprang für den Besuch dieser Lesung noch ein Credit Point heraus, den man an irgendeinen anderen Kurs dranhängen konnte. Schon allein dafür lohnte es sich, hier zwei Stunden zu sitzen und zuzuhören. Kate spinkste heimlich neben sich. Colin hatte seine Kinn in die Hand gestützt und hörte interessiert zu, machte sich jedoch keine Notizen, obwohl sein Block und sein Stift bereit auf dem ausklappbaren Tischchen lagen. Neben ihm auf der anderen Seite saßen seine Freunde, etwas weiter weg Lucy. Erst jetzt erkannte Kate die Ähnlichkeit zwischen den beiden Geschwistern und stellte zudem noch fest, dass sie womöglich sogar Zwillinge sein könnten. Zumindest schienen sie denselben Freundeskreis zu haben. Unwillkürlich überlegte sie, ob sie es gut fände, mit einer ihrer Schwestern dieselben Freunde teilen zu müssen, aber wegen dem großen Altersunterschied zu Judy und der riesigen Kluft zwischen ihr und Liz konnte sie sich das einfach nicht vorstellen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Colin zu und musterte ihn kurz. Nun hatte sie ja die Zeit dazu. Damals, im Halbdunkel, hatte sie ihn kaum gesehen, aber nun erkannte sie seine genaue Haarfarbe: ein mittleres Blond. Die Nase lief spitz nach oben zu, seine gewellten Haare erinnerten sie ein bisschen an Dave, aber nur vom Schnitt her. Er hatte eine einfache Jeans und ein dunkelgrünes T-Shirt mit irgendeiner Aufschrift, die sie nicht sehen konnte, da Colin sich weit nach vorne gebeugt hatte. Mit schlechtem Gewissen, da sie gar nicht richtig zuhörte, richtete sie den Blick erneut auf die Dozentin und versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Gerade in diesem Moment stieß Colin ihr seinen Ellbogen in die Seite. Erschrocken zuckte sie zusammen und schaute ihn zerknirscht an, da sie schon dachte, er hätte es mitbekommen, wie genau sie ihn eben gemustert hatte. Er beugte sich näher zu ihr hin, damit er nicht so laut sprechen musste, und flüsterte: "Wir gehen nachher noch in dieses MaxFood, kennst du das?" Kate nickte. Es war Jake's Lieblings-Fast-Food-Restaurant und noch vor nicht allzu langer Zeit hatten sie sich dort regelmäßig zwischen den Kursen und manchmal nach der Uni verabredet. "Komm doch mit. Je mehr wir sind, desto lustiger wird es", schlug er vor. "Oder hast du vielleicht schon was vor?" Kate's Mund wurde trocken. Sollte sie da wirklich hin? An einen Ort voller Erinnerungen? Aber dann befand sie, dass sie sich albern benahm. Es war nur ein blödes Burgerrestaurant und aus Angst vor Jake konnte sie sich doch nicht ewig in ihren vier Wänden verkriechen. Oder auswandern, woran sie zugegebenermaßen auch schon gedacht hatte. Schließlich stimmte sie zu. Man traf schließlich nicht jeden Tag auf Leute, die so nett waren wie Colin. Das war eher die Ausnahme von der Regel. Dieser schien sich zu freuen. "Dann kannst du ein wenig von Claire erzählen. Ich hab sie schon ewig nicht mehr gesehen, geschweige denn gehört. Wo treibst sie sich rum?" Mit mir in der Weltgeschichte, dachte Kate mit schlechtem Gewissen. Doch Colin erwartete gar keine Antwort, sondern widmete sich wieder dem Vortrag und Kate tat es ihm gleich. Immerhin wollte sie noch ein wenig Wissen mitnehmen, wenn sie schon hier war. Erst, als die Lesung vorbei war und an die fünfhundert Studenten aus dem Saal stürmten, konnte Kate erkennen, was auf Colin's T-Shirt aufgedruckt war. "Mädchenfußball Kimberley". Sie kannte die Kleinstadt, die nur wenige Meilen von Nottingham entfernt war, nur vom Hörensagen, war noch nie selbst dort gewesen. "Mädchenfußball?", fragte sie erstaunt und konnte sich einfach keinen Reim darauf bilden. Colin folgte ihrem Blick und nickte lächelnd. "Lucy und ich trainieren die Mädels in Kimberley. Dort fehlte bis vor kurzem noch eine Mädchenfußballmannschaft und wir haben kurzerhand die Leitung übernommen." Kate war schwer beeindruckt. "So einfach?" "Na ja, wir haben jahrelang selbst gespielt und unser Dad ist Trainer der dortigen Jungenmannschaft, also ja, so einfach", lachte er über ihre Verwirrung und erzählte dann weiter: "Die Mädels sind zwischen 11 und 16 Jahren und richtige Zicken, du würdest es nicht glauben!" Kate dachte an ihre beiden Schwestern und an ihre Kindheit zusammen mit den beiden und Danny, dem ewigen Außenseiter, weil er ein Junge ist. "Oh doch", sagte sie mit einem schiefen Lächeln, "das würde ich." Das Grüppchen um Colin und Lucy machte sich plaudernd und lachend auf den Weg nach draußen, zum MaxFood. "Spielst du auch?", fragte Colin, doch Kate schüttelte nur den Kopf. "Gar nichts?" "Nein." Sie zögerte. "Ehrlich gesagt... ich bin nicht so der Sportfan", gab sie verlegen zu, doch Colin schien das gar nicht zu stören. Er zuckte nur mit den Schultern. "Ich spiele auch nur Fußball. Lucy hingegen..." Er nickte mit dem Kopf zu seiner Schwester, die vor ihnen lief und einem anderen Mädchen gerade etwas verzweifelt händeringend zu erklären versuchte, "ist ein richtiger Sportfreak. Deshalb hat sie sich für Sport als zweites Studienfach angemeldet. Nächsten Monat soll das Auswahlverfahren stattfinden." Kate spitzte die Ohren. "Was muss man da machen?" Colin zuckte wieder mit den Schultern. "Sport halt. Keine Ahnung. Rumlaufen, Saltos machen, Tennis spielen, Teamfähigkeit und all das Zeug, nehme ich an." Er wusste es also wirklich nicht und Kate musste sich ein Lachen verkneifen. Doch dann erinnerte sie sich wieder daran, dass es in ihrer momentanen Lage gar nichts zu lachen gab, also wurde sie wieder ernst und schaute sich mit einem mulmigen Gefühl um. Ob Jake irgendwo in der Nähe war? Er war. Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein dürfen, aber sie war es trotzdem, als sie ihn mit Dave, Rachel und ein paar anderen im MaxFood sitzen sah. Während sich die anderen allerdings unterhielten, sah Jake eher nachdenklich aus und beteiligte sich nicht am Gespräch. Kate überlegte sich gerade eine Ausrede, um schnell zu verschwinden, doch da hatte Jake sie schon durch das Fenster erblickt und war, noch bevor Colin und Co. das Café betreten hatten, aufgestanden und eilte auf sie zu. Für einen kurzen Augenblick erstarrte sie, so wie vorhin, aber es dauerte nur einen Moment, bis sie sich schnell wieder sammelte. Hier war sie in Gesellschaft und durfte und konnte nicht so einfach die Kontrolle über sich verlieren. Sie würde Jake höflich darauf hinweisen, dass... ja, worauf eigentlich? Dass sie nicht mit ihm sprechen wollte? Dass sie keine Lust mehr auf seine Kindereien hatte? Auf ihn? Noch während sie überlegte, war er bei ihr und sah sie bittend an. Red mit mir, sagten seine flehenden Augen, und sie schaute schnell weg, weil sie nicht mit ihm reden wollte. "Geht schon mal rein", erklärte sie Colin, der erst Jake und dann Kate neugierig musterte. "Ich komme sofort." Er nickte und folgte den anderen, nicht, ohne einen letzten, neugierigen Blick auf Jake zu werden. Zu ihrem großen Ärger nahmen sie direkt am Tisch neben Jake's Freunden Platz. Kate seufzte und widmete sich dem Unvermeidlichen. "Was ist, Jake?" Das klang viel unfreundlicher, als sie geplant hatte. Irgendwie genervt und resigniert gleichzeitig. Noch immer vermied sie es, ihn direkt anzusehen. Der Junge war sichtlich verwirrt. "Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht mehr, was mit euch los ist", beharrte er naiv und sie verdrehte sie Augen. Entweder er hatte es noch immer nicht mitgekriegt, oder er tat nur so. Sie jedenfalls würde den Teufel tun und ihm die ganze Wahrheit Stück für Stück auseinander nehmen. "Du redest nicht mehr mit mir, du fährst weg, ohne was zu sagen. Und Claire...", fuhr er fort, hielt aber inne und sah sie besorgt an. "Dabei hab ich nichts gemacht!" Die Wut kochte in Kate hoch und sie musste sich sehr beherrschen, um nicht laut zu werden. Normalerweise wurde sie nicht so schnell wütend, aber ihre Gefühle hatten sie schon so zum Äußersten getrieben, dass sie es nicht mehr zurückhalten könnte, wenn alle sofort überbrodelte. "Stimmt", erwiderte sie sarkastisch, "du hast nichts gemacht. Warum gehst du nicht zurück zu deiner Freundin und machst weiter einfach nichts", giftete sie ihn unwillkürlich an. Den Teil mit der Freundin hatte sie in ihre kleine Rede nicht eingeplant gehabt, aber nun war es ihr doch rausgerutscht und sie wusste, dass sie weder das, noch den eifersüchtigen Unterton nicht wieder zurücknehmen konnte, so sehr sie sich das auch wünschte. Jake schüttelte irritiert den Kopf. "Freundin?", plapperte er ratlos nach. Kate schnaubte. "Vergiss es, Jake." "Meinst du etwa Rachel?", beharrte er. "Geht es etwa darum? Du musst doch nicht... sauer sein, wegen dem Frühstück", flehte er. "Oder stimmt es, wa-" Er verstummte abrupt. "Was?" Nun war es an Kate, verwirrt zu sein. Was für ein Frühstück? Doch dann fiel es ihr wieder ein und sie hätte fast laut aufgelacht. Er dachte, sie wäre wegen dem Frühstück sauer! Das gab's doch nicht! Jake schien total aus dem Konzept gebracht. "Erst sagst du, ich soll mich an sie ranmachen, dann bist du sauer deswegen", warf er ihr vor und zum ersten Mal seit... wahrscheinlich seit immer sah sie ihn wütend und irgendwie auch verzweifelt. Der Arme hatte absolut keine Ahnung, was vor sich ging und versuchte nur, die Informationshäppchen, die ihm hin und wieder zugeworfen wurden, wie Brotkrummen einer Taube, zusammenzupuzzeln. Doch leider war sie selbst viel zu zornig, um Mitleid mit ihm zu empfinden. "Was soll ich denn dann tun?!", fragte er aufgebracht. "Deinen eigenen Kopf benutzen. Wozu hast du denn einen?!" Er starrte sie schweigend an, und sie ihn. Zu ihrer großen Überraschung fing Jake plötzlich an zu grinsen, und sie, sich ein wenig auf den Arm genommen fühlend, verstand plötzlich überhaupt nichts mehr. "Was ist so lustig?", fragte sie irritiert. Jake's Grinsen wurde noch breiter, was Kate sehr unpassend fand in einer Situation wie dieser. "Jetzt bist du endlich wieder die Alte", erklärte er und schien seltsamerweise erleichtert zu sein, obwohl sie ihn doch eben noch angegriffen hatte. Kate verstand nicht. "Was?" Doch statt einer Erklärung schüttelte Jake nur den Kopf und lächelte, beinahe schon selig. "Ich hab das vermisst. Du warst in letzter Zeit nicht mehr du selbst." Das verschlug ihr die Sprache und sie beschränkte sich darauf, ihn einfach nur fassungslos anzuschauen. "Du weißt schon... du warst so komisch?", versuchte er ihr auf die Sprünge zu helfen, doch es klang vielmehr nach einer Frage, als nach einer Aussage. "Jake." Kate's Stimme klang selbst in ihren Ohren irgendwie hohl und tonlos. Doch irgendwo tief in ihr drin fing die Hoffnung an zu keimen. "Ja?" "Erinnerst du dich eigentlich noch an Dave's Geburtstagsfeier?" "Deine Brille ist kaputt gegangen", warf er hilfreich ein. Nicht kaputt gegangen, korrigierte Kate ihn in Gedanken, kaputt gemacht worden. "Danach", sagte sie und blickte ihn auffordernd an. "Was war danach?" Sie wusste nicht, warum sie das von ihm wissen wollte, aber irgendetwas hatte Klick gemacht in ihrem Kopf und sie hatte das Gefühl, sie müsste dringend erfahren, was damals in seinem Schädel vorgegangen war. Jake überlegte. "Wir sind nach Hause gegangen?", probierte er es. Sie nickte. "Ja. Danach." Er war ratlos. "Ähh." Der Hoffnungskeim erstarb wieder. "Vergiss es." Kate gab auf. Dann warf sie einen Blick durch das Fenster und betrachtete Colin und seine Freunde, die an ihrem Tisch saßen und sich weiterhin unterhielten. Jake folgte ihrem Blick. "Wer ist das?", wollte er wissen und musterte einen nach dem anderen. "Kennst du die?" "Das ist Colin." Kate deutete mit dem Kopf in seine Richtung. Irgendetwas juckte sie gerade in den Fingern und sie konnte sich auch die nächste Bemerkung nicht verkneifen. "Er trainiert eine Mädchenfußballmannschaft. Ziemlich cool, nicht?" Sie klang gemein. Furchtbar gemein. Jake betrachtete sie von der Seite. "Seit wann interessierst du dich für Fußball?", fragte er misstrauisch. Sie schwieg, anstatt ihm zu antworten, und machte dann auf dem Absatz kehrt. Sie konnte da nicht reingehen, denn so würde sie Jake noch die ganze Zeit an der Backe haben. Und außerdem war sie nicht scharf auf Rachel als Sitznachbarin, die sie mit unfreundlichen Blicken und schikanierenden Kommentaren beglücken würde. Zu Hause, bei Claire, war sie wenigstens vor ihm und seiner schmerzlichen Ahnungslosigkeit sicher. Und natürlich auch vor Rachel. Jake lief einige Schritte neben ihr her. "Wollen wir am Sonntag ins Ki-" "Nein", unterbrach sie ihn bestimmt und beließ es bei ihrer knappen Absage. "Warum nicht?", fragte er enttäuscht und auch ein wenig beleidigt. Wahrscheinlich hatte er bereits angenommen, alles wäre in bester Ordnung, aber so leicht wollte sie es ihm bestimmt nicht machen. "Weil..." Sie hielt inne und überlegte. "Weil ich keine Zeit habe." "Das ist doch gelogen", widersprach er ihr empört und schlussfolgerte dann ganz Miss Marple-like: "Also bist du immer noch sauer." "Ich bin nicht sauer", erklärte Kate ganz ruhig und ging langsam weiter, obwohl es mittlerweile wieder in ihr brodelte. Wegen Jake's Ahnungslosigkeit, wegen seiner Hartnäckigkeit, weil er ihr überall über den Weg lief, weil er sie geküsst hatte und sich nicht mehr daran erinnern konnte, einfach wegen allem. Er überhörte das. "Was hab ich denn getan?", nörgelte er wieder, ganz das Kind im Manne, und stellte sich ihr in entschlossen in den Weg, das Gesicht verzogen zu einer unzufriedenen, frustrierten Maske. Es tropfte, aber das Fass war ohnehin schon voll. "Wie wär's mit... du bist ein ahnungsloser, gefühlloser Vollidiot, der seine beste Freundin küsst und eine Woche später mit einer Giftspritze ins Bett springt?!", fauchte sie erbost, angestachelt von ihrem Zorn. "Ist das schlimm genug, oder brauchst du noch mehr?!" Jake's Kinnlade klappte nach unten und er wich erschrocken einen Schritt zurück. Diese Gelegenheit nutzte sie, um an ihm vorbeizuhasten, zur nächsten Straßenbahn, die gerade um die Ecke bog. Perfektes Timing. In der Bahn presste sie keuchend ihre Faust an das schmerzende, pochende Herz, schloss die Augen, als würde das Sonnenlicht nur Qualen verursachen und stöhnte innerlich auf. Was hatte sie nur getan? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)