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Zeitzirkel

ehemals "Fluch der Begierde"
von

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Erste Zeiteinheit: Auf den Schwingen der Zeit

Widmung: devilmouse21
 

Prolog
 

Der Himmel war von einem samtenen Schwarz, das nur von Tausenden und Abertausenden von Sternen durchbrochen wurde. Dennoch war die Nacht ungewöhnlich dunkel, so finster, dass sie mit der klirrenden Kälte auf die Herzen der Menschen zu drücken schien, welche sich in der Siedlung niedergelassen hatten: Es war Neumond.

Seine Hände zitterten vor Anspannung, als er an das einzelne Haus inmitten weiter Felder zutrat. Es war eine liebreizende Erregung, eine aggressive Gier, die sich in seiner Brust angestaut hatte und während seine volle Macht durch seinen Körper pulsierte und er mit verengten Augen die Lichter des Hauses fixierte, spurte er es, war es ihm klar.

Er würde sie töten, sie alle. Nicht, um zu überleben, um des Tötens Willen.

Als er nahe genug an das Häuschen herangetreten war, vernahmen seine durch den Neumond geschärften Sinne die Geräusche eines Abendessens, Schritte, Stimmen. Fünf Personen, zwei Erwachsene, drei Halbwüchsige, fast noch Kinder. Der Gedanke an ihr junges Blut trieb seine verborgenen Eckzähne hervor.

Er wollte warten, lauern, die Vorfreude so lange wie möglich erhalten, doch sein Willen war zu schwach. Er konnte das Blut schon förmlich riechen und so wurde er Eins mit der Nacht und drang durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen, den Wind und Wetter geschaffen hatten.

In der finsteren Ecke nahe der Tür nahm der hochgewachsene Vampir seine feste Gestalt wieder an und starrte mit finsteren Augen auf die Szene, die sich ihm darbot.

Eine ältere Frau mit mattem dunkelbraunen Haar und faltiger Haut stand an der Kochstellen und rührte in einem Kessel, das Gesicht einem Mann in ihrem Alter zugewandt, wohl ihr Ehegatte. Sie lachte ihn an, doch er winkte ab und rief die beiden Jungen zurecht, die am Boden kauerten und ihre Glasmurmeln gegen einen Krug schnippten.

Und dann war da noch sie. Eine junge Frau, deutlich älter als ihre Brüder, saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, ihr langes Haar von einem satteren Braun als das ihrer Mutter. Mit leerem Blick starrte sie die Tür an, wohl ohne sie zu sehen und in sich selbst hinein blickend. Oder war ihr Blick auf ihn gerichtet?

In einer sanften Bewegung legte er den Kopf leicht schräg, seine Lippen kräuselten sich zu einem bitteren Lächeln.

Ihre Augen weiteten sich. Sie war starr, erschrocken, ihr Herz hatte ausgesetzt. Dann schrie sie: „Nein, verschwinde!“

Sie war aufgesprungen und hatte dabei ihren Stuhl umgestoßen, der nun geräuschvoll auf dem Boden aufschlug. Ihre Familie starrte sie entgeistert an, die Mienen von Verwirrung verzerrt, dann folgte sie ihrem Blick und die Gesichter wurden starr.

Es war Zeit. Zeit den Dämon zu befreien, der sich in seinem Inneren verbarg.

Seine schmale Hand krampfte sich um den Arm des Jungen, der ihm am nähesten war, riss den Knaben zu sich her. Mit einem hässlichen Knacken brach der Arm unter seinem Griff. Die Schreie um ihn her verklangen in seinen Ohren, die von einem lauten Rauschen erfüllt waren, seine Augen waren nur auf sein Ziel fixiert. Seine Eckzähne entblößten sich, durchfuhren die dünne Haut, das zarte Fleisch. Blut – eine ungeheure Hitze breitete sich von seiner Brust bis in seine Fingerspitzen aus, raubte ihm beinahe den Verstand. Sein rationales Denken war zerrüttet, tief in seinem Unterbewusstsein eingefercht. Nur der Instinkt blieb zurück, kontrollierte seine Bewegungen; der Instinkt eines Raubtiers. Blutrausch.

Nach nur einigen Schlucken aus dem Hals des Knaben registrierte er im Augenwinkel eine Bewegung. Der ältere Bruder stürzte mit einem Küchenmesser in der Hand auf ihn zu.

Langsam ließ der Vampir den ersten Jungen zu Boden gleiten und brach dem Zweiten das Genickt, mit einer Geste so leicht, dass es beängstigend war.

Er war der Fuchs im Hühnerstall, der nicht ruhen würde, ehe er jedem einzelnen Tier das Leben ausgehaucht hätte.

Blut benetzte den Boden, die Wände. Grauenhafte Schreie von Schmerz und Angst, die er beinahe riechen konnte, prallten an ihm ab, vermochten sein Herz nicht zu erreichen.

Nur noch sie.

Mit einer ebenso Furcht erregenden wie graziösen Bewegung riss er seinen Oberkörper zu dem brünetten Mädchen herum. Sie stand mit dem Rücken an der Hauswand da, starrte ihn aus braunen Augen an, in deinen kein Funke der Angst zu finden war. Nur Leid. Leid und die Hoffnung, der Familie zu folgen.

Er erstarrte. Die Umgebung um ihn her gewann jäh an Schärfe und Wahrhaftigkeit, gewann an Realität. Er spürte Blut von seinen schmalen Fingern tropfen, Blut, das er vergeudet, dem Boden überlassen hatte. Und da war noch etwas...Sein sonst so träges Herz tat einen Hüpfer, begann dumpf und schwer zu Pochen, ein sanftes Kribbeln in seiner Brust zu verbreiten.

Nein, er konnte ihren Wunsch nicht erfüllen, ihrer Hoffnung nicht nachgeben. Sie sollte sein werden, ihm gehören, bis in alle Ewigkeit.

Mit langsamen Schritten kam er auf sie zu, blickte ihr endlose Sekunden in die lebendig schimmernden Augen, die dunklen Augen, die leidenden Augen - dann gruben sich seine Eckzähne in ihren Hals.

Sie schrie vor Schmerz, ein Schrei, der ihm auf ewig im Hinterkopf erhalten bleiben sollte, mühte sich in menschlichem Überlebenswillen ihn von sich zu stoßen, doch nicht lang. Bald gaben ihre Knie nach, sackte sie auf dem blutbenetzten Holzboden zusammen, seine Augen das letzte, was sie sah, ehe sie das Bewusstsein verlor; diese dunklen Augen, fast ebenso schwarz wie sein Haar.

Als er sie gehen sah, stahl er ihr einen Kuss, berührten seine kühlen Lippen ihre noch so heißen. Einen Kuss, der sein einziger bleiben sollte. Dann riss er sich mit seinen verhärteten Fingernägeln die Adern der rechten Hand auf; kurz darauf benetzte sein Blut ihre zarten Lippen.
 

Kapitel 1
 

Eine hölzerne, von Ruß geschwärzte Decke war das erste, was sie erblickte, als sie die Augen aufschlug. Sie lag in einem weiß bezogenen Bett, sorgsam bis zu den Schultern zugedeckt und einen Augenblick lang war die Verwunderung hierüber in ihr so groß, dass sie sich nicht einmal fragte, wo sie sich befand und wie sie an diesen Ort gelangt sein konnte. Eine drückende Leere und Orientierungslosigkeit lastete auf ihr und während sie sich im Bett aufsetzte, wurde ihr bewusst, wie geschwächt sie war. Jäh wurde sie von einem Schwindel übermannt, ihr Blick verschleierte sich und sie glaubte zu fallen, nur um kurz darauf festzustellen, dass sie noch immer aufrecht im Bett saß.

Es war seltsam. Sie hatte das Gefühl etwas schreckliches wäre ihr widerfahren, das Gefühl, es sei nicht richtig, dass sie noch am Leben war, doch sie konnte sich an nichts erinnern.

Mit gerunzelter Stirn nahm sie das kleine Zimmer um sie her näher in Augenschein, ließ ihren Blick über den Ofen in der einen Ecke und zwei Stühle in der Anderen wandern, als sich jäh die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers öffnete.

Ein hochgewachsener Mann betrat den Raum; seine Schritte leicht und leise, fast als schwebte er über den Holzdielen, ohne sie zu berühren. Sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen war scharf geschnitten und von kurzem schwarzen Haar umrahmt, seine Augen ein dunkles, ausdrucksloses Schimmern. Diese Augen...

Bei ihrem Anblick schien sich die Erinnerung, die irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein gefangen gewesen war, zu befreien, mit unbarmherziger Macht auf sie einzuströmen.

Blut – überall Blut und Schreie, Schreie und Blut. Und er das Raubtier, daheim in dem selbst erschaffenen Grauen um es her.

Ihr schien, als hätte jemand ihre Kehle zugeschnürt. Ein unbeschreiblicher Schmerz, ein beißender Schrecken, breitete sich in ihrer Brust aus, unfähig an die Oberfläche zu dringen.

Er hatte ihr Leben beendet, ihr aller Leben. Und sie... Wieso nicht sie? Was verfluchte sie dazu hier vor ihm zu sitzen, lebendig, von Schmerz gepeinigt, nicht mit ihrer Familie vereint. Wieso nicht auch sie? Wieso?

„Werden Sie mich töten?“, erhob sie ihre heisere und brüchige Stimme, ohne sich bewusst dazu entschlossen und die Worte formuliert zu haben. Sie wusste nicht einmal, aus welchem Grund sie eben diese Frage gewählt hatte. Nur dem tiefen Gefühl der Untergebenheit war sie sich sicher, das sich in ihrem Herzen zusammenballte.

Mit einer matten Hoffnung in den Augen blickte sie in das ausdruckslose Gesicht ihres Gegenübers, doch auch diese Hoffnung sollte zerschlagen werden: „Hätte ich je beabsichtigt, dich zu töten, hätte ich es längst getan.“

Seine Stimme war kalt und abweisend und schien sie mit einer gähnenden Leere in ihrer Brust zurückzulassen. Keine Zuneigung, kein Trost war darin, doch ebenso wenig eine Spur von Hass oder Geringschätzigkeit. Diese Stimme brachte etwas in ihrem Innern zum zerbrechen, etwas, das bisher jedem noch so heftigen Schlag widerstanden hatte.

„Wieso? Wieso ich?“, entfuhr es ihr; ihre Stimme nicht mehr als ein leiser Hauch, der im Raum verklang. Als sie keine Antwort erhielt, fuhr sie um einiges lauter auf: „Töten Sie auch mich!“

Doch der Fremde wandte ihr lediglich den Rücken zu, hüllte sich in Schweigen. Sobald sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, legte sich seine Stirn in sorgenvolle Falten.

Nein, er hatte nicht geglaubt, dass er sie quälen würde. Sein Leben dauerte bereits zu lange an, um sich an die Tiefe menschlicher Bindungen zu erinnern oder sie auch nur zu begreifen.

„Du bist schwach, ich werde Nahrung besorgen“, sagte er nach einer ganzen Weile in die entstandene Stille hinein, seine Stimme kühl und distanziert.

Er tat einige Schritte auf die Zimmertür zu, welche er zuvor hinter sich geschlossen hatte, als er noch einmal inne hielt: „Mein Name ist Dragotin, du solltest dich an ihn gewöhnen.“

„Nein!“, fuhr sie mit zittriger Stimme auf, ihr Herz fühlte sich an, als hätte sich eine kalte Faust aus Eisen darum geschlossen und versuchte nun, es zu erdrücken. Sie wollte nicht, dass er sie verließ, wollte nicht, dass er sie zurückließ, am Leben ließ. Doch Dragotin ließ sich nicht beirren.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, löste sich ein Knoten in ihrer Brust, der die ganze Zeit über ihre Gefühle in Zaum gehalten hatte. Sie brach zusammen, weinte, schluchzte, schrie; schrie so lange, bis aller Schmerz und alle Trauer aus ihrem Herzen hinausgeschwämmt waren, bis erneut nur noch Leere in ihr war. Diese unglaublich tiefe und dunkle Leere und weit und breit kein Schimmer von Hoffnung.
 

Er würde sich Zeit lassen; diesen Entschluss hatte er bereits gefasst, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Mit gemächlichen Schritten, die kaum ein Geräusch verursachten, trat er auf das bewaldete Gebiet zu, welches den Feldern hatte weichen müssen und sie nun umsäumte.

Seine Gedanken waren träger als gewohnt, worauf er sich keinen Reim zu machen vermochte, und schienen kein anderes Thema als die brünette Frau in seinem Haus zu kennen.

Was hatte er denn nur erwartet? Hatte er geglaubt, sie würde ihm auf Knien danken? Ihn lobpreisen dafür, dass er ihr Leben verschont hatte?

Ja, vielleicht. Und vielleicht war es nicht klug gewesen, sie zu einem Wesen der Nacht zu machen, eine törichte Entscheidung, ohne rationale Überlegung gefällt.

Und doch... Ganz gleich wie sehr sein Verstand ihm Reue zusprechen wollte, sein kühles Herz verströmte weiterhin ein geheimnisvolles Kribbeln in seine Blutbahn, die es bis in seine Fingerspitzen weitertrug. Was war das nur für ein Gefühl? Er wollte diese Frau nicht loslassen, sie nie von seiner Seite weichen lassen; konnte es nicht-

Er hatte Geduld, eine Geduld so endlos während wie die Zeit, ihr Alter seinem Leben gleich. Eines Tages würde sie verzeihen; verzeihen oder vergessen. Er konnte warten.

Ein Rascheln im Gebüsch ließ Dragotin aufhorchen.

Sobald seine scharfen Augen das Opossum erfasst hatten, war das Schicksal des Tieres besiegelt, auch wenn der Vampir üblicherweise nur selten Jagd auf Getier machte. Mit unglaublicher Geschwindigkeit und Jagdgeschick hatte er das Opossum gepackt und ihr mit einem Genickbruch das Leben ausgehaucht. Nicht eine Minute hatte es gedauert.

Noch einige Sekunden blickte Dragotin auf das tote Tier in seinen Händen hinab, dann kehrte er dem Waldstück den Rücken und machte sich auf den Rückweg; ebenso lautlos, wie er erschienen war.
 

Ein Schauder aus Abscheu und Ekel durchfuhr ihren gesamten Körper, als ihre Augen über das leblose Opossum vor ihr auf der Bettdecke glitten. Es war wie verhext: Sie wollte den Blick von diesem grausigen Anblick abwenden und doch weiter hinsehen, sich jedes noch so kleine Detail einprägen.

„Was soll das?“, fragte sie leise und mit schwankender Stimme. Sie mühte sich nicht den Vampir an ihrer Seite anzublicken, sie würde doch keine Regung auf seinem so ebenen Gesicht ausmachen können.

„Iss“, gab dieser in einem Tonfall zurück, den sie von ihm nicht kannte und der ihr einen eisigen Schauder über den Rücken laufen ließ.

Aber was bildete sie sich nur ein? Sie kannte ihn doch überhaupt nicht; woher wollte sie wissen, was für ihn typisch war und was nicht? Und doch... Und doch fühlte sie sich ihm nicht gänzlich fremd – ein Gefühl, das sie noch stärker ängstigte, als alles andere.

„Du musst hungrig sein“, fuhr Dragotin in gleich bleibender Stimmlage fort, sein Blick lastete schwer auf ihr.

Bei diesen Worten lauschte sie in sich hinein. Hunger?

Langsam schärfte sich ihr Blick und sie nahm das tote Tier vor ihr erneut wahr. Nein, der Gedanke stieß sie ab, widerte sie an. Ihr Kopf und ihr Herz protestierten heftig gegen diese Vorstellung – doch da war noch etwas anderes, etwas Drittes, das sich zu Geist und Seele gesellt hatte, etwas, das die Menschen bereits vor vielen Hundertern von Jahren abgelegt hatten.

Und es lechzte nach Blut.

Als ihr die Anwesenheit dieses dritten Teils bewusst wurde, als sie spürte, dass sich etwas Neues in ihren Körper gebohrt hatte, der Instinkt, das Instrument eines blutrünstigen Monsters, zerbrach etwas in ihr. Eine einsame Träne floss über ihre bleiche Wange und hinterließ einen blutigen Striemen.

„Was hast du aus mir gemacht?“, entfuhr es ihr gedämpft, jegliche Höflichkeit und Furcht war von ihr abgefallen und nur Verzweiflung war geblieben.

Ein grausames Ziehen hatte sich an der Wurzel ihrer Eckzähne ausgebreitet und als sie nun den Mund schloss, schnitt ihr etwas schmerzhaft in die Lippe. Doch so schnell sich der Schmerz ausgebreitet hatte, war er verschwunden. Irritiert und mit zitternder Hand strich sie sich über die Stelle, an der sie eine Wunde vermutete – doch da war nichts als glatte Haut.

Eine weitere Träne löste sich aus ihrem Auge und nun endlich riss sie den Kopf nach oben, sich vom Anblick des toten Tieres los und starrte dem Vampir an ihrer Seite ins Gesicht. Sie bebte.

„Was hast du aus mir gemacht?“, schrie sie, ihre schmalen Finger krallten sich Halt suchend in das weiße Laken unter ihr, doch es vermochte ihr keine Sicherheit zu geben; sie war allein, verloren, gefangen in der tiefsten Nacht.

Dragotin antwortete ihr nicht, doch das war auch nicht nötig; sie brauchte seine Worte nicht, um sie zu kennen, um es zu wissen.

Sie starrte auf ihre Hände hinab. Es waren immer noch dieselben, die Hände, die sie schon immer gekannt hatte. Und doch war alles anders, alles fremd und unwirklich.

Und ihre Familie – ihre Mutter, ihr Vater, die Geschwister. Alle fort, von einer Welle aus Blut davongespühlt, ihr Leben zerstört, vernichtet – von ihm.

Ihre Augen verengten sich, während ihr Blick sich erneut dem Opossum zuwandte.

Er hatte sie getötet, sie alle. War es ihnen gegenüber fair, ihr eigenes Leben fortzuwerfen, ganz gleich, was für ein Leben das sein sollte?

Nein, das war es nicht. Sie würde ihre Lieben rächen, ganz gleich, was es kosten sollte, würde ihr Schicksal annehmen, mächtiger werden als er und ihn in die Knie zwingen.

Ihre Hände streckten sich beinahe ohne ihr zutun nach dem toten Tier aus, führten es zum Mund. Der Schmerz an ihren Zahnwurzeln schwoll an, um kurz darauf abzuklingen – und ganz langsam, dem fremden Instinkt in ihrem Körper folgend, bohrte sie ihre nun langen, scharfen Eckzähne in den Hals des Opossums.

Ein leises Lächeln kräuselte Dragotins Mundwinkel, während sein Blick nicht von seiner Erschaffenen wich.

Sie hatte ihr Schicksal angenommen, sich ihm ergeben. Auch wenn sie sich dessen in diesem Augenblick noch nicht bewusst war.
 

Kapitel 2
 

Sie hatte ihm ihren Namen verraten, als er am darauffolgenden Abend zu ihr auf das Zimmer kam, in einen roten Umhang mit seltsamen dreieckigen Knöpfen gehüllt, auf den über der Brust mit silbernem Garn ein Greifvogel gestickt war.

„Ich möchte dich heute Nacht der Gesellschaft vorstellen“, hatte er ohne ein weiteres Wort der Erläuterung zu ihr gesagt. „Vor diesem Anlass würde ich gerne deinen Namen erfahren.“

Seine Stimme hatte kühl wie je geklungen und auch der Befehl, der sich in den gesprochenen Worten verbarg, war ihr nicht entgangen.

„Marlene Charlett“, hatte sie ihm geantwortet und war bei dem Klang ihres Nachnamens zusammengezuckt, der sie so schmerzhaft an ihre Familie erinnert hatte. Wie ein Blitz bei einem Gewitter war das Bild erneut in ihrem Kopf aufgeflackert; ihr Haus, das Blut- Doch sie hatte bereits so viele Gedanken daran verschenkt, dass sie durch sekundenlanges Schließen ihrer Augen die Erinnerungen zu verscheuchen vermochte.

Dragotin hatte nur genickt, emotionslos, stumm. Dann hatte er sich eine Weile schweigend zu ihr an die Bettkante gesetzt, bis er sie aufgefordert hatte, ihm in die Nacht hinaus zu folgen.

Nun blickte Marlene an der Front eines Herrenhauses empor, welches aus hellem Stein erbaut worden war; die große Anzahl der Giebel und die oben abgerundeten Fenster waren ihr so fremd – so fremd wie nun alles um sie herum erschien; als gehörte es nicht hier her. Wieso hatte sie nie zuvor bemerkt, dass dies alles existierte? Die Welt der Nachtgeschöpfe, diese prächtigen Herrenhäuser; wieso war ihr Blick so beschränkt gewesen?

Doch sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn Dragotin zog nun an einem Seil nahe dem Eingang und betätigte so die mechanische Türglocke.

Kaum einige Sekunden vergingen, bis die schwere Tür nach innen aufgezogen wurde und den Blick auf eine weitläufige Halle freigab, die von einem Meer aus Rot geflutet schien. Die roten Wellen leckten selbst an der Treppe, die zu einem Flur im ersten Stock hinaufführte, der sich an drei Seiten um die Halle zog und von dem aus man einen Blick hinab auf die Neuankömmlinge hatte, denn er war nur von einem niedrigen Geländer umzogen.

Erst, als Marlene an Dragotins Seite durch die Eingangstür trat, wurde ihr bewusst, dass ihre Wahrnehmung ihr einen Streich gespielt hatte. Es war kein blutrotes Meer, das die Halle füllte, es waren menschliche Körper, die in rote Umhänge gehüllt waren, dutzende von ihnen – Menschen... oder waren es Vampire?

Bei diesem Gedanken durchfuhr ein kalter Schauder Marlenes ganzen Körper. Sie hatte mit ihren eigenen Augen gesehen, was eines dieser Wesen anrichten konnte und ihr Kopf strebte sich vehement dagegen, sich auszumalen, was Dutzende von ihnen ausrichten konnten.

Und dennoch... Hatte sie einen Grund sich zu fürchten? War sie nicht ein Teil dieser roten Masse, einer von ihnen, auch, wenn sie keinen Umhang trug?

Doch ganz gleich wie sehr sie es drehte und wendete, sie kam immer zu dem selben Ergebnis: Nein. Sie fühlte sich nicht zugehörig, sondern völlig isoliert; allein als Schaf unter Wölfen.

Fast ohne es wahrzunehmen trat sie so nahe an Dragotin heran, dass ihre Schulter ihn streifte – und das war der erste Augenblick, in dem er ihr Verbündeter war, ihr Fels in der Brandung, die einzige Person in dieser fremden Welt, an die sie sich halten konnte, auch wenn sie ihr nicht vertraute.

Die anwesenden Vampire wichen respektvoll zurück, als Dragotin und Marlene an seiner Seite die Halle durchschritten – nur einer nicht. Er blieb schlicht an Ort und Stelle stehen, als die Neuankömmlinge sich ihm näherten, senkte nicht einmal den Kopf, wie es die anderen seiner Artgenossen taten, sonder blickte Dragotin direkt in die dunklen Augen. Er trug sein schulterlanges Blondhaar zu einem Zopf zusammengebunden und seine Augen waren von einem unwirklichen Graublau, das Marlene an einen regnerischen Tag erinnerte. Doch sie konnte ihm nicht lange in die Augen blicken, denn schon bald verspürte sie einen seltsamen Stich in ihrer Brust und das dringende Gefühl, den Blick abwenden zu müssen. Ihr war, als würde sie den blonden Vampir herausfordern, wenn sie den Kopf nicht senkte – woher kam nur dieses Gefühl?

Sie ließ ihre Augen noch einmal über den Fremden flackern. Ganz am Rande bemerkte sie das silberne Symbol, welches auf seinem Umhang prangte: Es war nicht etwa ein Vogel, wie sie ihn bei Dragotin bemerkt hatte; nein, es handelte sich um den Kopf einer Raubkatze, von der Seite abgebildet, die ihr Maul weit aufriss und so ihre spitzen Zähne zur Schau stellte.

„Guten Abend Dragotin“, lächelte der Fremde auf eine Weise, die viel eher als herablassend oder schelmisch, denn freundlich zu beschreiben war.

„Laurent“, nickte Dragotin ihm zu. Es war nichts denn eine schlichte Bestätigung seiner Anwesenheit.

„Alle Vampire des Verwaltungsbezirks sind gekommen, um deine Erschaffene zu sehen. Welch Wunder, die meisten vermuteten schon, keiner von uns würde je unsere Blutlinie fortführen, nach all den Jahren. Das konnte auch ich mir nicht entgehen lassen“, fuhr Laurent ungerührt fort und Marlene wurde sofort klar, dass er um einiges redseliger als Dragotin war. Es irritierte sie ein wenig, denn da Dragotin der einzige Vampir war, den sie bisher gesehen hatte, hatte sie sein Verhalten für den Inbegriff des Vampirdaseins gehalten. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie sich über die Korrektur dieser Einschätzung freuen sollte oder nicht.

Doch ehe sie diesen Gedanken weiter fortführen konnte, hatte Laurent bereits erneut angefangen zu sprechen, da Dragotin nichts erwidert hatte: „Hm, ich hatte geglaubt, wenn du je eine Frau erwählen würdest, wäre sie die Schönste des ganzen Bezirks. Nun, ich muss zugeben, dass ich mich über deine Wahl nicht beklagen kann. Die Kleine ist wirklich niedlich – aber nicht gerade der Inbegriff von Schönheit oder Vollkommenheit.“

Wieder hatte der blonde Vampir ein undurchsichtiges Lächeln aufgesetzt und so wusste Marlene nicht recht, ob sie seine Worte als Kompliment oder Beleidigung auffassen sollte. Doch eines war ihr inzwischen klar geworden: Es gab sehr wohl eine Gemeinsamkeit zwischen Laurent und Dragotin: Sie beide schienen ihr nicht ehrlich, als würden sie ihr wahres Gesicht hinter einer Maskerade verbergen, auch wenn diese bei beiden unterschiedlich geartet war.

„Ich rate dir an, dich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen“, erhob nun endlich Dragotin die Stimme. Sie erklang fest und neutral, doch die unmittelbare Drohung konnte sich nicht vollends hinter diesem Schein verbergen.

„Oh“, begannt Laurent erneut, einen feinen Hauch von Hohn in der Stimme, „du hast sie also mit deinem Herzen ausgewählt?“

„Ist das Neid in deiner Stimme?“, schnitt Dragotin ihm in ähnlichem Tonfall das Wort ab.

Doch gleich wie laut und fest seine Stimme erklungen war, Laurent überging den Einwurf als hätte es ihn nie gegeben: „Dabei solltest gerade du wissen, dass so ein Handeln keine Früchte trägt.“

Wieder unterbrach Dragotin sein redseliges Gegenüber: „Kein Wort mehr.“

Seine Stimme hatte sich nicht verändert, nur seine Augen sich kaum merklich verengt und seine gesamte Haltung sich versteift: Er hatte die Schultern gespannt und den Rücken durchgedrückt, als stünde auch sein Geist unter äußerster Anspannung.

„Oder du tust was?“, gab Laurent herausfordernd zurück. In seinen hellen Augen lag ein seltsamer Glanz, den Marlene nicht deuten konnte.

Kaum, da sie dies gedacht hatte, wandte der Blick des blonden Vampirs sich ihr zu und sie senkte rasch erneut den Kopf; halb beschämt, halb ängstlich.

Dieses Mal war es an Dragotin, den Einwurf zu übergehen, nun allerdings erneut völlig gelassen und gefasst: „Livia existiert nicht mehr. Es gibt nicht länger einen Grund, mit mir zu wetteifern. Sie mag dir das Herz herausgerissen haben, meines blieb unberührt. Ein Vampir ist nicht verletzlich und keine Macht der Welt kann seine Seele berühren – bist du nicht unantastbar, hast du nicht das Recht, dich zu unserer Rasse zu zählen.“

Es geschah im Bruchteil einer Sekunde, dauerte nur einen Lidschlag lang an. Die Konturen Laurents verzerrten sich, schienen in eine Nacht hinüberzufließen, die in der erleuchteten Halle nicht herrschte, nur um dann mit grellen Farben zurückzuströmen und erneut Gestalt anzunehmen.

Der Leopard brüllte den Schrei aller Raubtiere der Decke entgegen; er war an Laurents Stelle getreten.

Für einige Sekunden regte sich etwas in Marlenes Hinterkopf, das Abbild des silbernen Raubkatzenkopfes flackerte vor ihrem inneren Auge auf – hatte sie es nicht noch eben auf Laurents Umhang erblickt? Waren diese Stickereien mehr als nur ein Symbol?

Blitzschnell ließ sie ihre Augen zu Dragotin hinüberhuschen, hielt den Blick noch einmal auf den Vogel gerichtet, der seine Brust zierte. Ob er...?

Unter Fauchen und Brüllen war der Leopard auf Dragotin zugesprungen. Nun pressten sich seine Pranken gegen die Brust des Vampirs und drückten ihn zu Boden. In einer schnellen Bewegung drückte Dragotin seine Handflächen gegen die Brust des Raubtiers und es gelang ihm, unter offenbar großer Anstrengung, das Tier zurückzudrängen.

Marlene war vor Schreck ein ganzes Stück zurückgesprungen, als der Leopard sich auf ihren Erschaffer gestürzt hatte und war dabei beinahe mit einem der umstehenden Vampire zusammen gestoßen. Wieso griff keiner von ihnen ein? Aus welchem Grund sahen sie seelenruhig zu oder senkten beschämt die Köpfe?

Gerade setzte der Leopard erneut zum Sprung an, als Marlene noch einmal diese seltsame Wandlung beobachten konnte, die dieses Mal jedoch Dragotin eins mit der Nacht werden zu lassen schien, seine Umrisse verzerrte und entfärbte. Nicht eine Sekunde später erhob sich ein mächtiger Vogel in die Lüfte: Ein Falke, sein Ruf das Signal zum Kampf.

So schnell, dass es Marlene kaum mit den Augen verfolgen konnte, stürzte der Falke vom Himmel herab. Er hieb auf die Raubkatze ein, als wolle er ihr die Augen aushacken.

Frische Erinnerungen fluteten Marlenes Kopf, der so mühsam zurückgedrängte Schmerz kehrte zurück – Der Kampf wandelte sich und wurde in ihrem Geiste ein anderer, ein ungleicher Kampf zwischen Vampir und Mensch, zwischen Raubtier und Beute. Das Blut... Und diese Augen, so schwarz wie die Nacht-

Nein, sie konnte dieses Schauspiel nicht länger verfolgen, wollte es nicht, wandte ihm den Rücken zu. In ihrem Inneren schrie etwas, schrie vor Schmerz, schrie nach Vergeltung, schrie und schrie...

Dann nahm etwas Anderes seinen Platz ein.

„Auseinander!“

Es war weniger eine herrische Frauenstimme, die wie magisch verstärkt durch den Raum hallte, denn ein tosender Sturm aus Eindrücken, der zwischen die Kämpfenden fuhr und den jeder Anwesende zu interpretieren wusste. Tatsächlich war ein schneidender und scheinbar ursprungsloser Wind aufgekommen, der Leopard und Falke schied, um dann auf Marlenes Rücken zu treffen und an ihren Kleidern zu zerren, ehe er so schnell er erschienen war, auch wieder verschwand.

Erschrocken wandte sich Marlene der Richtung zu, in der die seltsame Erscheinung ihren Ursprung zu gehabt zu haben schien, wobei ihr Blick die Überreste des Kampfes streifte: Den Falken hatte es aus der Luft gerissen und zu Boden geschleudert; in eben dieser Sekunde verzerrten sich seine Konturen und bildeten erneut den Vampir, dessen Anblick Marlene bereits so vertraut war. Der Leopard hatte sich flach an den Boden gedrückt und hob nun langsam den Kopf, um sich umzublicken. Er schien etwas zu bemerken und im nächsten Augenblick stand erneut Laurent an seiner Stelle.

Doch das alles schien Marlene nicht von Bedeutung. Ihr Blick wanderte hinauf zu dem schmalen Flur, der die Halle in einigen Metern Höhe umzog. Dort stand eine Frau mit dunklem Teint, die Hände auf die Brüstung gelegt, die den Flur von der schwindelerregenden Tiefe trennte. Sie trug ihr schwarzes Haar in einen Zopf geflochten und ihre Kleidung unterschied sich nicht von der anderer Vampire. Und dennoch schien sie etwas Besonderes an sich zu haben; etwas, das Marlene erschaudern ließ.

Erst jetzt bemerkte sie an der Seite des Vampirs ein Tier, das sie an einen Kojoten erinnerte, doch seine Schnauze war zu lang, sein Fell zu kurz und hell. Zweifellos stammte es aus einem ihr fremden Land. Ob auch es ein Vampir in Tiergestalt war?

„Wer ist diese Frau?“, fragte Marlene leise, da sie bemerkte, dass Dragotin an ihre Seite getreten war, ohne den Blick vom oberen Stockwerk abzuwenden.

Tief in ihrem Geiste erwartete sie keine Antwort von ihm und so war sie umso verwunderter, als Laurent an Dragotins Statt sprach: „Das ist Aliyah, unsere Gastgeberin und Oberhaupt des Verwaltungsbezirks. Dieses Haus ist also ihr Eigentum.“

Er hielt einen Moment inne und Marlene hatte sich beinahe schon mit dieser Antwort zufrieden gegeben, als er fortfuhr: „Sie hat unsere Schöpferin vernichtet.“

„Unsere...?“, wunderte sich Marlene zu ihrer eigenen Überraschung laut. Sie wusste nicht aus welchem Grund, doch es fiel ihr um einiges leichter diesem fremden Vampir all diese Fragen zu stellen – gegenüber Dragotin hätte sie es nicht gewagt. Er hatte etwas an sich, das ihn für sie zugänglich machte; er wirkte nicht so völlig fremd auf sie, wie es Dragotin tat, sie konnte seine Handlungen nachvollziehen und hatte nicht das Gefühl, er könnte sich im nächsten Augenblick auf sie stürzen und ihr seine Macht demonstrieren. Sie konnte sich nicht erklären, woher diese Woge der Vertrautheit und Sicherheit rührte – schließlich hatte er gerade eben ihren Schöpfer angefallen – oder war das vielleicht sogar der Grund dafür?

„Die Schöpferin von mir und Dragotin, Livia. Sie arbeitete in Saudi-Arabien, dem Land, aus dem Aliyah stammt, als Vollstreckerin des 'Gerichts der Nachtwesen'. Sie war dort, um Aliyahs kleines Haustier zu vernichten, doch wie du sehen kannst, existiert es auch heute noch. Sie hat sich dem Gericht entzogen, indem sie die Vollstreckerin selbst vernichtete – seither steht sie über dem Gesetz“, antwortete Laurent der angedeuteten Frage ausführlicher, als Marlene es je erwartet hätte.

Sie nickte höflich und ließ ihren Blick noch einmal über das seltsame Hundewesen schweifen, das im oberen Stockwerk knurrte und ein Schauder erschütterte sie. Irgendwas war seltsam an diesem Tier...

„Du solltest dich vor diesem Arabischen Wolf in Acht nehmen, er ist kein gewöhnliches Tier“, fuhr Laurent fort, als wollte er auf Marlenes Gedanken antworten. „Sie hat ihn zu einem Wesen der Nacht gemacht – das Gesetz verbietet es, nicht menschliche Wesen zu Vampiren zu machen, denn sie können die Gier nach Blut nicht beherrschen und folgen bedingungslos ihrem Instinkt. Aliyah ist der einzige Vampir, der mir bekannt ist, der so ein Wesen kontrollieren kann.“

Laurents helle Augen verengten sich kaum merklich; auf die gleiche Weise, wie Marlene es bereits bei Dragotin gesehen hatte. Diese kleine Geste war es, die sie verwirrte, strutzig machte, doch sie ließ sich nicht beirren und nutzte die Gelegenheit, mehr über die Vergangenheit ihres Schöpfers zu erfahren. Vielleicht konnte es ihr bei ihrer Rache nützlich sein...?

„Und Livia lebte also auch in Arabien?“, knüpfte sie so beiläufig wie möglich an das Gespräch an.

„Nein“, wehrte Laurent ab und es schien, als wäre er des Redens noch immer nicht müde, „sie wurde im römischen Reich, in Italien, erschaffen und sehnte sich danach, die Welt zu erkunden. In Frankreich traf sie auf mich.“

Erneut hielt er kurz inne, ließ dieses Mal seine Augen zu Dragotin hinüberflackern, der den Kopf jedoch abgewandt hatte und der Unterhaltung nicht zu folgen schien, sodass Laurent fortfuhr: „und Dragotin sind wir nur einige Jahre später in der Slowakei begegnet.“

Sein Blick verschleierte sich und Marlene bekam den Eindruck, dass er mit seinen Gedanken fern war; fort von ihr und dem Saal. Während er weitersprach, schienen seine Augen ins Nichts zu starren: „Er hat sie vom ersten Augenblick an fasziniert. Er konnte schreiben – das war damals eine Seltenheit – und er nutzte seine Fähigkeit: Er schrieb Geschichten und Verse, oberflächlich sachlich und neutral, doch innerlich schwer von Sentimentalität. Geschichten über die Schönheit der Dunkelheit und der Nacht. Sie schenkte ihm noch am selben Tag das neue Leben.“

Noch einmal machte der blonde Vampir eine Pause und es war dieser Augenblick, in dem Marlene nicht sicher war, ob sie mehr erfahren wollte oder nicht. Doch es schien, als habe sie eine Lawine losgetreten, die sich nicht mehr aufhalten ließ: „Sie hat ihn geliebt – und er hat sie verspottet. Er war kalt wie die Worte, die er schrieb.“

Ein leises Frösteln schüttelte Marlene und gerade, als sie sich fragte, was sie noch alles erfahren würde, war der Zauber vorbei, der Laurent gebannt zu haben schien. Er wandte den Kopf zu ihr um und seine Lippen kräuselte dasselbe feine und leicht spöttische Lächeln, mit dem er vor kurzer Zeit auch Dragotin bedacht hatte: „Bei mir wärst du in besseren Händen.“

Marlene meinte im Augenwinkel Dragotins Pupillen zu ihnen herüberzucken zu sehen, doch ihr blieb keine Zeit es näher zu ergründen, denn Aliyahs unnatürlich laute Stimme erhob sich erneut über den Raum und ließ alle Gespräche in der Halle verstummen.

„Ich denke wir sind nun vollzählig.“

Ihre Stimme wirkte trotz ihrer Lautstärke völlig ruhig und nicht im geringsten angespannt – dass sie noch vor einigen Minuten in einen Kampf eingeschritten war, konnte man ihrer Tonlage nicht entnehmen.

„Wir haben uns heute hier versammelt, um die Erschaffene Dragotins, des Falkens, in unsere Mitte aufzunehmen. Komm zu mir, Marlene, mein Kind“, tönte die Stimme auf eine feierliche und zugleich sinnliche Art und Weise weiter.

Für eine Sekunde schien Marlenes Herz auszusetzen. Verunsichert wandte sie den Kopf Dragotin zu, um von ihm zu erfahren, ob sie der Aufforderung Aliyahs folgen sollte, doch keine Miene regte sich im Gesicht des Vampirs. Stattdessen spürte Marlene kurz darauf eine seiner Hände im Rücken, die sie in Richtung der steinernen Treppe schob, welche in das obere Stockwerk hinaufführte.

Von da an geschah alles fast gänzlich ohne Marlenes Zutun. Sie fühlte sich, als würde sie in einem Traum dahingleiten: Ihre Beine bewegten sich in die vorgegebene Richtung weiter fort und sie spürte ihr Herz laut und kräftig in ihrer Brust schlagen. Es war keine Angst, die Marlene verspürte; eher eine Art der Erregung, eine Anspannung und die lastende Frage, was wohl als nächstes geschehen mochte. Kein Wort hatte Dragotin ihr über diese Zeremonie verraten und für einen kurzen Moment bezwang ihr Zorn darüber ihre Ungewissheit.

Dann stand sie auch schon an Aliyahs Seite, blickte auf den sandfarbenen Wolf neben ihr hinab, der die Lefzen anhob und sie anknurrte. Was war das nur für ein seltsames, mulmiges Gefühl, welches sie in Gegenwart des arabischen Vampirs und ihres Gefährten verspürte? Rührte es nur von Laurents respektheischenden Ausführungen?

„Die Gemeinschaft der Vampire akzeptiert dich, Marlene, Erschaffene des Falken, hermit als ihr neues Mitglied. Du wirst vorläufig in den fünften Rang aufgenommen“, sprach Aliyah endlich weiter und wandte sich kurz von Marlene ab, um ein rotes Stück Stoff aus den ausgestreckten Armen eines untersetzten Vampirs an ihrer Seite entgegenzunehmen.

Diese Worte schienen Marlene eine tiefe und schwere Bedeutung zu haben, auch wenn sie diese nicht ergründen konnte – und doch waren sie auf eine Art und Weise ausgesprochen worden, die ihr den Eindruck vermittelten, sie seinen einstudiert; eine feste Poesie, die vielleicht schon viele Tausend mal aufgesagt worden war.

Der fünfte Rang – Marlene wusste nichts von einem Rangsystem unter Vampiren, schloss aus Aliyahs Worten allerdings, dass es sich um den niedrigsten handeln musste. Vielleicht würden auch diese Ränge ein Mittel werden, Dragotins Macht zu übertrumpfen...

Doch schon wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Aliyah hielt ihr das entgegen, was sie eben noch für ein Stück Stoff gehalten hatte: Es handelte sich um einen blutroten Umhang, wie ihn alle anwesenden Vampire trugen.

„Nimm dies als Zeichen unseres Wohlwollens. Er kennzeichnet dich als Mitglied der Vampirgemeinschaft und soll dich auf den verworrenen Pfaden der Nacht schützen“, beendete Aliyah die alte Poesie und hielt den Umhang so, dass Marlene nur noch hineinschlüpfen musste.

Ein anerkennendes Raunen drang aus dem Saal zu den drei Vampiren im oberen Stockwerk hinauf, als Aliyah den Umhang losließ und ihn somit Marlene übergab.

Der Stoff war fließend und angenehm kühl, er kribbelte auf ihrer Haut – einen ähnlichen Stoffe

hatte Marlene in ihrem Leben nicht berührt, geschweige denn getragen. Bewundernd und sich an der ihr ungewohnten Schönheit des Umhangs ergötzend, blickte sie an sich hinab, ließ ihren Blick über die ungewöhnlichen Dreiecksknöpfe wandern und ihn schließlich über ihrer Brust verweilen. Wie jeder Umhang trug auch ihrer an dieser Stelle die silberne Stickerei eines Tieres – doch dieses Symbol war ihr nicht fremd, sie hatte es schon einmal gesehen. Der Falke, den Dragotin sein Eigen nannte, prangte im künstlichen Licht schimmernd auf dem roten Stoff.

Sie fühlte sich abhängig, ausgeliefert. Irgendwo tief in ihrem Innern hatte sie gehofft, in dieser Nacht in ihrer Unabhängigkeit bestärkt zu werden, doch ihre Erwartungen waren nicht erfüllt worden. Dieses kleine, scheinbar unbedeutsame Symbol gab ihr das Gefühl, enger mit ihrem Schöpfer verbunden zu sein, als sie es bisher hatte wahrnehmen wollen, ihm ergeben zu sein. Es war seltsam: Sie hatte viele Stunden benötigt sich selbst in ihrem Denken und ihren Plänen zu bestärken und nun war all das in nur einer Sekunde wie fortgewischt. Sie fühlte sich leer – als wäre sie in ein schwarzes Nichts abgetrieben, in dem es keine Ziele und keine Hoffnungen gab.

So schritt sie wie in Trance die Treppe hinab, zurück zu den versammelten Vampiren, und trat an Dragotins Seite. Sie blieb stumm, während er scheinbar alte Freunde begrüßte, blieb stumm, während er Glückwünsche und Zusprachen empfing.

Erst Laurents Stimme riss ihren abgetriebenen Geist zurück in die Realität: „Du siehst unglücklich aus.“

Marlene konnte nur mit den Achseln zucken. Sie war sich nicht im Klaren, worauf diese Frage abzielte; zudem kreisten ihre Gedanken noch immer um Dragotin, dem sie nun den Rücken zugewandt hatte.

„Begleite mich doch vor die Tür“, schlug der blonde Vampir daraufhin vor, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, welches Marlene nicht zu deuten vermochte: War es eher wohlwollend oder überheblich?

Doch in diesem Augenblick war es ihr gleich. Die Aufforderung bot ihr eine Gelegenheit, aus diesen Räumen zu entkommen, aus der Masse der roten Umhänge zu entfliehen, deren Teil sie war – und es doch nicht war. Unterlegen, schwach, ungeachtet.

Auch von seiner Seite wollte sie nichts denn weichen, von der Seite ihres Schöpfers, der auf sie hinabblickte, dessen gesellschaftliche Position ganz offensichtlich weit über ihrer eigenen lag, der beherrschte, während sie diejenige war, die beherrscht wurde.

Diese Wünsche drängten sich Marlene so harnäckig auf, dass sie selbst vergaß nach dem „Warum“ zu fragen, als sie Laurents Einladung annahm und ihm auf die andere Seite der Halle, hin zur Eingangstür, folgte. Sie war sich beinahe sicher, dass Dragotins Augen ihnen gefolgt waren, doch da er keine Anstalten machte, sie aufzuhalten, trat Marlene kurz darauf in die kühle Nachtluft hinaus.
 

Auf Laurents Aufforderung hin hatte sich Marlene neben ihm auf der Stufe vor dem Eingang niedergelassen, leicht versetzt zur steinernen Tür, um eventuellen Passanten den Weg freizuhalten.

Nun blickte ihr Gegenüber Marlene aus seinen rauchigen Augen an, ließ sein übliches Lächeln aufblitzen: „Die Nachtluft ist herrlich. In dem Gedränge hält man es kaum aus.“

Wie Recht er hatte!

So nickte Marlene in tiefer Zustimmung, als sie jedoch bemerkte, dass Laurent sie weiterhin auffordernd musterte, verlieh sie ihren Gedanken mit einem knappen Satz Ausdruck: „Es ist schrecklich.“

Sie ließ die Augen über den Hof wandern, der in fast völliger Dunkelheit dalag. Nur zwei Straßenlaternen zu beiden Seiten der Einfahrt, welche die hohe Mauer, die das Gelände umringte, durchschnitt, leuchteten wie verirrte Sonnen durch die Finsternis. Doch ihr schwaches Licht vermochte kaum den Boden zu berühren, geschweige denn der Dunkelheit um sie her die Tiefe zu nehmen.

Es war angenehm in der kühlen Nachtluft an Laurents Seite zu sitzen, besonders wenn er, wie in diesem Augenblick, schwieg. So schien es Marlene beinahe, als wäre sie allein und doch war sie vor der Einsamkeit geschützt, die sie in verlassenen Stunden zu übermannen drohte. Und war es das nicht, was sie in seiner Gegenwart spürte, so war es doch zumindest das angenehme Gefühl mit ihrem Gegenüber auf einer Ebene zu stehen, ihm nicht unterlegen zu sein, nicht jede Sekunde zu erwarten, er würde einen Befehl aussprechen, dem sie Folge zu leisten hatte.

„Es kümmert ihn nicht, dass du fort bist“, meinte Laurent jäh, als wäre er die ganze Zeit über einen Gedankenstrang gefolgt, dessen Ende er nun kund tat.

„Hm?“, machte Marlene daraufhin fragend, riss ihre Augen von den fernen Straßenlaternen los und wandte ihrem Gesprächspartner den Kopf zu. Irgendetwas in ihr ahnte, wovon er sprach, doch das wollte sie sich selbst nicht eingestehen.

„Dragotin“, bestätigte der Vampir ihre Vermutung. „Er ist dir nicht gefolgt, vielleicht hat er nicht einmal bemerkt, dass du nicht mehr bei ihm bist.“

Im Stillen gab sie ihm Recht und war mit dieser Situation auch ganz zufrieden. Sollte er sich nur um andere Angelegenheiten kümmern. Vielleicht vergaß er sie sogar und sie konnte völlig frei ihrer Wege gehen.

Bei diesem Gedanken hielt Marlene inne: War sie denn nicht frei? Konnte sie denn nicht gehen, wohin sie wollte? Hatte sie es sich selbst nicht soeben bewiesen?

Und doch... Und doch fühlte sie sich zu ihrem Schöpfer zugehörig, konnte sich beinahe nicht ausmalen, wie es wäre, einfach zu gehen. Und wohin hätte sie auch gehen sollen? Schließlich war ihre Familie...

Ein stechender Schmerz breitete sich in Marlenes Brust aus und sie musste eine heimliche Träne fortblinzeln.

Sie hasste Dragotin, musste ihn hassen. Er war nichts als ein Mörder, ein Wesen, das wahllos Menschen das Leben nahm – vielleicht sogar zur eigenen Belustigung und sie hatte große Lust sein Leben eines Tages auf diesselbe grausame Weise zu beenden, die er für seine Opfer bevorzugte.

Und doch... und doch-

„Wie ich bereits sagte: Du wärst bei mir in besseren Händen“, unterbrach Laurent Marlenes Gedankenfluss überraschend, sodass sie unwillkürlich zusammenzuckte.

Ihr Blick fiel auf ihre schmalen Finger und ihr Herz fühlte sich bei dem Gedanken, sie sei Dragotin gleichgültig, schrecklich leer an. War es das Blut in ihren Adern, das Blut, welches nichts Menschliches mehr an sich hatte? Oder war es die Verzweiflung, diese absolute Abhängigkeit?

Marlene erschrak vor ihren eigenen Gedanken und Gefühlen. Sie durfte ihnen nicht länger nachgehen, musste sich zusammenreißen. Sie würde ihre Familie rächen, das hatte sie sich geschworen – doch vielleicht war es besser, von Dragotins Seite zu weichen, bis sie ihn in Stärke und Macht übertroffen hatte?

Nun huschte ihr Blick zurück zu Laurents Gesicht.

Vielleicht konnte er ihr dabei nützlich sein...?

„Möchtest du mich morgen Nacht auf die Jagd zu begleiten? Ich könnte dich abholen, ich kann mir denken, wo Dragotin untergeschlüpft ist“, fuhr Laurent fort, als hätte er Marlenes Gedanken von ihrem Gesicht abgelesen.

Ihr blieb nichts, denn stumm zu nicken; sicher war das die beste Gelegenheit, die sich ihr bieten konnte.

Laurents kühle Finger berührten nur Sekunden darauf ihre Wange, um dann mit der ganzen Hand darüber zu streichen, den Blick weiterhin unverwandt in Marlenes Augen gerichtet.

Ein Schauder durchfuhr ihren Körper, als sich sein scharf geschnittenes Gesicht dem Ihren näherte; ganz langsam, als wollte er sie nicht verschrecken, immer näher...
 

Dragotin hatte so eben das Gespräch mit einem alten Bekannten beendet und sah sich nun endlich frei, die Halle ohne negatives Aufsehen zu verlassen. Natürlich: Die Versammlung war nur seinetwegen einberufen worden, doch gleichwohl ihretwegen und ihre Abwesenheit lag ihm seit Minuten schwer im Magen.

Es handelte sich um ein dumpfes Gefühl, das Nervosität hervorrief, eine schlechte Vorahnung oder vielleicht sogar das Wissen um die Erfüllung eben dieser.

Soeben grüßte man Dragotin, wohl in der Absicht ihn in ein neues Gespräch zu verwickeln, doch er tat die Begrüßung mit einem schlichten Kopfnicken ab. Er war nie ausgesprochen redselig gewesen und gerade in diesem Augenblick kam ihm die ungebührliche Aufmerksamkeit nicht entgegen. Es war sinnlos: Es gab keine Möglichkeit die Halle zu verlassen, ohne dass Dragotin nicht ein halbes Dutzend Augenpaare gefolgt wären; und so wurde es ihm gleich, das sich aufdrängende Verlangen nach seiner Erschaffenen zu sehen, besiegte sein Ehrgefühl.

So durchschritt er den Saal mit hoch erhobenem Kopf und breiten Schultern, den auf ihn lastenden Blicken keinerlei Beachtung schenkend, und durchschritt die steinerne Eingangstür.

Seine Schritte waren leise wie das Flüstern des Windes, doch in der Stille, die vor dem Herrenhaus herrschte, erklangen sie wie ein Gewehrschuss. Noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte er Marlene und Laurent, die sich schräg vor ihm auf der Steinstufe niedergelassen hatten, zusammenzucken sehen. Auch, dass Laurent seine Hand von Marlenes Wange zurückzog, konnte seinem scharfen Blick, der jeden Winkel der herrschenden Dunkelheit durchdrang, nicht entgehen.

Ganz langsam schritt er um die beiden Vampire herum, bis er schließlich vor ihnen stand; keine Regung zeichnete sich in seinem Gesicht ab, nur seine Augen waren kaum merklich verengt: In seiner Brust brodelte ein Zorn, den er nur schwer beherrschen konnte, der seine Hände zum Erzittern brachte, weshalb er sie vor der Brust verschränkte. Und doch tat er nichts. Nichts, denn seine Gegenüber anzublicken, stumm, auf eine Reaktion ihrerseits zu warten, während die Wut weiterhin brennend durch seine Adern pulsierte.

„Dragotin“, sagte Laurent schließlich in wenig überraschtem Tonfall, „wie treffend. Wir haben gerade von dir gesprochen.“

Er hatte ein Lächeln aufgesetzt, welches Dragotin nur zu gut kannte und das er hassen gelernt hatte. Es war zu gleichen Teilen Neid und Hohn: Neid über das, was Dragotin besaß und Hohn, da er bereits einen Plan geschmiedet hatte, um es seinem Blutsbruder zu entreißen.

„Ich wiederhole mich ungern“, gab Dragotin schlicht zurück, mit den Gedanken bei seinem Rat, Laurent solle sich nicht in seine Angelegenheiten einmischen, welchen dieser doch niemals befolgt hatte und es wohl auch nie tun würde.

Mit wachsendem Unmut konnte er den fragenden Gesichtsausdruck auf Laurents entstehen sehen, von dem er wusste, dass er aufgesetzt war. Sie kannten sich zu lang; sie hatten dieses Spiel bereits häufig genug gespielt, um beide seine Regeln sowie seinen Ablauf genauestens zu kennen; dieses Spiel, von dem Dragotin geglaubt hatte, von dem er gehofft hatte, es wäre zusammen mit seiner Schöpferin Livia zu Staub zerfallen.

Es war ihm bewusst, dass es keinen Sinn ergab, sich auf eine weitere Diskussion einzulassen, schließlich hatte Laurent ihm eben dies nicht einmal eine Stunde zuvor eindrücklich demonstriert. So schluckte er all die Worte hinunter, die er seinem Bruder entgegenschleudern wollte, die aus seinem Zorn geschmiedet waren, die wirkungslos waren, und ließ seinen Blick über Marlenes Gesicht wandern. Es wirkte reuevoll, was der lodernde Flamme in seiner Brust entmächtigte, sie bändigte und in ihre Glasvitrine zurück sperrte, aus der sie kurz zuvor entkommen war.

„Ich denke wir sollten uns auf den Heimweg machen“, verlieh Dragotin einer ungewohnten Eingebung Ausdruck, die aus Marlenes Gesicht entsprungen zu sein schien.

Sie nickte stumm und erhob sich, um an Dragotins Seite die Einfahrt hinauf zu gehen, auf die beiden hellen Punkte zu; die Straßenlaternen, welche die Aussparung in der Mauer, welche das Grundstück umschloss, kennzeichneten.

„Halte dich von ihm fern“, erklang Dragotins kühle Stimme, als das Herrenhaus bereits einige Meter hinter ihnen lag.

Marlene antwortete nicht und hielt den Kopf gesenkt, dennoch war Dragotin bewusst, dass sie ihn verstanden hatte; es war ein Gefühl, welches sich seiner lang erprobten Menschenkenntnis bediente.

Doch diese sagte ihm ebenfalls, sie würde nicht auf ihn hören, sodass er sich überwand einen kleinen Teil der Gesamtheit preiszugeben, um die er wusste, die er verachtete. Nur ein winziges Stück des Spiels, in das er erneut hineingezogen worden war: „Es geht ihm nicht um dich, glaube mir.“

Bei diesen Worten blickte Marlene nun doch zu ihm auf, ihre Augen streiften die Seinen, nur um kurz darauf wieder gen Boden zu starren. Und das war es, was einen leichten spitzen Schmerz in Dragotins Herzen entstehen ließ: Sie hatte also wahrhaftig ein Auge auf Laurent geworfen und war betroffen von seinem Desinteresse zu hören.

Wie konnte sie nur so etwas denken? Sie gehörte ihm, er hatte sie erschaffen!

Doch die neu entflammte Wut klang in der Stille der Nacht rasch ab und verflog mit dem Wind. Zurück blieb nur ein leises Gefühl, das sich Dragotin zusehens aufdrängen wollte: Die Hoffnung, er möge ihre Geste missinterpretiert haben und sich irren.

Er wollte sie halten, um jeden Preis, sie zwingen, an seiner Seite zu blieben. Und doch – Da war diese lästige kleine Stimme in seinem Hinterkopf, die Akzeptanz forderte, die eine Bestätigung, ein Entgegenkommen durch Marlene erhoffte – und der gab er schließlich nach, wenn auch nicht mit ruhigem Gewissen.
 

Kapitel 3
 

Dragotin hatte sich auf einem der Stühle nahe des Fensters niedergelassen, als die Dämmerung eingesetzt hatte. Nun war die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden und sie hatten kaum ein Wort gewechselt, kein Bedeutungsschweres darunter.

Es machte ihm nichts aus, er musste nicht einmal Gedanken nachhängen, um sich zu beschäftigen; es genügte ihm völlig zu Marlene hinüberzublicken, sie zu beobachten, auch wenn sie sich nur selten regte, denn diese Minuten waren nichts als eine armselige Sekunde in der Zeit seines Seins. Nur hin und wieder fragte er sich, woran sie wohl denken mochte, versuchte es von ihrem Gesicht abzulesen, kam jedoch nie zu einem Ergebnis: Ihr Gesicht blieb unbewegt, von Schwermut gezeichnet. Nur hier und da hob sie den Arm, um sich eine ins Gesicht gefallene Strähne ihres braunen Haars hinter das Ohr zu streichen oder wandte den Kopf, um einen neuen, unbelebten Gegenstand des Zimmers anzustarren. Ob ihr seine Anwesenheit unangenehm war?

Seine Augen wanderten nur für einige Sekunden zu dem Fenster mit der milchig schmutzigen Scheibe hinüber, wollten sehen, um doch nichts zu sehen. Draußen herrschte bereits die Schwärze der Nacht.

Im war bewusst, dass er am Zuge war, er musste das Spiel vorantreiben, welches Laurent ohne seine Zustimmung begonnen hatte. Er konnte sie nicht ständig an seiner Seite halten, um sie zu schützen, um sie dem Spiel zu entreißen, wollte es nicht, denn da war dieses Flüstern, diese leise Stimme, welche weder aus seinem Kopf noch aus seinem Herzen zu dringen schien: Hoffnung. Die Hoffnung, Marlene würde sich selbst dem Spiel verweigern, der Glaube daran – und dann doch der süße Schmerz der Erkenntnis: Sie würde spielen, ihn verraten, sich ihm entziehen. Doch Stolz und Herz verboten es ihm, sich dies einzugestehen.

So erhob er sich schließlich, wobei der den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, ein kleines Stück zurück schob.

Das Kratzen der Stuhlbeine auf dem Holzboden ließen Marlene aufschrecken und zu Dragotin aufblicken, halb fragend, halb desinteressiert.

„Ich werde mich nun auf den Weg machen“, erhob Dragotin nach so langer Zeit seine kühle und feste Stimme. „Die Nacht ist finster, die Gelegenheit günstig für die Jagd.“

Ohne eine Reaktion Marlenes abzuwarten, wandte er sich ab und verließ das Zimmer mit kaum hörbaren Schritten, um die Tür mit derselben Stille hinter sich zu schließen, wie ein Windhauch, der die Welt um sich her kaum berührte.

Und kaum herrschte völliges Schweigen, schien es, als hätte es diesen Wind nie gegeben.

Noch einige wenige Minuten blieb Marlene auf dem Bett sitzen, starrte weiterhin die Wand an, sah durch sie hindurch. Dann erhob sie sich ebenfalls und verließ das Haus – allein, das erste Mal ganz allein, seit ihr Leben sein Ende gefunden hatte.
 

Marlene stand vor dem kleinen Haus und blickte in den Nachthimmel hinauf. Er war Wolkenverhangen, kein Stern war zu sehen.

Ein seltsames Gefühl hatte sich in ihrer Brust ausgebreitet: Eine Mischung aus Unsicherheit und Erregung, Vorfreude und Angst. Sie kannte das Leben der Nachtwesen noch lange nicht gut genug, um abschätzen zu können, wie Laurent und Dragotin planten und handelten, sodass ihr nichts blieb als sich an ihr noch so sehr menschliches Empfinden zu halten.

Gewiss, Dragotin hatte ihr gesagt, Laurent ginge es nicht um sie – doch was für Pläne sollte er verfolgen? Sie selbst konnte ihm schließlich kaum von Nutzen sein. So war sie sich sicher, Laurents Aufmerksamkeit würde ihr gebühren, wenn er sein Versprechen hielt und kam, um sie abzuholen -

Und wenn er es nicht tat? Dann hatte sie nichts verloren – auch wenn ihr verunsichertes Herz ihr einen anderen Eindruck zu vermitteln suchte. Sie durfte ihm nicht nachgeben, musste an ihr Ziel denken, an ihr Schicksal – und das ihrer Familie.

Marlene frröstelte, als ein kühler Windstoß aufkam und ihr Haar zerzauste. Wie lange sie wohl warten musste?

„Guten Abend.“

Die bekannte Stimme ließ Marlene unwillkürlich zusammenzucken und herumfahren. Laurent stand nahe des Waldrandes, aus dem er wohl im Schutz der Lautstärke des Windes getreten war, wie stets ein Lächeln auf den Lippen.

„Er ist ausgegangen?“, fragte er weiter und kam auf Marlene zu, ohne eine Begrüßung ihrerseits abzuwarten.

„Ja“, nickte diese leicht, ihr Herz hatte seinen Schlag beschleunigt und machte ihr ihre eigene Aufregung bewusst.

Er würde sie mit sich nehmen, fort von Dragotin, diesem herzlosen Wesen, ihrem Schöpfer. Und er würde sie mit auf die Jagd nehmen, ihr das essentiellste Wissen schenken, das sich ein Vampir zu eigen machen konnte.

„Na dann komm, wenn du willst“, nickte Laurent zurück, das Lächeln nur noch ein leises Anheben seiner Mundwinkel. Damit wandte er sich von ihr ab und ging in Richtung des Waldes davon.

Nach kurzem Zögern folgte Marlene ihm rasch, schloss zu ihm auf und hielt sich an seiner Seite, in der Dunkelheit der Nacht halb blind.

Er führte sie sicher durch den Wald, auf seine andere Seite, von wo aus sie die schwachen Lichter der Siedlung sehen konnten.

Marlenes Herz krampfte sich bei diesem Anblick schmerzhaft zusammen: Diese kleine Ansammlung von Lichtern, von Feldern umrahmt, schien ihr grausam bekannt.
 

Die Baumstämme des Waldes zogen träge an Dragotin vorüber, während er durch das Unterholz schlich. Er hätte konzentriert sein sollen, rational berechnend oder aber in innigem Wahn, einem süßen raubtierhaften Instinkt folgend – doch beides hatte ihn verlassen. Er fühlte sich fremd in der Welt, die ihn umgab, nicht mehr eins mit ihr. Er empfand sich weniger als Teil der Nacht, denn als verlorene Seele, welche in ihr umher irrte.

Egal wie sehr er sich mühte, er konnte sich nicht auf sein Handeln konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, die er so mühevoll in Zaum zu halten versuchte, glitten zu ihr.

Er war nicht der Charakter, der an seinen eigenen Entscheidungen zweifelte und doch erfüllte ihn ein gewisses Gefühl des Unwohlseins, vielleicht auch der Ungewissheit. Er war sich fast sicher, dass Laurent seine Abwesenheit als Gelegenheit nutzen würde, um seinen Zug im Spiel der Geschwister zu vollführen und dieses Wissen behagte ihm nicht, denn Laurant hatte ihm in diesem Augenblick die Karte der kühlen Rationalität voraus.

Ein Rascheln im Gebüsch ließ Dragotin aus seinen Gedanken auffahren und einen neuen Versuch starten, sich auf die Jagd zu konzentrieren. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er das Opossum im Schatten des Gestrauchs ausgemacht. Rasch bewegte er sich auf das Tier zu, um es zu überwältigen, vergaß dabei jedoch eins mit der Stille der Nacht zu werden. Schon hatte die Beutelratte seinen Angreifer gehört, auf den Absatz Kehrt gemacht und rannte davon.

Er hielt inne, ließ sie ziehen: In dieser Nacht hatte es einfach keinen Zweck.

Schon wollte er umkehren und zu seinem alten Haus am Waldrand zurückkehren, als ihn ein seltsames Gefühl überkam, welches nicht aus ihm selbst entsprungen zu sein schien. Es fuhr kribbelnd durch seine Adern, bohrte sich kalt und drückend in sein Herz und ließ ihn einen Augenblick lang inne halten. Nie zuvor hatte er ein solches Gefühl verspürt und doch wusste er, was es ihm vermitteln sollte: Laurent hatte sie geholt.

Wie von selbst glitten seine Augen über den Waldboden, angestrengt nach den winzigen magischen Partikeln Ausschau haltend, die jedes magische Wesen Wesen unter der Sonne hinterließ und die er zu enttarnen und verfolgen gelernt hatte. Wie durch einen schicksalhaften Zufall entdeckte er tatsächlich Marlenes Fährte. Es war nicht mehr als ein feines, halb silbernes, halb rotes Glitzern in der Dunkelheit, als hätte man eine feine und weit gezerrte Spur aus schimmerndem Staub gelegt. Diese Fährte, die der seinen so ähnlich sah und die er zu verwischen wusste. Und wie er aus seinen Vermutungen und Schlussfolgerungen schloss, hatte auch Laurent diese Kunst erlernt.

Die Fährte zeigte Dragotin durch ein kaum erkenntliches feines Muster an, in welche Richtung Marlene unterwegs gewesen war – beinahe erschütterte es ihn, dass die Vampire den Wald ohne sein Bemerken durchquert hatten.

So folgte er der schimmernden Spur, immer weiter, bis aus dem Wald hinaus. Das fremde Gefühl in Dragotins Körper schwoll an, ließ einen seltsamen Schmerz durch sein Herz zucken – und ab diesem Augenblick beschleunigten sich seine Schritte. Er musste kaum auf den Boden blicken, um Marlenes Spur zu verfolgen, er wusste, wo sie sich befand, wusste, sie verspürte tiefe zerfressende Angst, denn sie war ein Teil seiner Selbst – und sie schrie nach ihm.

Die Lichter der Stadt rückten näher, doch seine Schritte schienen ihm zu langsam und zugleich zu Aufmerksamkeit heischend. Nur wenige Sekunden hielt er inne, nachdem er diesen Gedanken gefasst hatte, konzentrierte sich. Für einen kurzen Augenblick fühlte er sich völlig frei, spürte den Wind an sich vorüber peitschen, an seinen gefiederten Flügeln – dann durchfuhr ein leises Ziehen, verbunden mit einem fast schon gewohntem Schmerz seinen Körper. Er wusste, seine Konturen verschwammen, wurden eins mit der Nacht, um kurz darauf erneut aus ihr aufzutauchen – jedoch in neuer Gestalt. Und schon erhob sich der Falke mit einem Schrei in die Lüfte.
 

Schon von Weitem erkannte er sein Ziel. Es handelte sich um eine enge und spärlich erleuchtete Gasse der kleinen Stadt, in der er zwei ihm bekannte Gestalten ausmachen konnte. Marlenes langes Haar schimmerte im Licht einer entfernten Straßenlaterne – sie stand mit dem Rücken an eine Hauswand gepresst da, wie erstarrt, als hätte ihr träges Herz das Schlagen aufgegeben. Ihr gegenüber Laurent, über und über mit Blut befleckt, zu seinen Füßen eine Frau mittleren Alters: er hatte ihr die Kehle zerfetzt.

Mit leisen Flügelschlägen setzte der Falke zur Landung an, doch auch dieses feine Geräusch entging Laurents geschärften Sinnen nicht: Seine Augen waren bereits auf Dragotin fixiert, noch ehe dieser seine menschliche Gestalt angenommen hatten.

Nun standen sie sich gegenüber: Blutsbrüder, Rivalen, Feinde; und starrten sich gegenseitig in die Augen, bis Laurent die Stimme erhob: „Dragotin.“

Es war eine kühle, eine überflüssige Feststellung, doch sie genügte, um die erstarrte Marlene zu erwecken, sie die Augen vom Anblick der leblosen Frau losreißen und zu ihrem Schöpfer hinüber wandern zu lassen. Kaum einen Lidschlag später stürzte sie auf ihn zu, ihre schmalen Hände klammerten sich in seine Kleider und ihr Kopf presste sich gegen seine Brust. Heftige Schluchzer schüttelten sie und Dragotin wusste, ihre Tränen färbten Wangen und Kleider rot.

Er konnte ihr Leid fast körperlich spüren und doch vermochte es ihn nicht zu verletzen – es erregte ihn, machte ihn rasend vor Zorn.

„Du bist zu weit gegangen“, erhob er seine neutrale Stimme, den Blick immer noch in Laurents rauchige Augen gerichtet. Keine seiner Regungen vermochte diese brennende Wut, die sich in seiner Brust zusammenballte, auszudrücken und doch erkannte er in Laurents Gesicht, dass er sie aus seinen Augen herausgelesen haben musste. „Livia ist nicht mehr, es gibt keinen Grund für dich, zu zerbrechen, was ich begehre, mich übertreffen zu wollen. Keinen, den ich tolerieren werde.“

Zum Ende des Satzes hin war Dragotins Stimme zusehends leiser geworden, bis sie kaum mehr ein Hauch in der Stille gewesen war; ein leises Drohen, welches in seiner Schwere kaum zu übertreffen war.

„Ich habe sie geliebt!“, fuhr Laurent auf, seinem Gegenüber allen Schmerz entgegenschreiend, der sich seit Jahrzehnten in ihm geballt hatte. „Und Sie hatte schon immer nur Augen für dich! Und du? Was hast du getan? Du hast sie ausgelacht!“

Doch keine dieser Worte konnten Dragotins bohrenden Blick erweichen, denn sie fanden keinen Platz in seinem Herzen. Da war nichts denn diese brennende Wut, die ihn von innen zu zerfressen suchte, der geopfert werden sollte, doch er nahm jeden Funken Selbstbeherrschung, der noch in seinem Leibe war, zusammen: Rache konnte seinen Zorn, aber nicht ihren Schmerz tilgen.

„Verschwinde“, sagte er also schlicht, nichts weiter als das. Erst als Laurent nicht reagierte, wiederholte er: „Verschwinde, ich will dich nicht mehr sehen. Kommst du mir noch ein Mal unter die Augen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du diesen Fehler nicht wiederholen kannst.“

„Mutter, Mutter...“

Dragotins Augenbrauen zogen sich kaum merklich zusammen, als er den Kopf senkte, um zu Marlene hinabzuspähen. Noch immer verbarg sie ihr Gesicht in seinen Kleidern, weinte, schluchzte so erbärmlich, dass er mit Erstaunen über sich selbst etwas in seiner Brust aufblitzen spürte, das er nur bei dem Namen „Mitleid“ nennen konnte.

Ja, sie hasste ihn, hasste ihn von ganzem Herzen, doch sie hasste weniger seine Person, denn sein Handeln.

Es war gut so, er verlangte nicht von ihr, dass sie ihn liebte, mögen konnte. Er war geduldig, denn die Welt hielt einen unerschöpflichen Vorrat der Zeit für ihn bereit - und eines Tages würde sie verzeihen oder vergessen und vielleicht würde sie sich dann den Kuss zurückholen, den er ihr gestohlen hatte.

So legte er einen Arm um Marlenes bebende Schultern und führte sie aus der Gasse, aus der Stadt, nahm sie mit sich, zurück in seine Welt, abgeschieden von dieser verfluchten Menschlichkeit – der Menschlichkeit, die nur Erinnerung, Leid, Tod und Verzweiflung mit sich brachte und in der die Zeit in eine messbare Form gezwängt worden war.
 

Kapitel 4
 

Marlene hatte die Beine angewinkelt und dicht an ihren Körper gezogen, wobei sie ihre Knie mit den Armen umschlang und den Blick starr auf ihre Füße gerichtet hielt. In ihr schien völlige Leere zu herrschen, kein lahmer Gedanke und kein armes Gefühl regte sich in ihr; Schmerz und Enttäuschung waren zu Erkenntnis erstarrt und füllten ihr Herz wie kaltes Eis.

Alles um sie her schien ihr fremd – diese ganze Welt der Nacht, zu der sie nicht dazu zu gehören schien und deren Gesetze sie nicht verstand, und zu der sie Dragotin als einziges Glied verband; ein Glied, auf das sie angewiesen war und von dem sie sich nicht losreißen konnte. Noch nicht.

Am Rande ihrer Gedanken nahm Marlene wahr, wie sich die Zimmertür mit einem leisen, schleifenden Geräusch öffnete und kaum hörbare Schritte näher traten. Sie hielten kurz inne, um daraufhin erneut einzusetzen und wieder zu verstummen.

„Das solltest du lesen“, wehte Dragotins leise Stimme zu ihr hinüber, neutral und sachlich wie je.

Dennoch ließen diese unerwarteten Worte Marlene aufschrecken und den Kopf heben.

Dragotin stand nahe des Ofens in der Zimmerecke und hielt zwei Bücher in Händen, beide mit Ruß überzogen. Er musste sie hinter dem Ofen hervorgezogen haben und fast schien es, als hätte er sie dort verstaut, um sie nicht mehr sehen zu müssen.

„Ich kann nicht lesen“, gab sie schließlich zurück, ihre Stimme so leer wie ihr Herz.

Einige Sekunden lang musterte Dragotin sie, schien nachzudenken, dann nickte er und schob beide Bücher in eine lederne Tasche zu seinen Füßen: „Es sind die Gesetze des Gerichts der Nachtwesen; du solltest sie kennen.“

Der Umstand, dass Dragotin das zweite Buch nicht mit einer Silbe erwähnt hatte, erweckte jäh Marlenes Neugierde, welche ihr ein neues Gefühl der Lebendigkeit verschaffte und sie ablenkte: „Was ist das Andere für ein Buch?“

Erneut hielt der Angesprochene kurz inne, die Stirn kaum merklich in schwache Falten gelegt, bevor er antwortete: „Memoiren.“

„Ihre Memoiren?“

Diese Worte hatte Marlene ausgesprochen, ohne zuvor über sie nachdenken, sodass sie selbst nicht sicher war, aus welchem Grund sie erneut zu der höflichen Form der Anrede übergegangen war. Vielleicht war es ein Ausdruck der Distanz, die sie zwischen sich und dem Vampir spürte – oder die sie sich wahren wollte.

Dragotin nickte knapp und blickte sich in dem kleinen Raum um, als suchte er nach etwas oder wollte sich davon überzeugen, nichts vergessen zu haben.

„In Maryville werde ich es dich lehren“, ergänzte er, ein neues Thema einbringend, während er die lederne Tasche schloss.

Marlenes Herz tat einen Hüpfer und dies nicht vor allem aus dem Grund, dass Dragotin ihr das Lesen beibringen wollte.

„Maryville?“, fragte sie also, halb aufgeregt, halb verwundert.

Er wollte also fort von hier – und Marlene war es von ganzem Herzen Recht, auch wenn sie es sich selbst nie eingestanden hätte. Sie wollte sich von ihrer Heimatstadt entfernen, ihre Bewohner, Mensch wie Vampir, hinter sich lassen und ihren Schmerz an diesem Ort begraben.

Doch welchen Grund sollte es für Dragotin geben, die Stadt zu verlassen? Er schien großes Ansehen in der Gesellschaft der Vampire zu genießen-

„Es ist eine kleine Stadt, in ihrem Verwaltungsbezirk leben nicht viele unserer Art; es wird dir gefallen“, meinte dieser erklärend und suchte Marlenes Blick. „Wir werden noch in dieser Nacht aufbrechen.“

Hätte Marlene dieses Angebot ausschlagen, diesen Befehl verweigern können? Wenn dem so war, hatte es keinerlei Bedeutung, denn es war ihr nichts daran gelegen. Ohne weitere Fragen zu stellen, folgte sie ihrem Schöpfer aus dem kleinen Haus, welches niemals ihr Zuhause gewesen war, trat der Zukunft entgegen und ließ des Vergangene hinter sich zurück.
 

Epilog
 

Es war ein eigentümliches Gefühl für Marlene, an der Seite des dunkelhaarigen Vampirs durch die zusehends schwärzere Nacht zu wandern. Der Weg war ihr unbekannt, genau wie er selbst – dieser Vampir, alt wie die Welt. Sie wusste nicht, woher er gekommen war, noch wohin sie eines Tages an seiner Seite gehen würde; nach Osten, an die Küste oder gar in fremde Länder auf entfernten Kontinenten.

Nichts war ihr geblieben, nichts an dem sie sich halten und orientieren konnte, nichts, denn dem festen Entschluss, der sich in ihren Kopf eingebrannt hatte: Sie würde die Welt der Nacht kennen lernen und Macht erlangen, Dragotin an ihrer Seite übertrumpfen und ihre Familie rächen.

Jäh flammte eine leise Stimme in ihrem Kopf auf, flüsterte ihr zu: 'Ohne ihn bist du nicht mehr als ein einsames Staubkorn in der weiten Wüste, deine Existenz ist nicht mehr, denn ein flüchtiger Lidschlag der Zeit, ein Nichts.'

Diese Worte erzürnten, schienen mit scharfen Klingen tief in Marlenes Herz zu stechen, denn sie waren Erkenntnis. Doch von dieser wollte sie nichts hören, keiner weiteren Silbe lauschen, die ihr Herz und ihren Entschluss ins Wanken bringen konnten!

So packte sie den Gedanken fest beim Schopf, erstickte seine Stimme und schmiedete eiserne Ketten für ihn, die ihn hielten, ihn bannten – bis zu dem Tag, an dem die Zeit die Rache fortgetragen haben würde: Diese verdammte Zeit, welche in der Unendlichkeit des untoten Lebens so bedeutungsleer war und die doch die Macht besaß, zu vernebeln und davonzutragen, die Gedanken schmal schleifen und Wahrheiten verdrehen konnte, die hier und dort ganze Seelen mit sich riss. Bis zu dem Tag, an dem die Zeit den Willen besiegt haben würde, an dem sie sich ihm widerstandslos fügte.

Diese verdammte Zeit.

Zweite Zeiteinheit: Wie Wasser in der hohlen Hand

Prolog
 

Der in seine dunkle Robe gehüllte Richter erhob sich und alle anderen Anwesenden im Saal taten es ihm nach.

Auch aus dieser Entfernung konnte Marlene ihm seinen Fluch ansehen; er war ein Werwolf, sie erkannte ihn an dieser besondere Ausstrahlung, die diesen Wesen anhaftete und die jeden Vampir davor warnte, sich an ihrem Blut zu ergötzen. Denn das wäre sowohl für Vampir als auch für Werwolf das letzte gewesen, was sie erlebt hätten.

Als der Richter zu sprechen begann, schreckte Marlene aus ihren Gedanken auf.

„'Das Gericht für überregionale Geheimhaltung der Existenz der Wesen der Nacht' hat sein Urteil gefällt.“

Er hatte eine tiefe und weiche Stimme, die sie leicht erschaudern und ihn genauer in Augenschein nehmen ließ. Sein kurzes Haar mochte vor einigen Jahren ein sattes Dunkelbraun zur Schau getragen haben, doch heute war es von feinen weißen Strähnen durchzogen. Im Kontrast dazu hatte sein scharf geschnittenes Gesicht fast noch jugendliche Züge, die auch unter der Maske der Ernsthaftigkeit noch deutlich hervorlugten.

„Dragotin van Zenchew, der Falke, und seine Erschaffene, Marlene Charlett, erhalten die Erlaubnis, die Universität von San Francisco zu besuchen.“

Ein Raunen ging durch den Saal, das Marlene nicht zu deuten vermochte. Es schien eine Mischung aus Ungläubigkeit, Freude und Verachtung, vermutlich je nach Wesen, welches den Laut von sich gab. Die Vampire mochten erstaunt sein, vielleicht waren die Chimären, deren Antrag vor gar nicht allzu langer Zeit abgelehnt wurde, erzürnt – und der Laut der Freude? Vielleicht entrungen aus der Kehle einiger der Vampire oder auch der Werwölfe, denen dieses Privileg schon lange zugestanden worden war.

Freudestrahlend wandte sich Marlene ihrem Nachbarn zu, einem hochgewachsenen Mann mit kurzen schwarzen Haar und Augen fast der selben Farbe. Er trug den gleichen dunkelroten Umhang wie sie selbst, ließ jedoch kein noch so leises Lächeln aufblitzen. Einige Sekunden später sollte Marlene auch den Grund hierfür erfahren, denn der Richter fuhr mit seiner ruhigen Stimme fort: „Unter der Voraussetzung, dass zwei Jäger für sie abgestellt werden.“

Erneut unergründliches Raunen.

Nun verhärteten sich auch Marlenes Gesichtszüge.

Was sollte das für eine Freiheit sein? Die Universität besuchen zu dürfen, neue Erkenntnisse der Welt studieren zu können – und zugleich rund um die Uhr unter Bewachung zu stehen, unter der Gefahr, bei dem kleinsten Fehltritt in die ewigen Jagdgründe des Vampirdaseins verbannt zu werden…

Das konnte ja heiter werden.
 

Kapitel 1
 

Eifrig zog Marlene Bücher aus den Regalen. Nicht irgendwelche Bücher, sondern gezielt die dicksten aller Wälzer über die Kausalzusammenhänge von Industrialisierung und den veränderten Umweltbedingungen. Der Professor für Geographie hatte ihr aufgetragen, einen Aufsatz über dieses Thema zu verfassen und diesen wollte sie in keinem Fall enttäuschen.

Als sie die erste Vorlesung in diesem Fach besucht hatte, war es Marlene nicht entgangen, auch, wenn sie es nicht erwartet oder auch nur erahnt hatte: Bei Professor Senay handelte es sich um den Richter, der ihr und ihrem Schöpfer vor einigen Monaten die Befugnis erteilt hatte, diese Universität zu besuchen. Und in diesen Monaten hatte sie der süße Klang seiner Stimme zu keiner Zeit losgelassen.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich leicht, als Marlene nun den Stapel Bücher auf einem der freien Tische ablegte und die junge Frau, die sich direkt daneben aufgestellt hatte, frech angrinste.

Fay erwiderte das Lächeln nicht, blickte ihre Freudin nur aus verständnislosen, grauen Augen an und seufzte: „Die willst du alle bis nächste Woche gelesen haben?“

„Natürlich“, gab Marlene wie selbstverständlich zurück, setzte sich an den Tisch und schlug sogleich das erste Buch, ganz oben auf dem Stapel, auf.

Mit nur einem Schritt war Fay hinter ihr und blickte ihr über die Schulter, wobei einige Strähnen ihres gewellten Blondhaars Marlene am Ohr kitzelten.

Kichernd strich diese das Haar zurück und blickte zu ihrer Freundin auf: „Du musst nicht den ganzen Tag hinter mir herumstehen. Inzwischen solltest du wissen, dass ich nichts anstelle. Oder vertraust du mir etwa nicht?“

Leicht betroffen schüttelte Fay den Kopf: „Es ist meine Aufgabe, ein Auge auf dich zu haben, also habe ich auch ein Auge auf dich. Immer, wenn ich es kann.“

Halb verständnislos, halb verärgert schüttelte nun auch Marlene den Kopf und wandte sich erneut ihrer Lektüre zu.

‚Sie könnte mir langsam wirklich vertrauen’, fuhr es ihr immer und immer wieder durch den Kopf. ‚Sie glaubt doch nicht, dass ich mich die ersten Monate gut verhalten habe, damit sie nachlässig wird und ich jetzt sämtlichen Kommilitonen die Kehle herausreißen kann.’

Doch Fay ließ sich nicht beirren und wachte den ganzen Nachmittag über ihren Schützling, in Gedanken wohl bei ihrem Bruder. Marlene wusste, dass es ihr nicht behagte, ihn allein bei Dragotin zu wissen. Dieser schien ihr, ganz im Gegensatz zu Marlene, eine wahre Gefahr darzustellen.
 

Erst am späten Abend konnte sich Marlene für eine kurze Stunde von Fay loseisen. Sie hatte sie überreden können, nach Dragotin und ihrem Bruder Farin zu sehen und so schlenderte sie nun allein durch die zwielichtigen Gänge der Universität. Da das Wohnheim, in dem viele Studenten, wie auch Marlene und Fay, untergebracht waren, direkt an die Universität grenzte, wurde das Gebäude nie völlig geschlossen, sodass niemand mehr Zutritt gehabt hätte. Insgeheim vermutete Marlene, dass auch die Professoren in der Universität übernachteten, doch bisher hatte sie nicht ausfindig machen können, wo genau sich diese Zimmer befinden konnten.

Sie hätte nichts gegen eine nächtliche Begegnung mit ihrem Geographieprofessor einzuwenden gehabt; eine kleine Begegnung, um die sich auch Fay nicht hätte scheren müssen – schließlich war Marlene für einen Werwolf völlig ungefährlich, wenn sie nicht gerade lebensmüde wurde.

Während sie noch in Gedanken war, kreuzte ein Schatten ihren Weg. Sie blieb so abrupt stehen, dass ihr einige der aus der Bibliothek mitgebrachten Bücher aus den Händen glitten. Das entstandene dumpfe Geräusch hallte im fast leeren Korridor unnatürlich laut wider und ließ nun auch den Schatten erstarren.

Es konnte sich nicht um einen Menschen handeln, denn noch einige Sekunden zuvor war die Gestalt eins mit der Nacht gewesen, nicht mehr, als ein dunkler Fleck in der Dunkelheit, für das menschliche Auge unsichtbar.

Argwöhnisch wandte Marlene sich nach dem Wesen um, als sie Dragotin erkannte – kein Jäger an seiner Seite.

„Verzeihung“, entfuhr es dem dunkelhaarigen Vampir schroff und er bückte sich, um die Bücher aufzulesen. „Es ist gut, dich zu treffen, wir sehen uns selten, seit diese Menschen uns auf Schritt und Tritt folgen.“

„Ach, ich denke, wenn es nach ihnen geht, können wir uns ruhig öfter treffen“, grinste Marlene zurück.

Ihr selbst machte es nichts aus, von ihrem Schöpfer getrennt zu sein. Sie war für einen Vampir noch sehr jung und es gab ihr die Chance, unabhängig zu werden, die Welt auf eigene Faust zu erkunden und so die Möglichkeit, ihr Leben - oder ihren Tod – selbst in die Hand zu nehmen.

„Wo ist denn Farin?“, fragte Marlene weiter, doch Dragotin schnaubte nur.

„Ich denke ich bin eine Nummer zu groß für ihn.“

Mit einem fast verzückten, selbstsicheren Lächeln wurde er erneut eins mit der Nacht und war verschwunden.

Marlenes Herz begann jäh heftig gegen ihre Rippen zu schlagen, während es das in der letzten Nacht zu sich genommene Tierblut durch ihre Venen pumpte.

Er würde doch keinen Kommilitonen angreifen?

Nein, das würde er nicht.

Oder doch?

Erschrocken wandte sich Marlene noch einmal in die Richtung um, in der sie meinte, Dragotin verschwinden gesehen zu haben, doch dort war nichts als Zwielicht.

Doch schon schien die zweite unerwartete Begegnung des Abends zu nahen. Mit einem leisen Quietschen wurde neben Marlene eine Tür aufgedrückt, sodass sie zur Seite springen musste, um zu verhindern, dass ihr das Holz gegen die Schulter schlug.

„Guten Abend.“

Die weiche Stimme ließ Marlene den Kopf heben und all ihren Ärger über die erneut zu Boden gefallenen Bücher vergessen. Sie blickte direkt in die grünen Augen ihres Geographieprofessors, der nun seinen Blick über den Boden und die Bücher schweifen ließ.

Sofort ließ sich Marlene auf die Knie sinken und las die Bücher auf, nur eine kurze Sekunde später ging Professor Senay ihr dabei zur Hand.

„Ich komme gerade aus der Bibliothek“, sagte Marlene entschuldigend, als sie sich wieder aufrichtete und die Bücher in ihren Armen auf mögliche Schäden untersuchte.

„Ich sehe schon, daran ist wohl mein Aufsatz schuld.“

„So in etwa“, entfuhr es Marlene. Schon den Bruchteil einer Sekunde später hätte sie sich auf die Zunge beißen mögen. Mit dieser unhöflichen Art würde sie sich wohl keine Freunde machen.

Doch der Professor lachte nur amüsiert und bat Marlene, noch einen Tee mit ihm zu trinken und bei dieser Gelegenheit über den Aufsatz zu sprechen, was der Vampir natürlich nicht ausschlug.

Ihr Weg führte Vampir und Werwolf den Gang zurück, den Marlene gekommen war, an der Bibliothek vorbei und in den Westflügel des Gebäudes, der stets durch eine verschlossene Tür abgetrennt war. Natürlich hatte Professor Senay einen Schlüssel für den Flügel und so erfuhr Marlene nun doch, wo die Professoren der Universität übernachteten.

Der Flur war viel aufwändiger gestaltet als der Trakt, der zu ihrem eigenen Zimmer führte. Ein weicher dunkelroter Teppich war ausgelegt worden und die Wände schmückten Gemälde längst verstorbener Forscher und Entdecker, Künstler und Philosophen.

Doch lange konnte Marlene sich nicht an der Gemütlichkeit des Flurs erfreuen, denn bereits die dritte abzweigende Tür führte in Professor Senays eher rudimentär eingerichteten Zimmer. Zwar war alles ordentlich zurechtgelegt, doch man sah dem Raum sein Alter deutlich an: An einigen Stellen war die weiße Tapete leicht verfärbt und am Bein des einzigen Tisches fehlte ein fast faustgroßes Stück.

‚Vielleicht ist es nicht das Alter des Zimmers’, überlegte Marlene, ‚sondern eher die Art der Nutzung... Wenn er auch die Vollmondnächte hier drinnen verbringt-‚

Doch wieder wurde Marlene aufgeschreckt, als der Professor sie bat, die Bücher auf seinem ordentlich zurechtgemachten Bett abzulegen und sich zu ihm an den lädierten Tisch zu setzen.

„Du arbeitest sehr hart“, begann er das Gespräch, während der Kocher in der Kochnische hinter ihm das Wasser für den Tee erhitzte.

„Ich gebe mir Mühe“, stellte Marlene die Umstände leicht geschmeichelt richtig, auch wenn es sie sehr erfreute, dass Professor Senay ihre Mühen bemerkt hatte und offenbar auch zu schätzen wusste.

Ein relativ lautes Klicken verriet, dass das Wasser im Kocher erwärmt war, sodass Professor Senay sich erhob, um den Tee aufzugießen: „Schwarzer Tee?“

„Wenn er mild ist, gern“, antwortete Marlene, den Kopf auf die gefalteten Hände gelegt. Von so nahem wurde ihr das erste mal bewusst, wie breit seine Schultern waren…

„Wieso bist du ohne den Jäger unterwegs, der dich begleiten sollte?“

Halb erschrocken hob Marlene den Kopf. Eine Standpauke, das hätte sie sich auch denken können.

Verlegen suchte sie nach den richtigen Worten und sagte dann, den Blick auf Senays Rücken geheftet: „Fay ist gegangen, um nach ihrem Bruder zu sehen, der ein Auge auf Dragotin haben soll.“

Eigentlich hatte sie noch mehr sagen wollen, doch ihre Stimme verlor sich, als der Professor sich zu ihr umwandte, Sorgenfalten auf der sonst so glatten Stirn. Er stellte den Tee auf dem Tisch ab, setzte sich jedoch nicht, sondern blieb hinter seinem Stuhl stehen und schien Marlene zu fixieren.

„Das ist nicht ihre Schuld!“, lenkte der junge Vampir sofort ein und schickte sich an, aufzustehen, doch der Professor legte ihr eine seiner kräftigen Hände auf die Schulter, um sie zu beruhigen.

„Das habe ich auch nicht behauptet.“

Eine kurze Stille trat ein, während der Marlene den Blick hinab in ihre Teetasse lenkte.

Es war nicht ihr Recht, allein in der Universität unterwegs zu sein, so weit hätte sie denken sollen. Das Gericht hatte ihr einen Begleiter auferlegt und an das, was das Gericht entschied, war sich zu halten.

Doch schon einige Sekunden später schwankten ihre Gedanken in eine andere Richtung:

'Wo ist denn Farin?'

'Ich denke ich bin eine Nummer zu groß für ihn.'

„Vielleicht ist es keine schlechte Idee von Fay nach ihm zu sehen“, entfuhr es Marlene im Flüsterton, dennoch schien der Werwolf jedes Wort verstanden zu haben: „Wieso?“

Er suchte Blickkontakt, den Marlene bewusst vermied. Sie konnte es nicht ertragen in diese unergründlichen grünen Augen zu blicken, während sie Gedanken hegte, die ihr selbst schmerzten…

„Ich habe ihn getroffen, bevor ich Ihnen auf dem Flur begegnete… Farin war nicht bei ihm. Vielleicht hat er ihn nur abgeschüttelt. Oder aber…“

Langsam hob Marlene den Kopf und blickte nun doch zu Senays Gesicht auf. Seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen und nun ließ er sich langsam auf den freien Stuhl am Tisch sinken.

Ein leiser Laut entfuhr ihm, der sehr an ein Seufzen erinnerte, dann nahm er einen kleinen Schluck Tee; einen sehr kleinen, denn das Wasser war eigentlich noch zu heiß, um es zu trinken.

„Kannst du nicht zusätzlich ein Auge auf ihn haben?“, fragte er nach einigen Sekunden vorsichtig, als enthielte diese Frage ein Übermaß an Unhöflichkeit.

Erschrocken schüttelte Marlene den Kopf: „Selbst wenn ich es wollte: Er ist alt wie die Welt – und ich? Gerade mal ein halbes lausiges Jahrhundert!“

Frustriert nahm auch sie einen Schluck Tee, der ihr die Zunge versengte und sie husten ließ. Dann faltete sie erneut die Hände: „Ich dachte nicht, dass wir darüber sprechen würden.“

„Mh“, machte der Professor halb interessiert, halb belustigt. „So, wovon möchtest du sprechen?“

Sie wollte ‚über Sie’ sagen, doch das wagte sie nicht. Stattdessen hüllte sie sich eine kleine Weile in Schweigen, bis sie mit den Achseln zuckte.

Ein leises Lächeln huschte über Senays Lippen, das jedoch genauso rasch, wie es gekommen, auch wieder verschwunden war. Nun schien auch er nachzudenken, von seiner lockeren Art war nichts mehr zu spüren. Jäh schien dieses kleine Treffen für ihn ebenso genauso ernst, wie es für Marlene von vorn herein gewesen war.

„Was macht dir Sorgen?“, fragte er schließlich, den Blick auf Marlene geheftet, die leicht verwundert zu ihm aufsah.

„Vieles“, antwortete sie schließlich, nicht sicher, was sie ihm erzählen sollte, und was sie besser verschwieg; nicht sicher, ob er es aus reiner Höflichkeit gefragt hatte, oder ob es ihn wirklich interessierte.

„Dragotin macht mir Sorgen“, sagte sie schließlich, den Blick erneut in ihre Tasse gerichtet. „Ich fürchte mich davor, dass er einem Schüler etwas antun könnte – und davor, dass er den Jäger, der ihn begleitet, verletzen könnte.“

Sie machte eine kurze Pause, doch Professor Senay schien zu wissen, dass sie noch weitersprechen wollte, denn er schwieg, um sie nicht zu unterbrechen.

„Wenn das geschieht, müssen wir die Universität verlassen, richtig?“

Nach dieser Frage blickte sie zu ihrem Gegenüber auf, der keine Antwort gab, doch sie konnte das unangenehme ‚Ja’ in seinen Gesichtszügen lesen.

„Ich möchte nicht fort von hier. Es macht mir Spaß, all diese Dinge zu lernen – unter Menschen zu sein. Wir müssen Menschen nicht töten, wir haben die Macht dazu. Aber ist es nicht unfair uns zu bestrafen, weil wir etwas Schreckliches tun könnten“

Je weiter Marlene sprach, desto mehr redete sie sich in Rage. Sie wollte das, was sie schon so lange fühlte, in die Welt hinausschreien; in diesem Moment war es ihr gleich, wer ihr Gegenüber war.

„Werwölfe können auch Menschen töten, sie würden es nicht einmal bemerken! Auch Menschen können Menschen töten. Aber deshalb hält man sie nicht voneinander fern!“

Als Marlene geendet hatte, breitete sich ein tiefes Schweigen im Raum aus. Sie schämte sich ihrer Worte und senkte den Kopf – auch um die Tränen aus Blut zu verbergen, die sich in ihre Augenwinkel geschlichen hatten. Und der Professor schien keine Antwort auf Marlenes Frage zu kennen, keine Lösung für ihr Problem.

Fahrig fuhr sich der Vampir mit dem Ärmel der Schuluniform über die Augen. Mit einer zittrigen Hand griff sie nach ihrer Tasse und trank den Tee, an dem sie sich nun kaum mehr verbrühen konnte.

Es hatte keinen Sinn, es auszusprechen. Was sollte er schon daran ändern? Wie sollte er es schon verstehen, als Werwolf, der längst die Rechte eines freien Menschen hatte.

Als sich die Blicke von Vampir und Werwolf trafen, konnte Marlene wahre Bekümmernis im Gesicht ihres Gegenübers lesen. Verwundert richtete sie sich auf und wollte gerade etwas sagen, als Professor Senay sich erhob, hinter sie trat und ihr die Arme um den Hals legte, den Kopf auf ihrer Schulter abgelegt.

In diesem Moment war ihr Kopf völlig leer. Überall um sie herum, in ihrem Inneren, herrschte völlige Stille. Nur ihr Herz schlug laut und vernehmlich gegen ihre Rippen, sodass es schien, es wolle ihrer Brust entweichen, und ein warmes Kribbeln erfüllte ihren Bauch.

„Wieso siehst du mich immer so an?“, sagte der Professor leise, fast war es nur ein Hauch in ihrem rechten Ohr, doch Marlene verstand jedes Wort genau. „Wie soll es ein Mann ertragen, von einer Frau so angesehen zu werden? Ihr Blick fleht nach seiner Hilfe und er, er kann nichts für sie tun.“
 

In dieser Nacht verriet Professor Senay seiner Studentin seinen Vornamen und bot ihr das Du an.
 

Kapitel 2
 

„Du bist heute so fröhlich, das ist ja fast beängstigend“, murmelte Fay beim Frühstück in einer nahen Bäckerei mit Stehcafé. Sie war ausgesprochen schlecht gelaunt, wie man es nicht von ihr kannte, und völlig übermüdet. Egal wie sehr Marlene auf sie eingesprochen hatte, sie hatte sich nicht davon abbringen lassen, sich statt einem anständigen Frühstück eine ganze Kanne Kaffee zu bestellen.

„Nein, das kommt dir nur so vor, weil du so schlecht drauf ist“, gab Marlene lachend zurück.

Diese kleine Lüge würde ihr der Herr im Himmel vergeben – falls es ihn wirklich gab, was sie zu bezweifeln wagte.

„Vielleicht“, murmelte Fay. „Wir sind die ganze Nacht herumgerannt und haben nach Dragotin gesucht. Ich hätte Farin eigentlich nicht helfen müssen, er ist darin wirklich viel besser als ich. Ich könnte schwören, dass wir ihn ein paar Mal nur um Sekunden verpasst haben!“

Wütend ballte sie die linke Hand zur Faust, ließ sie dann jedoch kraftlos auf den Tisch sinken: „Das war die Hölle.“

„Solange das alles war, was passiert ist“, meinte Marlene erleichtert und nahm einen Bissen von ihrem Croissant.

„Naja. Wir haben ihn wohl genug beschäftigt, sodass er keinen Menschen anfallen konnte. Am Ende haben wir ihn dann tot im Bett gefunden. Also ich meine schlafend. Oder was auch immer ihr Vampire macht, um euch auszuruhen.“

„Wir nennen das ‚ruhen’. Aber mit ‚tot’ langst du da gar nicht so verkehrt.“

„Erspar mir die Details, bitte. Entschuldigung? Ich nehme noch einen Kaffee“, rief Fay der Bedienung hinter dem Tresen zu, die sogleich herbeigeschlurft kam.

„Fay!“, meinte Marlene tadelnd, doch ihre Freundin winkte ab: „Immerhin muss ich noch den ganzen Tag auf dich aufpassen. Das ist vielleicht ein Job. Nicht mal viel Geld bekommt man dafür. Aber man dient ja dem Allgemeinwohl.“

„Auf mich aufpassen, also wirklich. Das klingt, als wäre ich ein kleines Mädchen“, gab Marlene leicht pikiert zurück. „Aber du kannst heute früh zu Bett gehen, ich bin verabredet.“

Und auf Fays zweifelnden Blick hin fuhr sie fort: „Und zwar mit jemanden, den ich nicht beißen kann.“

Als der zweifelnde Blick nicht aus Fays Gesicht verschwand ergänzte sie: „Mit einem Werwolf, wenn du’s unbedingt wissen willst.“

Jäh breitete sich ein Grinsen auf Fays Gesicht aus: „Ach nein!“

„Woran denkst du denn bitte schon wieder?“

„Daran, dass du ein Date mit deinem Prof hast!“

Wäre Marlene kein Vampir gewesen, der, wie alle Vampire, aufgrund der schlechten Durchblutung stets bleich war, wäre sie nun rot geworden.

„Nicht so laut“, zischte sie leise. „Außerdem ist es kein Date, wie du es nennst…“

„Also hatte ich Recht, du trifft Professor Senay!“, rief Fay offensichtlich erfreut aus. Ob sie sich über Marlenes Glück oder den Umstand, dass sie Recht gehabt hatte, freute, war jedoch nicht ersichtlich.

„Jaja, schon gut. Tu mir einen Gefallen und erzähl das nicht überall rum. Die Leute denken schließlich, ich sei eine ganz gewöhnliche Schülerin und somit wohl ein wenig jung für ihn. Außerdem darf er sich gar nicht auf eine seiner Schülerinnen einlassen…“

„Einlassen, das klingt jetzt aber doch nach Date“, lachte Fay laut und leerte ihre Kaffeetasse mit einem Zug.

Erst jetzt wurde Marlene klar, dass das Koffein begonnen hatte, seine Wirkung zu zeigen, was sie dazu bewog, schnellst möglich das Thema zu wechseln: „Wir könnten langsam zur Uni gehen.“
 

Marlene wollte gerade das Gebäude der Universität betreten, als sie ihren Namen vernahm.

„Guten Morgen, Marlene.“

Sie hatte Dragotins Stimme sofort erkannt, sie kann diese besser als jeder andere und so musste sie sich nicht einmal zu ihm umwenden. Noch war ihr nicht klar wieso, doch aus irgendeinem Grund war der dunkelhaarige Vampir der letzte, mit dem sie nun sprechen wollte. So tat sie die Begrüßung, die ganz offensichtlich auf ein Gespräch abzielte, mit einem gemurmelten „Guten Morgen“ ab und schickte sich an, die Universität zu betreten.

Dass dies ein Fehler gewesen war, wurde ihr spätestens bewusst, als sich eine kräftige Hand um ihr Handgelenk schloss und sie zurückhielt. Die Stirn in Falten gelegt wandte sie sich nun endlich zu Dragotin um, der sie ein Stück vom Eingang wegzog, um den einströmenden Studenten nicht den Weg zu versperren.

Im Augenwinkel konnte Marlene sehen, wie Fay, die sie begleitet hatte, einen jungen Mann flüchtig in die Arme schloss, dessen Haar ebenso lang und blond war wie das Ihre. Die Familienähnlichkeit war selbst in diesem flüchtigen Blick unverkennbar.

„Du weichst mir aus“, stellte Dragotin mit ruhiger Stimme fest, die so selten emotionalen Schwankungen unterlag. Dabei blickte er Marlene jedoch fast beängstigend offen in die Augen, sodass diese den Blick abwendete.

Es war ein ungeschriebenes Gesetz, eine Art Instinkt, wie die, denen Tiere folgten. Ein Blick in die Augen eines Vampirs war im Normalfall mit einer offenen Kampfansage gleichzusetzen, ein Kampf um das Recht des Stärkeren. Ein zu langer Blick in die Augen eines mächtigeren Vampirs könnte das letzte gewesen sein, was man tat.

„Sieh mich an“, forderte Dragotin Marlene jedoch weiterhin ruhig auf, was sie überrascht aufblinzeln ließ.

Fast mühsam, wider jede ihr eigene Vernunft, hob sie den Kopf und blickte in diese dunklen Augen, die sich kaum gegen das schwarze Haar ihres Gegenübers abhoben.

„Warum?“, fuhr Dragotin fort, er hatte die Stimme gesenkt, sodass ihn wohl nur noch Marlene verstehen konnte.

Tief in ihrem Innern wusste sie, dass er Recht hatte, doch das wollte sie weder sich noch ihm eingestehen.

„Das kommt dir nur so vor“, lächelte sie also matt und machte Anstalten, sich wieder der Universität zuzuwenden, doch erneut hielt Dragotin sie zurück, dieses Mal eine Hand auf ihre Schulter gelegt.

„Wie lange ist es her? Ein halbes Jahrhundert? Ich glaubte, du würdest darüber hinwegkommen“, gab er zurück, ihre Antwort übergehend.

Eine Woge aus alten Erinnerungen überschwemmte Marlene. Es war Nacht, Schreie in der einsten Stille – und Blut, überall Blut. Wieso sie, wieso ausgerechnet sie? Wieso keiner ihrer Familie, wieso keiner ihre Freunde? Nur sie – zu grausam. Einsamkeit.

Während die Bruchstücke durch Marlenes Kopf gewirbelt und ihr die Gedanken vernebelt hatten, konnten nicht mehr als einige Sekunden vergangen sein, denn Dragotin schien immer noch geduldig auf eine Antwort zu warten.

‚Da hast du dich wohl geirrt!’, wollte sie ihm entgegenschreien, doch die Worte bildeten sich nicht in ihrem Mund, lediglich in ihrem Kopf. Wohl, da sie um seine Macht wusste; wusste, dass sie selbst nichts gegen ihn ausrichten konnte, nichts gegen ihn war. Was war es, das sie an den Vampir fesselte und doch von ihm fern hielt? Abhängigkeit oder Angst?

Marlene musste die Augen kurz zusammenkneifen und wieder öffnen, um die finsteren Gedanken gänzlich abzuschütteln. Doch nun hielt sie nichts mehr an diesem Ort, bei ihm.

„Ich muss in die Vorlesung“, sagte sie mit einer Kälte, die sie beinah dazu brachte, sich vor ihr selbst zu fürchten. Sie hatte nicht gewusst, dass die so kalt und abweisend klingen konnte – so wie er.

In Gedanken verstrickt riss sie sich aus Dragotins Griff los, marschierte zielstrebig auf den Eingang der Universität zu und war einige Sekunden später im Gebäude verschwunden.

Fay warf noch einen Blick zurück in das Gesicht ihres Bruders, das eine gerunzelte Stirn zur Schau trug, dann hastete sie Marlene nach, um sie einzuholen.
 

Es war, als Marlene in den hohen Spiegel aufblickte, der zur Standarteinrichtung der kleinen Studentenwohnungen gehörte und sich wünschte, sie würde sich dort sehen können, als ihr klar wurde, dass sie nichts Besonderes zum Anziehen besaß.

„Du meintest doch mal, du hättest noch diesen Fummel, den du vor Gericht getragen hast“, versuchte Fay, die auf ihrem Bett saß, Marlene halb gelangweilt zu beruhigen. Dass sie keinen Wert auf Äußerlichkeiten legte, mochte wohl an ihrem waghalsigen Beruf liegen.

„Das ist ein Umhang“, hab Marlene zurück.

„Wieso denn nicht?“

Inzwischen hatte Fay den Kopf in die Hände gestützt, ob aus Langeweile oder ob von der Vornacht rührender Müdigkeit, war nicht erkenntlich.

„Es ist ein dunkelroter Umhang mit silbernen Dreiecksknöpfen“, seufzte Marlene leicht gereizt. „Über der linken Brust ist Dragotins Zeichen aufgestickt.“

„Wo ist das Problem? Dein Professor wird sich wohl nicht mehr an das Zeichen deines … Erschaffers erinnern“, murmelte Fay, nun ebenfalls gereizt. Im ersten Moment hatte sie nicht gewusst, wie sie Dragotins Verhältnis zu Marlene betiteln sollte.

„Fay“, begann Marlene überspitzt belehrend, „seit wie vielen Jahren knallst du Wesen wie mich ab?“

Auf diese Frage schien die Angesprochene nicht vorbereitet gewesen zu sein, denn sie brauchte einige Sekunden, bis sie antwortete. Vielleicht war ihr die Situation aber auch einfach nur unangenehm: „Seit fünf Jahren vielleicht.“

In der Zwischenzeit hatte Marlene den Umhang, von dem sie gesprochen hatte, aus ihrem Schrank gezogen und hielt ihn demonstrativ vor ihre Brust: „Und dann weißt du nicht, dass das hier ein Umhang ist, den nur Vampire tragen dürfen? Für heute Abend wäre das wohl wenig angebracht.“

Tatsächlich schien die Jägerin leicht verwirrt, während sie den fließenden roten Stoff in Augenschein nahm. Nach einigen Sekunden fragte sie, mit einer Spur mehr Interesse als zuvor: „Gibt es solche Umhänge auch für Werwölfe?“

Marlene blinzelte. Sie wusste nicht recht, ob sie lachen oder weinen sollte, entschied sich dann für ein verhaltenes Kichern, ließ sich neben Fay auf dem Bett nieder und sagte: „Natürlich nicht! Werwölfe haben keine so gut durchorganisierte Gemeinschaft wie Vampire. Wie auch, die meisten wissen ja nicht einmal, wer sie zu dem gemacht hat, was sie sind. Anders als bei uns.“

Bei den letzten Worten hatte Marlene den Blick auf den dunkelroten Umhang gelenkt und strich nun mit dem Zeigefinger über den aufgestickten Silbervogel, der ihn zierte.

Ja, Dragotins Zeichen, das Zeichen dafür, dass sie zu ihm gehörte, von ihm erschaffen war – vielleicht sogar dafür, dass sie ihm gehörte.

Doch diesen Gedanken verscheuchte der junge Vampir rasch.

„Außerdem schützt uns der Umhang vor dem Tau“, setzte sie fröhlich nach, sprang vom Bett auf und hängte den Umhang zurück in ihren Schrank, um darin intensiv nach einem anderen Kleidungsstück zu suchen.

„Dem… Tau?“

Wenn Marlene Fay nicht so gut gekannt hätte, dann hätte sie wohl gedacht, es hätte sich um gespielte Verwirrung gehandelt, doch so blieb ihr nichts anderes übrig, als selbst verwundert inne zu halten und sich zu ihrer Freundin umzudrehen.

Eine Sekunde lang wollte Marlene ihr von dem Tau erzählen, dem reinlichsten aller Wasser, entschied sich dann jedoch dagegen. Sicher gab es einen guten Grund, aus dem ein Jäger wie Fay nichts von dieser Schwäche der Vampire wusste und dieser lag nicht gerade fern.

„War nur ein Witz“, lachte sie ihrer Freundin also entgegen, welche diese seltsame Sinneswandlung mit dem Anheben der linken Augenbraue kommentierte.

Wieso glaubten die Menschen nur, Knoblauch würde Vampiren schaden? Hatten sie schon einmal jemanden beim Anblick eines Gemüses sterben sehen? Natürlich, Knoblauch stank zum Himmel, aber dass ein Mensch, Vampir oder sonstiges Wesen erstunken war, wäre Marlene gänzlich neu gewesen.

Nein, Tau war es, vor dem sich jedes dunkle Wesen in Acht nehmen sollte. Er hatte eine äußerst reinigende Wirkung, was einem Vampir bei Kontakt schwere Brandwunden bescherte. Und so auch Silber, die beliebteste Methode ein dunkles Wesen, ob Werwolf oder Vampir, zu töten. Marlene hatte einmal gehört, dass Silber aus gefrorenem Tau entstanden sei und so seine Wirkung übernommen und sogar vervielfacht hätte – doch so recht glaubte sie nicht daran.

In der Zeit, während der Marlene ihren Gedanken nachgehangen hatte, war Fay von ihrem Bett aufgestanden und an sie herangetreten. Nun streckte sie einen Arm aus und griff über Marlenes Schulter hinweg in den Schrank hinein, um kurz darauf eine an den Säumen dezent berüschte Bluse herauszuziehen.

„Was hältst du von der hier?“, fragte sie, das weiße Kleidungsstück betrachtend.

„Das ist doch schon seit Jahrhunderten aus der Mode“, gab Marlene trocken zurück, doch Fay grinste nur: „Jetzt nicht mehr.“

Und damit drückte sie dem Vampir die Bluse in die Hand und zwinkerte.
 

Als Marlene in den Abend hinaus trat, der ob der Jahreszeit finster wie die Nacht war, breitete sich eine seltsame Mischung aus gegenläufigen Gefühlen in ihrer Brust aus. Die Aufregung, die sich während der Suche nach der passenden Kleidung vor einer Stunde in ihr aufgebaut hatte, war in den letzten Minuten zu einer kaum noch zu ertragenden Unruhe angeschwollen, die sie wie tausend Insekten durchfuhr. Dazu gesellte sich nun, unter freiem Sternenhimmel, ein wachsendes Gefühl der Freiheit und Macht.

Normalerweise beeinflusste Marlene die Nacht kaum, da sie nur über spärliche vampiristische Fähigkeiten verfügte, die bei Einbruch der Dunkelheit zu Tage kamen – kein Wunder, schließlich ernährte sie sich ausschließlich von tierischem Blut, das wesentlich weniger Energie spendete als Menschliches. Dazu kam noch ihr niedriger Rang in der Vampirgemeinschaft: Von ihrer Erschaffung an hatte Marlene keine besonderen Begabungen besessen, wie es bei anderen Vampiren der Fall war und so wurde sie in den niedrigsten Rang eingestuft. Um einen Rang aufzusteigen, mussten Rangkämpfe ausgetragen werden, was sie verabscheute. Und das nicht nur, weil die Unterlegenen Vampire nicht selten zu Tode kamen, zu endgültigem Tode.

Doch diese Nacht war anders. Sie strömte mit all ihrer Schönheit und absoluten Finsternis auf Marlene ein und beflügelte sie, berauschte sie geradezu. Ihre Augen waren geschärft und sie fühlte sich auch körperlich stärker als gewöhnlich. Der perfekte Abend für die Jagd und wäre Marlene nicht verabredet gewesen, hätte sie diese einmalige Gelegenheit gewiss genutzt.

Eine jähe Erkenntnis durchfuhr den Vampir und ließ seinen Blick zum Himmel hinauf huschen. Die Sterne leuchteten hell an ihrem Zelt aus schwarzem Samt, doch weit und breit war keine Spur vom Mond zu erkennen.

‚Neumond’, fuhr es Marlene durch den Kopf, als sie ihre Vermutung bestätigt fand. ‚Die Nacht der Nächte für jedes Wesen der Nacht – abgesehen von Werwölfen vielleicht.’

Bei diesem Gedanken hatte sie jäh die Muße, sich voll und ganz auf ihr Ziel zu konzentrieren, denn das Bild von Professor Senay war vor ihrem inneren Auge aufgetaucht und hatte die Insekten in ihrem Bauch und ihren Adern wiedererweckt.

Am Vorabend waren Marlene und der Professor zu dem stillen Einvernehmen gekommen, ihren Treffpunkt in eines der rennnormierteren Lokale der Stadt zu legen. Ihr war es nur recht gewesen, sie hasste volle und laute Orte und ihr war bekannt wie laut es werden konnte, wenn Teenager Alkohol konsumierten. Sie wussten einfach nicht, wie viel von dem Teufelszeug gut für sie war. Marlenes Meinung nach kein einziger Tropfen, doch danach würde sich wohl niemand richten.

Im kalten Wind leicht zitternd erreichte sie das angesteuerte Lokal: ‚Charter’s Room’.

Als sie es betrat, musste sie zwar feststellen, dass es durchaus gut besucht war, doch die Lautstärke hielt sich im Rahmen. An den im großen Raum verstreuten Holztischen mit dezenten lindgrünen und wollweißen Tischdecken, saßen vor allem Männer, die wohl um die dreißig Jahre alt sein mochten und auf der kleinen Anhöhe mit den etwas größeren Tischen hatten sich einige Familien eingefunden.

Eine Kellnerin, deren Arbeitskleidung die Farben der Tischdecken widerspiegelte, begrüßte Marlene freundlich, wenn auch offenkundig verwundert.

‚Natürlich’, fuhr es dem Vampir durch den Kopf, ‚Mädchen, die so jung aussehen wie ich, kommen sicher selten hier vorbei.’

Fast beruhigend machte Marlene der Kellnerin klar, dass sie verabredet war und als sie gerade nach dem Professor fragen wollte, erblickte sie ihn bereits im Augenwinkel; er hatte einen Platz in der hintersten Ecke des Lokals ausgesucht, was Marlene für ausgesprochen geschickt hielt. Schließlich wusste sie nicht, worüber sie noch sprechen würden und wenn die Menschen um sie herum etwas von Vampiren und Werwölfen aufschnappten, würden ihre Gesichter wohl schneller in der Klatschspalte der Zeitung erscheinen, als sie widersprechen konnten.

Während Marlene auf den Professor zuging, fiel ihr auf, dass er nicht anders gekleidet war, als in der Universität – zwar konnte das durchaus daran liegen, dass er stets einen dunklen Anzug trug, doch Marlene ereilte dennoch das schreckliche Gefühl, ihre Rlüschenbluse wäre wohl eine Spur zu dick aufgetragen. Für einige Sekunden wünschte sie sich, ihre Schuluniform angezogen zu haben, doch dieser Wunsch verflog sofort, als Professor Senay sich von seinem Stuhl erhob, um sie zu begrüßen, und die Menschen am Nachbartisch aufgeregt zu tuscheln begannen. Nein, die Schuluniform hätte sie noch stärker auffallen lassen.

„Guten Abend“, begrüßte der Professor Marlene, die, von seiner weichen Stimme erneut in Aufregung gestürzt, nur ein leises „Hallo“ zurückgeben konnte.

Einige Sekunden standen sich die beiden stumm gegenüber, nicht sicher, welche Form der Begrüßung angebracht war, dann beugte sich Professor Senay zu Marlene hinunter und umarmte sie kurz und freundschaftlich, bevor er ihr einen Stuhl anbot.

Für die wenigen Sekunden der Umarmung war Marlene in einen Rausch aus süßer Hingabe abgeglitten und nun, da sie geendet hatte, durchfuhr ihr Herz ein leises aber aufdringliches Ziehen, das nach einer Fortsetzung verlangte. Dennoch ließ sich Marlene so ruhig es ihr möglich war auf ihrem Stuhl nieder, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und faltete die Hände, wie sie es oft tat.

Während sich Professor Senay setzte, war ein schreckliches Schweigen entstanden und es war eine reine Banalität, die Marlene in den Sinn kam, um es zu brechen: „Ich hoffe ich bin nicht zu spät.“

„Eine Dame hat das Recht, sich zu verspäten“, gab der Professor nur ruhig zurück, ohne die indirekte Frage zu beantworten.

Es war seltsam. In solchen Momenten erschien es Marlene immer, als wäre Senay seinem Zeitgeist entflohen und führte die Sitten der Vergangenheit fort, die ihr selbst so vertraut waren. Es war seltsam – und es war schön. Alles erschien so vertraut, wenn sue in seiner Nähe wat, fast, als wäre die Welt für sie stehen geblieben und ihr nicht mit all ihrer Technik und all ihren verwirrenden Kausalzusammenhängen davongelaufen. Als wäre alles so einfach, wie es immer gewesen war, als sie noch gelebt hatte.

„Erzähl mir doch von dir“, bat der Professor kurze Zeit später mit einem warmen Lächeln auf den Lippen.

„Von mir? Ich dachte aus dem Gerichtsverfahren weißt du genug über mich“, wehrte Marlene etwas enttäuscht ab. Es war diese Nüchternheit, die ihr ganz und gar nicht gefallen wollte, diese Rationalität, die aus dieser Bitte sprach.

Der Professor lachte halblaut und offenbar wirklich belustigt: „Ich kenne deinen Namen, ich weiß, dass du den fünften Rang unter den Vampiren bekleidest und, dass Dragotin dich erschaffen hat. Das ist alles und nichts davon ist von großer Bedeutung, findest du nicht?“

Leicht verwundert zog Marlene die Arme vom Tisch und legte sie auf ihren Beinen ab, während sie Senay fragend anblinzelte: „Natürlich – aber was könnte ich dir stattdessen erzählen?“

„Zum Beispiel könntest du mir verraten, an was du Freude hast.“

Darüber musste Marlene erst einmal nachdenken. Was sie gern hatte?

Sie hatte Fay sehr lieb gewonnen, sie mochte es, sich mit ihr zu unterhalten und mit ihr zu lachen, sie mochte es, dass sie ihr alles anvertrauen konnte – so gut wie alles.

Sie mochte die Universität mit ihren vielen Büchern, die so voller Wissen steckten, mit ihrem Leben und ihrer Lebendigkeit und den Erkenntnissen, die man dort erlangen konnte.

Und sie mochte ihn. Seine grünen Augen, seine schönen Hände, seine breiten Schultern. Sie schätzte seine Art, für jeden ein freundliches Wort zu haben und sein Gefühl für Etikette, seine zärtlichen Worte, einfach alles an ihm.

Doch nichts davon schien nun die richtige Antwort auf die Frage des Professors zu sein. Schließlich entschied sie sich für die einfachste und naheliegenste Antwort: „Ich mag den Neumond.“

„Und ich hasse den Vollmond.“

„Wenn sich das nicht trifft“, konnte Marlene sich nicht verkneifen zu sagen und Professor Senay lachte offensichtlich erfreut auf.

„Ich habe gehört, Kobolde glauben, bei Neumond bestünde eine größere Wahrscheinlichkeit, dass ihr Gold gestohlen würde“, gab er mit gedämpfter Stimme zurück und Vampir und Werwolf verbrachten eine ganze Zeit lang mit einem fröhlichen Gespräch über die Auswirkungen der Mondphasen auf die verschiedensten Geschöpfe, an dessen Einzelheiten sich Marlene bereits einige Tage später nicht mehr würde erinnern können.

Der schwarze Zeiger der runden Uhr, die schräg hinter Professor Senays Rücken an der Wand prangte, nährte sich bereits der elf, als das Gespräch eine Wendung aus dem Plauderhaften ins Private nahm, wie es von Marlene und vielleicht auch Senay von Anfang an gewünscht worden war.

„Elfen sollen es schön warm mögen“, plauderte Marlene gerade, auf die Frage des Professors hin, wieso sie glaubte, dass Elfen oft unter der Bettdecke von Menschen schliefen. Die Wesen der Nacht, wie er und Marlene es waren, hatten nicht viel mit den hellen Wesen wie den Elfen zu tun, sodass ihnen genug Spielraum für enthusiastische Spekulationen blieb.

„Und du?“, wollte der Professor daraufhin in jäh ernstem Tonfall wissen und blickte Marlene direkt in die Augen.

„Ich?“, begann diese, den Blick abwendet. „Ich habe auch nichts gegen einen warmen Schlafplatz. Dass Vampiren Kälte nichts ausmacht, ist ein Missverständnis. Weil wir schlecht durchblutet sind, sind wir zwar immer kalt, aber das heißt noch lange nicht, dass uns nicht kalt werden kann. Ganz im Gegenteil.“

„Ich mag es auch warm“, flüsterte Senay, während er sich über den Tisch zu Marlene beugte, die nun seinen Blick suchte.

War es das, wonach es klang? Ihr Herz begann schneller zu schlagen, während sie in die grünen Augen des Professors blickte, in denen sich der Schein der Kerze, die in der Mitte zwischen ihnen brannte, spiegelte.

Rasch griff der Professor nach besagter Kerze und schob sie an den Rand des Tisches, Marlenes Augen folgten ihr.

„Rion…?“, begann Marlene, ohne zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte und verwendete damit zum ersten Mal den Vornamen des Professors.

„Ja?“, fragte dieser und zog sich wieder ein Stück von ihr zurück, doch dieses Mal war es an ihr, sich über den Tisch zu beugen.

Es dauerte einige Herzschläge, bis Marlene sich die richtigen Worte zurechtgelegt hatte: „Ich mag es, wenn du das tust. Das ist wohl die passende Antwort auf deine anfängliche Frage.“

„Wenn ich was tue?“, wollte Rion Senay ernst und in keiner Spur über diese inkonkrete Aussage verwundert oder verärgert, wissen.

„Wenn du so bist, wie du bist“, gab Marlene leise zurück, über die Reaktion des Professors besorgt, doch dieser lächelte nur: „Ich verstehe.“

Und dann beugte auch er sich erneut über den Tisch und ihre Lippen berührten sich zu einem kurzen und sanften Kuss, der eine Woge aus Glücksgefühlen über Marlene zusammenschlagen ließ. Ihr Herz pochte nun so heftig, dass sie kaum noch klar denken konnte – und genau in diesem Moment ereilte sie die Erkenntnis, dass es nur Zeit war, zu gehen.

„Es ist spät, wir sollten langsam aufbrechen“, meinte sie nur rasch und wich Rions verwirrtem Blick aus.

Aus dem Augenwinkel konnte sie dennoch die Regungen auf seinem Gesicht erkennen und sie war sich fast sicher, ihn verletzt zu haben, doch als sie sich wieder zu ihm umwandte, war diese Regung wie ausradiert. Er winkte eine Kellnerin heranm zahlte für sie beide und bot Marlene dann den Arm an, um sie nach draußen zu führen.

Ja, es war wirklich an der Zeit gewesen, die Situation aufzulösen, weiß Gott im Himmel, was sich noch daraus entwickelt hätte. Marlene wollte sich lieber nicht ausmalen, wie Dragotin reagieren würde, wenn er auch nur von ihrem Treffen mit Professor Senay erfuhr. Sie wollte den Professor nicht verletzten – doch sie wollte auch nicht zulassen, dass er verletzt wurde und letzteres würde physische Schmerzen beinhalten. Obwohl sie sich nicht ganz sicher war, was für Rion erträglicher gewesen wäre: psychischer oder physischer Schmerz. Doch für diese Überlegung war es zu spät. Nun blieb Marlene nur noch, dem Professor eindrücklich zu vermitteln, wie viel er ihr wert war, indem sie ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange hauchte.

„Wieso gehen wir den Weg nicht gemeinsam?“, fragte Rion skeptisch, doch vermutlich wusste er die Antwort schon, als Marlene den Blick zum Himmel empor wandern ließ und bevor sie antwortete: „Ich würde gern noch ein wenig durch den Wald streifen.“

Stumm nickte der Professor in offenbarem Verständnis und verabschiedete sich noch einmal, bevor er hinter einem der großen Häuser Verschwand, die den Blick auf die entfernte Universität versperrten.

Erneut draußen in der Nacht hatte Marlene tatsächlich noch einmal das Verlangen überkommen, zu jagen. Sie hatte lange kein Blut mehr getrunken und das Verlagen würde weiter anwachsen, bis sie ihm nachgeben musste, ob sie wollte, oder nicht. Doch dann würde sie nicht mehr kontrollieren können, gegen wen oder was sich ihr Angriff richtete.

Gerade, als Marlene sich auf den Weg zum Stadtrand machen wollte, vernahm sie den Ruf eines Raubvogels. Wie angewurzelt blieb sie stehen und ließ den Blick durch die Nacht wandern: Dieser Ruf war kein Teil der Nacht gewesen, es musste sich um einen tagaktiven Vogel handeln und das war es, was Marlenes Herz beinahe zum Stillstand brachte und ihr die Kehle zuschnürte.

Aus einem nahen Baum, der vereinzelt zwischen den Häusern wuchs, erhob sich ein mächtiger Greifvogel. Er hob sich kaum gegen den schwarzen Himmel ab, während er eine Schneise über Marlenes Kopf flog, doch durch ihre geschärften Augen konnte sie die Konturen des Falken genau ausmachen. Sie waren das allerletzte, was sie sich zu sehen gewünscht hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihr Herz gefroren.

Der mächtige Raubvogel landete neben ihr auf dem Bordstein und in wenigen Sekunden erwuchs daraus ein schlanker Mann mit rabenschwarzem Haar: Dragotin.

„Guten Abend“, sagte er, den Blick unverwandt in Marlenes Augen gerichtet. Seine Stimme war ruhig wie stets, doch eine deutliche Spur kälter als gewohnt, was die Angesprochene erschaudern ließ.

Was sie jedoch weit mehr ängstigte, waren seine Worte. Er hatte sie auf die gleiche Weise begrüßt, wie es Rion vor einigen Stunden getan hatte – waren die beiden Männer doch nicht so verschieden, wie Marlene stets geglaubt hatte? Hatten sie mehr gemeinsam, als diese simplen Worte, etwas, das viel bedeutsamer war?

„Ich habe dich gar nicht bemerkt“, war das erste, was Marlene in den Sinn kam und schon kurz darauf wurde ihr bewusst, wie hilflos und ertappt es geklungen hatte. Wie lange hatte Dragotin sie bereits beobachtet?

„Das ist mir bewusst“, gab dieser trocken zurück. „Das hier ist kein Etablissement, in dem man für gewöhnlich die Termine des nächsten Geographievortrages abklärt.“

Er hatte Rion also gesehen und erkannt.

Marlene hielt Dragotins Blick nicht länger Stand und senkte den Kopf.

‚Du bist erbärmlich, Marlene, du senkst den Kopf vor ihm wie ein reumütiger Hund vor seinem Herren’, fuhr es ihr nur eine Sekunde später bitter durch den Kopf, sodass sie den Blick wieder in die Augen ihres Gegenübers lenkte, die sich kaum merklich verengt hatten.

„Da hast du wohl Recht“, entfuhr es ihr wagemutig. „Ich habe immer noch das Recht mich wann und wo ich will mit wem ich will zu treffen!“

Wut kochte in ihr auf, die sie fast blind machte. Vielleicht kam sie vom Neumond oder ihrem Blutdurst, vielleicht war er aber auch schlicht aus der Tatsache erwachsen, dass sie es satt hatte, vor ihrem Schöpfer zurückzuweichen und sich ihm zu beugen.

Der Zorn hatte die Welt um sie her verzerrt. Es war gleich, dass sie Dragotin vor einem gut besuchten Lokal gegenüberstand, es war gleich, dass sie ihm in jeder Hinsicht unterlegen war. Das alles war so bedeutungslos, es schien ihr fast lachhaft, dass sie sich jemals darum gesorgt haben könnte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich Dragotins Hände zu Fäusten ballten, während seine Gesichtszüge weiterhin ausdruckslos blieben. Nur in seinen schwarzen Augen lag ein unnatürliches Glitzern, als würde ein mächtiges Feuer dahinter prasseln und toben.

„Nein“, sagte er leise, fast war es nur noch ein Flüstern, doch Marlene verstand jedes Wort. „Nein, dieses Recht hast du nicht.“

Und dann erhob er seine donnernde Stimme, die an den Wänden der Hochhäuser widerhallte und wie eine Faust auf Marlene einzuschlagen schien: „Du gehörst mir! Ich habe dich erschaffen!“

„Ich bin doch kein Gegenstand, den man besitzen kann!“, brüllte diese mindestens ebenso laut zurück. Ihr Kopf war völlig leer. Nur Dragotins Worte hallten darin weiter nach: ‚Du gehörst mir, du gehörst mir, gehörst mir…’

Und ehe Dragotin antworten konnte, setzte sie noch eine Spur energischer hinzu: „Ich habe auch Gefühle und ich erlaube dir nicht, darauf herumzutrampeln! Ich kann mein Herz immer noch schenken, wem ich will!“

Hastige schwere Schritte näherten sich, doch das nahm Marlene nur ganz am Rande wahr.

„Wieso ihm? Er ist ein Werwolf, ein Tagenichts“, knurrte Dragotin.

Er hatte seine langen spitzen Eckzähne respektheischend entblößt, was Marlene um ein Haar hätte zurückzucken lassen. Doch sie wollte nicht nachgeben, heute nicht: „Das geht dich überhaupt nichts an!“

Die Schritte waren verstummt und Marlene wandte kurz den Kopf, um zu sehen, wer da zu ihnen gestoßen war. Farin stand schwer atmend da, er hatte wohl Dragotins Fährte verfolgt und war ihm nun auf die Spur gekommen. Seine Körperhaltung war angespannt und seine Hand bereits um den Griff der Pistole in seinem Gürtel gelegt. Marlene wusste, dass diese Waffe ein Wesen der Nacht mit nur einem Schuss töten konnte – es war die gleiche Waffe, wie sie Fay stets bei sich trug, das hieß sie war mit Silbermunition geladen.

Doch Dragotin ließ Marlene keine Zeit weiter über Farins Erscheinen nachzusinnen.

„Das tut es sehr wohl“, knurrte er leise. „Du gehörst mit jeder Sehne deines Körpers mir, auch dein verfluchtes Herz!“

Das war zu viel. Im Bruchteil einer Sekunde hatte auch Marlene ihre Eckzähne entblößt und sich auf den Vampir gestürzt. Den Überraschungsmoment nutzte sie, um mit ihren verstärkten Fingernägeln durch sein Gesicht zu fahren. Sie hinterließen blutige Striemen und das darauf folgende Fauchen war mehr als eine Kampfansage.

Schon war Dragotin auf sie zugesprungen und hatte sie hart zu Boden gedrückt. Der Aufprall presste die Luft aus ihren Lungen und ließ sie husten, dann wurde sie halb blind vor Schmerz, als sich Eckzähne in ihre Schulter bohrten. Mit einem kräftigen Schlag, der Dragotin am Kopf traf, schaffte sie es, sich von ihm loszureißen und einige Schritte zu entfernen.

Nur wenige Sekunden standen sich die Vampire gegenüber, jeder von ihnen mit Blut besudelt, Marlene keuchend, Dragotin nicht im Geringsten mitgenommen. In diesen Sekunden konnte Marlene sehen, dass Farin seine Waffe gezogen hatte und sie zwischen ihr und Dragotin hin und herschweifen ließ, wohl nicht sicher, welchem der Vampire er das Leben nehmen sollte. Dann fixierte der Lauf der Waffe Dragotin und für einen unglaublich kurzen Augenblick fragte sich Marlene, aus welchem Grund. Dann sah sie Farins Hände zittern und spitze Fingernägel gruben tiefe Furchen in ihren Hals und zerfetzten den Kragen ihrer Bluse.

Vor Schmerz gekrümmt wich sie zurück, doch Dragotin würde nicht so leicht von ihr ablassen, sie musste ertragen, was sie losgetreten hatte. Vielleicht würde sie unter seinem Zorn zugrunde gehen, wie sie es schon bei so vielen anderen Vampiren gesehen hatte – vielleicht…

Schmerz. Dragotin hatte sie erneut zu Boden gedrückt, seine Fingernägel bohrten sich in ihre Schultern und als seine Zähne in ihren Hals fuhren, wurde es schwarz um sie her.
 

Sie konnte nicht länger als einige Minuten bewusstlos gewesen sein, denn als sie erwachte, lag sie immer noch mit dem Rücken auf dem kalten Beton und der Schmerz in ihrem Hals und ihren Schultern hatte kaum nachgelassen.

Sie konnte hören, wie sich ein schreckliches Stöhnen ihrer Kehle entrang und als sie die Augen öffnete, sah sie nichts als langes Blondhaar. Für einen Moment glaubte sie, Fay wäre gekommen und hätte sich über sie gebeugt, doch als sich ihre Sicht klärte, erkannte sie Farins Gesicht. Er sah fürchterlich aus und hätte Marlene nicht solche Schmerzen gehabt, hätte er ihr sicher Leid getan. Über seine linke Gesichtshälfte zogen sich Kratzspuren, die nur von Dragotin stammten konnten und seine Lippe blutete. Die beiden Männer mussten miteinander gerungen haben, als Marlene bereits das Bewusstsein verloren hatte – aber wieso hatte Farin den außer Kontrolle geratenen Vampir nicht einfach niedergeschossen, wie er es vermutlich schon hundertfach in seinem Leben getan hatte?

Doch darum mochte sich Marlene in diesem Augenblick keine weiteren Gedanken machen. Der Anblick von Farins Gesicht reichte ihr völlig, um sich schrecklich zu fühlen. Seine Augen glitzerten unnatürlich, als wäre er den Tränen nahe, auch wenn seine Gesichtszüge neutral waren. Ob er sich Vorwürfe machte, dass er nicht eingeschritten war?

„Alles in Ordnung“, sagte Marlene mit brüchiger Stimme, um dieser Vermutung nachzukommen.

Langsam, sehr langsam, setzte sie sich auf. Sie konnte bereits spüren, wie sich die Kratzspuren an Schultern und Hals schlossen. Hätte sie doch mehr Blut getrunken, dann wären ihre heilenden Kräfte ausgeprägter gewesen. Doch späte Reue hatte keinen Sinn. Viel schlimmer erschien es ihr, dass Farins Wunden nicht auf diese Weise heilen würden, schließlich war er ein mehr oder minder gewöhnlicher Mensch.

Farin wich ein Stück von Marlene zurück und richtete sich auf.

„Kannst du aufstehen?“, fragte er sie und reichte ihr eine Hand, an der sie sich auf die Beine zog.

Seltsam, so wortkarg hatte sie ihn nicht in Erinnerung gehabt. Doch vielleicht erwuchs dieses Verhalten einfach aus der Situation heraus.

„Kein Problem“, log Marlene und lächelte matt.

Nun, da der Schmerz ein wenig nachgelassen hatte, mochte sie sich am liebsten kräftig auf die Hand beißen. Sie hatte Dragotin nicht nur unnötig provoziert, sondern beim Kampf auch noch kläglich versagt. Wusste Gott, falls es ihn gab, was nun mit Professor Senay geschehen würde. Ihr blieb nur inständig zu hoffen, dass dieser Kampf dem Vampir Rache genug blieb.

Ohne ein weiteres Wort gingen Farin und Marlene Seite an Seite zur Universität zurück, in der sie beide untergebracht waren.

Wieso die Menschen im Lokal wohl nichts von dem Kampf bemerkt hatten? Hatte Dragotin eine Art Bann über die umliegenden Häuser gelegt? Doch im gleichen Augenblick, als das durch Marlenes Kopf fuhr, war sie sich sicher, dass sie ihn nicht danach fragen würde.
 

Vor der Tür zu Marlenes Zimmer verabschiedete sie sich mit einer flüchtigen Umarmung von Farin. Es schien viel zu geben, was sie sich hätten sagen sollen, doch keiner von ihnen wusste, was genau es war oder wie sie es hätten formulieren sollen, sodass es unausgesprochen blieb. Doch Marlene hatte das Gefühl, sie wären zu einem stummen Einverständnis gekommen, als sie ihr Zimmer betrat. Fay schlief bereits tief und fest.
 

Kapitel 3
 

Ein Schlag ins Gesicht weckte Marlene am nächsten Morgen unsanft. Sie schreckte hoch und blickte verwundert an sich hinunter, bis sie ein Kissen auf ihrem Schoß erblickte. Erst jetzt bemerkte sie auch Fay, die einige Schritte von ihrem Bett entfernt dastand; die Hände in die Hüften gestemmt.

„Ich dachte schon wärst über Nacht entgültig verstorben“, sagte sie in bitterem Tonfall, der Marlene einen Schauder über den Rücken laufen ließ. „Nun mach schon. Das geplante Frühstück kann ich dann wohl abhaken.“

Und nun war Marlene endlich klar, aus welchem Grund ihre Freundin so gereizt war. Sie kannte Fay inzwischen gut genug, um zu wissen, wie sehr sie es hasste, wenn etwas nicht nach ihrem Plan verlief. Und Marlene selbst war gerade auf dem besten Weg, der Grund dafür zu werden.

Sofort sprang sie auf, hastete zum Waschbecken, um sich einer flüchtigen Katzenwäsche zu unterziehen und zog die Schuluniform aus dem Schrank. Erst jetzt überkam sie der längst fällige Schwindel, die Rache für ihr schnelles Aufstehen und das wenige Blut, das ihren Körper durchfloss. Marlene musste sich kurz am Schrank abstützen, als schwarze Flecken über ihr Sichtfeld hinwegzogen, doch dann schien wieder alles wie gewohnt. Nur ein Schwächegefühl blieb zurück.

„Was hast du denn da?“, fragte Fay besorgt, als hätte sie jäh ihren Ärger zur Gänze abgelegt, während Marlene den schwarzen Pullunder der Schuluniform auf dem Bett ausbreitete.

Sie folgte Fays ausgestrecktem Zeigefinger mit dem Blick bis zu ihrer Schulter, über die sie mit den Fingerspitzen fuhr, ohne hinzusehen.

„Ich hatte einen Streit mit Dragotin“, sagte sie fest, um jeder weiteren Frage vorzubeugen. Das allerletzte, zu dem sie nun aufgelegt war, war ihrer Freundin jedes Detail des gestrigen Abends darzulegen. Da Fay sie allerdings nur weiterhin verwundert anstarrte, setzte sie in abweisendem Tonfall hinzu: „Nach dem Treffen mit Professor Senay.“

‚Dragotin… Ob er plant sich an Rion zu rächen? Mächtig genug ist er – Richter hin oder her’, fuhr es ihr anschließend durch den Kopf, doch sie schüttelte den Gedanken rasch wieder ab.

Der verwunderte Blick war nicht aus Fays Augen verschwunden, doch Marlene ignorierte ihn, indem sie sich von der Jägerin abwandte und erst die weiße Bluse und dann den Pullunder überzog. In diesem Moment hätte sie sich selbst verfluchen können, verfluchen dafür, dass sie nicht mehr Blut getrunken hatte, dass sie kein wertvolleres Blut als das der streuenden Tiere getrunken hatte. Ihre Wunden hätten längst verheilt sein sollen, stattdessen hatten sie Marlene gerade verraten. Sie wollte die Erinnerungen an den vorigen Tag an die Seite schieben, sie irgendwo am Rande ihres Seins dahinvegetieren lassen und nicht mehr darüber nachdenken.

Es war alles so verworren, so falsch. Sie hätte doch glücklich sein sollen – sie hätte an Rions Seite stehen sollen, unter seinem Schutz, unter seiner Liebe. Und Dragotin – er hätte nichts davon wissen sollen. Nichts. Es wäre Betrug gewesen, aber ein schöner Betrug, einer der Sorte, die sich auszahlen, die glücklich machen. Wieso war es nicht so gekommen? Weil sie zu feige war? Weil Dragotin nicht begriffsstutzig war? Weil es falsch gewesen wäre? Warum…?

Marlene richtete sich auf und starrte einige Sekunden lang die gegenüberliegende Wand an, um ihre Gedanken zurück in ihren Käfig zu sperren und ihre Miene unter Kontrolle zu bringen. Nur ein blasser Schimmer blieb zurück, der sich unendlich zu wiederholen schien: ‚Wie kann ich das nur wieder in Ordnung bringen? Wie kann ich das nur, wie, wie…’

Als sich Marlene nun zu Fay umwandte, blickte diese mit gerunzelter Stirn auf ihre Armbanduhr.

Ja, Fay hätte sicher gewusst, was zu tun war.

Sie blickte nun zu Marlene auf: „Kommst du? Wenn wir uns beeilen schaffen wir es noch schnell zu frühstücken und pünktlich zu der Wirtschaftsvorlesung. Danach hast du glaube ich Geographie und ich glaube nicht, dass du das verpassen willst, oder?“

Marlene nickte nur und folgte der Jägerin aus dem Zimmer.

Ja, sie hätte es gewusst. Aber das Thema war ihr gleich, sonst hätte sie längst nach dem Verlauf der Verabredung mit dem Professor gefragt, so viel war Marlene klar. Für sie zählte wohl nur die Zeit, dieses dumme Ding, das ab und an einen Menschen mit sich nahm – und ihre Arbeit, dieser Mechanismus, der ab und an Einen zu Grunde richtete.
 

Dieser Tag erschien Marlene länger als jeder, den sie je erlebt hatte. Sie saß nun in der Geographie-Vorlesung und hatte das dumpfe Gefühl, es hätte bereits Abend sein sollen und die Zeit hätte sich gegen sie verschworen.

Die Vorlesung war nicht so gut besucht wie üblich, was Marlenes Vermutung nach an den Sonnenstrahlen lag, die draußen vor dem Fenster die Welt erleuchteten. Sie lockten wohl viele Menschen hinaus – Marlene konnte ihnen allerdings nichts Verlockendes oder auch nur Schönes abgewinnen. Sie waren einfach da, eine Existenz, die man akzeptieren musste.

Marlenes Blick fiel auf das leere Blatt Papier, welches sie eine gute halbe Stunde zuvor vor sich ausgebreitet hatte. Normalerweise machte sie sich immer viele Notizen, da sie sich nicht so viele Dinge auf einmal merken konnte, doch heute schienen die Worte des Professors nicht einmal bis zu ihr vorzudringen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken unkontrollierbar ab, in alle möglichen und unmöglichen Richtungen, und sie fühlte sich so unwohl, dass sie es nur mit ‚elend’ zu beschreiben vermochte. Ihre Adern kribbelten und brannten aufdringlich, um sie permanent daran zu erinnern, zur Jagd aufzubrechen, doch zugleich fühlte sie sich so schwach und ausgelaugt, dass sie sich wohl nicht einmal hätte vom Stuhl erheben können. Ja, sie konnte nicht einmal diesen Befehl klar in ihrem Kopf formulieren – es war seltsam. War das nur Schwäche allein?

Marlene hob den Kopf, um zu Professor Senay herüberzuspähen, der jedoch keinen Blick für sie übrig hatte. Er schien völlig in seinen Vortrag vertieft, dessen Thema Marlene gänzlich entgangen war.

‚Das sollte mich nicht wundern’, dachte sie, in Gedanken an den vorigen Abend. ‚Sicher wartet er, bis ich mich an ihn wende – er hat seine Schritte getan.’

Sie senkte den Blick auf das immer noch leere Blatt vor ihr, ließ ihn zu dem Füllfederhalter in ihrer rechten Hand wandern –

Ihr Herz gefror. Für eine endlose Sekunde setzte es aus, schlug nicht mehr. Der Atem stockte, alles war leer.

Über Marlenes Handrücken zog sich eine haarfeine, geschwungene und tiefschwarze Linie wie eine einzelne Dornenranke.

Kaum, da die erste Schrecksekunde vorüber war, riss Marlene den Ärmel ihrer Bluse bis zum Ellenbogen hoch und lenkte ihren Blick auf den Unterarm. Auf ihm gesellten sich weitere schwarze Linien zu der Ersten, die den Arm zu umschlingen schienen, und je weiter Marlene diese Ranken nach oben verfolgte, desto mehr von ihnen gerieten in ihr Blickfeld.

Ihr Herz verkrampfte sich. Sie hatte diese Male schon einmal gesehen; ein anderer Vampir, ein ihr Fremder, hatte sie getragen. Wie ein Film erschien ihr die Szene noch einmal vor dem inneren Auge – sie an Dragotins Seite, in ihrer Heimatstadt.

„Was ist das?“, hatte sie den älteren Vampir gefragt, der eine Zeit lang nur auf den über und über von schwarzen Linien umrankten Fremden hinabgestarrt hatte, der sich offenbar schmerzerfüllt am Boden krümmte. Und auch seine Antwort hatte sie nicht vergessen. Er hatte nicht gelächelt, während er ihr erklärte, doch seine Stimme hatte sonderbar belustigt geklungen, voller Genugtuung. Sie hatte sich gefürchtet. Das erste Mal seit längerer Zeit hatte sie sich an jenem Tag erneut vor Dragotin gefürchtet.

Wie von allein erhob sich Marlene, raffte ihre Sachen zusammen. Ihre Gedanken wirbelten ziellos umher; fast war es, als handelte sie, noch bevor sie sich bewusst dazu entschieden hatte. Rasch und leise verließ sie den Hörsaal, sie wusste, dass ihr viele Blicke folgten. Vielleicht auch der Rion Senays. Doch das war in diesem Moment unbedeutend wie der Tod einer Fliege.

Draußen auf dem Flur steuerte Marlene das nicht weit entfernte Fenster an, das in den Innenhof der Universität abging. Wie angewurzelt blieb sie davor stehen, drückte die Handflächen gegen das makellose Glas. Und das war der Moment, in dem sie sich gefangen fühlte, in dem ihr klar wurde, dass es kein Vor und kein Zurück mehr gab. Sie fiel, würde fallen – und niemand, der sie aufhielt. Aus, alles aus.

Es waren keine Bissspuren, die Fay am Morgen an Marlenes Schulter entdeckt hatte. Etwas Anderes hatte die Jägerin verwundert: Ein Mal, die Brandmarke eines Fluches, das Zeichen eines Vampirs, das die schwarzen Ranken aussandte, die Marlene fesselten, sie in die Knie zwangen: Ein Falke.

Nur raus, raus aus diesem Käfig.

Noch während Marlene in schnellem Schritt die Treppe ins Erdgeschoss hinabstieg und auf den Haupteingang der Universität zusteuerte war ihr klar, dass sie nicht entrinnen konnte. Ihr Körper mochte frei sein, wenn sie fort lief, doch ihre Seele konnte sie nicht retten.

Als sie aus der Tür getreten war und im Sonnenlicht stand, welches ihr ein drückendes Gefühl auf die Brust legte, bemerkte sie, dass sie ihre Tasche irgendwo hatte stehen lassen, wohl oben am Fenster. Noch einmal spähte sie hinauf zum ersten Stock, zu dem Fenster, an dem sie noch eben gestanden hatte. Es war gleich, völlig nichtig.

Ohne einen weiteren Gedanken an die Tasche zu verschwenden verließ Marlene das Gelände der Universität. Sie wusste nicht, wohin sie eigentlich ging, doch die einzigen Gedanken, die immer wieder aus dem Nebel, der ihren Kopf zu füllen schien, auftauchten, sagten ihr: ‚Geh, geh!’

So führte Marlene ihr Weg ziellos kreuz und quer durch die Stadt. Sie wollte fliehen, so weit fort, wie nur irgend möglich. Doch wohin sollte sie gehen? Würde Fay sie nicht finden, wenn sie nach den Vorlesungen nach ihr sah? Und wenn es Fay nicht tat, dann Dragotin, da war sich Marlene sicher.

Wie von selbst beschleunigten sich ihre Schritte beim Gedanken an Dragotin. Sie ging durch leere Seitengassen, durch besuchte Einkaufsstraßen, doch egal wie weit sie kam, das Gefühl des Gefangenseins wollte nicht verfliegen. Überall war sie von hohen Betonbauten umzingelt, jeder ragte wie ein drohender Riese vor ihr auf, der sie zum Rückzug zwingen wollte. Die Welt verlor jede Klarheit, jeden festen Zug, jede Zeit. Immer weiter, nur weiter.

Es dämmerte bereits, als ihr endlich klar wurde, dass sie sich immer noch in der Stadt befand. Sie musste im Kreis gelaufen sein, immer und immer wieder. Gab es nicht einmal ein Entkommen aus dieser grauen Welt aus Beton? Konnte sie nicht einmal ihr entrinnen?

Doch mit dem Untergang der Sonne begannen sich Marlenes Gedanken wieder ein wenig zu klären, sodass sie ihre Schritte verlangsamen und sie schließlich stehen bleiben konnte.

Um sie herum flammten Straßenlaternen auf, die künstlichen Lichter der Stadt, die die Menschen vor der absoluten Finsternis der Nacht beschützen sollten.

Erst jetzt bemerkte Marlene auch erneut die Schwäche ihres Körpers und das Brennen ihrer Adern, doch einen Gedanken an die Jagd konnte sie nicht verschwenden. Noch einmal schlug der volle Umfang ihrer Lage mit voller Wucht über ihr zusammen und ließ nur Leere zurück. Und dann wusste sie es. Wusste, was zu tun war. Es gab für sie kein Leben in Freiheit, das hatte sie mit ihrer Arroganz und Selbstüberschätzung verspielt, und wenn es das nicht gab, dann nur das Andere –

Der Wald am Stadtrand wurde ihr neues Ziel, sie konzentrierte sich mit aller Macht darauf. Ja, der Wald. Dort wollte sie verweilen, auf einer der Lichtungen, dort auf den Morgen warten – auf den Morgentau.
 

Die Nacht hatte die Welt bereits zur Gänze erobert, als Marlene den Wald, mit dem unglaublichen Gefühl endlich am richtigen Ort zu sein, erreichte. Ihre Schritte verlangsamten sich zusehends und ein seltsames Gefühl durchzuckte ihr Herz: Das Gefühl zu Hause zu sein, an dem Ort, an den man gehört, an dem man erwünscht ist.

Eine Sekunde lang glaube Marlene, ein seltsamer Laut sei an ihr Ohr gedrungen – etwas, das so vertraut klang… Ihr Name- Ja, das war er, ihr Name, jemand rief nach ihr.

Marlene blieb nun gänzlich stehen und wandte sich ganz langsam um. Ihre Gedanken waren träge, als versuchte jemand, sie zu erdrosseln, sie auszulöschen und zu töten.

Eine Gestalt kam auf sie zu, ein Mann. Ehe Marlene es richtig erfassen konnte, war er schon bei ihr.

„Marlene!“, sagte die vertraute Stimme noch einmal, sie klang sanft, doch Marlene war nicht in der Lage, ihre Stimmung zu erfassen. Nur das Wort, das Wort aus diesen Lippen, die sie bereits so oft sehnsüchtig ins Auge gefasst hatte –

Rion Senay legte seine schweren Hände auf Marlenes Schultern, wie um sie festzuhalten, obwohl sie keine Anstalten machte, davonzulaufen.

„Wie…?“, war das einzige, das Marlene sagen konnte, doch ihr Gegenüber schien verstanden zu haben.

„Eine gewisse Fay Serene ist zu mir gekommen, sie war auf der Suche nach dir“, gab Rion beschwichtigend zurück.

„Fay?“ Fay. Sie war zu ihm gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten. Marlene hatte ihr Unrecht getan, so unrecht… Es war ihr nicht gleich, was Marlene beschäftigte, sie war zu dem Mann gegangen, von dem sie wusste, dass Marlene ihn liebte und hatte ihn um Hilfe gebeten – nicht für sich selbst, sondern nur für sie, für sie allein-

Eine einsame Träne aus Blut löste sich aus einem von Marlenes Augen, dann gaben ihre Knie nach und sie sank in das kühle Gras hinab. Rion kniete rasch vor ihr nieder, sprach zu ihr, doch kein Wort drang bis zu ihr vor. Die Leere hatte sie erneut eingeholt und mit sich gerissen.
 

Marlene fand sich in Professor Senays Zimmer wieder, auf einem der Stühle sitzend, eine Tasse mit dampfendem Tee in den Händen. Sie konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, wie sie hier hergekommen war, doch sie wollte keinen weiteren Gedanken daran verschwenden. Sie war zurück in dem Gebäude, welches sie noch vor einigen Stunden als Käfig empfunden hatte, doch es schien sich verändert zu haben, etwas war anders. Hier, an Rions Seite, fühlte sie sich genau so, wie in dem Moment, als sie den Wald betreten hatte: Bedingungslos erwünscht.

Rion selbst hatte nicht Platz genommen, er ging scheinbar rastlos in dem kleinen Zimmer hinter Marlenes Stuhl auf und ab, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Dann blieb er genau hinter dem Stuhl stehen und legte eine Hand auf Marlenes Schuler. Sie zuckte zurück, es war die Schulter gewesen, an der sie das Mal des Fluches vermutete und ihr war nicht wohl dabei, wenn Rion es berührte.

Halb erschrocken zog dieser die Hand zurück und nahm endlich neben Marlene Platz, sie nur noch mit Blicken berührend. Und dann endlich begann er das auszusprechen, was ihm wohl schon seit Minuten auf der Zunge brannte: „Sag mir was geschehen ist.“

Der Impuls aus Wärme und Geborgenheit, der Marlenes Gedanken aus dem Nebel in ihrem Kopf erhoben hatte, verblasste. Erinnerungen wollten sie erdrücken, Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf und die Welt um sie herum verschwamm.

Noch einmal verabschiedete sie sich vor dem Lokal von Rion, blieb mit schwerem Herzen zurück. Der Schrei des Falken, Dragotin direkt vor ihr.

'Du gehörst mir!'

'Ich bin kein Gegenstand, den man besitzen kann!'

Hass, Wut, Schmerz. Dragotins Zähne, die sich in ihre Schulter bohrten. Schwärze, dann Farins Gesicht über dem ihren.

Als es Marlene endlich gelang die Erinnerung abzuschütteln und mit ihrem Geist in Rions Zimmer zurückzukehren, bemerkte sie, dass ihr Gegenüber nickte. Sie musste ihm die Geschichte erzählt haben, ohne es zu bemerken. Eine Sekunde lang fragte sie sich, wie viel sie erzählt hatte, wie ausführlich, ob sie etwas ausgelassen hatte. Doch dann nahm es die selbe Gleichgültigkeit an, wie bereits so viele Dinge um sie herum, die sie noch Tage zuvor beschäftigt hatten.

Rion griff nach Marlenes rechter Hand, glitt kurz mit dem Blick darüber, um ihn dann in ihre Augen zu lenken. Er hatte sich nicht über die Linien gewundert, die sie bereits dicht überzogen, woraus Marlene schloss, dass ihm diese Male wohl bereits zuvor aufgefallen sein mussten. Vielleicht hatten sie sich bereits ihren Hals hinaufgeschlängelt – bei diesem Gedanken schluckte sie schwer. Ihr würde nicht mehr viel Zeit bleiben, sie würde nicht mehr lange sein.

„Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hat mich Fay auf etwas auf meiner Schulter hingewiesen. Ich dachte, es wären wohl noch Dragotins Bissspuren vom vorigen Abend – erst später habe ich bemerkt, dass das ein Irrtum war“, knüpfte Marlene leise an ihre Geschichte an, da Rion offenbar auf weitere Erklärungen wartete.

Sie war froh, immer noch die Teetasse in der linken Hand zu halten, sodass sie nun in die schwarzen Flüssigkeit hinabstarren konnte und so Rions Blicken nicht Stand halten musste. Dennoch bemerkte sie, wie überraschend leicht es ihr fiel, Rion davon zu erzählen – ja, er war anders, als die gewöhnlichen Menschen, anders als jede Person, die Marlene je gekannt hatte.

„Dragotin hat mich mit einem uralten Fluch belegt, ein Fluch, den ein Vampir nur aussprechen kann, wenn er bereits einen Anderen erschaffen hat und den niemand als der Vampir selbst zurücknehmen kann“, flüsterte Marlene beinah und ließ nun den Blick vorsichtig zu ihrer Hand in der Rions hinabwandern. „Diese schwarzen Linien breiten sich über den Körper aus und nehmen gefangen. Nicht den Körper, aber die Seele. Sie fesseln die Gedanken, sie nehmen den Verstand. Der verfluchte Vampir wird...“

Sie unterbrach sich kurz, um die richtigen Worte für das zu finden, was sie ausdrücken wollte.

„Er wird leer. Zwar wird er nicht sterben, aber er wird nicht mehr sein, nicht mehr denken und handeln. Er... Er wird Eigentum des Erschaffers, ein Ding, das Befehle ausführt und niemals frei sein kann – nicht im Geist.“

Dann schwieg sie. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, fast war ihr, als erzählte sie eine uralte Geschichte, die nichts mit ihr selbst zu tun hatte und der sie völlig neutral gegenüberstand, zu der sie keine emotionale Bindung hatte.

Der Druck, den Rions Hand auf die Ihre auswirkte, verstärkte sich, als wollte er verhindern, dass sie erneut in den Nebel, der an ihren Gedanken leckte, absank.

„Kannst du sicher sein, dass Dragotin den Fluch ausgesprochen hat?“, fragte der Professor mit fester Stimme, die zugleich sanft und entschlossen klang.

Marlene hob den Kopf, blickte ihm das erste Mal aus eigener Kraft in die Augen. Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass es nicht Dragotin sein musste, der den Fluch über sie ausgesprochen hatte. Doch es hatte alles so plausibel erschienen, es hatte gepasst, wie die Teile eines Puzzles sich richtig zusammenfügen.

Erst jetzt wurde Marlene klar, wie wenig sie im Grunde über die Kreaturen der Nacht wusste, über das Vampirsein und über die Macht, die Geschöpfen wie ihr geschenkt werden konnte. Wie wurde ein Fluch auferlegt? Genügte dazu ein Biss?

„Wenn er es war“, begann Marlene langsam, ihre Gedanken schienen rasend schnell zu kreisen, sodass ihr leicht schwindelig wurde, „muss sich sein Zeichen auf meiner Schulter befinden – der Falke.“

In stillem Einverständnis erhoben sich Rion und Marlene. Sie stellte die wärmende Tasse, von der sie noch keinen Schluck getrunken hatte, auf dem Tisch neben ihr ab. Dann zog sie sich den Pullunder der Schuluniform über den Kopf, knöpfte die weiße Bluse darunter auf. In diesem Augenblick hatte sie nur ein Ziel vor Augen: Das Zeichen eines anderen Vampires auf ihrer Schulter zu entdecken. Sie wollte nicht wissen, dass Dragotin ihr das angetan hatte, ihr eigener Schöpfer, den sie bereits so viele Jahre kannte. Sie hatte sich nicht immer gut mit ihm verstanden und den Tag, an dem sie zum Vampir wurde, hatte sie ihm nie verzeihen können. Dennoch war etwas zwischen ihnen, das sie schätze, etwas, das sie nicht verlieren wollte.

Sie war so sehr auf diesen Wunsch fixiert, dass sie selbst ihr Schamgefühl vergaß. Doch auch Rion schien das Entkleiden als rein nötige Prozedur zu empfinden.

So schwiegen sie beide, schwiegen, als Marlene die Bluse von ihren Schultern gleiten ließ, schwiegen, als sie beide den Blick zu Marlenes rechter Schulter wandten.

Ihr ganzer Oberkörper war bereits über und über von den haarfeinen Linien umrankt und Marlene folgte ihnen mit dem Blick an sich hinauf, doch sie konnte ihr Ende nicht ausmachen. Ihre Vermutung bestätigte sich: die Male hatten sich bereits nach ihrem Hals ausgestreckt.

Dann starrte sie auf ihre Schulter hinab. Einige lange Sekunden realisierte sie nicht, was sie sah. Ein Raubvogel, von der Seite abgebildet, mit weit ausgebreiteten Schwingen und zum Angriff vorgestreckten Klauen. Der Falke, das Zeichen, was sie nicht hatte sehen wollen.

Auf einmal fühlte sich Marlene viel leerer, als es zuvor der Fall gewesen war. Sie hatte es doch gewusst, die ganze Zeit über. Wieso schmerzte die Wahrheit dennoch so sehr?

Langsam griff sie nach ihrer Bluse, zog sie wieder über. Dann hob sie den Kopf, um zu Rion aufzublicken, der sicher ihren Schmerz erkannt hatte. Doch ob er ihn auch verstehen konnte?

Noch ehe Marlene nach Rions Augen suchen konnte, hatte er sich ihr bereits genähert, seine Arme um sie gelegt. Er drückte sie an seine Brust, so sanft, dass es Marlenes Körper zum beben brachte. Der Schmerz nahm ab, blieb als leises Ziehen in ihrem Herzen zurück.

Ja, er verstand.

Eine Ewigkeit schien vergangen, als er sich von Marlene löste, die Hände auf ihre Schultern legte und sie anblickte, sie fast eine neue Ewigkeit lang nur stumm anblickte. Sie meinte eine Regung in seinen grünen Augen auszumachen, doch sie war zu schwach und ihr Kopf zu leer, um sie zu deuten.

Er trat einen Schritt von ihr zurück, musterte sie noch eine lange Sekunde lang, bis er endlich sprach: „Ich werde mit ihm sprechen.“

Panik stieg in Marlene auf und klärte ihre Gedanken erneut, hielt sie wach, wie eine gefährliche Droge. Nein, nein, er konnte nicht zu Dragotin gehen, er durfte nicht! Besonders nicht bei Nacht. Er war zu mächtig, viel zu mächtig-

„Du wirst ihn nie finden“, versuchte sie Rion mit dem Rest Vernunft, der ihr noch blieb, von seinem Vorhaben abzubringen, „und selbst wenn...“

Doch der Werwolf unterbrach sie, wie es sonst nicht seine Art war. Seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen und ließen ihn unsagbar entschlossen wirken: „Nein, ihn gewiss nicht. Aber der Jäger, der ihn begleitet, wird leicht aufzuspüren sein.“

Das war der Moment, in dem sich Marlene wünschte, sie selbst könnte Fährten lesen; die winzigen magischen Partikel, die jeder Mensch und jedes Wesen hinterließ, sehen und aufspüren. Doch wie so vieles lag auch das nicht ihn ihrer Macht. Sie wollte an Rions Stelle gehen, ihn zumindest überzeugen, dass sie gehen würde – vielleicht würde sie es nicht tun, denn sie wusste um die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens. Und sie fürchtete sich, hatte Angst, Angst um Rion, Angst vor Dragotin. Eine Angst, die tief in ihrem Herzen schmerzte.

„Geh nicht“, versuchte sie es noch einmal, „er wird den Fluch nie zurücknehmen! Das würde seinen Stolz verletzten und seine Stellung gefährden. Das würde er um nichts in der Welt riskieren. Ich kenne ihn doch!“

„Nein“, gab Rion leise und behutsam zurück, „nein, Marlene, das glaube ich nicht. Gäbe es nur eine einzige Person in der Welt, die ihn kennt, hätte er seine derzeitige Machtposition niemals erreicht, glaub mir. Denn gekannt zu werden, macht schwach.“

Er legte eine kurze Pause ein, um Marlene genau zu mustern, dann fuhr er in leicht bitterem Tonfall fort: „Das ist der Grund, aus dem viele Vampire uns Werwölfe verachten. Wir verstecken uns nicht hinter einer verbalen Mauer, wir sind schwach und angreifbar.“

Stille kehrte in dem kleinen Zimmer ein, während der Rion auf eine Reaktion Marlenes zu warten schien und sie einen Stich in ihrem Herzen überwinden musste. Es war nicht das Recht der Vampire, andere Wesen zu verurteilen, die nicht so waren wie sie und Marlene spürte genau, wie sehr den Werwolf diese Situation schmerzte.

Immer und immer wieder legte sie sich eine Antwort im Kopf zurecht. Entschuldigungen, mitfühlende Worte, zornige Bemerkungen gegen die Vampire, wie sie selbst einer war. Doch nichts davon schien ihr angemessen, sodass sie sich schließlich entschloss, auf das eigentliche Thema zurückzukommen, das Thema, welches in diesem Augenblick das allerwichtigste war. Sie durfte es nicht zulassen, dass Rion Leid angetan wurde.

„Du sagst es selbst, Dragotin ist unglaublich mächtig“, sagte sie schließlich.

Sie bemerkte nur am Rande, dass ihre Stimme gezittert hatte. Eigentlich hatte sie 'Dragotin ist mächtiger als du' sagen wollen, doch sie hatte es nicht übers Herz gebracht. Vielleicht war das ein Fehler gewesen.

„Ich fürchte mich nicht“, sagte Rion entschlossen und ging mit festen Schritten auf die Zimmertür zu.

Marlene konnte nichts weiter tun, als ihm nachzustarren, ungläubig. Ein schwerer Knoten bildete sich in ihrem Magen, der ihr immer wieder dieses schreckliche Gefühl aufdrängte; dieses Gefühl, das ihr den Mut nahm und sie ängstigte: 'Nun ist alles aus. Nicht nur für mich.'

Langsam, ganz langsam legte sich ein Schleier über ihre Gedanken, der alles erleichterte, alles erträglicher mache – doch ihren Kopf betäubte.

Als Rion gerade die Hand nach dem Türgriff ausgestreckt hatte, wandte er sich noch einmal um: „Bitte komm mit mir. Ich kann es nicht riskieren, dass er dich findet, bevor ich ihn aufspüren kann.“

Fast von allein trat Marlene an Rions Seite, sie hatte kaum einen Befehl an ihre Beine gegeben. Er schien bemerkt zu haben, was in dem Vampir vorging, denn er legte seinen starken Arm fest um ihre Schultern, um sie zu führen, um sie zu halten, um zu verhindern, dass sie noch tiefer fiel.

Es gab nur noch einen müden und schwachen Gedanken, der in Marlenes Kopf aufflackerte, als sie mit Rion die Universität verließ: 'Ob Fay immer noch nach mir sucht?' Doch dann versank auch er im Nebel des Nichts.
 

„Ist das der Jäger?“, fragte Rion mit gedämpfter Stimme in Marlenes Richtung.

Marlene nickte nur schwach, sie sah den blonden Mann, der an einen Baum gelehnt dastand, wie durch eine Scheibe halb blinden Glases und ein Gefühl der Abgeschiedenheit drückte auf ihre Brust.

Sie waren der Fährte eines offenbar mächtigen Jägers an den Rand des Wäldchens gefolgt, zumindest hatte Rion das zum Ausdruck gebracht, doch dieses Mal wirkte der Wald nicht so einladend auf Marlene, wie bei ihrem letzten Besuch. Dieser Ort schien alle seine Wärme und Geborgenheit verloren zu haben – nur Kälte war zurückgeblieben, eine Kälte, die Marlenes Herz umschloss und sie ängstigte. Sie konnte sich den jähen Wandel ihrer Empfindung nicht erklären, doch zu leugnen vermochte sie ihn ebenfalls nicht

Mit festen Schritten ging Rion nun auf den Mann mit dem langen Blondhaar zu, den Marlene rasch als Farin identifiziert hatte. Kurz bevor er den Jäger erreichte, wich dieser einige Schritte von dem Baum in seinem Rücken zurück – wohl um das Gefühl der Bedrängnis zu lindern.

Marlene bemerkte, wie er an Rions Schulter vorbei zu ihr hinüberblickte. Etwas Schweres lag in seinem Blick, das sie nicht zu deuten vermochte. Vielleicht war es Mitleid? Oder Reue?

Rasch schüttelte sie den Kopf, um Farin zu Verstehen zu geben, dass er keine Schuld an ihrer Situation trug – er hätte es nicht verhindern können, er hätte Dragotin nicht besiegen können.

„Wo ist der Vampir, auf den du ein Auge haben solltest?“, hörte Marlene Rion in hartem aber nicht angreifendem Ton fragen. Jede Höflichkeit war von ihm abgefallen.

„Er ist hier“, gab Farin zurück und nickte in Richtung des Waldes. Er hatte sich wohl alle Mühe gegeben, neutral und sachlich zu klingen, doch eine befangene Schwankung seiner Stimme hatte er nicht verhindern können.

Marlene fragte sich, ob er Rion als das erkannt hatte, was er war: Werwolf und Richter, doch der Jäger gab kein Zeichen von sich, aus dem sie es hätte schließen können.

Sie wollte an Rions Seite treten, doch ihre Glieder schienen ihr nicht mehr gehorchen zu wollen – es war seltsam. Sie konnte ihre Gedanken so klar wie seit Stunden nicht mehr fassen, doch sie schienen kaum noch mit der Außenwelt zu kommunizieren. Fast war es, als wären sie in einem Käfig gefangen, der fest verschlossen war, doch dessen Gitterstäbe so weit auseinander lagen, dass hier und da ein Gedanke entkommen konnte.

Dieses Gefühl ängstigte Marlene noch weit mehr als die ihr so fremde Atmosphäre des Waldes.

Rion hatte Anstalten gemacht, in den Wald hineinzugehen, doch dann schien er bemerkt zu haben, dass etwas mit Marlene nicht in Ordnung war. Er kam zurück zu ihr und nahm sie bei der Hand, um sie in den Wald hineinzuführen.

Es war seltsam. Sobald Rions Hand sie berührte, spürte Marlene etwas wie eine Woge warmen Blutes ihren Arm empor bis in ihr Herz strömen. Die Wärme schien den Frost zu vertreiben, der sie fesselte und ihre lahmen Beine ließen sich mit Mühe dazu bewegen, ihren Dienst wieder aufzunehmen.

So ging sie an der Seite des Professors einige Meter in den Wald hinein, im Augenwinkel konnte sie sehen, dass Farin ihnen folgte. Wieso er wohl hier am Waldrand auf Dragotin gewartet hatte?

Die Antwort blieb nicht lange im Dunkeln. Ein flammend roter Fleck hob sich schon nach wenigen Sekunden des Marsches von dem drückenden Zwiellicht des Waldes ab. Es handelte sich um zweifellos Dragotin, der sich in einen roten Mantel, wie ihn nur Vampire trugen, gehüllt hatte. Er hatte sich tief über den Waldboden gebeugt und trotz der Dunkelheit konnte Marlene die Konturen des Kojoten klar erkennen. War es das, was Farin nicht hatte sehen wollen?

Es dauerte Sekunden, die sich unendlich in die Länge zu ziehen schienen, bis Dragotin seine entblößten Fangzähne aus dem Hals des toten Tieres zog und sich aufrichtete. Bei dieser Bewegung fing die silberne Stickerei auf dem Umhang einen feinen Lichtstrahl auf und warf ihn zurück, sodass Marlene sie klar erkennen konnte: Der Falke. Sein eigenes Zeichen, nicht das eines höherrangigen Vampirs. Es rief in Marlene die schmerzhafte Erinnerung wach, dass es kein Wesen gab, das Dragotin beherrschte, ihm befehlen konnte. Er war frei. Und sie-

Dragotin fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen, wohl um verbliebenes Blut fortzuwischen, dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem leisen Lächeln, das vielleicht nur Marlene in der Dunkelheit zu erkennen vermochte. Seine Kälte durchfuhr ihren Körper wie ein verschluckter Eiswürfel und ließ sie erschaudern.

„Guten Abend“, wehte die kühle Stimme Dragotins zu ihnen hinüber, doch niemand erwiderte den Gruß.

Rions Griff um Marlenes Hand löste sich und er trat an den halb fremden Vampir heran. Was daraufhin geschah, verschwamm in Marlenes Kopf zu einem Wirbel weißen Nebels. Das Band, das sie an das Hier und Jetzt gebunden hatte, war zerrissen, die angenehme Wärme aus ihrem Herzen verschwunden: Sie hatte das Gefühl in einen leeren kalten Raum davonzutreiben, in dem es nichts denn kaltes Weiß und schweres Schwarz gab, der völlig von der Welt um sie her abgeschnitten war. Gleichgültigkeit überwältigte sie, himmlische und befreiende Gleichgültigkeit.

„Befreihe sie von dem Fluch“, hallte eine vertraute Stimme aus im Nichts um sie her.

Gelächter.

„Der Tragische Held“, begann eine viel kältere Stimme, doch der Ende des Satzes verwehte in der Unwirklichkeit ihres Seins.

Dann nur noch Stimmengewirr. Zornige Schreie, kalte Drohungen.

„Du kannst sie besitzen, aber niemals ihr Herz!“

Aus.

Die Welt des Nichts verschwamm um Marlene herum, um dann erneut feste Konturen anzunehmen. Doch dieses Mal war etwas anders: Sie fühlte sich träge und schwer, als hätte man sie an eine schmerzhafte Last gebunden, die sie kaum noch zu tragen vermochte.

Ihr Geist war zurück in der Dunkelheit des Waldes, zurück in ihrem geschwächten Körper.

„Komm zu mir“, sprach Dragotins Stimme leise und beschwörend zu ihr. Fast war es, als hätte dieser Befehl die Strecke zwischen den beiden Vampiren nicht überbrückt, sondern wäre direkt in Marlenes Kopf aufgeflammt.

Ohne, dass sie einen Befehl an ihre Beine erteilt hätte, bewegte sie sich auf Dragotin zu, ihre Augen unbeweglich auf sein Gesicht fixiert. Nur im Augenwinkel nahm sie Rion wahr, an dem sie vorbeischritt.

Schon hatte sie die kurze Strecke zwischen sich und ihrem Erschaffer überbrückt und stand ihm gegenüber. Egal, was Marlene erwartet hatte, nichts davon geschah. Dragotin starrte ihr nur mit seinen dunklen Augen in die Ihre, eine scheinbare Ewigkeit lang.

Dann spürte sie, wie Dragotins schmalen Hände ihre Arme entlangstrichen, so beflissen und sanft, dass sie kaum glauben konnte, dass es wirklich dieser mächtige und skrupellose Vampir war, der diese Bewegungen ausführte. Sie wollte nach einer Regung in seinen Augen suchen, die ihr diesen Umstand erklären würde, doch Dragotins Kopf hatte bereits ihr Blickfeld verlassen.

Sie konnte spüren, wie eine Hände an ihrer Bluse hinabglitten und sie öffneten, kaum bei den Knöpfen innehaltend.

Nein, sie wollte das nicht, wollte sich nicht vor ihm entblößt zeigen und nicht vor Farin, dessen Anwesenheit sie nicht anzweifelte. Einen Gedanken an Rion verschwendete ihre Scham allersdings nicht.

Kein Entkommen. Der Käfig um Marlenes Gedanken hatte sich fest geschlossen, sie konnte ihren Körper nicht mehr befehligen.

Dragotins Kühle Hände fuhren unter ihre Bluse und streiften sie von ihren Schultern. Marlene konnte sie mit einem leisen Rascheln zu Boden fallen hören.

'Sie mich nicht an', fuhr es ihr in der einen Sekunde noch durch den Kopf, dann war der Gedanke verschwunden. Dragotins Hände strichen ihren Rücken auf und ab, es hatte etwas unglaubliches Beruhigendes, das Marlene beinahe aus der Realität davongetragen hätte – doch so weit sollte es nicht kommen.

Kühle Lippen hatten sich ganz sanft und klammheimlich auf ihre rechte Schulter gesetzt. Schmerz. Dragotins Eckzähne bohrten sich in ihr Fleisch und es fühlte sich an, als würde eine alte Wunde von neuem aufgerissen.

Marlene wollte vor Schmerz aufschreien, doch kein Ton bahnte sich den Weg über ihre versiegelten Lippen. Dann umfing sie ein grausames Gefühl – das Gefühl, als würde ihr das Leben entzogen. Dragotin hatte begonnen, ihr Blut zu trinken; dass sich dabei seine Fingernägel in ihren Rücken bohrten, nahm sie nur ganz am Rande wahr.

Sie wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer, doch mit dem Leben schien noch etwas anderes ihren Körper zu verlassen: Eine schwere Last, ein tiefer Schmerz, von dem sie nicht gewusst hatte, dass er auf ihr gelastet hatte, bis er nun von ihr genommen wurde. Sie war sich sicher, würde sie nun auf ihren Arm hinabblicken, könnte sie sehen, wie sich die feinen verschlungenen Linien unter ihrer Haut zurückzogen. Doch auch diesen Gedanken konnte sie nicht lange festhalten. Die Schwäche nahm ihr die Sicht und ihre Knie gaben nach, sodass sie nur noch von Dragotin auf den Beinen gehalten wurde.

War das der Zeitpunkt? Würde sie nun sterben?

Ganz leise am Rand ihres Bewusstseins spürte sie, wie sie ins Gras gelegt wurde. Es waren nur noch minimale Eindrücke der Welt um sie her, die bis zu ihr vordrangen. Keine Geräusche, keine Gefühle – nur Eindrücke, die seltsam bizarr aus dem samtenen trägen Schwarz aufflammten.

Ihr war, als hätte jemand nahe ihr Schmerzen. Im nächsten Augenblick benetzte etwas Feuchtes ihre Lippen, tropfte in ihren Mund. Bald spürte sie, wie sich ihre Eckzähne entblößten, vom Instinkt getrieben, ohne ihr bewusstes Zutun. Sie versenkten sich in warmen Fleisch.

Noch mehr Schmerz um sie her.

Der Lebenssaft füllte ihren Mund, ließ ein seltsames Kribbeln durch ihren Körper fahren. Ihre Wahrnehmung schärfte sich, bald konnte sie wieder sehen. Doch ehe sie von dieser Gabe wahren Gebrauch machen konnte, riss jemand ihren Kopf unsanft nach hinten, weg von dem lebensspendenden Blut.

Eine Woge aus Blondhaar in ihrem Sichtfeld. Fay oder Farin? Hatte Fay die Suche nach ihr noch nicht aufgegeben und sie trotz ihrer nicht so stark ausgeprägten Fährtenleserfähigkeiten aufgespürt?

„Danke“, entrang sich ein leiser Hauch Marlenes Kehle und traf jeden um sie herum, da sie ihm keinen bestimmten Empfänger gegeben hatte.

Dann trug sie das Schwarz, das die ganze Zeit über an ihrem Bewusstsein geleckt hatte, davon.
 

Kapitel 4
 

Es war bereits helllichter Tag, als Marlenes Lieder flackerten und sie kurz darauf die Augen öffnete. Sie lag auf einem schmalen Bett, von dem sie sich sicher war, dass es nicht ihr Eigenes sein konnte und über ihr erblickte sie Rion Senays Gesicht, das von der zum Fenster hineinlugenden Sonne erhellt wurde. Kurz darauf erkannte sie auch, dass der Professor auf einem hölzernen Stuhl, der etwas mitgenommen anmutete, neben dem Bett saß und daraufhin wurde ihr klar, wo sie sich befand: In seinem Zimmer in der Universität.

Eine geschlagene Minute konnte Marlene nichts sagen, musste ihre Gedanken ordnen. Was war geschehen, wie war sie hier hergelangt? Die Erinnerung an einen stechenden Schmerz und das Gefühl, dass eine zentnerschwere Last von ihr genommen wurde, zuckte durch ihren Kopf. Der Wald, der Fluch.

„Bin ich jetzt frei?“, flüsterte sie Rions Gesicht entgegen, das sofort eine freundliche Regung zeigte.

Seine Lippen formten sich zu einem sanften Lächeln, wie es nur die Seinen vermochten, dann nickte er: „Ja. Dragotin hat den Fluch von dir genommen. Und mehr, er hat die Macht, die er als dein Erschaffer über dich hat, offiziell abgelegt.“

Es dauerte einige Sekunden, bis Marlene diese Worte verarbeitet hatte. Wieso hätte Dragotin das tun sollen? Er hatte immer den Einfluss, den er über Marlene gehabt hatte, genossen und ausgenutzt so gut es ging. Also wieso...?

Ohne es zu bemerken, hatte Marlene diese Überlegungen laut ausgesprochen, woraufhin sich Rions Lächeln veränderte und eine Spur verschmitzter wurde: „Ein Geheimnis von mir.“

Marlene beschlich das seltsame Gefühl, Rion hatte Dragotin sein Wort geben müssen, ihr nichts über diesen Umstand zu erzählen und so drängte sie nicht weiter danach. Sie hatte ohnehin noch nicht so viel Kraft und Energie, um sich auf eine handfeste Diskussion einzulassen.

So verfiel sie erneut in Schweigen, bis ihre Gedanken noch einmal zurückwanderten. Das Blut, das Blondhaar...

„Wo ist Fay?“, wollte sie jäh halb panisch wissen und schickte sich an, sich aufzurichten, doch Rions kräftigen Hände drückten sie an den Schultern zurück in die Kissen. Er musste ihr nicht sagen, dass er sie in dem Zustand der Schwäche nicht gehen lassen würde, damit es ihr bewusst wurde.

„Sie ist in eurem Zimmer“, gab Rion beruhigend zurück und strich mit der einen Hand, die eben noch Marlene ins Bett zurückgedrückt hatte, an ihrem Hals entlang.

Ein warmer und herzlicher Schauder durchfuhr ihren Körper und machte ihr klar, wie sehr sie eine solche Berührung ersehnt hatte. Sie wärmte sie von innen heraus und ließ ihr Herz mit einem Kribbeln höher schlagen. Marlene musste sich alle Mühe geben, sich nicht vollends von dem Gespräch ablenken zu lassen.

„Es geht ihr gut, sie ist nur“, begann Rion und hielt kurz inne, wohl um die richtigen Worte zu finden, „etwas geschwächt.“

'Also war es doch Fay, die mir ihr Blut gab', erklang die Erkenntnis wie ein heller Glockenschlag in Marlenes Hinterkopf und beschleunigte noch einmal ihren Herzschlag. Es war eine tiefe Dankbarkeit und freundschaftliche Zuneigung, die sie in diesem Augenblick für Fay empfand. Sie hatte Marlene das Leben gerettet – Rions Blut hätte sie nicht trinken können, schließlich war er ein Werwolf.

Doch eine Frage drängte sich Marlene auf und sie konnte es nicht verhindern, sie auszusprechen: „Wieso hat Fay das für mich getan? Sie ist eine Jägerin, sie tötet Wesen wie uns“

Eine Spur der Wehmut hatte sie nicht aus ihrer Stimme verbannen können, doch Rion schien sie richtig zu interpretieren, denn er hielt den Blickkontakt zu ihr und antwortete: „Manchmal überbrückt wahre Freundschaft Bande wie Familie, Rasse oder Moral.“

Über diese Worte musste Marlene einige Sekunden nachdenken, dann lächelte sie: „Ja, genau wie wahre Liebe.“

Der Werwolf erwiderte ihr Lächeln und einen Moment lang schienen beide in den Augen des Anderen nach Zustimmung zu suchen, dann spitzte Marlene die Lippen und Rion beugte sich tief über sie, um ihr einen sanften Kuss auf die Lippen zu hauchen.

Sie mussten sich nicht bedanken oder entschuldigen, sie brauchten keine Worte über Missverständnisse oder Hindernisse zu verlieren, denn ihre Herzen schlugen in völligem Einklang.
 

Epilog
 

Von dem steinernen Plateau aus betrachtet war San Francisco nicht mehr als ein heller Fleck aus Tausenden und Abertausenden Lichtern am Horizont, ein Glühwürmchen in der hereingebrochenen Dämmerung, das seine Flügel bis in den Himmel hinein ausstreckt.

Dragotin blickte wehmütig zurück, zurück auf das, was er in dieser Stadt zurückgelassen hatte und das für immer verloren war: Seine Ehre, sein Stolz, sein Rang, die Möglichkeit, die neuesten Erkenntnisse der Menschheit zu studieren – und seine Erschaffene.

Es war ein tiefer und süßer Schmerz, der sein träges Herz durchzog und den Verlust beklagte, der jedoch keine Spur auf seinem ebenen Gesicht zu hinterlassen vermochte. Ein Schmerz, der so erfüllend war, dass er ihn noch Wochen leiden wollte, Monate oder auch Jahre.

'Was will mir schon die Zeit', regte sich ein flinker Gedanke in seinem Hinterkopf, 'Sie ist gänzlich wertlos.'

Noch eine weitere Minute betrachteten seine geschärften Augen das Lichtermeer in der Ferne, dann brach er jäh das um ihn herrschende Schweigen: „Du hast mich gefunden.“

Seine Stimme hatte nicht erschrocken geklungen, nicht freudig oder erzürnt, nein, es war nichts als eine reine Feststellung gewesen, die sich Dragotins Mund entwunden hatte.

Die Schritte, die sich ihm von hinten genähert hatten, verstummten.

„Du hast deine Spuren nicht verwischt, wie du es sonst tust“, antwortete eine vertraute Stimme zurückhaltend, Dragotin musste sich nicht erst umwenden, um zu wissen, dass sie Farin gehörte.

„Ich glaubte nicht, dass ich verfolgt werden würde, nun, da du deine Aufgabe an meiner Seite erfüllt hast. Ich gebe zu, ich habe nicht erwartet, dass du den Mut aufbringen würdest, zu versuchen, mich zu töten“, gab Dragotin zurück, den Blick immer noch an San Francisco am Horizont geheftet.

Es schien, als sei Farin dem Vampir eine Erklärung schuldig, doch wenn er es war, machte er keine Anstalten, diese Schuld zu begleichen. Stattdessen setzte er nun seinen Weg fort und trat an Dragotins Seite, um seinem Blick zu folgen.

„Liebst du sie so sehr?“, fragte er nach einiger Zeit des Schweigens leise, so leise, dass es schien, als würde er zu sich selbst sprechen, doch Dragotin horchte auf.

„Ich lebe bereits zu lange, um noch wie ein Mensch zu fühlen“, gab er zurück, dann verengten sich seine Augen kaum merklich und er fuhr in kühlem Ton fort: „Ich weiß, wieso du hier bist.“

Nun endlich wandte er den Kopf und blickte in Farins Gesicht hinauf, dessen Züge ihm auch in der Dunkelheit nicht verborgen blieben.

„Weißt du, aus welchem Grund ein Vampir einen Anderen erschafft?“, fuhr er dann immer noch abweisend fort, doch die Kälte seiner Stimme wich zusehends einer Sachlichkeit, die bald sich bald in unterdrückte Melancholie zu verwandeln begann: „Es ist ein Gefühl der Zuneigung, der Wunsch, die Ewigkeit des Seins an der Seite eines Menschen zu verbringen. Und dennoch-“

Er hielt kurz inne, als müsste er sich selbst zwingen, seine Gedanken näher auszuführen, bevor er fortfuhr: „Und dennoch: Irgendwann sind wir immer allein. Und ahnst du aus welchem Grund, Farin Serene, Sohn des Jägers der Neuzeit, der Zeit seines Lebens die meisten Wesen der Nacht getötet hat?“

Zum Ende des Satzes hin hatte sich Dragotins Stimme zusehends erhoben, bis seine Worte beinahe einem zornigen Aufschrei glichen.

Farin zuckte kaum merklich zusammen, hielt dem Blick des Vampires jedoch ohne zu blinzeln stand. Fast schien es, als fürchtete er sich vor dem, was Dragotin nun aussprechen würde, nicht aber vor dem Vampir selbst.

„Weil Vampire sind, wie sie nun einmal sind“, fuhr dieser im Flüsterton fort, „Wir nehmen uns, wonach uns verlangt; ohne Rücksicht, ohne Gewissen, ohne je zu fragen.“

Noch einmal machte er eine Pause und seine Augenbrauen zogen sich kaum merklich zusammen. Es schien, als sinnte er darüber nach, wie viel er noch sagen konnte, ob er schon zu viel gesagt hatte.

Schließlich schien er zu einem Ergebnis gekommen zu sein: „Aber ich werde den selben Fehler nicht zweimal begehen.“

Damit erhob er sich aus dem Sand, der an seinem blutroten Mantel nicht haftete und blickte dem Jäger in die gräulich blauen Augen, die sich augenblicklich leicht weiteten.

„Möchtest du die Ewigkeit an meiner Seite verbringen, Farin Serene?“, fragte er in einem leicht knurrenden Ton, der dem Angesprochenen einen Schauder über den Rücken laufen ließ – einen angenehmen Schauder.

Ganz langsam, als hätte sich jede Sekunde in eine Minute verwandelt, nickte Farin.

„Fürchte dich nicht“, hauchte der Vampir ihm ins Ohr und beugte sich zu seinem Hals hinab, über den er mit seinen schmalen Lippen fuhr.

Es dauerte nicht einen Lidschlag, bis sich Wohlgefühl in Schmerz verwandelte. Dragotins scharfe Eckzähne hatten sich in Farins Hals gebohrt und dem Jäger entfuhr ein schmerzerfülltes Keuchen. Die Zeit schien sich zurückzudrehen, zurück bis an den Beginn allen Lebens, einen Zeitpunkt, an dem Farin noch nicht existiert hatte. So entriss ihm die Zeit das Bewusstsein.

Langsam zog Dragotin seinen Kopf zurück und bettete Farins leblosen Körper auf dem Steinboden. Mit einer kurzen Bewegung, die mit bloßem Auge kaum auszumachen war, fuhr er sich mit dem Nagel des Zeigefingers über das eigene Handgelenk und riss so die dort befindlichen Adern auf. Das hervorquellende Blut tropfte er in Farins Mund, bis dieser wieder zu Bewusstsein kam und allein trinken konnte.

Schon kurz darauf wurde der Neugeborene vom Schlaf übermannt. Dragotin ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder und betrachtete sein fein geschnittenes Gesicht wie einen Schatz, der ihm überreicht worden war.

„Fürchte dich nicht“, flüsterte er noch einmal, dann hauchte er ihm einen Kuss auf die Stirn.



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Von:  Chocokatze
2008-02-18T16:51:46+00:00 18.02.2008 17:51
^__________^
MEEEEEEHR!!!!
Von:  sunshishi
2008-02-17T17:20:50+00:00 17.02.2008 18:20
Cooles Special^^

Mir gefällt der Rückblick auf Marlenes Erschaffung. und ich finde es schön, endlich mal einen tieferen Einblick in Dragotins Gedanken zu bekommen. Wieder eine hervorragende Wortwahl - sehr mitreißend^^
Freu mich auf mehr^^

Dat SuShi


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