Der Regen von Jadelady (Stille Freundschaft) ================================================================================ Kapitel 2: Familie ------------------ Nach etwa drei Wochen winkte mir Josch zu, als er in die Straße einbog, in der er wohnte, als plötzlich eine Frauenstimme nach mir rief. Ich sah zu Josch und er machte eine Handbewegung, die andeutete, dass ich ihm folgen sollte. „Hallo?“, sagte die Frau, zu der sich Josch stellte, und lächelte mich freundlich an. „Ich bin Janette, Joschs Mutter. Es ist schön, dich einmal kennen zu lernen.“ Janette Strümpfick sah ihrem Sohn fast gar nicht ähnlich. Nur die Haarfarbe und die Augen hatte er von ihr geerbt. Sie war etwa vierzig Jahre alt, trug Jeans und einen grünen Pullover. „Hallo“, entgegnete ich unsicher. Was wollte Joschs Mutter von mir? Sie lächelte wieder. „Ich wollte dir eigentlich nur dafür danken, dass du Josch normal behandelst. In den anderen Städten war er sehr einsam gewesen, da sich niemand mit ihm anfreunden wollte.“ „Hier wollte das auch keiner, außer mir natürlich. Aber ob ihm damit sehr geholfen ist, ist die nächste Frage“, sagte ich ehrlich. Es war nicht meine Gewohnheit zu lügen oder Sachen nicht zu sagen. „Was meinst du damit?“, fragte Joschs Mutter irritiert. „Ich habe keinen sehr guten Ruf in der Schule. Die Leute mögen mich einfach nicht. Und ich bin nicht sicher, ob Josch wirklich solche Freunde gebrauchen kann“, sagte ich. Ich bemerkte Joschs Blick, mit dem er mich bei diesen Worten bedachte, und hatte fast das Gefühl, er würde etwas sagen wollen. Was er natürlich nicht tat. Aber irgendwie wirkte er plötzlich traurig. „Quatsch!“, entfuhr es Joschs Mutter, ehe ich mir mehr Gedanken um den Ausdruck in Joschs Augen machen konnte. „Du bist das Beste, was ihm passieren konnte. Er hat jetzt wenigstens eine Person, die man als Freund bezeichnen kann. In den anderen Städten war das nicht so.“ Hatte sie Recht? Waren wir wirklich Freunde? Ich hatte zwar nicht viel Zeit, um darüber nach zu denken, aber ich kam zu dem Schluss, dass es wohl stimmen würde. „Na ja, wenn das so ist“, sage ich und grinste. Wie wohl Joschs Mutter von mir erfahren hatte? Vielleicht schrieb Josch auf, was er sagen wollte? Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, den er jedoch nur ruhig mit noch immer diesem eigenartigen Ausdruck im Gesicht beantwortete. „Ich hab dich mit Josch auf der Straße gesehen“, unterbrach Janette meine Überlegungen. Ob sie ihn nach mir gefragt hatte? Mütter waren ja bekanntlich sehr neugierig. „Und zwar die letzten drei Wochen. Du scheinst dich nicht daran zu stören, dass er nichts sagt“, erklärte sie weiter, ohne dass ich gefragt hätte. Aber wahrscheinlich hatte sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt und ihn entschlüsselt. Bei Josch hatte ich das auch schon oft gemacht. „Stört mich auch nicht“, murmelte ich fast verlegen und schaute dann auf meine Armbanduhr. Verdammt, ich musste los. „Tut mir leid, aber ich habe wirklich keine Zeit mehr“, sagte ich entschuldigend. „Ich bin mit meinen Einträgen für die Matheprobe verabredet. In zwei Tage schreiben wir sie, und ich habe erst die Hälfte davon verstanden.“ Ich lächelte Josch noch mal entschuldigend an und ging dann nach Hause. Dort angekommen, warf ich mich erst einmal auf mein Bett und versank in Grübeleien, bevor ich daran dachte, dass ich auch noch lernen musste. Josch war ein wirklich guter Kumpel geworden. Obwohl er nicht redete oder vielleicht gerade deshalb, war er ein fantastischer Zuhörer. Niemals hatte ich das Gefühl, ihn würde langweilen, was ich sagte. Aber auch, ohne dass ich redete und er zuhörte, war alles toll. Mit Josch konnte man schweigen. Meistens ist die Stille von zwei Menschen unangenehm und viele fühlen sich dabei nicht wohl, aber mit Josch war Schweigen eine Wohltat. Ich fühlte mich nie alleine und musste mir keine albernen Gesprächsthemen aus den Fingern saugen. Josch konnte ich von den Dingen erzählen, die mich bewegten und all den stupiden Smalltalk weglassen. Freund. Über die Bedeutung des Wortes dachte ich lange nach. Ein Freund ist jemand, der zu einem hält, mit dem man lachen kann, aber auch weinen. Jemand, der einen versteht und in diesem Fall auch jemand, mit dem man schweigen konnte. Nach einer Weile, zwei Stunden, bemerkte ich, dass ich immer noch nichts gelernt hatte. Auf jeden Fall kein Mathe. Vielleicht über mich selbst, aber dennoch kein Mathe. Also machte ich mich an die Arbeit und verdrängte die Gedanken an den stummen Jungen. ***** Am nächsten Morgen traf ich mich wieder mit Josch auf der Straße vor seinem Haus. Er wirkte müde und war ein wenig blass um die Nase. Aber sonst schien ihm nichts zu fehlen. In der ersten Pause bemerkte ich dann, dass Josch nichts aß. Normalerweise tat er das jedoch jeden Morgen. Als ich ihn fragte, legte er eine Hand auf seinen Bauch. Aha. Ihm war schlecht. Ich wollte ihn nicht bedrängen, aber ich machte mir ehrlich Sorgen um ihn. Josch ging wieder mit in den Unterricht. In der zweiten, längeren Pause drängte ich ihn dazu, zu einem Lehrer zu gehen und sich nach Hause schicken zu lassen. Aber er wollte nicht. So einfach würde ich es ihm aber nicht machen. Also wurde ich leicht radikal und zerrte Josch zum Büro des Direktors. Ich klopfte und öffnete die Tür, als von drinnen ein: „Ja, bitte?“ zu hören war. Im Vorzimmer des Direktors saß die Sekretärin und blickte uns fragend an. „Ich möchte mit dem Direktor sprechen.“, sagte ich nur. Es musste ja nicht jeder wissen, dass es Josch nicht so gut ging. Die Frau nickte nur und ich zog den Jungen hinter mir her, zu der Verbindungstür, die beide Räume verband. Als ich klopfte, bekam ich auch gleich eine Antwort. „Ja?“, fragte der Direktor. „Josch“, sagte ich. „Ihm geht’s nicht so gut. Ihm ist schlecht“, sagte ich. „Nun gut. Du schaust auch gar nicht so gut aus“, meinte der Direktor mit einem Blick in Joschs Richtung. „Es ist besser, du gehst jetzt nach Hause“, setzte er noch hinzu. Und somit war Josch vom Unterricht befreit und konnte nach Hause gehen. Tja, manche Menschen muss man halt zu ihrem Glück zwingen. **** Am nächsten Tag wartete ich auf der Straße auf Josch. Aber er kam nicht. Dafür aber seine Mutter. „Hallo“, begrüßte sie mich und ich konnte die Sorgen in ihrem Gesicht sehen. „Josch ist leider krank geworden. Könntest du die Entschuldigung mit in die Schule nehmen?“ „Ja, mach ich. Richten Sie Josch bitte einen schönen Gruß und gute Besserung aus“, erwiderte ich und machte mich auf den Weg. Es war der erste Tag seit drei Wochen, den ich wieder allein verbrachte. Ich hatte mich an Joschs schweigsame Gegenwart gewöhnt und ohne ihn fühlte ich mich plötzlich einsam. Es erschreckte mich etwas, dass es mir so auffiel, ja dass ich ihn richtig vermisste. Auch die nächsten Tage ging ich alleine zur Schule. Das erinnerte mich wieder sehr an die Zeit, bevor ich Josch begegnet war. In den Pausen stand ich alleine an dem Fenster, an dem ich mit Josch immer gestanden hatte. In diesen Tagen regnete es nicht. Aber auch die Sonne wollte sich einfach nicht zeigen. Meine Stimmung wurde immer mieser. Und so beschloss ich nach drei Tagen zu Josch zu gehen und ihn zu besuchen. Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte, wenn ich dort war, aber ich wollte, dass er erfuhr, dass ich mir Sorgen um ihn machte. Nach der Schule ging ich also nicht gleich nach Hause, sondern bog in die Straße zu Joschs Haus ab. Dort klingelte ich. Joschs Mutter öffnete die Tür. „Hallo“, begrüßte sie mich. „Ich wollte Josch besuchen und fragen, wie es ihm geht“, sagte ich leise. Ich fühlte mich ein wenig fehl am platz. Meine Stimme, was ich schon oft genug verflucht hatte, klang genauso unsicher wie ich mich fühlte. „Das ist nett von dir, aber er schläft gerade. Vielleicht möchtest du dich ein wenig mit mir unterhalten?“, fragte sie. „Ja, das wäre nett“, sagte ich und versuchte dabei mein Gesicht nicht unwillig zu verziehen. Eigentlich hatte ich ja nur zu Josch gewollt, da dieser jedoch schlief, hoffte ich auf Informationen von seiner Mutter. Das musste nun mal sein, denn Josch würde mir bestimmt nicht so schnell von sich erzählen. Und so wenig ich es mochte, Leute auszuhorchen, war es doch dieses mal notwendig. Ich wollte mehr über Josch erfahren. Denn es schmerzte mich schon ein wenig, nichts von ihm zu wissen. Vor allem, da ich ihm so viel von mir erzählt hatte. Wir setzten uns in die Küche, wo Janette mir einen Tee anbot. Ich lehnte dankend ab. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Josch. Ich erfuhr, dass er Grippe hatte und wahrscheinlich erst in der nächsten Woche wieder in die Schule durfte. Dann aber bekam das Gespräch eine neue, traurige Wende. Mir kam es vor, als wäre sie froh, jemanden zu haben, dem sie davon erzählen konnte, auch wenn ich sicher kaum mehr antwortete als ihr stummer Sohn. Plötzlich sprach sie davon, warum Josch nicht mehr redete. „Josch hatte einen Zwillingsbruder. Er hieß André, aber wir nannten ihn nur Andi. Die beiden waren eineiig und unzertrennlich. Egal, was sie machten, sie waren immer zu zweit. Doch als sie sieben Jahre alt waren, starb Andi. Er war immer schon der schwächere von beiden gewesen und war oft krank. Er starb im Krankenhaus an einer Lungenentzündung. Seitdem hat Josch kein einziges Wort mehr gesagt. Nicht zu mir, nicht zu seinen Großeltern, zu niemandem. Nicht einmal im Schlaf redet er, obwohl er oft Albträume hat. Seit dem sind wir von Stadt zu Stadt gezogen, auf der Suche nach einer Arbeit für mich und Freunde für Josch.“ Janette sah bei diesen Worten immer trauriger aus. „Deshalb war es für mich immer so wichtig, dass er Freunde findet. Ich hoffe, dass er sich dir irgendwann öffnet und wieder zu reden anfängt“, erklärte sie. Das hoffe ich auch, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass ich wieder dringend los musste. „Ich hoffe, es geht Josch bald besser“, verabschiedete ich mich von ihr. „Sagen Sie ihm bitte, dass ich da war und ihm gute Besserung wünsche. Ich muss jetzt leider wieder gehen“, fügte ich noch entschuldigend hinzu und Joschs Mutter nickte. Noch lange lag ich an diesem Abend in meinem Bett, starrte die dunkle Decke an und dachte an Josch. Seine Vergangenheit war so traurig und ich hätte nie vermutet, dass sie mir so nahe gehen würde. Ich wünschte ihm nichts sehnlicher, als wieder reden zu können. Dabei erwischte ich mich bei dem Gedanken, ihm dabei helfen zu wollen. Mir kam es seltsam vor, aber wieder wurde mir bewusst, dass ich mit Josch befreundet war. Nach so langer Zeit ohne Freunde war es mir etwas seltsam zumute, mir jetzt um ihn Sorgen zu machen. Nun wollte ich ihm mehr als alles andere auf der Welt helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Bei diesen Überlegungen schlief ich irgendwann ein. ***** Als ich am nächsten Morgen zur Schule ging, fragte mich mein Lehrer, ob ich genaueres über Josch wüsste. Ich erzählte ihm, dass Josch die Grippe hat und dass er erst nächste Woche wieder in die Schule kommen würde. Dabei seufzte ich, denn immerhin war es erst Dienstag und ich wusste, dass ich die ganze Woche allein sein würde. Der Schultag gestaltete sich wie immer. Am Mittwoch war es genau so. Doch am Donnerstag nicht. Ich war gerade auf dem Weg zur Schule, als ich Josch an der Straße warten sah. „Hey!“, entfuhr es mir überrascht. „Was machst du denn hier? Ich hab gedacht, du kommst erst Dienstag wieder in die Schule.“, sage ich erstaunt. Josch lächelte nur, so wie immer, und zuckte mit den Schultern. Zusammen gingen wir zur Schule. Dabei beobachtete ich ihn genau. Seit unserem ersten gemeinsamen Schultag hatte er sich nicht verändert und krank wirkte er auch nicht mehr, aber ich traute dem Frieden nicht so ganz. Wenn es hieß, dass er erst am Dienstag wieder in die Schule durfte, dann hatte das einen guten Grund. Also achtete ich genau auf Josch. Aber er zeigte den ganzen Tag keine Anzeichen, irgendeiner Krankheit. Am darauf folgenden Tag auch nicht. Und so zerstreute sich meine anfängliche Vorsicht. Ich war einfach nur froh, endlich nicht mehr alleine zu sein. Auch am Wochenende verbrachten wir viel Zeit miteinander. Dabei fand ich heraus, dass Josch ein wirklich guter Schachspieler war. Er schlug mich mehr als einmal und das, obwohl ich von mir glaubte, ebenfalls sehr gut zu sein. Aber es machte Spaß, endlich einmal einen würdigen Gegner gefunden zu haben. Die neue, und letzte Woche vor den Ferien, war ebenfalls fast ereignislos. Ich freute mich viel zu sehr auf die Ferien und darauf, endlich einmal wieder richtig auszuschlafen und zu faulenzen. Josch und ich beschlossen, es uns an dem ersten Wochenende schon gut gehen zu lassen und gingen ins Kino. Es war wieder einmal ein Tag, an dem es in Strömen regnete, aber niemand von uns störte sich daran, dass wir völlig durchnässt nach Hause kamen. Es war kein allzu kalter Regen und ich maß der Tatsache, dass Josch zitterte, keine Bedeutung bei. Hätte ich es nur einmal getan… Am Sonntag schauten wir uns eine DVD an und am nächsten Tag, dem ersten Tag meiner Ferienwoche, fuhr ich mit meinen Eltern zu meiner Großmutter. Josch war etwas traurig darüber, aber ich hatte sie lange nicht gesehen und freute mich darauf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)