Das Blut der Lasair von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 112: Verlorene Zukunft ------------------------------ Verlorene Zukunft Als Catherine die Eingangshalle durchquerte, wurde es beinahe schlagartig dunkel, doch aus dem Salon schien warmes Licht, weshalb sie dorthin schlenderte. Sie öffnete die Tür und steckte erst den Kopf hindurch. Sie konnte hören, dass ein Feuer im Kamin prasselte, weshalb sie ganz eintrat, damit sie aus dem Fenster sehen konnte, ob es Winter war und vielleicht sogar Schnee lag. Bevor sie zum Fenster gelangte, blieb sie jedoch wie angewurzelt stehen. Ihr Blick haftete auf einem jungen Mann, der auf dem Sofa saß und mehrere Papiere um sich herum ausgebreitet hatte, die er scheinbar durcharbeiten musste. Catherine kannte ihn nicht, doch sie konnte auch nicht länger darüber nachdenken, denn neben ihm stand ein Stubenwagen mit hellblauem Bezug und Himmel, aus dem ein leises Schmatzen kam, der ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Mann hob den Blick und lächelte kopfschüttelnd. Catherine wusste: dies war ihr Kind und dies war ihr Mann… Sie fühlte es sogar. Die Tür öffnete sich erneut und Catherine trat ein. Nein, eine Catherine, die ohne die Bruderschaft eine eigene Familie gehabt hätte. Sie war älter, doch ihre Bewegungen glichen ihren, waren grazil und geschmeidig, als sie in ihrer eleganten Kleidung zu ihrem Mann trat. Sie wollte ausgehen… Catherine warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie wahrscheinlich schon zurück war, denn es war bereits nach 23 Uhr. Lächelnd beugte sich die ältere Catherine zu ihrem Mann und küsste ihn auf die Wange, um ihn zu begrüßen. „Wie war sie?“ fragte sie und blickte zum Stubenwagen. „Ruhig. Ein kleiner Engel.“ meinte er, worauf sie strahlend nickte, und blickte ihr nach, wie sie zum Stubenwagen ging, um nach der gemeinsamen Tochter zu sehen. „Wie war dein Abend?“ fragte er leise und erhob sich. „Das Ballett war wundervoll. Du hättest es sehen sollen, Nicolas.“ schwärmte sie und blickte ihn an. Er legte ihr den Arm um die Hüften und zog sie vorsichtig zu sich, um sie zu küssen, was sie gerne erwiderte, bis sie sich langsam von ihm löste und Julie vorsichtig aus dem Stubenwagen nahm, damit sie sie nach oben in ihr richtiges Bettchen bringen konnte. Catherine sah ihnen nach und wurde traurig, als sie aus dem Salon verschwanden. War das tatsächlich sie? Verheiratet? Mutter? Sie konnte es nicht glauben, und sie wusste auch, dass es niemals geschehen würde. Zum einen war diese Zukunft war zerstört, als die Bruderschaft sie gefordert hatte. Zum anderen würde sie in absehbarer Zeit sterben. ‚Wie lange hätte ich gelebt?’ fragte sie in Gedanken und vertraute darauf, dass ihre Gesprächspartnerin immer noch bei ihr war. ‚Lange. Du wärst in hohem Alter im Schlaf gestorben.’ ‚Das ist schön.’ seufzte sie und blickte sich im Salon um, der sich kaum verändert hatte, doch es hätte auch nicht zu dem Raum gepasst, viel an ihm zu verändern. Weshalb war sie hier? Was sollte das? Traum. Tod. Unterbewusstsein. Sie wusste nicht, warum sie hier war, was es nützte, wenn sie ihre Zukunft kannte, die sie nie hätte haben können. ‚Es nützt nichts, doch du wolltest es wissen.’ Ja, sicher, das wollte sie. Catherine nickte, doch hatte die Frage auch nicht an die Unsichtbare gestellt, sondern an sich. ‚Wenn ich nicht tot bin… Warum bin ich hier?’ fragte Catherine und wartete auf eine Antwort. ‚Das musst du selbst herausfinden. Ich bin nur hier, um dir zu helfen.’ entgegnete die Unsichtbare. ‚Wobei sollst du mir helfen?’ ‚Ich soll dir helfen zu verstehen.’ erklärte die Unsichtbare und Catherine ging aus dem Salon. Ihre Schritte hallten nicht auf dem Boden. Es war, als sei sie nicht da. Sie existierte nicht in dieser Version der Zukunft. Catherine fand es seltsam, dass sie Türen öffnen und Dinge berühren konnte, wenn sie doch nicht hier war und nicht wahrgenommen wurde. ‚Sie sehen nicht, wenn du eine Tür öffnest oder etwas in die Hand nimmst. Du kannst nicht eingreifen. Du kannst zusehen.’ erklärte die Unsichtbare und Catherine trat in die Bibliothek. Was sollte sie verstehen? Was denn? Ziellos schlenderte sie den Mittelgang entlang und sah sich um. Buch reihte sich immer noch an Buch. Die Regale waren übervoll, doch Catherine entging nicht, dass bestimmte Bücher verschwunden waren. Die alten. Die mit dem Inhalt, der in einer normalen Bibliothek nichts zu suchen hatte. Diese Bücher hatten in dieser Zukunft eines normalen Lebens keinen Platz. Der runde Tisch war ebenfalls verschwunden und Catherine lächelte, als sie daran dachte, dass sie darum Platz genommen hatten wie die Ritter der Tafelrunde. Langsam schüttelte sie den Kopf, als sie an all das dachte, was sie gemeinsam herausgefunden hatten, was sie für Zeit in die Recherche investiert hatten – nur um letzten Endes doch nicht siegen zu können. ‚Sieg und Niederlage haben verschiedene Gesichter und doch gleichen sie sich manchmal sehr.’ meldete sich die Stimme wieder zu Wort. ‚Sollte ich den Tod fürchten?’ ‚Nein.’ entgegnete die Unsichtbare und fuhr fort: ‚Dennoch spüre ich, dass du Angst hast.’ ‚Ja.’ gab Catherine zu und überlegte, woran das lag. ‚Werde ich mich an mein Leben erinnern?’ ‚Du wirst dich an dein Leben erinnern, doch du wirst mehr haben als das. Du wirst verstehen.’ ‚Verstehen. Wieder verstehen. Ich dachte, ich müsse jetzt verstehen… Werde ich jetzt sterben? Ist es das?’ entgegnete Catherine, doch die Unsichtbare antwortete nicht. Catherine überlegte, was sie verstehen würde, wenn sie tot war. Welches Wissen würde ihr offenbart werden? Würde sie das Leben an und für sich verstehen? Oder nur ihr Leben? Vielleicht würde alles restlos klar werden… wie spiegelndes Glas oder wie ruhiges Wasser. Wenn ihr alles klar wurde, dann auch ihr Tod. ‚Möchtest du mehr von deiner Zukunft sehen?“ fragte die Unsichtbare nach einer Weile, in der Catherine nichts gesagt hatte. ‚Nein.’ ‚Wieso nicht?’ ‚Es ist nicht meine Zukunft, die du mir gezeigt hast.’ erklärte Catherine und schloss die Augen. ‚Ich werde keinen Mann und keine Tochter haben. Ich werde nicht das Glück der Unwissenheit genießen. Ich werde nicht in hohem Alter sterben.’ fuhr sie fort und öffnete die Augen wieder. ‚Ich bin nicht sie und ich werde niemals sie sein.’ ‚Ist es zu viel für dich, etwas zu sehen, was du nicht haben kannst?’ fragte die Unsichtbare und Catherine lief ein Schauer über den Rücken. ‚Ist das der Grund, warum du hier bist? Willst du, dass ich leide, Schmerzen empfinde und unsicher werde? Erfreust du dich an meinem Kummer?’ fragte Catherine und wich einige Schritte zurück, obwohl das sinnlos war, denn die andere war nicht sichtbar und somit auch nicht auf einen Ort beschränkt. ‚Ich bin hier, damit du verstehst.’ wiederholte sie und Catherine schüttelte den Kopf und blieb einen Augenblick stumm, ehe sie, während sie die Bibliothek verließ, erklärte: ‚Die Zukunft, die du mir gezeigt hast, ist eine Illusion und nicht die Wahrheit. Sie existiert genauso wenig wie die andere Catherine.’ Ja, das stimmte. Sie selbst und die andere Catherine waren nicht dieselbe Person, obwohl sie dieselben Eltern, dasselbe Aussehen, dieselbe Kindheit hatten. Ihr Wissen unterschied sie. Ihre Erfahrungen unterschied sie. ‚Bedauerst du das? Willst du sie sein? ‚Nein.’ antwortete Catherine fest. ‚Nein, ich will nicht sie sein. Ich will ihre Zukunft nicht sehen und auch nicht leben. Ich will ihr Leben nicht leben.’ versicherte sie und murmelte: ‚Dreimal sieben. Indem die Bruderschaft mich in den Dienst genommen hat, war ihre Zukunft für mich nicht mehr zu erwarten. Es begann alles damals – damals und vor noch längerer Zeit. Und nun weiß ich und das ist unwiderruflich. Mein Wissen hat mein Leben und mein Denken verändert und meine Handlungen bestimmt.’ Catherine fiel in ein kurzes Schweigen und wartete, ob die Unsichtbare etwas sagen wollte, doch sie blieb stumm, weshalb sie selbst fortfuhr: ‚Ich kann vieles über mein Leben sagen, aber ich kann mich nicht beklagen. Ich habe Glück erfahren, das ich umso mehr schätze, weil ich auch Leid und Kummer kenne. Ich habe Treue und Loyalität gesehen, was mir so viel bedeutet, da ich auch Verrat erlebt habe. Ich habe Verantwortung übernehmen können und mich selbst geborgen, geschützt und geliebt gefühlt. Das ist mehr als Menschen für gewöhnlich erfahren dürfen. Ich bin dankbar dafür.’ ‚Du bist zufrieden mit deinem Leben… wie es sich entwickelt hat?’ ‚Ich würde die Monate mit Lestat nicht gegen Jahrzehnte mit einem Mann und einer Tochter eintauschen. Ich würde die wenigen Freunde, die ich in diesen letzten Monaten gefunden habe, nicht gegen viele andere eintauschen. Ich würde mich selbst nicht gegen diese andere Catherine eintauschen.’ erklärte Catherine und fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. ‚Ja, ich kann wirklich vieles über mein Leben sagen, aber ich bereue nichts und ich bedauere mich nicht, dass es nun zu Ende sein soll.’ ‚Du weinst.’ stellte die Unsichtbare fest. ‚Es schmerzt mich, mein Leben loszulassen.’ gestand sie und dachte an Lestat, was ihr beinahe das Herz brach. ‚Du wirst dich von ihnen verabschieden können.’ versicherte die Unsichtbare, deren Stimme plötzlich etwas anders klang, wie Catherine erstaunt zur Kenntnis nahm, und in kurzes Schweigen fiel. ‚Ich habe deine Stimme schon einmal gehört.’ meinte sie schließlich. ‚Du hast schon einmal mit mir gesprochen, nicht wahr?’ ‚Ich musste dir die Richtung zeigen, in die du gehen solltest…’ meinte die Unsichtbare, doch Catherine zog eine Augenbraue hoch, da sie sich nicht erinnern konnte, ob ihr die Worte der Stimme, die sie damals auf Thirlestane Castle gehört hatte, wirklich viel geholfen hatten. ‚… und dabei habe ich dir mehr geholfen, als du annimmst.’ ‚Bist du Margaret Barcley?’ fragte Catherine, obwohl sie sich die Antwort denken konnte. ‚Ja, und wie du wollte ich damals einfach nur etwas mehr Zeit…’ meinte sie und Catherine wollte etwas erwidern, doch sie ließ sie nicht. ‚Nein, gib’ zu, dass du dir Zeit gewünscht hast, und lass’ mich nicht schwächer scheinen als ich war.’ ‚Ja, ich habe mir Zeit gewünscht. Anscheinend ist uns beiden das nicht vergönnt.’ ‚Empfindest du Hass für mich?’ ‚Nein, natürlich nicht.’ entgegnete Catherine und sagte damit die Wahrheit, denn sie konnte weder Margaret Barcley noch Morair hassen, da sie ihre Verzweiflung und Wut nachvollziehen konnte, und selbst nicht wusste, was sie tun würde, wenn ihr Tod nicht für viele tausend Menschen das Überleben bedeutete. ‚Ich danke dir. Ich bin froh, dass du stärker warst als ich, Lasair.’ entgegnete Margaret Barcleys Stimme und Catherine fühlte, dass sie gehen würde. ‚Du wirst verstehen.’ hauchte sie noch, doch es klang wie der starke Wind, der um die Villa wehte. Catherine blickte auf und bemerkte, dass sie im verschneiten Park stand und oben im ersten Stock eine junge Frau mit braunem Haar, das einen rötlichen Schimmer besaß, das Fenster schloss und prüfend in den Park sah. Ihre Augen fielen direkt auf Catherine, weshalb sie beide heftig erschraken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)