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Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
von

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Prolog *** Inkarnation des Feuers

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Prolog *** Inkarnation des Feuers
 

„Der größte Fehler, den meine Ahnen begingen, war ihr närrischer Akt der Schöpfung: etwas zu erschaffen, das ihnen irgendwann ebenbürtig - zumindest, was den Intellekt betrifft - sein würde, etwas, das schneller vergisst als es lernt und seine Herkunft verleugnet, und für einen selbst erdachten, vermeintlich unfehlbaren Götzen lebt und mordet, sobald es ein Bewusstsein entwickelt.
 

Menschen.
 

Und die jüngeren Generationen eifern diesem Fehlentscheid nach, schwach, abhängig.

Helvítis Aufstieg ebnete den Weg für jene Pest der Vermenschlichung und besiegelte ihren Ausbruch mit seinem Tod.
 

In diesem irrationalen Chaos stehen wir heute vor dem Nichts, existieren nur noch wenige, die die Stimme des Feuers zu vernehmen vermögen, deren Seelen sich im Einklang mit ihrem Element befinden.

Wie die Menschen sind sie sich ihrer wahren Bestimmung nicht mehr bewusst, wandeln blind und orientierungslos durch eine ihnen fremde Welt...“
 


 

„Die meisten von ihnen sind nicht einmal in der Lage, ihresgleichen von uns zu unterscheiden – ausgenommen anhand von Äußerlichkeiten: unser rotes Haar, das Signet unseres Ursprungs, die Klauen und das Clanzeichen auf der Stirn, das von unserer wahren Gestalt herrührt.
 

Der Großteil von ihnen hasst und jagt uns, schimpft uns Ungeheuer oder Monster, andere wiederum, eine Minderheit, verehrt uns wie Gottheiten und baut Tempel, bringt dort Opfergaben dar, und begegnet uns mit Ehrfurcht und Demut.
 

Jeglichen Kontakt zu den Menschen zu vermeiden, das ist wohl die beste Lösung für eine friedliche Koexistenz.

Für beide Seiten.“
 


 

„Sie sind klein und insignifikant, Wesen ohne Wert oder Daseinsberechtigung, ohne eine bedeutende Rolle im Schicksal des Clans.
 

Ameisen, nein, Würmer, die sich krümmen und winden und jämmerlich um ihr Leben ringen, bloß, um nach nicht einmal einem halben Jahrhundert elend zugrunde zu gehen.

Mitnichten bedrohen sie unsere Zukunft.
 

Es ist weniger ein Tolerieren als viel mehr ein Ignorieren, verhält sich wie mit Insekten, die zwar in unserer Nähe leben und sterben, sich gegenseitig töten oder ihr Dasein wie Hunde fristen, doch bemerken wir ihre Präsenz höchst selten.

Wenn sie sich zu einer Lästigkeit entwickeln, zerquetscht man sie ohne Bedenken oder schlechtes Gewissen unter dem Stiefelabsatz.
 

Gegen die Macht einer überlegenen Existenz, gegen die Macht des Clans der Feuerdrachen, bestehen sie ohnehin nicht auf Dauer.“

Ouvertüre *** Nacht: Unter dem Sternenhimmel

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Ouvertüre *** Nacht: Unter dem Sternenhimmel
 

Kalt und unnahbar thronte das Antlitz des Vollmondes am Nachthimmel, tauchte die mongolische Steppe in gespenstischen Dämmerschein, die karge Graslandschaft von fahlem Silber übergossen.

Nicht eine einzelne Wolke trübte das Firmament, und der Wind schwieg bisweilen zu der surrealen Szenerie.

Stille umfing die marode Baracke an der Wüstengrenze, ab und an hallte das verlorene Wiehern eines Pferdes über die weite Ebene hinweg.

Grabesstille.

Deshalb hasste er die Abgeschiedenheit dieses Außenpostens, die vermaledeite Ruhe stimmte ihn nervös.

Mit dem Tosen und Wüten einer Schlacht, dem Grölen von Betrunkenen oder der Geschäftigkeit der Stadt konnte er sich arrangieren, er war es gewohnt, zwischen Hektik, Gedränge und einer übermäßigen Geräuschkulisse zu agieren; in der trostlosen Einöde der Mongolei musste er um Verstand und Nerven bangen, nicht imstande, dieses Nichts, die Abwesenheit von allem Vertrauten, zu ertragen.

Seufzend rieb er sich über die rechte Schläfe, beobachtete aus den Augenwinkeln desinteressiert die weiße Motte, die um die flackernde Kerzenflamme flatterte, und alsbald dem Feuer zum Opfer fiel.

Wie überlebten solch zerbrechliche Geschöpfe die nächtliche Kälte?

Tagsüber herrschten hier, am Rande der Wüstenareale der Gobi, wenigstens für die Begriffe eines Feuerdrachen, angenehme Temperaturen, wohingegen die Nächte sich als Alpträume in einer Eishölle erwiesen hatten.

Er fror, und selbst die Schale mit glimmenden Kohlen, die in seinem Schoß ruhte, vermochte dem Zittern seines Leibes keinen Einhalt zu gebieten.

Es half nichts.

Seine einzige Hoffnung auf Erlösung galt einer Versetzung, um die er nicht zu bitten wagte.

Befehl war Befehl.

Lustlos wandte er sich wieder der vor ihm ausgebreiteten Pergamentrolle zu, bemüht, den langweiligen Missionsrapport, in dem es ohnehin nichts Bedeutungsvolles zu berichten gab, möglichst rasch abzufassen.

Bürokratie und dergleichen gehörten definitiv nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen – er schätzte sich glücklich, halbwegs passabel lesen und schreiben zu können, denn das hatte man ihn während seiner Ausbildung zum Soldaten nicht gelehrt.

Demgemäß ähnelten die Schriftzeichen aus seiner Feder eher Hieroglyphen und einmal war er gefragt worden, ob ihm die Tinte verunglückt und der Botenvogel über das Papier gelaufen wäre.

Geantwortet hatte er damals nicht.

Skeptisch prüfte er sein Schriftwerk, und befand, dass mit etwas Fantasie die kurze Nachricht, die er verhältnismäßig ordentlich niedergeschrieben hatte, zu dechiffrieren sein sollte.

Dann nickte er langsam.

Fröstelnd erhob er sich und durchquerte den Raum, verstaute die nunmehr in Leder gewickelte Schriftrolle in dem Futteral für den Botenfalken, der er morgen früh losschicken würde.

Er trat ans Fenster, schob die provisorischen Vorhänge beiseite und blickte in die eisige Dunkelheit, lauschte dem Schnauben der Pferde im Pferch.

„Zum Kotzen…“

Missmutig blickte er in die Ferne und wünschte sich zerknirscht in die belebten Straßen der östlichen Hauptstadt zurück, in eine der engen, warmen Eckkneipen, in denen nach Lust und Laune getrunken und gesungen wurde, die feuchtfröhlichen Abende oftmals in derben Prügeleien endeten.

Während dort das Leben weiterging, verzehrten sich die abgehalfterten Genossen, die sein Schicksal in der Walachei am Ende der Welt teilten, geradezu nach Schnaps und einem Pärchen Würfeln.

Gottverdammt, das hielt auf Dauer niemand aus…
 

Das anschwellende Stimmgewirr aus dem Nebenzimmer forderte schließlich seine Aufmerksamkeit ein.

Was zur Hölle trieb die Idiotenbande um diese späte Stunde?

Grummelnd verfluchte er die eintönige Aussicht, postierte sich leise, mit verschränkten Armen im Türrahmen zum angrenzenden Schlafraum und musterte die anwesenden Krieger mit einem kritischen Blick.

„Was wird das? Habt ihr nichts Besseres zu tun?“

Die Runde verstummte abrupt, grüßte trotz dessen in nachlässiger Manier, der es an Respekt und militärischer Form mangelte, und obwohl er mit Sicherheit behaupten konnte, dass die Soldaten nicht die alleinige Schuld an ihrer derzeitig zermürbten Gemütsverfassung trugen, verlangte ihr Verhalten nach einer Maßregelung – und um sich etwas Entsprechendes zu überlegen, hatte er wahrlich genügend Zeit.

„Kafteinn“, meldete sich einer der Jüngeren zu Wort, der lamentierende Unterton markant, „Reykur spinnt schon wieder rum, der kommt nicht mehr runter von seinem Trip.“

Er widerstand dem dringenden Bedürfnis, seinen Unmut kundzutun und presste stattdessen die Zähne aufeinander.

Reykur bereitete ihm Kopfschmerzen.

Seit ihrer Ankunft sorgte der Feuerdrache aus dem Norden Russlands in regelmäßigen Abständen für Verwirrung und Uneinigkeit; er sprach im Schlaf zuweilen wie im Fieber, verlor grundlos das Bewusstsein, und vor wenigen Wochen war er in eine Art Trancezustand verfallen und hatte unverständlich in seiner Muttersprache vor sich hingemurmelt.

Erschreckend waren allerdings nicht die Fakten, sondern die Vorfälle, die sich daraufhin ereigneten – Sandstürme, Wetterumschwünge, wandernde Horden von wilden Tieren.

Nach dem dritten angekündigten Vorkommnis konnte er das nicht mehr Zufall nennen. An die Gabe der Voraussehung glaubte er dennoch nicht.

Möglicherweise wohnte Reykur schlichthin eine Sensibilität für sein Umfeld und die Natur inne, die die meisten nicht besaßen.

„Wo?“

Die rhetorische Frage, was ihnen heute blühen sollte, verbat er sich; konkrete Botschaften waren nämlich offenbar zu viel von der übersinnlichen Macht verlangt.

„Draußen“, erfolgte die abrupte Erwiderung, begleitet von einem kollektiven Nicken in Richtung des Hinterausgangs.

Entnervt verließ er die schäbige Holzhütte, passierte schnellen Schrittes den Unterstand der Pferde, die ihn freudig anbrummelten und die Köpfe über den Zaun streckten.

Für den Moment galt sein Fokus jedoch Reykur, der zusammengesunken am letzten Pfahl der Umzäunung kauerte. Sein gepresster Atem kondensierte in weißen Wölkchen vor seinem Gesicht.

Reykur wirkte verstört, die Züge von dunklen Schatten überlagert.

„Reykur.“

Der Angesprochene reagierte nicht, und erst als er vor dem reglosen Kameraden halbseitig abkniete, die Hand behutsam auf seine Schulter legte, spürte er dessen heftiges Zittern.

„Sie… kommen… sie kommen hierher…“ wisperte der zerrüttete Drache heiser, nahezu lautlos, wiederholte die leere Phrase wie ein ewig währendes Mantra in seinem starken russischen Akzent.

„Komm, steh auf, Reykur, du holst dir noch den Tod.“

Offenbar konnte sein apathisches Gegenüber ihn nicht hören, und dessen anhaltender Unwille zur Kooperation zwang ihn letztendlich zum Handeln. Kurzum packte er Reykur entschlossen am Unterarm und zog ihn auf die Beine, dirigierte ihn in ihre dürftige Unterkunft zurück.

Gegenwehr erfuhr er nicht.

„Wir sind hier nicht sicher“, flüsterte er unter sichtlicher Anstrengung, als er die morsche Holzdecke anstarrte, der verhetzte Ausdruck in den hellen Augen zeugte von Angst; kalter Schweiß rann ihm über die Stirn.

Seine Kollegen schauten ihn an, ratlos und erfüllt von Unsicherheit, und auch der kafteinn wusste sich nicht recht zu erklären, was das im Endeffekt zu bedeuten hatte.

„Ruh dich aus.

Der Rest reißt sich am Riemen, und bleibt vor allem wachsam.“

Die Festigkeit seiner Stimme vernichtete die Option auf Protest oder gar abergläubisches Beharren.

Damit verabschiedete er sich mit einem nonchalanten Wink, zurrte den über seine Brust verlaufenden Ledergurt der Schwertscheide fester, der europäische Anderthalbhänder unter dem Mantel bis zum Heft verborgen.

„Wohin geht Ihr, kafteinn?“ kam die zaghafte Nachfrage, ehe er die Schwelle überschritt.

„An die frische Luft.“
 

Die Kühle der Nacht empfing ihn harsch, ihre frostige Umarmung hielt ihn eng umklammert und drang durch den Stoff seiner Kleidung hindurch bis auf seine Haut.

Schauer liefen ihm die Wirbelsäule hinab, und die in ihm aufwogende Unruhe leistete ihren Beitrag zu dem Unwohlsein, das ihm in der Magengegend ein mulmiges Gefühl bescherte.

Ein böses Omen? Eine Vorahnung seinerseits?

Kopfschüttelnd setzte er sich in Bewegung, verdrängte jenen lächerlichen Gedanken in die hinteren Gefilde seines Verstandes.

Er musste nachdenken.

Reykur neigte nicht zu hysterischer Übertreibung und sein reserviertes Wesen erlaubte keine schlechten Scherze auf Kosten von Autoritäten.

Als temporärer Verantwortlicher der östlichen Posten oblag es ihm und seinem persönlichen Urteilsvermögen im Notfall sofort einzuschreiten und etwas zu unternehmen. Gleichgültig, wie die Situation sich entwickeln würde, und dementsprechend wollte er kein unnötiges Risiko heraufbeschwören.

Angespannt erklomm er den Ostgrenzwall, der viel eher einem Hügel als einer schützenden Mauer ähnelte, folgte eine Weile dem geradlinigen Verlauf des breiten Grates bevor er inne hielt und seine Sinne schweifen ließ.

Am Horizont war keine Regung zu erkennen, er spürte keinerlei fremde Präsenzen, und auch der seichte Wind brachte keine bedenklichen Botschaften mit sich.

Nichts…

In der einsamen Wüstenlandschaft lauerte keine versteckte Bedrohung – jedenfalls keine, die man mit dem Schwert bekämpfen konnte. Gegen den Wahnsinn half die schärfste Klinge nichts.

Hatte Reykur möglicherweise vor einem unsichtbaren Feind gewarnt, der sich unbemerkt in die eigenen Reihen schlich?

Nachdenklich schaute er zum schwarzen Firmament empor, das sich samten über ihn wölbte, von tausenden Sternen besetzt, im Angesicht des Mondes winzig und unscheinbar.

Er mochte die Sterne, genoss den Anblick eines unbewölkten Nachthimmels, der ihm in der Stadt niemals vergönnt gewesen war, verschleiert von Dunst und dem Rauch der Ignoranz.

Ihm war, als würden sie singen, hoch droben auf einer Empore, ein Sternenchor…
 

Während er, gebannt von der Einzigartigkeit des Momentes, seinen Blick nicht abzuwenden vermochte, verstrich die Zeit wie im Fluge, und die Tragödie, die indessen hinterrücks seine Kameraden ereilte, zog wie ein Gespenst an ihm vorüber.

Umso gnadenloser würde dieser Nachtmahr später über ihn herfallen, ihn wachend und in seinen Träumen heimsuchen und der Verzweiflung seines Herzens überlassen…
 

Das Geräusch von schweren Schritten riss ihn plötzlich aus dem Bann der Faszination, und seine rechte Hand umschloss reflexartig das Heft seines Schwertes - doch dann zögerte er.

„So alleine hier draußen, kafteinn?“ entbot der vermeintliche Unbekannte, der sich ihm gemächlich näherte, in hämischen Ton seinen Gruß.

Das Lächeln, dem er sich daraufhin nicht mehr erwehren konnte, erstarb, als er das Aufflammen elementarer Feuerenergie wahrnahm, und sich kurzum die Fänge und Klauen eines Drachen gewaltsam durch seine Rüstung und seinen Leib bohrten.

Ungehindert durchtrennten die dolchartigen Zähne des Feuerdrachen Muskeln und Sehnen, zerfetzten Organe, zermalmten Knochen; seine Nerven kollabierten, Schmerz empfand er keinen, sein Gehirn versagte ihm den Dienst.

Er wusste die Anzeichen zu interpretieren, zu erfahren, um sich an Irrationalität zu klammern…

Bloß der Eindruck des nächtlichen Himmels prägte sich für die Ewigkeit in sein Gedächtnis, und nun schienen ihn die leuchtenden Sterne lauthals zu verhöhnen.

Wieso sollten sie auch für ihn singen?

„Wer hätte gedacht, dass ein loyaler Hund wie du uns freiwillig den Weg ebnen würde“, spotteten sie lachend, „wie kann man dermaßen naiv sein?“

„Ein Eingeweihter hätte es nicht besser einfädeln können. Du hast es uns fast zu einfach gemacht.“

„Ohne dich und dein Engagement wären wir aufgeflogen. Wir danken dir für deine Mithilfe“, riefen sie.

„Dummheit wird bestraft.“

„Das letzte, was du für uns tun musst, ist simpel“, säuselten sie gespielt versöhnlich.

„Du musst nur noch sterben, das ist alles. Das kannst du, oder?

Dann hast du deinen Part des Plans erfüllt, Logi…“
 


 

***
 


 

Verstohlen spähten die bläulich durchwirkten Iriden des Drachenkindes in die Dunkelheit des spartanischen Quartiers, fixiert auf die vage Silhouette, die reglos, das Gesicht abgewandt, in den Schatten verweilte.

Der breite Rücken seines Bruders wirkte durch das spärliche Licht, das aus dem Korridor in den Raum sickerte, bleich und fremd, das für gewöhnlich so lebendige Scharlachrot seines Haares seinem außergewöhnlichen Schimmer beraubt.

Seit Tagen sprach er kaum, grenzte sich, in für ihn absolut uncharakteristischer Weise, von allem und jedem ab, verbrachte Stunden zurückgezogen in einem entlegenen Winkel, in Gedanken versunken.

Woher die Anspannung rührte, die ihn gänzlich einvernahm und sein Verhalten beherrschte, konnte der Junge zu seinem Verdruss nicht einmal erahnen – denn eigentlich war eben dies sein Talent.

Er spürte Veränderungen intuitiv, anhand von Stimmungen und alternierenden Energieschwingungen, und in Kombination mit seinem wachen Geist blieb ihm selten ein Geheimnis verborgen. Zum Leidwesen derer, die etwas zu vertuschen versuchten.

Hraunar bildete einen Sonderfall. Ihn vermochte er nicht zu lesen wie ein Buch, seine Beweggründe und Absichten hatten sich als unlösbares Rätsel erwiesen.

Ob die überstürzte Abreise ihres Vaters damit in Verbindung stand…? Beeinflusste ihn das so nachhaltig?

Unsicher betrat das Kleinkind den Raum, die Finger um den Saum des kurzen Nachtgewandes verkrampft.

„…“

Obwohl er die Worte sorgfältig gewählt hatte, sie nahezu auf der Zunge schmecken konnte, brachte er keine vernünftige Silbe heraus, seine Kehle zugeschnürt von der Schwere der stillen Atmosphäre.

Der ihm anstatt dessen entfleuchende unartikulierte Laut glich einem verfehlten Atemschöpfen.

Hraunar würdigte ihn nicht eines Blickes, verkannte seine Gegenwart, zu konzentriert auf sich, sein Innerstes, vermutlich sogar in einen Zustand der Meditation vertieft.

Nur… wozu?

Auf dem Boden neben ihm lag ein Bündel schwarzer Kleidung, metallbeschlagene Unterarmprotektoren aus Leder, und erst jetzt bemerkte der junge Drache die Umrisse der beiden silbrigen Klingenenden.

Seine Augen weiteten sich.

Die böswillige Aura der Waffe, die Hraunar auf seinen Oberschenkeln gebettet hatte, die Hände auf dem länglichen Heft gefaltet, tränkte die Luft mit dem Geruch von vergossenem Blut und Tod.

Andskoti, eines der verdammten Schwerter, die angeblich die Seelen ihrer Besitzer verschlangen…
 

Wortlos richtete sich Hraunar auf, unversehens und ausgesprochen förmlich, streifte in stoischer Ruhe die Gewänder über, ohne Symbole und Verzierungen, maß dem präzisen Anlegen seiner Tracht und Ausrüstung außerordentliche Bedeutung bei.

Ansonsten kümmerten ihn solche Kleinigkeiten wenig.

Etwas stimmte nicht, doch dem unerfahrenen Jungdrachen fehlte es an Kenntnissen über die Praxis und Politik des Krieges, um seinen Bruder einschätzen zu können.

Vor dem Wissen der Anwendung drastischer Maßnahmen und Einzelaktionen, die man bei bestem Willen nicht mit dem Begriff ehrbarer Fairness vereinbaren konnte, hatte man ihn wohlweislich bewahrt.

Noch spekulierte er nicht einmal über grausame Intentionen…

Dann stand Hraunar plötzlich vor ihm, eine große, bedrohliche Gestalt, deren Ausdruck bar jedweder Emotion mit der Finsternis verschmolz; das erste Mal in seinem Leben fürchtete sich der Junge vor seinem älteren Blutsverwandten, den er gleichsam am meisten liebte und verehrte.

Er schluckte, wich instinktiv zurück, als Hraunar die Hand hob – jedoch führte er sie zu der Kapuze seines Mantels, und zog diese tief in die Stirn, um anschließend sein Angesicht mit einem Tuch zu verhüllen.

Mit Ausnahme seiner Augen, in denen der Funke von etwas undefinierbar Maliziösem glomm; Augen, die nichts als Gewissheit und ungekannte Leere spiegelten.

Hraunar strahlte Macht aus, rein und überwältigend, düster und beängstigend.

Dann schritt er an dem Kind vorbei, hinaus auf den Flur und verschwand alsgleich hinter der nächsten Biegung des Gangs.
 

In gestrecktem Galopp jagte das graue Pferd durch die Straßen, das Klappern der beschlagenen Hufe ein stetes Echo in den Gassen, zwischen den Häusern der Stadt.

Der Wind rauschte wie die ferne See in seinen Ohren, und sein Herz schlug schneller, vor Aufregung und aufbegehrender Lust.

Heute würde endlich sein Traum in Erfüllung gehen – gleichgültig, was er dafür opfern musste, auf diese Nacht hatte er lange Jahrzehnte geduldig warten müssen.

Ungeachtet des regen Treibens bahnte sich das große Ross geschickt einen Weg durch die Menge, und nur wenige Momente später preschte das Tier durch das Haupttor, an den letzten Befestigungen der Zivilisation vorbei und hinaus in die nächtlichen Düsternis.

Die Wachen schrieben dem nebensächlichen Geschehen keinen hohen Stellenwert bei.
 

Dort, im Schatten der Neutralität des Grundes, verbarrikadierten sie sich gegen die Außenwelt, unter dem Vorwand, Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu betreiben.

Zu einer Vereinbarung würden sie niemals kommen, und das wussten sie.

Ihr perfides Kalkül hatte immerzu Früchte getragen, also warum auch sollten sie ihre Strategie ändern?

Zum Wohle ihrer Untergebenen, der Zivilisten, die unschuldig starben, der Soldaten, die tagtäglich ihr Leben riskierten – leere Worte, die weder Besserung noch Rettung versprachen, purer Trug und Schein.

Lügen, Lügen, alles Lügen…

Doch es funktionierte. Reibungslos, wie ein Uhrwerk, das eventuelle Störfaktoren zwischen seinen Zahnrädern unbarmherzig zerrieb.

Denn in Wahrheit interessierte sie ausschließlich eines: Macht.

Vier Herrscher, die sich die Hände freiwillig schmutzig machten, um ihren Status zu erhalten, die sich ebenso wenig um die Sippenfehden scherten wie um die unzähligen Krieger, die sie in den Tod befahlen.

Dort, wo sich die vier Grenzen kreuzten, und die Narren sich in Sicherheit wähnten, dort, wo die Nationen und Mentalitäten kollidierten, wo sie vor einem Monat das größte Massaker der Geschichte angerichtet und ihren bedeutendsten Sieg errungen zu haben glaubten…

Hraunars Augen verengten sich bei dem Anblick des einstmaligen Schlachtfeldes zu schmalen Schlitzen.

Sie würden für ihre Schandtaten büßen.

„Blut kann nur mit Blut weggewaschen werden, nicht wahr?“ fragte er tonlos, zum verklärten Himmelszelt empor.

Schließlich stieg er aus dem Sattel und gab die Zügel frei, woraufhin sich der Graufalbe eilig von ihm entfernte, die Nüstern gebläht vor Erregung, die Flanken zitternd und schweißnass.

Ein verzerrtes Lächeln verfinsterte Hraunars Züge als er sich gelassenen Schrittes der Quelle des gegenwärtigen Übels näherte.

Diese Plage, die den Clan der Feuerdrachen zu vertilgen drohte, von innen heraus verdarb, würde er heute eigenhändig ausrotten…
 

„Halt! Wer da?“

Die Wachposten richteten ihre Hellebarden auf den schattenhaften Eindringling, dessen Konturen sich jählings vor ihnen aus der Finsternis lösten.

„Gib dich zu erkennen, Eindringling!“ verlangte der Höherrangige der zwei energisch zu wissen.

Bevor die beiden Wächter begriffen, wie ihnen geschah, sackten sie mit durchgeschnittenen Kehlen zusammen.

Ungerührt säuberte der Attentäter die blutige Klinge seiner Waffe an der Kleidung der Toten, stieg unzeremoniell über die leblosen Körper hinweg und betrat vorsichtig den schmalen Pfad dahinter, der beidseitig von hohen Felswänden flankiert wurde.

Nach einer Weile der umsichtigen Pirsch konstatierte er ein wenig erstaunt, dass die Schlucht keinerlei Bewachung unterstand, und das, obwohl jeder unerwünschte Besucher hier leichte Beute darstellte, ob man nun Bogenschützen auf den Klippen postierte oder einfach den Weg versperren ließ.

Der Übergang zu den geheimen Katakomben, die vor Urzeiten unter dem gebirgigen Terrain angelegt worden waren, zeigte sich desgleichen unbewacht, und so konnte er sich unbemerkt und mühelos Zutritt verschaffen.
 

Die Luft in den engen Gängen stand still, roch schal und alt, das spärliche Licht kleiner Öllämpchen beleuchtete die zahllosen Grabnischen.

An diesem Ort ruhten die Gebeine seiner Vorfahren.

Er verspürte eine gewisse Ehrfurcht vor seinen Vätern, doch an seiner Überzeugung mochte dies nicht rütteln – die Vorstellung, die Totenruhe, die Geister der Verstorbenen zu stören, behagte ihm nicht, eine Alternative bot sich ihm jedoch ebenfalls nicht.

Keine Wahl, nicht für ihn.

Gebührenden Respekt würde er trotz dessen zollen, und er senkte den Kopf zu einem stillen Gebet, ehe er sich sammelte und einen Weg durch das Labyrinth der geweihten Grabesstätte bahnte.

Das verworrene Murmeln und Flüstern, das er zuvor den aus ihrem Schlaf geschreckten Seelen seiner Ahnen zugeschrieben hatte, schwoll an, und letztlich vermeinte er hinter den befremdlich widerhallenden Klängen eine ihm wohlbekannte Stimme zu erkennen.

Seine Sinne verrieten ihm daraufhin die Gegenwart mehrerer zwielichtiger Präsenzen, in unmittelbarer Nähe.

Vier, es waren vier.

Unter der obligatorischen Maskierung umschmeichelte ein süffisantes Grinsen seine Lippen, und seine Augen leuchteten vor boshaftem Vergnügen.

Dann stieß er mit schwungvollem Elan die schwere Eisentür auf, verharrte einige Momente wie erstarrt, ungeachtet des dumpfen Aufschlags der Türflügel auf dem antiken Gemäuer.

Mit einem raschen Blick durch das prunkvoll eingerichtete Gewölbe erfasste er die Situation.

„Meine Dame, meine Herren“, grüßte er die perplexen Vier in feierlichem Ton, geflissentlich auf dem Augenkontakt bestehend, „eine wundervolle Nacht, um zu sterben, finden Sie nicht?“
 

Ungläubig starrten die vier Herrscher ihn an, musterten argwöhnisch seine indifferente Gestalt.

„Du niederträchtiger Wurm erdreistest dich…?“ schrie der Älteste in der Runde erzürnt, als er auffuhr und sein Schwert fasste.

Der Attentäter begegnete dem mit blanker Miene.

Und eben das versetzte sein Gegenüber in Rage, der Feuerdrache schäumte vor Wut und stürmte sogleich ungehalten auf ihn zu.

Sein Herausforderer zeigte darüber keine Beunruhigung, wich dem ersten kraftvollen Hieb, der auf seinen Kopf zielte, gewandt aus, während seine rechte Hand das Heft seiner Waffe umschloss.

Gekonnt wirbelte er herum, die nächste Attacke seines Kontrahenten erwartend, und er parierte erfolgreich, das Summen von schwingendem Stahl brachte das in seinen Adern kursierende Drachenblut in Wallung.

Postwendend riss er die rechte, geschwungene Klinge aus der Verkeilung und trieb die andere gewaltsam in das ungeschützte Abdomen seines Gegners.

Dieses brach stöhnend zusammen, und zuckte vor Schmerz und unsäglichem Zorn, bevor er seinen letzten Atem aushauchte.

Nun musste er sich nicht weiter in Zurückhaltung üben, er zögerte nicht länger und ging in die Offensive.

Geschwind setzte er an dem zweiten der übrigen Drei vorbei, sein doppelschneidiges Lanzenschwert lediglich ein silbern schimmernder Schemen in der Dunkelheit, der kurzen Prozess mit dem weiblichen Feuerdrachen machte, ihn kurzum enthauptete.

Bald darauf durchbohrte die Höllenklinge Andskoti das Herz des in Unschlüssigkeit verfallenen Herrn des Nordens.

Blut durchtränkte seine Kleidung, besudelte seine Hände.

Keuchend, den Genuss der Mixtur aus Anspannung und Euphorierausch auskostend, wandte er sich zu dem in seinem Rücken stehenden Drachen um, lockerte das schwarze Tuch und zog es von seiner Nase bis unter das Kinn.

„Hraunar…?“
 

In dieser Nacht sollte sich das Geschick einer Nation entscheiden.

In dieser Nacht offenbarte sich dem Clan der Feuerdrachen eine neue Vision der Zukunft…

In dieser schicksalhaften Nacht tötete Hraunar seinen Vater.
 


 

***
 


 

Der frühe Dämmerschein der Morgensonne berührte den Horizont mit rosigen Fingerspitzen, als die Patrouille das Gefühl des Misstrauens überwältigte.

In den Katakomben herrschte absolute Stille.

Verunsichert begaben sich die fünf Krieger ins Zentrum des unter der Erde befindlichen Gängegeflechts – und stockten alarmiert vor der offen stehenden Türe, griffen zu ihren Waffen.

Süßlich und schwer hing der Geruch von Blut in der Luft.

Unruhe befiel die Gemüter der Soldaten, ihr wacher Instinkt warnte sie eindringlich vor dem, was sich vor ihnen in den Schatten verbarg.

Mit blassen Gesichtern und zitternden Händen traten sie über die Schwelle; das Bild, das sich ihnen dann präsentierte, überstieg ihre kühnsten Fantasien.

Schwarze Flecken verunzierten den Boden und die Wände, und die reglosen Leiber der einstmaligen vier Herrscher sandten keine Lebenszeichen mehr aus, keine Atmung, kein Herzschlag, das Feuer in ihrem Inneren war vollständig verloschen.

Und inmitten dieser putativen Illusion saß eine kaum wahrzunehmende Person auf dem Stufenabsatz, seelenruhig, das befleckte Lanzenschwert im Schoß, und die Züge durch ein selbstgefälliges Grinsen entstellt.

„Auf die Knie“, forderte sie knapp, die Unterarme auf das Heft stützend, und die fünf Wachen zauderten nicht lange.

„Irgendwelche Einwände?“
 

Die Neuigkeiten über den plötzlichen Führungswechsel verbreiteten sich wie ein Lauffeuer.
 


 

***
 


 

„Was für eine Sauerei…“ brummte der assistierende Einsatzleiter ernüchtert, als er die Baracke des vierten aus dem Hinterhalt überfallenen Außenpostens am Ostgrenzwall akribisch inspizierte.

Die übrigen Mitglieder des Rettungstrupps schwiegen betroffen - beobachtet von den glasigen Augen der Toten, wie sie hier, um Sachlichkeit ringend, über die verfärbten Holzdielen schritten und versuchten, sich mit Arbeit von den grässlichen Umständen abzulenken, fühlten sie sich mehr als unwohl.

„Hör auf zu denken und hak die Liste ab“, kam es ihm postwendend gereizt von seinem Vorgesetzten entgegen, der immer wieder den Kopf schüttelte und seine Untergebenen anwies, die Identitätsplaketten der ermordeten Krieger zusammenzutragen.

Er selbst verglich gedanklich die unterschiedlichen Tatorte und Fakten, und die Parallelen erschienen ihm offensichtlich; keines der Opfer hatte erwähnenswerte Gegenwehr geleistet, niemand hatte sein Schwert gezogen, die meisten hatte es frontal erwischt…

Bedeutete das etwa, sie hatten ihre Angreifer gekannt?

„Es fehlen zwei.“

Er sah auf, atmete tief durch: „Wer?“

„Der Heiler und der kafteinn“, antwortete sein Gegenüber abwesend, den Handrücken gegen den Mund gepresst.

„Dass Heiler entführt und in den gegnerischen Dienst gezwungen werden, ist gang und gäbe. Aber der kafteinn…“

Hatte er womöglich diese Gräueltat begangen? Im Alleingang?

Verstand sein Auftraggeber das unter verlässlichen Soldaten?

Seufzend massierte er seine schmerzenden Schläfen, empfing den eintretenden Boten mit einem finsteren Blick.

Der neigte bestürzt über das blutige Chaos den Kopf zur Wand und berichtete von der Erkundungstour entlang des Walls.

„Über die Grenze ist niemand gekommen“, schloss er objektiven Tones seinen Rapport.

„Willst du damit andeuten…?“ setzte der Assistent an, verstummte jedoch, als ihm der Einsatzleiter den Ellbogen unsanft in die Rippen stieß.

„Ich verbitte mir dieses vorschnelle Urteilen!“ bellte er, sich der erdrückenden Beweislast der Lage zu bewusst.

Es handelte sich nicht um eine feindliche Übernahme oder den Vorboten einer Invasion, nein, es war weitaus schlimmer: Verrat. Der Feind stammte aus ihren eigenen Reihen.

Skrupellose Bastarde, die nicht einmal davor zurückschreckten, ihre Kampfgefährten grausam abzuschlachten…

Dennoch widerstrebte es ihm, dies mit Worten zu bestätigen, vielleicht wollte er die Schande nicht akzeptieren.

Er musste wohl oder übel Meldung erstatten, doch nicht vor seinen Kameraden. Vernichtete er die Moral innerhalb der Einheit, würden die Konsequenzen fatal sein, im härtesten Fall sprangen sie sich gegenseitig an die Gurgel.
 

Mit bedrückten Mienen scharten sich seine Genossen umeinander, überfordert, und wahrten eine schier festgeschriebene Distanz zu ihm und dem zerschundenen Leib des kafteinn, neben dem er kniete.

Sie wollten dem Tode nicht ins Gesicht blicken müssen.

Die Binde an seinem Oberarm zeichnete ihn als Mitglied des Heilkunstordens aus, das Schwert an seiner Hüfte fügte das Gesamtbild zu dem eines Kriegers mit heilerischen Fähigkeiten zusammen – ein Gegensatz, ein Widerspruch, der ausgeprägter kaum sein konnte.

„Lebt er wirklich noch…?“ rief einer von ihnen zaudernd, den Blick auf die fürchterlichen Wunden ihres Artgenossen geflissentlich vermeidend.

„Noch“, entgegnete er gedämpft, auf den schwachen Pulsschlag unter seinen Fingerkuppen konzentriert.

Er konnte den Atem des verletzten Feuerdrachen langsam versiegen spüren.

Was sollte er bloß tun?

Lohnte es sich, ihm zu helfen…?

Seine Verwundungen waren schwerwiegend, und im Grunde hätte er gar nicht mehr am Leben sein dürfen… verband ihn eventuell noch etwas mit dem Diesseits?

Im Hintergrund vernahm er flüchtig die Stimmen seiner Kameraden, die ihre Paralyse weitestgehend abgeschüttelt hatten und nunmehr, seinen Überlegungen entsprechend, in einer kontroversen Erörterung ihr weiteres Vorgehen diskutierten.

„Was machen wir jetzt?“

„Sollten wir ihm sein Leid nicht ersparen?“ warf der Erste in die Runde, was ihm mit einem heftigen „Bist du bescheuert?“ quittiert wurde.

„Außer dem hier sind alle mausetot, herstjóri Hörvir zieht uns die Haut ab, wenn wir ohne jemanden zurückkommen, der ihm verrät, was hier abgegangen ist“, argumentierte der Zweite verbissen, selbstverständlich nur um das persönliche Wohl besorgt.

„Seht ihn euch an“, gab ein anderer zu bedenken, „der hat sowieso null Chance das zu überleben, wir sollten ihn erlösen.“

Ein verächtliches Schnauben verriet den Unmut des Zweiten über diese Antwort.

„Und wie sollen wir das Hörvir erklären? Entschuldigung, wir haben ihn aus Nächstenliebe heraus krepieren lassen, obwohl er noch geatmet hat?

Seid ihr nicht mehr ganz dicht?“

Das fruchtlose Pro und Contra setzte sich eine Weile fort, bis die Beteiligten frustriert abbrachen und den Heiler auf die Thematik ansprachen.

„Was sagt ihr dazu?

Zweimal dafür, zweimal dagegen – Euer Votum entscheidet.“

Angespannt biss er sich auf die Unterlippe, denn seine Erwiderung erwies sich als besiegelt ehe er darüber nachgedacht hatte.
 

Ein rötliches Glimmen umgab die Hände des Heilers, als er sie behutsam über die klaffende Bauchwunde des namenlosen kafteinn legte.

Dessen gravierender Zustand überstieg seine Möglichkeiten bei Weitem, und er hoffte inständig, seine Lebensfunktionen unterstützen und erhalten zu können, bis sie die Hauptstadt erreichten und er ihn einem professionell ausgebildeten Physikus überantworten konnte.

Selbst die Notfallversorgung würde ihn nicht unbedingt stabilisieren oder gar retten…

Bereits das Zusammenfügen der untersten Gewebeschichten gestaltete sich mühsamer und wesentlich anstrengender als vermutet. Was für eine Sisyphusarbeit, dachte er trübselig.

Die oberflächlichen Schäden würden wohl oder übel warten müssen.

„Ist er wach?“ erkundigte sich jemand, knapp über seine Schulter hinweg – augenscheinlich einer der hartgesottenen Kameraden, die der unschönen Konfrontation mit der Realität nicht auswichen.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er wahrheitsgetreu, „höchstwahrscheinlich hat er ein umfassendes Trauma.“

Bald schon, viel zu früh nach seinem Empfinden, wurde ihm schwarz vor Augen, und er vermochte kaum mehr, sich aufrecht zu halten. Er zitterte, spürte die eisige Kälte der nächtlichen Steppe in seinem Geist.

Die Reserven seiner entbehrlichen Energie waren ausgeschöpft.

Ab jetzt zählte jeder Augenblick.

Fachgemäß bandagierte er den Unterleib des Verletzten, die Zeit stetig im Nacken, hievte ihn anschließend auf den Rücken eines Genossen in seiner wahren Gestalt.
 

Der Flug zehrte an seinen angeschlagenen Nerven.

Von innerer Beunruhigung geplagt, betrachtete er das fahle Gesicht des kafteinn, die Rinnsale getrockneten Blutes auf weißer Haut, die kohlschwarzen, halbwegs geöffneten Augen.

Seine Lippen bewegten sich stumm, und doch konnte er die Worte, die sie beschwerlich formten, zweifellos von ihnen ablesen…

Mit einem Mal hatte er das Gefühl, dem Vorhaben einer höheren Instanz gewaltig ins Handwerk gepfuscht, einen erheblichen Frevel begangen zu haben.

Hoffentlich hatte er es sich damit nicht mit der Obrigkeit verdorben…

Während er zwischen Wachen und Schlafen schwankte, und obwohl ihm seine Sinne dabei wiederkehrend den Dienst versagten und betrogen, erhaschte er Fetzen aus der Unterhaltung seiner Genossen.

Und das, was er zu hören bekam, gefiel ihm absolut nicht.

Er hatte mittlerweile in Erfahrung gebracht, wer ihn vorhin aus dem Nichts heraus angesprochen hatte, und aus welchem Grund…

„Solange er lebt, werdet ihr euch hüten, sein Zeug zu verscherbeln.

Falls etwas verschwinden sollte, melde ich euch auf der Stelle. Verstanden?“

Offenkundig eine rhetorische Nachfrage.
 


 

***

Intermezzo.I *** Das Ende einer Kindheit

Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Intermezzo.I *** Das Ende einer Kindheit
 

Die laue Spätsommerluft roch nach Heu und Getreide, die wenigen Pferde des kleinen Dorfes riefen ihren Artgenossen aus den Ställen nach.

Es war das erste Mal, dass er seine Heimat in dem Wissen verließ, monatelang, oder im ärgsten Fall jahrelang, nicht zurückzukehren.

Ein sonderbares Gefühl.

Stumm blickte er zu seinem Vater empor, der ungerührt der Szenerie, stolz und aufrecht, in voller Rüstung auf seinem Reittier thronte, der Blick in der unendlichen Ferne verloren.

Er bewunderte ihn für die Ruhe, die Stärke, die er in diesen schwierigen Momenten ausstrahlte.

Gegen den Willen seiner Gefährtin nahm er ihr einziges Kind mit sich, raubte ihr den Halt, den sie durch ihren Sohn in der Welt hatte fassen können, und sie hatte diesen Entschluss bitterlich beweint.

Nun blieb sie allein zurück, und es bereitete nicht nur ihr Kummer.

„Komm schon.“

Der junge Feuerdrache wandte sich von der Siedlung ab, begegnete den erwartungsvollen Gesichtern der beiden anderen Jugendlichen, die sie in die Hauptstadt des Ostens begleiten würden und lächelte.

Natürlich empfand er neben einem winzigen Stich im Herzen, dem dumpfen Abschiedsschmerz seiner Kindheit, auch Vorfreude und eine gewisse Sehnsucht nach dem Unbekannten der Außenwelt, die ihm bis jetzt verwehrt worden war.

Seine Erwartungen waren dementsprechend hoch.

Keilir schenkte ihm ein verschmitztes Grinsen und stieg auf sein Pferd, dessen steter Schatten, Sínir, tat es ihm gleich, und schließlich schwang sich der Nachzügler als letzter in den Sattel.

Neugier und die Begierde nach neuen Erfahrungen leuchteten in den Augen der Halbwüchsigen, naiv, während die dunklen Iriden des älteren Feuerdrachen keinerlei Emotion verrieten.

Abgrundtief, schwarz wie die Nacht, wie das Nichts und der Tod.

„Lasst uns aufbrechen.“
 


 

***
 


 

Als Soldat gewöhnt man sich schnell an den Anblick und Geruch von Blut, verheerende Bilanzen und das plötzliche Verschwinden von bekannten Gesichtern.

Mein Vater fiel in der ersten Schlacht, die ich in meinem Leben bestritt.
 

Die Jahrzehnte verstrichen.

Akt.I *** Wege ins Nichts: Das Opferlamm

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"

"herstjóri" bedeutet "General"
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Akt.I *** Wege ins Nichts: Das Opferlamm
 

Die Strahlen der aufgehenden Sonne im Gesicht, ritt herstjóri Hörvir - ein großer Mann mit breiten Schultern und rotblondem Schopf - die Außenareale der Hauptstadt ab.

Noch war die Luft frisch und die Straßen leer, lange Schatten fielen über das Straßenpflaster.

Der Fuchsfalbe schnaubte, kaute entspannt auf dem Gebiss seiner Trense.

Hörvir liebte die Frühe, er fühlte sich ausgeglichen und atmete frei, was er über seine Pflichten zuweilen vergaß.

Wirklich wohl ums Herz jedoch wurde ihm in diesen Tagen nicht, die jüngsten Ereignisse zogen auch an ihm nicht spurlos vorüber.

Die vier Herrscher gestürzt, sein Herr besiegt, von einem einzelnen Attentäter, dem ältesten Sohn des Herrn des Südens. Unversehrt aus der Konfrontation hervor gegangen, besaß der nun das Monopol der Macht der ehemaligen Vier und einte die Herrschaftsgebiete unter sich.

Ob es dies gut oder schlecht zu beurteilen galt, das wusste er nicht. Zumindest nicht zu jenem Zeitpunkt.

Und dann waren vor etwa einer Woche die Posten an der Ostgrenze überfallen worden, von wem, darüber konnte nur spekuliert werden, und bloß einer der Soldaten hatte, mehr oder minder, überlebt.

Das empfand Hörvir als besorgniserregender als den gelungenen Umsturz, denn der Verdacht, dass die eigenen Kameraden ihnen in den Rücken gefallen waren, lag unglücklicherweise zu nahe; er wollte, nein, er brauchte unbedingt einen Beweis, und den würde ihm besagter kafteinn liefern.

Ehe er vor das ihm fremde Oberhaupt des Clans trat, musste er ein aussagekräftiges Resultat ermitteln, damit eben dieser ihm nicht aufgrund von Unfähigkeit sofort den Kopf abschlug und seine Position neu besetzte…
 

Das Lazarett war heillos überfüllt.

Schwestern und Schüler des Heilkunstordens huschten durch den Gebäudekomplex, um der schieren Anzahl der Patienten einigermaßen gerecht werden zu können, ihre weiten, dunkelgrünen Roben mit dem weißen Sonnenzirkel auf dem Rücken ein Schimmer der Barmherzigkeit in der Dunkelheit eines grausamen Krieges.

Das Kämpfen hatte keineswegs aufgehört…

Trotz seines Ranges schenkte das geschäftige Personal Hörvir keine Beachtung, und er fand sich mehrmals angerempelt, von einem zierlichen Mädchen sogar barsch beiseite gestoßen, begleitet von dem enervierten Kommentar, er solle nicht blöd im Weg herum stehen und sich gefälligst nützlich machen.

Daraufhin hatte Hörvir lediglich verwundert – und unterschwellig amüsiert, zum Glück der jungen Heileranwärterin – die Brauen gehoben und war gehorsam gewichen.

Nicht, dass er Respektlosigkeit duldete oder gar förderte, doch wie sollte er ein gestresstes Mädchen bestrafen, das sprach bevor es dachte und sich seinen Fehlern nicht bewusst war?

Er würde sich mit der Ordensleiterin darüber unterhalten müssen. Später, wenn er seine Stippvisite beendet hatte.

Kopfschüttelnd setzte er sich wieder in Bewegung, marschierte in soldatischer Manier in Richtung des Westflügels, wo er erbauliche Nachrichten zu erhalten erhoffte.

Ansonsten würde er bald in unangenehme Schwierigkeiten geraten.

Auf seinem Weg erntete er manch schiefen Blick, und die meisten Heilerschwestern beschrieben einen großen Bogen um ihn, ihre Körperhaltung scheu und verunsichert.

Mit der Zeit erhärtete sich sein Verdacht, dass etwas nicht stimmte, und schließlich dämmerte ihm, was das war: augenblicklich befand er sich im Frauentrakt des Hospitales. Männern, gleichgültig, welchen Status, war der Zutritt strengstens untersagt.

Na wenn er sich dadurch keinen Rüffel einhandelte… das hatte ihm gerade noch gefehlt!

Gerüchte waren dann überflüssig, und das Argument, man habe ihn ausdrücklich an diese Stelle verwiesen, konnte er sich sparen.

Hatte er Pech, ruinierte ihm das seinen Ruf.

„Reizend…“ murmelte er zu sich selbst, und trottete peinlich berührt weiter, seine Augen strikt auf den Boden geheftet; das Fluchen schluckte er eilig hinunter.
 

Sorgenfalten gruben sich in die Stirn des herstjóri, als er die reglose Gestalt des kafteinn vor sich musterte.

So hatte er sich das nicht vorgestellt.

„Er erholt sich nicht“, merkte die neben ihm kniende, ziemlich verdrossen dreinschauende Schwester an, „die ganze Arbeit ihn zusammenzuflicken, war umsonst.“

Hörvir knirschte frustriert mit den Zähnen.

Das klang definitiv nicht gut.

„Hat er irgendetwas Brauchbares von sich gegeben? Irgendwelche Namen?“

„Nichts. Sein Bewusstsein ist wohl zerstört, er wacht nicht mehr auf und das Fieber zehrt die letzten Reste seiner Lebensenergie auf“, erwiderte sie unverzüglich, faltete die verkrampften Hände in ihrem Schoß.

Merkwürdig, dass er überhaupt noch lebt.

Im Delirium seines Fieberwahnes hatte der junge Soldat bitterlich um seinen Tod gebettelt und gefleht, in der Bewusstlosigkeit seines Verstandes gefangen. Er litt, und sie hatte ihn in dieser einen Nacht aufrichtig bemitleidet, doch rechtfertigte das keinen Mord.

Zudem hatte sie ihre Befehle.

Verpflichtet, ihrem Gegenüber eine Auskunft darüber zu erteilen, war sie nicht, sie würde sich hüten.

Sie hatte nicht das Recht, die Würde eines Sterbenden durch unüberlegte Worte zu verwirken. Gleich, wer oder was er war.

„Keine Chance?“ hakte Hörvir nach einer Weile der Schweigsamkeit grimmig nach.

„Nein.“

Das bleiche Antlitz des Kriegers, sein schweißgebadeter Leib, versprachen keine Besserung, nicht einmal eine entfernte Aussicht.

Daraufhin lächelte ihr Besucher bitter, und verabschiedete sich knapp.

„Dann werde ich dem Genossen alsbald im Jenseits Gesellschaft leisten können…“
 


 

***
 


 

Besinnungslos – blind, taub, stumm.

Einsam.

Im Stich gelassen.

Versager. Nichtsnutz. Elender Hund.

Ihr Kameradenschweine.

Das Gefühl, wehrlos in der Finsternis zu treiben war überwältigend und fesselte seinen Geist.

Diese Leere, dieses fabelhafte Nichts…

Nicht denken, nicht agieren, nicht existieren.

Simpler als das Leben, das dazu neigte in Facetten von Farben und Formen, in Fragmente eines Mosaiks zu zerfallen, unbegreiflich und zu kompliziert, um es wieder zusammenzufügen.

Er war es leid, jeglicher Versuch vergebens; er begrüßte die Müdigkeit, die seinen Willen dumpf werden ließ und sich seiner bemächtigte, wie die Kälte, die langsam aber beständig in seine Glieder sickerte bis er schlussendlich erfror.

Es war nicht schade, sondern gerecht - und er wollte, dass es endete. Hier und jetzt.

Doch das tat es nicht.

Seine höchstpersönliche Tortur dauerte an, dehnte sich ins Unendliche. Sogar der Tod verspottete ihn.

Gemeinsam mit seiner Kraft schwand sein Ego dahin, in die Trübnis der Ungewissheit gestoßen…
 

Zwischen den Fängen des Zwielichts, inmitten von aufwallender Hitze und Schmerz, am Rande seines verlorenen Selbst, verlassen und verzweifelt, vermeinte er eine Stimme zu vernehmen.

Jemand rief ihn, das Echo seines Namens durchbrach die zermürbende Stille.
 

Ein heftiger Impuls streifte ihn, durchfuhr seine Nervenbahnen und mit einem Mal war er hellwach.

Keuchend schlug er die Augen auf, die weiten Pupillen unfähig zur sofortigen Adaption, unfokussiert und verschleiert durch tagelangen Lichtmangel und Nichtgebrauch, wodurch seine Umgebung für ihn wie ein verschwommenes Bild ohne Konturen oder Kontraste erschien.

Er lag still, auf dem Rücken, gezwungenermaßen, denn seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Apathisch lauschte er dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren, versuchte, seinen Atem und sein rasendes Herz zu beruhigen. Zu mehr war er nicht imstande.

Das Denken fiel ihm schwer.

Gewisse Teilregionen seinen Körpers konnte er nicht spüren, und die Beklemmung darüber schnürte ihm Brust und Kehle zusammen. Als Invalider wollte er sein Dasein nicht fristen müssen… nein, im Grunde wollte er ohnehin nicht weiterleben.

Wie in Trance döste er vor sich hin, eine Ewigkeit verstrich, und sein volles Bewusstsein kehrte erst in einem schleppenden Prozess wieder.

Obwohl seine Sinne revoltierten, nahm er eines klar und deutlich wahr: eine Aura, die Macht und Autorität ausstrahlte, die in seinem geschundenen Innersten etwas berührte…

Eine Holzdecke. Eine fremde, helle Holzdecke über ihm, und der penetrante Geruch von Antiseptikum, der Geschmack von Blut.

Allmählich begriff er.

Mühselig drehte er den Kopf zur Seite, und sein verklärter Blick versagte, sein Verstand sank in samtene Schwärze zurück.
 

„Hör auf… nicht“, wisperte die Heilerin heiser, die rechte Hand abwehrend gegen das Schlüsselbein ihrer Affäre gepresst, den linken Arm um dessen Nacken geschlungen.

Pflicht oder Vergnügen?

Die Entscheidung mochte ihr nicht unmissverständlich ausformuliert über die Lippen kommen.

Einer gewissen Ambivalenz im Bezug auf ihn konnte sie sich nicht erwehren.

„Wir können doch nicht… nicht hier… ah…“

Es half nicht wesentlich, dass er ihren Hals liebkoste, und seine Finger an vollkommen anderen Orten nicht ruhig verweilten.

So verführerisch er sich gebärdete, so unvernünftig war er.

„Hr-“

Der fordernde Kuss auf den Mund erstickte ihren Protest.

„Leise.“ raunte er bestimmend, ehe er sie härter gegen die Wand drückte.

„Aber wenn uns jemand sieht“, widersprach sie wenig überzeugend, „bitte, ich kann nicht…“

In diesem Moment begegnete sie, über seine Schulter hinweg, den kohlschwarzen Iriden des tot geglaubten kafteinn aus dem Nebenzimmer, und die Intensität jenes Blickes jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken.

„Du kannst“, versicherte ihr Geliebter zweideutig schmunzelnd, als er die dunkelgrüne Robe bis hoch zu ihrer Hüfte raffte.

Sie hatte befürchtet, er würde ihre Reaktion missinterpretieren…
 


 

***
 


 

Als er das nächste Mal erwachte, geweckt von dem Schmerz, der von seinem Abdomen aus durch seinen gesamten Leib zu strömen begann, und der ihn auf Dauer sicherlich halbwegs wahnsinnig machen würde, funktionierten wenigstens seine Stimmbänder einwandfrei.

„Gottverdammt, was zur Hölle…“

Und noch bevor er die Augen einen winzigen Spalt breit öffnete, ereilte ihn die Retourkutsche in Form eines empörten Ausrufs: „Also wirklich! Das muss ich mir nicht bieten lassen!

Vorgestern noch halbtot und jetzt wettert er wie ein alter Bauer.“

Den missbilligenden Blick, mit dem ihn die an seiner Flanke sitzende Heilerschwester strafte, bemerkte er nicht.

„Wo zum Teufel…?“ ächzte er angestrengt.

„Unerhört!“ schoss es ihm postwendend entgegen: „Dies ist ein Hospital und kein Feldlager.“

Die darauf folgende Berührung an seinem Bauch sandte ihn beinahe in die Bewusstlosigkeit zurück, und er stöhnte gequält auf, seiner Schwäche und dem erbärmlichen Zittern, das ihn erfasste, zu gewahr.

Flach atmend starrte er zur Decke empor, gegen die Erschöpfung und die daraus resultierende Blöße ringend.

Es half nicht, und er wünschte sich inständig, er wäre auf dem Schlachtfeld einen ehrenhaften Soldatentod gestorben.
 

Seine Wunden heilten schlecht.

Er erinnerte sich nun an das, an alles, was geschehen war, und sein gebrochener Lebenswille verhinderte die Annahme der Unterstützung, die ihm auf Geheiß einer Obrigkeit geboten wurde.

Dankbar sollte er dafür sein, das wusste er.

Er war es nicht, er konnte es nicht sein, und die überflüssigen Stunden und Tage, die er alleine, in diesem armseligen Zustand zubrachte, zermürbten den kafteinn nur noch weiter.

Über die medizinische Versorgung gab es keine Klagen zu erheben, doch die Schwester, die ihn behandelte – die einzige, wie er festgestellt hatte – kümmerte sich ausschließlich um seine Wunden. Sie sprach in seiner Gegenwart nicht, fragte nicht einmal nach seinem Namen.

Gesellschaft leistete sie ihm ebenfalls nicht.

Ihre Antipathie war offensichtlich, und wenn sie ihn anblickte, erkannte er die Abscheu und die Verachtung in ihren Augen, die sie ihm gegenüber empfand.

Hinzu addierten sich ihre Schikanen; die Verbote häuften sich, sämtliche Bewegungen erachtete sie als Tabu, er durfte sich weder aufrichten noch auf die Seite drehen. Gleichermaßen hart traf ihn das Nein zu fester Nahrung und die Flüssigkeitsdiät, die sie ihm anstatt dessen verordnet hatte.

Während er sich schweigsam fügte, ihr vernachlässigendes Verhalten duldete, schrie seine zerrüttete Seele vor unsäglicher Pein. Gegen seine seelische Qual verblasste das Leid seines Körpers.

Alpträume plagten ihn, und die Gedanken an die Ereignisse unter dem mongolischen Sternenhimmel erschienen ihm präsenter als zuvor – er verstand nicht, was es bedeutete. Wozu?

Das Warum interessierte ihn nicht. Nicht mehr.

Wozu?

Er hatte den Halt verloren, und jetzt stürzte er ins Bodenlose.

Verfallen in einen monotonen Rhythmus aus Todessehnsucht und Gleichgültigkeit, wehrte er sich nicht, ertrug die schrecklichen Erinnerungen und die ihn übermannende Verlorenheit. Kein Entrinnen.

Die Realität rückte ab in unerreichbare Ferne.

Was hätte er in seiner Situation nicht für eine materielle Bestätigung gegeben, etwas, dessen Existenz bezeichnend und unleugbar war, etwas, das er in Händen halten und umklammern konnte. Nach seinem Schwert, seiner Identitätsplakette suchte er vergebens.

Die Welt um ihn herum wurde ihm fremd und apart, seine Persönlichkeit verblich im Angesicht des gewaltigen Unbekannten.
 

Irgendwann gewann die Rastlosigkeit, verursacht und genährt von der permanenten Immobilität und Beschränkungen, die Oberhand und er ignorierte die Schmerzen und seine rebellierenden Muskeln und verließ die Kammer, entfloh seinem Gefängnis – körperlich wie geistig.

Wie ein tödlich verwundetes Tier schleppte er sich durch die Korridore, orientierungslos, und lediglich von einem zweifelhaften Instinkt getrieben.

Er strapazierte seine derzeitigen Möglichkeiten bis aufs Äußerste, und hielt erst inne, als seine Knie nachgaben und ihren Dienst nachdrücklich verweigerten.

Atemlos lehnte er die Stirn auf die Holzdielen, der Schweiß rann ihm heiß und kalt zugleich über die Schläfen, die Wirbelsäule entlang.

Das war das Ende des Weges.

Bebend vor Überanstrengung und Übelkeit krümmte er sich auf dem Boden zusammen, das Gesicht zur Wand, die Unterarme über dem Bauch verschränkt.

Wieso vergönnte ihm das Schicksal, der Regent der Unterwelt, wer auch immer, keine Erlösung?

Hatte sich die Gerechtigkeit mit allem Unglück gegen ihn verschworen?

Es tat weh.

Es rief ihn ihm das dringende Bedürfnis hervor, sich übergeben zu müssen; bloß sein Magen pflichtete dem nicht bei und verweigerte sich hartnäckig.

Seine Gedanken schweiften alsbald ab, in die Vergangenheit der glücklichen und unbeschwerten Tage seiner Kindheit. Impressionen seines Heimatdorfes, seiner Mutter, seines verstorbenen Vaters lullten ihn liebevoll in den Halbschlaf.

Bis sein Gespür, geprägt von einem langjährigen Kriegerdasein, ihn warnte und er unversehens zusammen fuhr, durch das Geräusch von sich nähernden Schritten aufgeschreckt.

Die Analyse erfolgte gewohnt rasch: leichte Schritte, kurz und keineswegs zweckmäßig, gemütlich, insgesamt drei Personen.

Bald darauf hörte er die glockenhellen Stimmen von tuschelnden Mädchen. Als sie um die Ecke hinter ihm bogen, versteifte sich seine gesamte Haltung.

„Huch“, machte eine von ihnen erstaunt, und das Grüppchen kam zu einem abrupten Halt mitten im Flur.

Mehrere Wortwechsel gingen an seinem beeinträchtigten Gehör vorüber, den Kernpunkt des unsinnigen Geredes erfasste er trotz dessen.

„Ist das Hrafntinnas Pflegling?“ fragte eine der jungen Heilerinnen schüchtern, von Neugier beflügelt.

„Wer sonst?“

„Warum er wohl so unter Verschluss gehalten wird?“ wunderte sich eine andere.

„Dabei ist die Rückansicht nicht übel…“ nuschelte die Zurückhaltende abwesend in den Ärmelsaum ihrer Robe.

„Oho, Eisa, das aus deinem Munde? Gefällt er dir?“ neckte die Erste.

Ein allgemeines Kichern erhellte die Distanz zwischen ihnen.

„Ist was dran.“ zwitscherte die Dritte im Bunde.

Indes zog eine auffällige Präsenz die Aufmerksamkeit des kafteinn auf sich, die ebenso plötzlich verschwand wie sie aufgetaucht war.

„Mädels, weniger gackern, mehr Ernst bei der Sache!“ diktierte eine kräftige Frauenstimme streng von der Veranda herüber, „seht zu. Holt jemanden, der ihn tragen kann.“
 

Dann ward es ruhig, endlich.

Erschöpft schloss er die Augen, unwillig, die Konsequenzen seiner törichten Tat zu überdenken oder sich vorzustellen, für wie viele Wochen mehr sie ihn dafür in dem winzigen Quartier einsperren würden.

Er wollte es nicht wissen, sie sollten ihn zufrieden lassen…

„Hey.“

Zunächst glaubte er, es sich einzubilden, das Tapsen bloßer Füße, das Rascheln von Seide, doch spätestens, als sich das Tippen an seinem Oberarm zwischen seine Schulterblätter verlagerte und zielstrebig auf eine empfindliche Stelle zuwanderte, verwarf er seine primäre Annahme.

Das war systematische Provokation.

„Du blutest.“ klärte die aufdringliche Person ihn in kindlicher Naivität auf.

Als ob er das Brennen seiner aufgeschürften Ellbogen und Knie nicht selbst bemerken würde.

Zu einer Reaktion konnte er sich jedoch nicht überwinden, ihm fehlte schlichtweg der Wille dazu, und die notwendige Kraft.

„…“

Mit einem Seufzen ließ der Provokateur von ihm ab, setzte sich derart dicht neben ihn, dass er den Stoff seiner Kleidung an den unbandagierten Rückenpartien, dessen Körperwärme auf der eigenen Haut spürte.

Ungeachtet dessen fröstelte er innerlich.

„Mein Bruder wird nicht erfreut sein, wenn er von dir nicht erfährt, was an der Ostgrenze vorgefallen ist“, erläuterte der Unbekannte sachlich, „du wirst es ihm nicht sagen können, wenn du stirbst.“

Wollte er ihn zum Narren halten?

Logik mochte auf gehobener Ebene nicht zu seinen Stärke zählen, bescheuert war er dennoch nicht.

Verhöhnte er ihn absichtlich?

Das erste Mal seit jener fatalen Nacht missfiel ihm etwas in einem solchen Maße, dass es unbeschreibliche Wut und Aggression in ihm schürte.

Der Fremde fuhr unbeirrt fort, aufrichtig und direkt: „Deine Kameraden sind tot.“

Seine äußerliche Teilnahmslosigkeit täuschte – der Tod seiner Genossen versetzte ihm einen herben Stich ins Herz.

Reykur hatte es vorausgesehen, und er hatte nicht gehandelt…

„Als kafteinn liegt die Verantwortung dafür bei dir, und da dein Herr ebenfalls nicht mehr am Leben ist, gehört deine Loyalität meinem Bruder. Vor ihm musst du deinen Standpunkt erklären.“

Er schämte sich seines bisherigen Egoismus, seine miserable Verfassung akzeptierte er nicht als Entschuldigung.

Tiefe Schuldgefühle fraßen sich in sein Gewissen, und eine verräterische Röte der Scham und Erbitterung färbte seine Wangen.

„… verschwinde…“ presste er dann hervor, seine Stimme schwankte, rauer als gewöhnlich, klang befremdlich in seinen Ohren.

Niemand sollte ihn so sehen.

„Eines noch“, ergänzte sein schattenhafter Gesprächspartner seelenruhig, während warme Fingerkuppen über das schwarze Symbol auf dem rechten Oberarm des kafteinn strichen, die simplen Linien nachzeichneten.

„Eine Gruppe unbekannter Rebellen, allem Anschein nach Söldner, zieht durch die östlichen Gebiete und zerstört Dörfer und Kleinstädte.

Das Zeichen auf deinem Arm mag nur einen Anhaltspunkt über deine Herkunft geben, aber die vermerkte Provinz wurde bereits überrannt.“

Sein Atem stockte.

Die hohe Tonlage verriet unverkennbar die Jugend des Sprechers.

Ein Kind.

Ein Kind, das über Begebenheiten Bescheid wusste, die üblicherweise hochrangigen Kriegern und Soldaten vorbehalten waren.

Und er log nicht…

Unschlüssig, was ihn mehr entsetzte, fixierte er die Wand unmittelbar vor sich und unterdrückte die heißen Tränen, die ihm in den Augenwinkeln brannten.
 


 

***
 


 

Draußen in den Ästen der filigranen Taubenbäume zwitscherten bunte Meisen, das satte Grün des Blätterdaches behütete den Westflügel des Lazaretts vor den sengenden Strahlen der Nachmittagssonne.

Im Gras zirpten die Zikaden.

Die Heilerschwester seufzte leise, streckte ihre steifen Glieder.

Ein weiterer schöner Sommertag, den sie nicht im Freien genießen können würde, und sie ahnte, dass er nicht hierher gekommen war, um sie zum Spazierengehen abzuholen.

Er erwartete sie mit ernster Miene, ungeniert an der Brüstung des Balkons lehnend.

„Hraunar“, begrüßte sie ihn zögerlich, die Finger vor Nervosität wie zum Gebet gefaltet.

Als sich ihre Augen trafen, errötete sie und wandte rasch den Blick von ihm ab. Es stieß ihr säuerlich auf, dass sie immer noch Schmetterlinge im Bauch hatte, wenn er sie lediglich ansah.

„Hrafntinna, deswegen bin ich nicht hier“, sprach er sie mit fester Stimme an, und die Enttäuschung darüber stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Einen schwachsinnigen Informanten kann ich nicht gebrauchen, und das weißt du. Was Neisti erzählt hat, gefällt mir ganz und gar nicht.“

Sie verstand sehr wohl, worauf er hinaus wollte.

„Es tut mir leid. Ich bin keine Seelsorgerin, und besonders bei einem wie ihm… ich kann das einfach nicht…“

Hraunar atmete hörbar aus – wieder dieses leidige Thema, über das es sich beileibe nicht zu diskutieren lohnte.

Bisweilen bewies sich Hrafntinna, die ansonsten Entschlossenheit und eine strikte Gesinnung zeigte, als verstörend empfindlich und zart besaitet, und inwiefern das von Vergangenem rührte, konnte er schlecht abschätzen.

„Hat er dir etwas getan?“ fragte er, sein Ton etwas milder, versöhnlich, ehe er ihr Kinn umfasste und sie wortlos aufforderte, ihn anzublicken.

„Nein…“

„Aber?“ erkundigte er sich, woraufhin sie sich seinem Griff entzog und einen Schritt zurück trat.

„Er ist genauso derb und vulgär… und dass Soldaten eine niedrige Hemmschwelle bezüglich Gewalt haben, ist-“

Ihr Gegenüber unterbrach sie ruhig: „Vielleicht solltest du bedenken, dass dem bedauernswerten Kerl höchstwahrscheinlich von den eigenen Kameraden die Eingeweide aus dem Leib gerissen wurden.

Der glaubt sicherlich an nichts mehr auf dieser Welt.“

Doch das Schicksal des kafteinn berührte ihn nicht, er empfand keinerlei Mitleid. Ihm ging es einzig und allein darum, eine mögliche Gefahr aus dem Osten frühzeitig zu enttarnen und einzudämmen…

In Momenten wie diesen wirkte Hraunar auf sie fern, ewig unerreichbar wie der Mond.
 

Das sachte Klingeln eines Glöckchens tönte durch die warme Sommerluft, und kurz darauf schob sich eine rot gestromte Katze durch den schmalen Türspalt.

Vorsichtig tastete sich das Tier auf lautlosen Pfoten durch den Raum, witterte, umkreiste mehrmals die im Zentrum aufgetragene Bettstatt.

Den hellen Schemen, der bedächtig um ihn herum schlich, registrierte der kafteinn durchaus, aus den Augenwinkeln heraus, und unwillkürlich streckte er die Hand danach aus, vergeblich, und ließ sie kraftlos zu Boden sinken.

Er fühlte sich benommen, nahezu gelähmt, und die letzte funktionelle Domäne seines Gehirns mutmaßte, dass sie ihn unter Drogen gesetzt hatten, damit er keine weitere Gelegenheit bekam, sich ihrer ärztlichen Obhut zu entwinden indem er floh – gleich, wohin.

Wenn er zuvor bereits Schmerzmittel erhalten hatte, konnte die Dosis nicht sonderlich hoch gewesen sein, und selbst jetzt verfehlten sie ihre eigentliche Wirkung.

Zugegeben, die Methode bannte ihn wirkungsvoll auf das Lager, und vernebelte seine als unkooperativ befundenen Gedanken, doch es steigerte seinen Unmut ins Unermessliche.

„Gottverdammt…“

Wie erbärmlich.

Müde, vom Schmerz seiner Wunden heimgesucht, presste er die Kiefer aufeinander.

Etwas Weiches streifte seine Fingerspitzen, und als er den Kopf zur Seite wandte, begegnete er ein wenig verwundert einem forschen Blick aus intelligenten, hellgrünen Katzenaugen.

Träumte er?

Das Kätzchen trug ein Messingglöckchen um den Hals.

Es beobachtete ihn aufmerksam, verlor trotz seiner Apathie nicht das Interesse; ihm hingegen entglitt bald der Fokus und letztlich blickte er in das Spiegelbild seiner eigenen blanken Iriden.

Zeit verrann, wertlos, unmerklich, und ob sie nun vorwärts oder rückwärts lief, wer war sich dessen schon bewusst…?

Er blinzelte, und fand sich allein.

Erst, als er die Präsenz eines anderen Feuerdrachen im Zimmer wahrnahm, manifestierte sich die Erkenntnis in seinem Verstand, und er zuckte zusammen, eine panische Verwirrung ergriff Besitz von ihm.

Sein Herz raste, sein keuchender Atem reduziert auf das bloße Ringen nach genügend Sauerstoff.

Schließlich zerriss der aufglühende Schmerz die grazilen Kettenglieder der Befangenheit, und jedwede angestaute Aggression brach aus ihm heraus. Gewaltsam fuhr er auf und drängte sich mit dem Rücken an die Wand, weg von der Person, deren Antlitz er nicht sehen musste um sie zu identifizieren.

„Fass mich nicht an!“ schnaubte er aufgebracht, das gutturale Grollen, das sich seiner Kehle entrang, eine unmissverständliche Drohgebärde.

Die verschreckte Heilerin brachte währenddem keinen Laut über ihre bebenden Lippen, und der kafteinn konnte ihre Angst riechen, und auf morbide Weise befriedigte ihn dies.

Ihre vor Furcht geweiteten Augen durchbohrten seinen berechnenden Blick, bis sich vereinzelte Tränen ihren Weg über die bleichen Wangen bahnten und sie das Gesicht in ihrer Robe verbarg.

Jämmerlich schluchzend verkroch sie sich in die gegenüberliegende Ecke des Quartiers.

Dennoch besänftigte es ihn nicht.

„Rühr mich niemals wieder an“, warnte er gedämpft und gestikulierte betont zur Tür.

Gehorsam neigte sie das Haupt und entfernte sich hastig aus seinem Sichtfeld.

Ein Vorgeschmack, nichts weiter, und diese Lektion war ausreichend, um ihr zu veranschaulichen, dass man mit der Psyche eines Kriegers besser nicht spielen sollte…
 

Er zitterte vor Anspannung und dem durch seine Adern jagenden Adrenalinüberschuss, ganz zu schweigen von der in Wallung geratenen Feuerenergie, die in seinem Inneren tobte und wütete.

„Guh…“

Matt legte er den Kopf in den Nacken, gab sich bedingungslos dem verführerischen Rausch hin.

Sein Bewusstsein driftete eine Weile hin und her, und der Schweiß auf seiner Haut kühlte sein Temperament bevor er sich langsam verflüchtigte.

Unterbewusst führte er seine Hände zu seinem Abdomen, in Erwartung des Schlimmsten, und er erschauderte, als er keinen Verband, sondern nachgiebiges, verletzliches Gewebe unter den Fingerkuppen spürte.

Er schluckte hart, bangte erneut um seine Fassung.

Es kostete ihn einiges an Überwindung, das gesamte Ausmaß des Schadens zu begutachten: drei rosige Narben verliefen quer über seinen Bauch, zu breit und an den Rändern zu ungleichmäßig, um von einem Schwert zu stammen.

Sie würden zu festerem Fleisch aushärten, sich vollkommen weiß färben, die Nervenenden abstumpfen… sie würden seinen Leib ehern verunzieren, ihn als Opferlamm brandmarken, sein gesamtes Leben lang, sie würden ihn bis in die Ewigkeit an jene Nacht erinnern.
 


 

***
 


 

Jemand strich, nein, streichelte ihm über die Stirn, durch das feuchte Haar.

Das melodische Summen verklang.

„Was machst du da?“ zischte eine weibliche Stimme nahe der Hysterie, die Resonanz jedoch war verhältnismäßig gering.

„Hm…“

Wärme durchströmte seinen Körper, und er genoss wohlig seufzend die liebevolle Zuwendung, hieß die süße Schwere seiner Glieder willkommen.

Womöglich tappte er somit in die Fänge einer hinterhältigen Illusion…

„Neisti, lass das“, wies die junge Frau ihr Gegenüber scharf zurecht.

„Wieso?“ erwiderte dieses verständnislos, schenkte ihr einen fragenden Blick, geprägt von kindlicher Unschuld.

Perplex und unterschwellig verärgert starrte sie zurück, zu keiner entsprechenden Erklärung fähig – sie würde dem Kleinen kaum anvertrauen, was während ihrer gestrigen Visite vorgefallen war.

Betreten presste sie die Lippen aufeinander.

„Er ist traurig“, sagte der Junge dann, „kannst du es nicht hören, Schwester?“

Das rötliche Glimmen, das ihre Hände umhüllte, flackerte einen Augenblick als ihre Konzentration schwand; wie ein Kind von Traurigkeit war ihr der kafteinn gestern nicht vorgekommen.

Das Drachenkind war ein Enigma, und zwar eines aus der unheimlichen Kategorie, um es präzise auszudrücken.

„Denkst du, er spielt mit mir Karten, wenn er aufwacht?“

Sie bezweifelte es.

In seinem instinktiven Existenzkoller machte er sicherlich auch vor Neisti keinen Halt.

„Keine gute Idee“, meinte sie daher diplomatisch, und da sie den unzufriedenen Gesichtsausdruck des Jungdrachen bemerkte, fügte sie in konsequentem Ton hinzu: „Er braucht viel Ruhe.“

Neisti legte erwägend den Kopf schief.

„Wie heißt er?“ fragte er neugierig, nach sorgfältigem Überlegen.

Es gab keine Antwort, denn wer wusste den Namen eines Gefallenen, eines unlängst Totgesagten?
 


 

***
 


 

Unsicher klopfte sie mit den Fingerknöcheln zweimal gegen den Türrahmen.

„Bist du wach?“ folgte die obligatorische Frage, bevor sie den ledernen Utensilienbeutel an ihre Brust drückte und kurzzeitig horchend verweilte.

Natürlich erhielt sie keine Rückmeldung.

Mittlerweile hatte es sich zu einem alltäglichen Prozedere entwickelt – mit ihrer Gesundheit pokerte sie nicht, erst recht nicht mit einem missgelaunten Soldaten.

Kein Mucks drang aus dem kleinen Eckzimmer, und so trat sie umsichtig ein, mental gebrüstet und auf alles gefasst.

Sie hatte damit gerechnet, dass er nicht schlafen würde, und daher überraschte es sie nicht, dass er ihr postwendend den Rücken zukehrte, als sie den ersten Schritt in seine Richtung tätigte.

Schweigsamkeit tünchte die angespannte Atmosphäre, und erstmalig, seit etwa zwei Wochen, störte sie das gehörig.

„Sei nicht kindisch“, ermahnte sie ihn grummelnd, nicht bemüht, den genervten Unterton zu verbergen.

Er rührte sich nicht, sein Widerwille offenkundig.

Frustriert fuhr sie sich durch das tiefrote Haar, kniete sich dicht neben ihn auf den Boden.

„Los, dreh dich um, sonst dauert es noch länger.“

Glücklicherweise tat er nach flüchtigem Bedenken wie ihm geheißen, und wälzte sich schwerfällig in Position, das Gesicht wandte er jedoch trotzig zur Wand ab.

Mehr als eine Wortgewalt vermochte sie nicht über ihn auszuüben, physisch unterlegen, und zudem wagte sie es nicht, ihn anderweitig zu etwas aufzufordern. Sie wollte ungern herausfinden, was er mit ihr anstellen würde, wenn sie ihm neckisch zwischen die Rippen piekste…

Zweckmäßig löste sie seine Bandagen, prüfte kritischen Blickes und durch zurückhaltendes Abtasten den Zustand der im abschließenden Heilungsprozess befindlichen Wunden.

Zu sich selbst murmelnd kramte sie in dem Lederbeutel und zog eine feine Nadel daraus hervor.

Vergnüglich würde das wohl kaum werden, das Pulen und Stochern nach verirrten Nahtfäden zählte definitiv nicht zu den Höhepunkten ihres Berufs.

Die Bauchmuskeln des kafteinn kontrahierten unter ihrer Berührung, und er zuckte fürchterlich zusammen, als die Nadelspitze die ersten Hautschichten perforierte. Verhalten keuchend vergrub er die Fingernägel in der Matratze, begann zu zittern wie Espenlaub.

Man konnte die Umstände auch dramatisieren!

„Stell dich nicht so an. Stillhalten“, verlangte sie bestimmend und ihre resolute Haltung wahrend.

Da er sich aber partout nicht beruhigen wollte und sich weiterhin wie ein weinerliches Muttersöhnchen benahm, schimpfte sie unermüdlich vor sich hin, und inmitten dieses unendlichen Wortschwalls unterlief ihr ein Fehler, sie vergriff sich bei einem Kommentar böse in der Thematik: „Von den eigenen Kameraden so zugerichtet, es sollte dir peinlich sein…“

Sie erntete augenblicklich ein verstimmtes Knurren und einen finsteren Blick aus dunklen Augen.

„Niemand zieht das Schwert gegen seine Leute“, korrigierte er ihren Vorwurf harsch.

„Dummheit wird bestraft“, merkte sie rechthaberisch an, er trug die Schuld seiner eigenen Misere, es geschah ihm recht.

Er vermeinte ein Déjà-vu zu erleben – hatte er das nicht…?

„Ich würde keinen Finger für einen wie dich krumm machen, wenn es nicht Hraunars Befehl wäre. Und der Begriff Dankbarkeit ist dir wohl ein Fremdwort.“

„Ich habe nie um Hilfe gebeten“, gab er neutral zurück.

Die Heilerin ballte die Fäuste, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten.

„Du hast mich angewinselt wie ein Hund, ich solle dich sterben lassen“, schrie sie ungehalten, „du hast mich angefleht, dich zu töten!“

Ich habe dir das Leben gerettet.

Zunächst entgegnete er dem nichts, er musste nicht absichtlich Öl ins Feuer gießen. Oder…?

„Du bist eine Schande für deine Zunft“ entfleuchte es ihm gefasst, ehe er darüber nachdenken konnte.

Ihre Wangen und Ohren färbten sich rot, und sie schnappte empört nach Luft, als die Wut siedend heiß in ihr hochstieg.

„Das muss ich mir von einem Versager wie dir nicht anhören!“ rief sie daraufhin aufgebracht, richtete sich ruckartig auf und stürmte aus dem Raum.
 

Der kafteinn atmete tief durch.

Was bildete sich dieses Weib eigentlich ein?

Ohne Faktenwissen über ihn und seine Entscheidungen urteilen zu wollen…

Missmutig schloss er die Augen, bettete den Kopf auf seinen angewinkelten Unterarm.

Haftete ihrer Aussage etwas Wahres an…?

„Hrafntinna, was ist denn los? Hat dich mal wieder jemand geärgert?“ lachte eine harmonische Frauenstimme auf dem Korridor, und ein neuerliches Aufbrausen der Heilerschwester hallte entfernt über die Flure.

Danach spähte eine Person neugierig in das Zimmer.

„Aha, unsere schlafende Schönheit ist tatsächlich wach.“

Das verdiente keine Antwort.

Mürrisch brummend blendete er die Anwesenheit der sich nähernden Fremden aus.

„Man könnte meinen, das Mädchen will provoziert werden“, plauderte diese munter weiter, „und darüber hinaus vergisst sie sogar ihre Arbeit.“

Kopfschüttelnd durchquerte sie die Kammer und setzte sich neben ihn, selbstverständlich, als hätte sie ihn bereits des Öfteren hier besucht.

„Ich mach das fertig, in Ordnung?“

Eine Gelegenheit zum Widerspruch bot sich ihm nicht, und so beugte er sich stumm den Bemühungen ihrer geschickten Finger, die alsbald die übrigen Fäden aus den verheilten Wundarealen zu Tage förderten.

Er starrte während dessen, im Ganzen verkrampft, an die Holzdecke.

„Schau nicht so düster drein“, sprach sie ihm sanft zu, ihre Anteilnahme unverfälscht und arglos.

„Gib mir deine Hand.“

Behutsam erfasste sie seine Linke und dirigierte seine Handfläche an ihren Bauch - wobei sie die minimale Gegenwehr seinerseits nicht honorierte.

„Huh…?“

Die eindeutige Wölbung, die er spürte, und das Kribbeln einer schwachen, zweiten Aura, erstaunten ihn nachhaltig, und er blickte die unbekannte Frau konsterniert an.

„Hast du in all dem Kummer und deinem Selbstmitleid vergessen, wie sich Leben anfühlt? Wo, frage ich dich, ist deine Wertschätzung für deine Existenz geblieben…?“ und ihrem vorherigen Überschwang zum Trotz bewies sie nun Ernsthaftigkeit und Festigkeit.

„Ich möchte dich daran erinnern, denn du bist der einzige Überlebende.“

Belastet, betroffen, brach sie den Blickkontakt ab und schlug die Augenlider nieder, den Hauch eines traurigen Lächelns auf den Lippen.

„Mein Gefährte fiel an der Ostgrenze, du kanntest ihn bestimmt“, eröffnete sie ihm, und der kafteinn teilte ihre Aufmerksamkeit bereitwilliger, „Ich besitze nichts, keine Bleibe, keine Kleidung, kein Geld, nichts… und gebe ich auf?

Nein. Ich lebe fort, für meinen Gefährten, um unseres ungeborenen Kindes Willen.“

Der Fetus in ihrem Leib schützte sie vor der Selbstaufgabe.

Melancholie und Entschlossenheit verbanden sich zu einer stärkeren Komponente, sie kämpfte, im Endeffekt nicht bloß für ihren Nachwuchs, sondern vor allem für sich und das Andenken ihres Geliebten; wäre es für ihn zu diesem Zeitpunkt von Bedeutung gewesen, hätte er sie um ihren Mut und ihre Leidenschaft, die er selbst nie und nimmer aufbringen konnte, beneidet.

„…“

Was hatte er dem gegenüber zu stellen?

Nichts, gar nichts.

Verlust, Verrat.

Schuld und Unfähigkeit und Schwäche. Nichts, das es wert war.

Ihm war zum Lachen zumute, und er verbat es sich; innerlich zerriss es ihn vor Schmerz.

„Fühlst du dich kein bisschen für deine gefallenen Kameraden verantwortlich? Für ihre letzten Wünsche? Ihre unerfüllten Träume?

Bist du nicht einmal mehr Manns genug um ihren Tod zu rächen?“ drängte sie nach einer kurzlebigen Atempause, der Griff um sein linkes Handgelenk festigte sich simultan.

Rache?

Er sollte Vergeltung üben…? Wozu?

Es würde die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, und allenfalls mehr unnötiges Blutvergießen heraufbeschwören.

Verdrossen verengte er die Augen.

„Du willst also, dass ich noch mehr Frauen ihrer Männer beraube, weitere Kinder vaterlos mache…?“

„Nein. Ich möchte, dass die Seelen der Gefallenen ihren Frieden finden.“

Allmählich wuchs in ihm die Skepsis, und er zögerte.

Diese Unbekannte war nicht zufällig zu ihm herein gestolpert…

„Wie stellst du dir das vor?“ konterte er verständnislos.

„So simpel wie du denkst, sind die Dinge nun mal nicht.“

Sie gab ihn frei.

„Weißt du, es mag dumm klingen, aber ich bin nur ein einfältiges Weib.

Ich stelle mir den Krieg gerne als eine Art Schachspiel vor; ich möchte nicht, dass du die Bauern, oder die Läufer oder die Springer schlägst…“

Die Penetranz ihrer Gegenwart verursachte ihm Übelkeit, er mochte sie nicht, ebenso wie ihre Art, nach etwas zu verlangen. Widerwärtig.

Woher bezog sie das Recht, ihn um einen solchen Gefallen bitten zu dürfen?

„Sondern…?“

„Nicht den König, und auch nicht die Königin, wie man denken könnte.

Sie haben keine Befehlsgewalt, sie sind reine Marionetten – ich meine den Kopf, der die Taktik entwirft, der die Figuren lenkt: den Schachspieler dahinter…“
 


 

***

Akt.II *** Schwarze Wolken: Der Fuchs und der einsame Wolf

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"

"herstjóri" bedeutet "General"

"leiðtogi" bedeutet "Anführer"

"ofursti" bedeutet "Oberst"
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Akt.II *** Schwarze Wolken: Der Fuchs und der einsame Wolf
 

Die langwierige Reise in den Süden zog wie der Schattenriss eines vagen Tagtraumes an ihm vorüber.

Er döste, verschlief die hellen Stunden, in denen eine Orientierung anhand der Umgebung möglich gewesen wäre – den exakten Bestimmungsort hatte man ihm nicht verraten, und da es ihm persönlich unwichtig erschien, sparte er sich die Frage.

Es dauerte. Das war alles, was er wusste.
 

Träge blinzelte er in die allumfassende Dunkelheit, und auch ohne den Himmel zu sehen, konnte er mit Gewissheit behaupten, dass dies eine Neumondnacht war.

Derart finster wurde es nicht, wenn Wolken den Mond verschleierten.

Neben ihm, etwas zu nahe für seinen Geschmack, schnarchte einer seiner Weggefährten, von draußen drang das Geräusch von klappernden Pferdehufen an seine Ohren, das Knirschen der Wagenräder auf dem Straßengrund.

Was hatte ihn aufgeweckt…?

Hatte er sich erneut den Hinterkopf an der hölzernen Seitenstrebe angeschlagen?

Unvermittelt beschwerte sich sein Magen, lautstark, in seinen Innereien rumorte es beständig.

Dennoch verspürte er keinen ernsthaften Hunger, und der Proviantbeutel mit Dörrfleisch und Fladenbrot blieb unangetastet. Er würde es ohnehin nicht hinunter bekommen.

Kompromisse pure Utopie.

Beiläufig fuhr er sich über die spröden Lippen und bediente sich am Wasserkrug ehe er sich wieder niederlegte und die Augen schloss.
 


 

***
 


 

Eine vollständige Gardeeinheit begleitete ihn über die ausgedehnte Anlage des buddhistischen Tempels.

Grazile Cathaya-Bäume säumten die Ränder der Kiespfade, wechselten sich dort mit den steinernen Abbildern des meditierenden Buddha ab, und in der Ferne ragte eine prachtvolle Pagode gen Himmel, die roten Ziegel glühten förmlich im Schein der Sonne.

In den gepflegten Kräutergärtchen arbeiteten Mönche in purpurnen Roben.

Doch dem kafteinn fehlten der Sinn und das Verständnis für Religion und er empfand, während er die Eindrücke der heiligen Stätte in sich aufnahm, keine Offenbarung.

Von wegen Erleuchtung.

Alles in allem ein netter Anblick, hübsch, aber nicht mehr.

Der Einklang der Tempelidylle litt zudem ein wenig unter den etlichen Wachsoldaten, die an allen erdenklichen Ecken und Enden postiert worden waren.

Zum Zeremoniell gehörte das mitnichten.

Und ebenso wie die zwölf Gardisten trugen sie Rüstungen und schwere Waffen.

Bereiteten sie sich auf einen Angriff vor?

Wer überfiel einen Tempel…?

Vor drei Wochen hätte er sich auch noch gefragt, wer aus freien Stücken einen einsamen Grenzposten in der Mongolei überfallen würde…

Wahrscheinlich ging es um die Person, die sich hier verschanzte.

Beunruhigt ließ er seinen Blick schweifen, diskret und penibel darauf achtend, überdies mit seinen Begleitern ordentlich Schritt zu halten, denn was der übertriebene Aufwand um ihn bedeutete, das konnte er nur erahnen. Er wollte sein Glück nicht herausfordern – lynchen würden sie ihn nicht, und auf eine Tracht Prügel verzichtete er gut und gerne.
 

Schweigsam geleitete ihn die Garde zur Dhamma-Halle, wo sich die Ordensbrüder gerade zur Andacht versammelten, Körbe gefüllt mit süßen Früchten und Blumen unter den Armen.

Einige entzündeten Räucherwerk in Tonschalen, und der Geruch von Holz und seltenen Harzen strömte durch das offene Gebäude.

Man begegnete sich in stillem Einverständnis, jedoch ohne Worte, und nickte knapp zum Gruß; die Enge schränkte beide Fraktionen ein, arrangieren hieß die Devise.

Also ein improvisierter Stützpunkt. Nicht verwunderlich.

Eingehend prägte er sich den Verlauf des langen Säulengangs ein, den sie nun betraten, merkte sich die Anzahl der Abzweige und Mündungen, studierte die innere Architektur der religiösen Baute.

Andernfalls hätte ihn spätestens in der schlichten Vorhalle die Nervosität überkommen, empfangen von unzähligen misstrauischen Augenpaaren, die jedwede seiner Bewegungen registrierten.

Als Neuankömmling, dem fristlos Audienz gewährt wurde, begegneten ihm die wartenden Feuerdrachen nicht unbedingt wohlgesonnen, verständlicherweise.
 

Erfüllt von Unsicherheit und Beklemmung, immerhin trug er weder Harnisch noch Schwert, und in seiner derzeitigen kläglichen Verfassung, folgte er der Aufforderung, sich in die Haupthalle zu begeben.

Diverse Äbte aus allen Himmelsrichtungen und andere hochrangige Geistliche knieten dort, auf dem mit farbenfrohen Mandalas verzierten Steinboden, die Häupter demütig geneigt, und schworen dem vor ihnen stehenden Feuerdrachen einheitlich ihre Treue.

Der monotone Sprechchor hallte unangenehm laut zwischen den hohen Wänden wider, eine schier endlose Reihe Kerzen beleuchtete das heilige Gemäuer.

Die Gerüchte um einen neuen leiðtogi bewahrheiteten sich hiermit.

In den Nationalfarben Schwarz und Rot hatten die Hohepriester der vier Reiche die Attribute eines guten Herrschers auf den Leib des Feuerdrachen geschrieben, somit seine Macht, seine unangefochtene Dominanz anerkannt und geweiht.

Auf seiner Brust, im Zentrum unmittelbar über seinem Herzen, prangte das Schriftzeichen für Ewigkeit.

Allerdings, erwog er nach einer Weile des stillen Beobachtens kritisch, war der neue leiðtogi außergewöhnlich jung und füllte noch nicht einmal seine Statur vollends aus. Sogar er selbst besaß ein breiteres Kreuz als dieser Jungspund, der auf ihn so knabenhaft und unausgereift wirkte.

Neben ihm stellte herstjóri Hörvir, der dem Szenario distanziert, beinahe gelangweilt beiwohnte, einen wahrhaften Hünen dar, grobschlächtig und erstaunlich wuchtig.

Religiosität tangierte die meisten Krieger nicht.

Dementsprechend fühlte er sich fehl am Platz, unerwünscht.

Und eine Bestätigung dessen erhielt er durch die furchtsamen Blicke, die die Mehrheit der Mönche ihm zuwarf, als sie auf Hörvirs Befehl den Raum verließen, gezwungen, ihn und die Gardisten zu passieren.

Tuschelnd, mit aschfahlen Mienen mieden sie den Augenkontakt, wichen angstvoll vor seiner Präsenz zurück.

Dass seine momentane Erscheinung nicht als Augenweide zu bezeichnen war, gestand er sich ein, aber dies…?

„Welch ein desaströses Karma…“ löste sich aus dem allgemeinen Gemurmel, nebst abfälligen und radikalen Anmerkungen.

„Die Seelen der Toten umschwärmen ihn wie die Fliegen“, hörte er eine weitere anonyme Stimme flüstern.

„So einer lockt unweigerlich den Tod an.“
 

Einer der Gardesoldaten stieß dem kafteinn unwirsch den stumpfen Stangenabschluss seiner Hellebarde in die Kniekehle, sodass er ungraziös auf die Knie fiel.

Das schmerzhafte Ziepen in seinem Abdomen brachte ihn zum Aufkeuchen.

„Geht“, befahl der herstjóri daraufhin trocken, und die unterschwellige Geste zu seinem stellvertretenden General deutete an, dass aus dieser unangebrachten Aktion ein Nachspiel resultieren würde.

Für gewöhnlich hätte er ein solches Problem eigenhändig beseitigt und ohne viel darüber nachzudenken zugeschlagen, um seine Autorität zu demonstrieren – augenblicklich jedoch marterten nagende Schuldgefühle und der Schmerz des Verlustes seinen Geist, und was letztendlich mit ihm geschah, interessierte ihn nicht.

Wozu das alles…

„Dein Name, Soldat. Herkunft, Rang, letzte Stationierung.“

Er sah nicht auf, die Augen auf den Boden gerichtet.

„Logi, herstjóri“, äußerte der Angesprochene dann heiser, „Ich stamme aus einem unbedeutenden kleinen Dorf in den Ostprovinzen. Ofursti Múspell ernannte mich im vorletzten Winter zum kafteinn.“

Nach kurzem Besinnen fügte er entkräftet hinzu: „Mein letzter Posten war an der mongolischen Ostgrenze.“

Resignation zeichnete sich auf den nunmehr kantigen Gesichtszügen des kafteinn ab, die Todesnähe hatte ihren Tribut gefordert, zehrte ihn aus, und präsentierte der Außenwelt das Antlitz eines Gefallenen, eines Verdammten, hervortretende Wangenknochen und einen ungesund blassen Teint.

„Kannst du deine Identität belegen?“ verlangte Hörvir zu wissen, ihn unablässig musternd.

Er mochte es nicht, wenn man ihn wie ein Kunstobjekt betrachtete.

„Nein“, antwortete er unverzüglich, und wahrheitsgemäß, wahrte trotz seines gedeihenden Unbehagens die Ruhe, „meine Plakette ist abhanden gekommen.“

Über das Wie rätselte er selber.

„Schlecht für dich. Der Verdacht der Täterschaft geht an dir freilich nicht vorüber, im schlimmsten Fall bist du ein Hochstapler und ein Kollaborateur.“

Seiner Verneinung würde niemand Glauben schenken.

„Ofursti Múspell wird sich an mich erinnern. Oder an das hier“, und mit einem fahrigen Handgriff schob er seinen rechten Ärmel bis zur Schulter hoch, entblößte das schwarze Rangsymbol auf seinem Oberarm.

„Mit einem Zeugen oder einer fassbaren Garantie kann ich nicht dienen. Ihr habt mein Wort.“

Hörvir grollte frustriert, wechselte rasch einen Seitenblick mit dem jungen Herrscher. Der lächelte bloß reserviert und trat direkt vor den kafteinn, welcher sich jählings reichlich bedrängt vorkam.

„Sieh mich an.“

Er ging vor ihm in die Hocke, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt.

„Schwörst du mir, dem neuen leiðtogi, Hraunar aus dem Süden, persönlich deine uneingeschränkte Treue?“

Diese mächtige Aura, diese enorme Feuerenergie, die in Hraunar ruhte, erlaubte keine Einwände, und eine Provokation dessen, was dort schlummerte… ausgeschlossen.

Und er vermeinte ihre gewaltige Intensität bereits gespürt zu haben.

Deshalb gehorchte er, widerstrebend, die schwere Atmosphäre lastete auf seinem Gemüt.

„Solltest du lügen…“ warnte er, sein Ton rigoros, und die eigenwillig gefärbten Iriden blitzten unheilvoll auf; die Drohung hätte nicht deutlicher ausfallen können. Der kafteinn schluckte, schauderte, als Hraunars heißer Atem seine Haut streifte.

„Meine Loyalität als Krieger, mein Leben als Kind des Feuers… gilt einzig Eurem Zweck, leiðtogi der Feuerdrachen“, gelobte er in soldatischer Manier, überzeugt, emotionslos. Leere Floskeln, die ihren Zweck erfüllten, die zur Gewohnheit wurden, irgendwann den Anspruch erhoben, wahr zu sein, obgleich die Vorstellung abwegiger nicht sein könnte.

Doch Hraunar nickte befriedigt, verschränkte die Arme vor der baren Brust.

„Also, Logi, Tacheles“, verkündete er anschließend bestimmend, und seine Mimik verfinsterte sich, kippte ins Unnachgiebige: „Wer hat die östlichen Grenzposten überfallen?“

Logi biss sich auf die Unterlippe, bemüht, sich seine Zerrüttung nicht anmerken zu lassen. Er zitterte.

Gelähmt von der Erinnerung, überfordert, jenseits jedweder Rationalität – seine Kameraden waren ihm in den Rücken gefallen, des versprochenen Geldes und Prestiges wegen, wobei es wahrscheinlicher war, dass sie nach dem Verrichten der Drecksarbeit von ihren vermeintlichen Auftraggebern in die Hölle geschickt wurden, und in ihrem Wahn hatten sie seine Untergebenen, ihre Kampfgefährten, massakriert – gelang es ihm schlussendlich nur, ein „Ich weiß es nicht.“ hervorzuwürgen.

Seine Narben schmerzten.

„Weißt du wenigstens, wer dich angegriffen hat?“ setzte der jugendliche Herrscher prompt nach. Die Unwissenheit des Soldaten verdross ihn, und seine Laune bekundete bereits sinkende Tendenzen.

Mit solch unkooperativen Zeitgenossen verschwendete er höchst ungern seine Zeit.

„Nein“, entgegnete der kafteinn tonlos.

Wieso beendete sein Gegenüber es nicht hier und jetzt?

Es war so offensichtlich, ein miserabler Lügner…

Hraunar schalt sich derweil mental, sein Temperament zu zügeln.

„Mir wurde zugetragen, dass du vor etwa zwei Monaten im Gespräch mit deinem ofursti mehrere Verdächtige entlastet hast, die angeblich Verbindungen zu dubiosen Untergrundgruppierungen hatten“, führte er dezent an, er räusperte sich.

„Stimmt das?“

Woher…?

Nein, natürlich hatte er seine Quellen, die Frage lautete, wie viel wusste der leiðtogi tatsächlich?

„Ja.“

Das selbstgefällige Grinsen kehrte auf Hraunars Züge zurück, er kostete seine Überlegenheit aus.

„Inwiefern hat das etwas mit Vorfall an der Grenze zu tun? Haben die, für die du dich verbürgt hast, etwas damit zu schaffen?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Logi kaum vernehmlich.
 

„Nutzlos“, benannte Hörvir wenig später seine Enttäuschung über die untauglichen Antworten des kafteinn, als dieser aus seiner Sichtweite verschwand.

Was für eine Blamage für die Krieger des Ostens!

Um seinen Kopf würde er wohl noch einige Zeit bangen müssen.

„Sollen wir ihn beseitigen, leiðtogi?“

Hraunar hob abwehrend die Hand, ein manischer Schatten geisterte über seinen Ausdruck: „Nein.

Noch nicht.“
 


 

***
 


 

Verloren. Eiskalt. Schon wieder.

Gegen ein Kind, das nachts heimlich zu seinen Geschwistern unter die Decke schlüpfte, weil es die Dunkelheit fürchtete…

Deprimiert belegte Hraunar das schlechte Blatt auf seiner Hand mit unseligen Flüchen, die Karten wollten ihm heute kein Glück bringen.

Ein Themenwechsel war daher unumgänglich.

„Du hast gelauscht, oder? Lügt er?“ wandte er sich an den Jungen, der eifrig damit beschäftigt war, die eigenen Spielkarten zu sortieren.

„Hm…“ machte der desinteressiert, und Hraunar bemerkte, dass ihm dieser Gesprächsanlass nicht behagte.

Von Hrafntinna hatte er erfahren, dass der Kleine eine sonderbare Sympathie für den ausgemergelten kafteinn hegte. Er verstand es nicht.

Wohnte dem Soldaten etwas Besonderes inne? Hatte er eine außergewöhnliche Kleinigkeit übersehen?

Gleichgültig. Der Kerl war ein Häufchen Elend, ein Wrack, der Tod eines Drachen mit gebrochenem Willen war besiegelt, und die nächste Mission würde ihm den Gnadenstoß versetzen.

Er seufzte: „Neisti. Sag die Wahrheit.“

Ertappt senkte das Kleinkind den Kopf, genierte sich, bevor es ein bedrücktes „Ja…“ nuschelte.

Für einen Augenblick schwante ihm Übles.

Wenn Neisti zu weinen begann, drängte er ihn unaufhaltsam ins Matt, und das wollte er geflissentlich vermeiden.

„Das dachte ich mir“, erwiderte er nachdenklich, als ihm allmählich dämmerte, welche Konsequenzen das nach sich zog. Nach sich ziehen musste, wollte er seine Glaubwürdigkeit erhalten.

Dieser respektlose Bastard hatte ihn belogen, wissentlich

„Aber nicht aus böser Absicht heraus, Hraunar!“ entfuhr es Neisti abrupt und ungehalten.

Er errötete, und selbst erschrocken über sein unangebrachtes Betragen presste er die Hände auf den Mund.

Sein älterer Bruder bedachte ihn mit einem undefinierbaren Blick, hob fragend die Augenbrauen.

„Ah.“

Verlegen zupfte Neisti an seinem Ärmelsaum.

„Los doch, erleuchte mich“, erteilte Hraunar die brüske Aufforderung.

„Er hat Angst“, sagte der Junge dann kleinlaut, „Es quält ihn, wenn du ihm diese Fragen stellst.“

Der Drachensouverän lachte belustigt auf, ohne einen Funken Humor oder Einfühlungsvermögen.

„Soso…“

Indes versank Neisti in seiner Scham.

„Hm… wenn er nicht reden will oder kann, was auch immer, dann…“ murmelte Hraunar nach einer Weile, brach das unerträgliche Schweigen, „ich habe da eine Idee…“

Wenn der Vogel im Käfig nicht sang…

Mit einem selbstzufriedenen Lächeln richtete er sich auf, warf seine Karten offen auf den Stapel am Boden zurück.

Das Kind neigte verwirrt den Kopf zur Seite, und seine Augen verengten sich, ehe er eine einzelne Spielkarte auswählte und auf den unordentlichen Haufen legte. Ein schwarzes Ass auf roten Zahlen.

„Sei bitte nicht gemein zu ihm“, bat er schüchtern.

Schulterzuckend tat der Ältere seine Niederlage als nichtig ab, ebenso Neistis Bitte.

„Wieso?“

Wer Wind säte, sollte darauf gefasst sein, entsprechenden Sturm zu ernten, zumal er ihn ausdrücklich davor gewarnt hatte, sich auf jene Weise mit ihm anzulegen.

Schlechter Zug, Logi.

„Er verdient es nicht“, beharrte der junge Feuerdrache, den Anklang von Betroffenheit in der Stimme.

Hraunar schnaubte unwirsch: „Er hat seine Kameraden im Stich gelassen.“

„Nein“, widersprach er gelassen, und gleichermaßen leise, „Seine Kameraden haben ihn im Stich gelassen.“

Von einem Kleinkind ins Aus diskutiert…
 


 

***
 


 

„Eldur.“

Ein samtenes Wispern in den frühen Morgenstunden, zu leise, um einen Schlafenden zu wecken, zu präsent in der Stille, um von einem Wachenden beständig ignoriert zu werden.

Und keine Antwort.

Unschlüssig trat der Bote auf dem oberen Hausflur der Pension von einem Fuß auf den anderen, eingehüllt von den ausklingenden Halbschatten der Nacht, und er zögerte für den Bruchteil eines Augenblicks.

„Hey, Eldur.“

Ungeduld, und ein Hauch Reue beseelten die prägnante Stimme, als er etwas fester als beabsichtigt gegen den Türrahmen klopfte.

Wie ungerecht, jemanden, der sich zusätzlich zu seinem Soldatendasein als freiwilliger Feldheiler engagierte, aus dem wohlverdienten Schlummer zu reißen, nicht einmal drei Stunden nach dessen Dienstende.

„Eldur!“

Durch das verwobene Fenstergeflecht hindurch spähend, erkannte er eine vage Regung auf dem Lager im hinteren Bereich des Quartiers, unter der wahllosen Ansammlung von Wolldecken und Kleidung wälzte sich Eldurs diffuse Silhouette auf die Seite.

„Nnh…“

Danach vernahm er ein gedämpftes Murmeln, sowie eine schlaftrunkene Beschwerde über das gottverdammte Personal, das in aller Frühe solch einen verfluchten Lärm veranstaltete.

„Schwing deinen Hintern aus den Federn, du faule Socke“, zischte der Wachsoldat mit etwas mehr Nachdruck, der vibrante Bariton, der über sämtliche Flure dröhnte, unverkennbar.

Eldur zog sich demonstrativ die Decke über den Kopf.

„Was…?“ jammerte er kläglich, „Ich hab heut frei…“

Der Soldat grunzte humorig, und stieß nun gereizt die Tür auf. Seine Toleranzschwelle war erreicht.

So ein weibischer Geselle…

„Steh auf und zieh dich an, hopp!“ bellte er im üblichen Befehlston, die perfekte Imitation seines eigenen Vorgesetzten.

Bei Eldur biss er damit allerdings auf Granit.

Blindes Parieren konnte er von einem Frontsoldaten erwarten, aber nicht von einem Heiler – hoffnungslose Exzentriker, von denen einige spezielle Exemplare dazu tendierten, sich allerorts, sogar mitten auf dem Schlachtfeld, zwecks Reduktion des Geräuschpegels, Wachs in die Ohren zu stecken, um sich besser konzentrieren zu können.

Nerven aus Stahl.

„Keinesfalls…“

Die Finger des Wachsoldaten zuckten, ebenso sein rechtes Augenlid.

„Mach hinne oder ich helf dir!“ brüllte er aufgebracht.

„Ganz ruhig“, beschwichtigte sein Gegenüber um ein herzhaftes Gähnen herum, ehe er sich wieder zusammenrollte, „Kein Grund zum Schreien.“

Der zum Boten abkommandierte Soldat trat an die zerwühlte Bettstatt heran, seine Miene mit einem Mal finster und undurchdringlich.

Die Angelegenheit war ernst. Todernst, wenigstens für ihn.

„Glaub das lieber mal nicht. Der stellvertretende herstjóri will dich sehen. Jetzt.

„Oh.“
 


 

***
 


 

Glücklicherweise ging es nicht um das kleine Malheur, das ihm in der vorletzten Woche unterlaufen war. Das hätte ihn wahrhaft in die Bredouille geritten.

Seine Begeisterung über den vertraulichen Auftrag, den er anstatt dessen zugewiesen bekommen hatte, hielt sich jedoch in Grenzen, und die Bilanz aus dem Gespräch mit dem zweiten Heeresgeneral mäßigte die Erleichterung, die ihn zunächst ergriffen hatte.

Irgendetwas an der Mission härmte ihn…

Zu müde, um sich darüber seinen teuren Verstand zu zermartern, trottete er durch die stillen Seitengassen gen Stadtzentrum, die Erschöpfung saß ihm noch immer in den steifen Gliedern.

Eine Schar Seidenhühner pickte auf dem Pflaster.

„Frühstück“, nuschelte er gelegentlich, sich selbst daran erinnernd, warum er sich nicht einfach ein abgeschiedenes, sonniges Plätzchen am Marktbrunnen suchte und dort etwas Schlaf nachholte.

Vor Alltagskriminalität musste man sich in einer neuerdings von Soldaten besetzten Stadt nicht fürchten – insofern man es sich nicht mit den Kameraden verdorben hatte.

Nebenbei beäugte er vorwurfsvoll das unbeschriebene Kuvert in seiner Hand, das, wie er es drehen und wenden mochte, keinen Aufschluss über den Adressaten geben wollte.

Kafteinn Logi.

Mehr war ihm nicht mitgeteilt worden.

Ein Titel, ein leerer Name ohne assoziativen Wert. Er kannte ihn nicht einmal.

Und bis er jemanden fand, der ihm sagen konnte, wer sich hinter dahinter verbarg, würden die angenehmen Mittagsstunden längst verstrichen sein.

Frechheit, schmollte er in Gedanken, ihn in die Pampa zu entsenden, zusammen mit einem vollkommen Fremden.

Als ob er hier keine gute Arbeit geleistet hätte.
 

In der Kantine der Kaserne langte Eldur ordentlich, und vor allem ungeniert, zu, verleibte sich mehrere Schüsseln Reissuppe ein, Sojakäse und gedämpftes Brot.

Die anwesenden Soldaten beobachteten ihn dabei argwöhnisch.

Dass sie sein Verhalten als provokativ auffassten, war ihm bewusst, und ferner, aus Erfahrung heraus, wie schnell solche Situationen eskalieren und letztlich in drastischen Schlägereien enden konnten.

Konflikte aufgrund zu klein bemessener Rationen standen auf der Tagesordnung, und er verstand den Unmut der Krieger durchaus, dennoch bestach der Aufschlag im Punkte Verpflegung für die Heiler durch Legitimität. Die Anwendung heilerischer Fähigkeiten verschlang Unmengen an Energie und stellte eine hohe Belastung für den Körper dar.

Wer fahrlässig agierte, setzte sein Leben aufs Spiel.

Das Fazit daraus führte zwangsläufig zu einer Sonderberechtigung bezüglich der Essenszuteilung.

Neid und Ignoranz. Vorwürfe über Maßlosigkeit.

Der Heilkunstorden erfuhr oftmals Geringschätzung und Missbilligung, als Mitglied musste man sich wohl oder übel daran gewöhnen.

Ihm verging der Appetit.

Seufzend fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund, sprach der Küche sein ausdrückliches Lob aus.

„Ist euch ein kafteinn namens Logi bekannt?“ erkundigte er sich beiläufig, den Unterarm auf den Tresen gestützt.

Die Küchenmädchen zuckten die Schultern oder verneinten knapp, zu beschäftigt mit kochen und spülen, oder sich manch lüsternem Blick aus dem Speisesaal zu entziehen.

Eldur nickte einsichtig, und während er seine Strategie überdachte und zu dem Schluss kam, dass er die blödsinnige Durchfragerei hasste, fasste ihn jemand am Ellbogen.

„Ah, Eldur“, vernahm er analog eine melodiöse Frauenstimme nahe an seinem Ohr, die leise Kosenamen säuselte.

„Wann hast du wieder Zeit für mich, eh?“

Kurzerhand hakte sie sich bei ihm ein, schmiegte die rechte Wange an seinen Oberarm.

„Otra erzählte mir letztens, du hättest mehr als ihren verstauchten Knöchel versorgt“, plauschte sie sogleich weiter, ihre Eifersucht, die darin mitschwang, nahezu bedrohlich.

„Tut mir leid“, erwiderte er, eingeschüchtert von so viel Aufdringlichkeit, und wich beiseite, „die nächsten Tage bin ich auswärts, aber-“

„Diese hochrangigen Militärs können sich auch nicht entscheiden, einen Tag hü, den nächsten hott. Dich derart plötzlich wegzuschicken, ein Unding…“

Et cetera, perge, perge…

Als sie endlich schwieg und ihn erwartungsvoll anblickte, gar Anstalten machte, ihn zu küssen, schob er sie sanft, jedoch entschlossen von sich, woraufhin sie nur lachte und ihn stürmisch umarmte.

„Sonst sind Sie nicht so scheu, werter Herr Schwerenöter“, neckte sie spielerisch, unbeeindruckt von seiner Abweisung.

„Üben wir uns neuerdings in Abstinenz?“

„Ich… ich habe zu tun“, bemerkte er plump.

Zugegeben, gegen eine vergnügliche Ablenkung hätte er nichts einzuwenden, und ihr weicher Busen, den sie kess an seine Brust presste, empfand er als sinngemäße Einladung, doch… doch was?

Perfides Weibsbild, fluchte er innerlich.

„Ich warte auf dich“, hauchte sie verheißungsvoll, ehe sie von ihm abließ und eine elegante Kehrtwende vollführte.

Richtig, der Brief!
 

Auf dem sandigen Übungsgelände exerzierte die fünfte Kompanie unter Brigadier Kopar, der verantwortliche Offizier hockte aschfahl und in sich zusammengesunken im Schatten einer Blumenesche, eine junge Heilerschwester reichte ihm einen Becher.

Selbst Feuerdrachen vertrugen die brütende Hitze auf Dauer nicht, besonders nicht, ohne genügend Wasser zu sich zu nehmen.

Ein Nachteil der humanen Gestalt, sie war empfindlich.

Kurzerhand entschloss Eldur sich, dem unvernünftigen Kompaniechef ins Gewissen zu reden, und ihn anschließend darum zu bitten, ihm ein wenig bei seiner Suche nach dem kafteinn zu helfen.

Raschen Schrittes näherte er sich dem angeschlagenen Drachen und grüßte ihn gemäß den militärischen Gepflogenheiten, die rechte Faust über dem Herzen, das Kinn gesenkt.

Fölskvi - ja, er war sicher, so hieß er – winkte ab und bedeutete ihm, sich zu setzen.

„Herforingi, Ihr solltet besser auf Euch achten“, empfahl er wohlmeinend, „Die Temperaturen sind nicht zu unterschätzen.“

„Der Tee schmeckt grässlich“, bemängelte der sachlich, jenseits eines Kontextes, und spuckte in den Staub.

Angewidert goss er das bittere Gebräu ins Gebüsch.

„Mach dich nicht nass. Das Bisschen Sonne bringt mich nicht um“, versicherte er danach mit einem Nicken, während er mit der linken Hand in dem Beutel an seinem Waffengurt kramte.

„Glaub mir, es gibt Schlimmeres.“

Eldur zwang sich zu einem verkappten Lächeln.

„Ihr würdet Eurer Gesundheit einen Gefallen tun.“

Sein Genosse zog ein Säckchen Tabak und Maispapier aus der Tasche hervor, drehte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette: „Meine Gesundheit, heh... die ist an der Front einen Scheißdreck wert.“

„Deswegen müsst Ihr sie nicht mit Füßen treten“, mahnte der Heiler, „aber lassen wir das. Ich will hier keine Moralpredigt halten.“

Gespielt überrascht hob der herforingi die Augenbrauen, und Eldur kratzte sich, schlagartig verlegen, hinter dem Ohr.

Tse, lächerlich. Einem Höherrangigen etwas vorschreiben zu wollen.

„Tut mir leid.“

Fölksvi begnügte sich mit einem erheiterten Grinsen.

„Verstehe, daher weht der Wind“, meinte er dann. „Was willst du?“

Im Hintergrund verausgabten sich die Soldaten in komplexen Formationsmanövern, Kopars Stimme donnerte in bemerkenswerter Lautstärke Instruktionen über den glühenden Sandplatz, der Schweiß rann in Strömen.

Die Luft flimmerte.

„Kennt Ihr zufällig einen kafteinn, der Logi heißt?“
 


 

***
 


 

Ein halbes Dutzend Krähen tummelte sich zänkisch schnarrend im Geäst des knorrigen Feuerahorns, schemenhaft, wie böse Geister im Halbdunkel des Blätterwerkes – als warteten sie darauf, dass in der näheren Umgebung demnächst ein Pferd krepierte oder ein Esel verreckte.

Hungrig. Dabei unendlich geduldig. Wie Aasgeier.

Er hatte die gefiederten Begleiter des Todes in der Gobi beobachtet, über dem ausgeweideten Kadaver einer verendeten Antilope kreisend.

Die schwarzen Rabenvögel waren das hiesige Äquivalent, kleiner und weniger penetrant, dafür jedoch umso geschwätziger und zumeist in der Nähe der jüngsten Gefechtsstätten anzutreffen.

An ihnen haftete der Geruch von vergossenem Blut.

Trotz dessen, oder vielleicht gerade deswegen, störte ihn ihre Gesellschaft nicht – roch er nicht ebenso nach blutiger Schlacht und gewissenlosem Mord, verübt im Namen einer verzerrten Gerechtigkeit?

Verschwendung von Leben, leidend unter dem Mangel an Überzeugung und falschen, selbstsüchtigen Intentionen.

Wer starb, und wer überlebte, eine Fügung des Schicksals.

Glücksspiel.

Im Laub über ihm raschelte es, das Schlagen nachtfarbener Schwingen, und eines der Tiere segelte neben ihm zu Boden, feist und mit zerrauften Federn, legte den Kopf schief und bedachte ihn mit einem Blick aus unergründlichen Augen, in denen sich Intelligenz und Arglist spiegelten.

Umsichtig hüpfte die dreiste Krähe näher, neugierig, gelockt von dem Versprechen einer rentablen Mahlzeit, und er rührte sich nicht.

Aus welchem Grund sollte er…?

Wozu…?

Für wen…?

Plötzlich stoben sie wild schimpfend auf, ein Kieselstein verfehlte den gierig lauernden Vogel vor ihm um Haaresbreite.

Erst jetzt bemerkte er die Präsenz zu seiner Rechten.

Schritte.

Unwillkürlich verkrampften sich sämtliche Muskeln in seinem Leib.

Denn anstatt gebührenden Abstand zu halten, trat der Neuankömmling so nahe wie irgend möglich an ihn heran, distanzlos, ließ sich direkt vor ihm auf die Schienbeine nieder, bis sein Knie beinahe seinen Oberschenkel berührte.

Er blickte auf, notgedrungen.

„…“

Der Fremde starrte ihn unverblümt an, und kein Laut mochte sich seiner Kehle entringen – er war nahezu zierlich für einen männlichen Feuerdrachen, unbewaffnet, mit relativ langem, zinnoberrotem Haar und einem fein geschnittenen Antlitz, das wohl eher dem eines unbedarften Aristokratensohnes glich.

Als Kind musste er Sommersprossen gehabt haben, verblichene Flecken sprenkelten seinen Nasenrücken und die Haut über den Wangenknochen.

Irgendetwas an ihm irritierte ihn.

Er trug eine dunkelgrüne Binde am Oberarm. Ein Heiler.

Auch das noch.

Doch das war es nicht.

Ihr stummer Blickkontakt bestand, offenbarte alles und nichts zugleich, ein ewiges Fixieren und Abschätzen, und letztendlich wusste man nicht mehr oder weniger als zuvor.

Ob bedeutsam, oder nicht, wen interessierte das?

Ein Eindruck, der verging, Schall und Rauch, belanglos.

Vermeintlich.

Du…?“ brachte sein weiterhin ungläubig dreinschauendes Gegenüber nach einer Weile heraus.

Er reagierte nicht, einem Unbekannten war er keine Antwort schuldig.

„Kafteinn Logi?“ hakte der Feuerdrache, von dessen Nähe er sich mittlerweile ausgenommen belästigt fühlte, unbeirrt nach.

Der Angesprochene zog ernsthaft in Erwägung, ihm das neuerliche verschmitzte Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, und entschied sich dagegen; er vergriff sich grundsätzlich nicht an Schwächeren.

Seine Statur, die von Schläue zeugenden Züge erinnerten ihn an einen Fuchs, gerissen, klug, und wehrlos.

„Was willst du?“ brummte er missgelaunt.

Lächelnd überreichte der Fuchs ihm einen unbeschriebenen Umschlag.

„Der Bescheid ist vom herstjóri. Wir müssen morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen.“

Desinteressiert entfaltete der kafteinn das Blatt Pergamentpapier, überflog die Zeilen – und stockte, aufgrund eines einzelnen Wortes.

Degradiert…?

„Oh, entschuldige. Ich heiße Eldur“, stellte sich der Heiler verspätet vor und verbeugte sich höflich vor ihm.

Logi ignorierte die entgegenkommende Geste, zu einvernommen von der Annullierung seines über Jahre erkämpften Ranges.

„Und ich bin froh, dass du noch lebst.“

Huh?

Er blinzelte, erstaunt.

Was…?

Er besann sich, taxierte ihn mit einem misstrauischen, düsteren Blick: „Was hast du gesagt?“

„Eh?“

„Was meinst du damit, ‚du bist froh, dass ich noch lebe’?“ fragte er, sein schwankender Unterton hart und bedrohlich.

Eldur spürte die Scham des Soldaten, seine Verzweiflung, seinen Schmerz, und eine betrübende Schwermut erfasste sein Herz.

Er widerstand dem Drang, sein Mitgefühl auszudrücken, verschränkte die Finger ineinander.

„Ich war Teil des Rettungstrupps, der an die Grenzposten geschickt wurde.“

Ich habe dich mehr tot als lebendig auf dem Wall aufgefunden.

„Komm. Ich hab was für dich aufgehoben“, fügte er mit heiterer Miene hinzu, bestrebt, das heikle Sujet zu umschiffen.

In diesem Moment fiel der Groschen.

Es waren seine Augen, das linke Rotbraun, das rechte lichtes Bernstein, die unterschiedlich gefärbten Iriden des Feldheilers, die ihn maßgeblich irritierten.
 

Seine These, der füchsische Heiler wäre auf einem Auge blind, erwies sich als hinfällig.

Dafür gab es schlichtweg keine Anzeichen.

Sonderbar.

Schwerfällig und ohne jegliche Motivation folgte er dem flinken Genossen durch das Labyrinth aus Gassen und geradlinigen Straßen, die sich um die Mittagszeit füllten, lebhaft bevölkert von Geflügel und Schafen und ihren Besitzern.

Dann und wann marschierte eine Patrouille an ihnen vorbei.

„Hier entlang“, winkte Eldur ihn um die nächste Biegung und ehe er sich versah, befanden sie sich im oberen Stockwerk einer gepflegten Pension, und er verharrte unschlüssig vor der Schwelle des Zimmers, das der Heiler sich mit zwei oder drei Kameraden teilte.

Der durchwühlte indessen das Chaos unter seiner Bettstatt – und dort hortete er eine abstruse Menge an Plunder verschiedenster Art.

„Aha!“ rief er triumphierend, und warf ihm ein Paar gebrauchte Lederstiefel vor die Füße. Perplex erkannte Logi diese als seine eigenen.

„Du glaubst gar nicht, wie scharf diese Kerle auf Stiefel sind. Keinen Respekt, nicht einmal vor den Gefallenen… du drehst dich um, und schwupp, hat dir jemand die Stiefel geklaut. Unglaublich, so was…“

Er hörte nicht zu.

Was sollte er davon halten, dass er, ein Fremder, ihm, vollkommen freiwillig und uneigennützig, seine Habseligkeiten gerettet hatte…?

Überfordert strich er sich durch das halblange Haar, nicht imstande, seinen Blick von Eldurs Rücken abzuwenden.

Wieso hatte er das getan?

Verständnislos, konfus, knirschte er mit den Zähnen.

Eldur schenkte ihm einen prüfenden Seitenblick über die Schulter hinweg, und hielt unverwandt inne.

Unter sichtlicher Anstrengung zog er einen länglichen, klobigen Gegenstand aus dem Durcheinander hervor. Logis Augen weiteten sich, als ihm gewahr wurde, was genau der Heiler ausgegraben hatte.

„Es gehört dir, nicht wahr? Ein ungewöhnliches Stück.“

„Ein europäischer Anderthalbhänder“, entgegnete er matt, als er das Schwert wie eine zerbrechliche Kostbarkeit entgegen nahm und absent über die schmucklose Scheide strich.

„Hey, alles in Ordnung…?“

Der Krieger war blass, sein Atem flatterte.

Im nächsten Augenblick entglitt ihm der Fokus, seine Lider senkten sich und er brach zusammen, kippte haltlos vornüber.

Eldur handelte ohne nachzudenken und versuchte, seinen Sturz abzufangen, doch ihm wurde alsbald bewusst, dass er sich damit übernommen hatte. Das Gewicht des Soldaten riss ihn unzeremoniell mit zu Boden, und er keuchte, als sein Steiß unsanfte Bekanntschaft mit den Holzdielen schloss.

„Verdammt, Logi“, quengelte er, den Kopf des Bewusstlosen in seinem Schoß und zum Glück vergleichsweise weich gelandet, „man könnte meinen, du hättest durch deine Auszeit einige Pfunde runter.“

Absoluter Irrtum.
 

Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn, und sein Magen äußerte lautstarke Proteste.

Eindeutige Diagnose, konstatierte Eldur gedanklich.

Herforingi Fölskvi hatte ihm keine Auskunft darüber erteilt, seit wann der kafteinn apathisch unter dem Ahorn gesessen hatte, belagert von unzähligen Krähen, ohne Wasser, ohne Proviant.

Zu lange, offensichtlich.

Besorgt musterte er das bleiche Gesicht des Feuerdrachen, das, entgegen seiner Vermutung aufgrund der dunklen Augen, kaum auf einen asiatischen Einfluss hindeutete, fuhr durch das feuchte, rote Haar, das sich an den Schläfen und hinter den Ohren zu Löckchen kräuselte.

„Ich habe dir keinen Gefallen getan…“ murmelte er leise zu sich selbst.

Um Verzeihung zu bitten, war sinnlos, die Würfel waren in der Einöde der Mongolei gefallen, und dennoch tat es ihm leid.

Mit welchem Recht, welche Dreistigkeit hatte ihn besessen, eine solch folgenschwere Entscheidung zu fällen, die ihn persönlich nicht im Geringsten betraf…?

Er hatte das Gefühl gehabt, ihn würde noch etwas mit dem Diesseits verbinden… ein Trugbild?

Logis erratischer Puls beruhigte sich.

„Wärst du nicht so schwer, würde ich dich nicht so herzlos auf dem Boden versauern lassen“, seufzte er bedauernd in die Stille hinein.

Unterbewusst schloss er die Finger der rechten Hand fester um das Handgelenk des Soldaten, schob sich näher an seinen Leib heran.

Eldur ertrug die Einsamkeit des Schweigens nicht, die Leere, die Kälte, ängstigte ihn.
 

Augen wie schwarze Tinte. Wie Anthrazit.

Oder Onyx.

Die Pupillen nicht von der dazugehörigen Iris zu unterscheiden.

„Pfoten weg…“

Abweisend wandte der kafteinn den Kopf ab, sich seiner misslichen Lage sehr wohl bewusst, und die Schamesröte stieg ihm in die Wangen.

„Lass das in Zukunft besser“, meinte Eldur fürsorglich und gab das Handgelenk des Soldaten frei, „am Ende verletzt du dich dabei noch ernsthaft.“

Der murrte etwas Unverständliches und kehrte dem Feldheiler den Rücken zu, indem er sich auf die Seite drehte und sich somit seiner wohlmeinenden Berührung entzog.

Eldur lächelte verstohlen.

Er mochte sich gegen ihn sperren und jegliche Hilfe ablehnen, aber die Wärme, die er während ihrer ersten Begegnung bei ihm vermisst hatte, das Feuer in seinem Inneren war von neuem entfacht. Zwar loderte es zaghaft und unscheinbar, er nahm es trotz dessen wahr.

Und es stimmte ihn zuversichtlich.

„Ich habe die Pensionsbesitzerin gebeten, dir etwas zu essen zu machen. Das wird nicht mehr allzu lange dauern“, informierte er den unwilligen Genossen, die dünne Zudecke ordentlich über dessen zusammengerollte Form drapierend.

„Hast du Durst?“

„Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß“, erwiderte Logi gereizt, seine Stimme schwankte, betrog ihn um die Härte seiner Aussage.

Was für ein komplizierter Bursche.

Wortlos rückte er den Pott mit kaltem Tee und den Rest Lycheesaft, den er sich von gestern aufgespart hatte, in Logis Reichweite und richtete sich auf.

„Hör mal, Logi. Ich kenne dich nicht, und ich weiß nicht, ob jemand meiner Rangstufe das sagen darf, aber…“ er verstummte einen Augenblick, überdachte seine Wortwahl, fuhr dann allerdings unbeirrt fort: „Du riechst als hättest du seit Monaten kein Wasser gesehen.“

Die Resonanz blieb, wie erwartet, aus.

Demnach musste er sich nicht in Zurückhaltung üben.

„Tu deinem Körper, und insbesondere dir, etwas Gutes. Iss was, wasch dich und schlaf dich aus.

Die Betten hier sind heute unbelegt, du kannst mir also ruhig ein bisschen Gesellschaft leisten.

Ich weck dich auch, wenn du magst.“

Es liegt bei dir, was du mit deiner zweiten Chance anfängst.
 


 

***
 


 

In dem beengten Wirtshaus am Rande der westlichen Hauptstraße war die Hölle los.

Reisende, Flüchtlinge, herrenlose Krieger und Heerscharen von Soldaten pilgerten in Richtung der Vierländergrenze – oder soweit weg davon, wie es eben ging – und rasteten hier, manche suchten vergeblich eine sichere Herberge für die Nacht.

Man feierte, debattierte, beriet über die ungewisse Zukunft des Clans, und das fidele Durcheinander der verschiedensten Stimmen erschwerte es ihr ungemein, auch nur ein einziges Wort aus dem Munde ihres Gegenübers zu verstehen.

„… das letzte Bisschen Verstand verloren!“ entrüstete sich dieses gerade und stürzte eine weitere Schale chinesischen Reiswein hinunter.

Sie musterte den Jugendlichen mit wachem Blick.

„Ich glaube nicht, dass er aus dem Affekt heraus gehandelt hat. Das würde zwar zu ihm passen, aber“, sie pausierte, unablässig mit der linken Hand gestikulierend und schob sich eine getrocknete Dattel zwischen die Lippen, „so eine große Sache entscheidet man nicht von heute auf morgen. Blöd ist er ja nicht.“

Keine Manieren, dieses Mädchen, dachte er, während er ihre Trinkschalen erneut füllte. Den Ausspruch des reichlichen Bedienens hatte sie in übertriebener Form verinnerlicht.

„Wieso hat er uns dann davon nichts erzählt? Nicht einmal der Kleine wusste Bescheid, und irgendwie, würde ich meinen, geht uns das schon etwas an.“

Grummelnd lehnte er sich zurück, betrachtete verachtend das Kurzschwert, das neben ihm auf der Bank lag.

Für wen oder was hatte er eigentlich gekämpft? Und für wen würde er fortan in die Schlacht ziehen und sein Leben riskieren?

„Wir haben bis heute keinen Rückruf erhalten…“ ergänzte er niedergeschlagen.

Trotz seiner erwachsenen Haltung und dem hellen Verstand schimmerte ab und an seine unleugbare Jugend hindurch; ihr Vater hatte ihm keinerlei Anerkennung entgegengebracht, wie sehr er sich bemühen mochte, und sein älterer Bruder übte sich nunmehr in selbiger Ignoranz.

Fairness hatten beide niemals gekannt.

„Hör zu. Vielleicht nehmen wir das alles ein wenig zu persönlich. Die Verhältnisse müssen sich erst festigen, und vier verfeindete Reiche zu einen ist ein ziemliches Stück Arbeit“, sinnierte sie, die Finger in der Schüssel mit den süßen roten Datteln vergraben.

„Wir könnten ihm helfen!“ rief er aufgebracht und schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr klirrte.

„Eldsvoði, damit würden wir ihm keinen Gefallen tun. In den Augen der alten Eliten sind wir nichts als unerfahrene Kinder. Er muss es alleine schaffen, sich zu beweisen.“

Missmutig presste er die Zähne aufeinander, wandte sich von ihr ab.

„Seine Ambition wächst ihm über den Kopf, das ist Wahnsinn“, konstatierte er düsteren Tones, sein Blick schweifte durch den Raum, zu den zwielichtigen Gestalten, die am gegenüberliegenden Ecktisch hockten. Söldner. Auftragsmörder. Deserteure. Abschaum.

Eine Anarchie sondergleichen hatte er heraufbeschworen, sonst nichts.

„Vertrau ihm“, versuchte sie ihn zu besänftigen, doch er verzog bloß mürrisch das Gesicht und blaffte sie an: „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du willst dem Mörder deines Vaters Vertrauen schenken?“
 


 

***

Intermezzo.II *** Traum ohne Zukunft

Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Intermezzo.II *** Traum ohne Zukunft
 

Gedankenverloren blickte der Jugendliche aus dem Fenster, das Kinn auf der Handfläche abgestützt, beobachtete die Enten, die auf dem Teich schwammen, die Sonnenstrahlen, die sich golden durch das dichte Blättergeflecht einer alten Weide woben.

Er konnte nicht leugnen, dass er sich hier wohl und heimisch fühlte, doch es erfüllte ihn nicht, und ein winziger Teil seines Herzens sehnte sich zusehends stärker nach der Fremde und einem vollkommen anderem Leben.

Und er hatte sich bereits dazu entschieden jenem Ruf zu folgen, und alsbald seinen eigenen Weg zu beschreiten.

Entschlossen richtete er sich auf, legte Feder, Tinte und Pergament sorgfältig beiseite und wandte sich um.

Im hinteren Bereich des Raumes saß sein Vater und berechnete die Bilanzen, allerdings wusste der junge Drache, dass er ihm Gehör schenken würde, sobald er darum bat.
 

„Wie bitte?“

Der Unglaube stand dem Feuerdrachen auf die Stirn geschrieben, und sein gegenüber räusperte sich höflich.

„Ich sagte, ich möchte Soldat werden“, wiederholte er gefasst, den Blick seines Vaters geflissentlich erwidernd, und er vermochte sich einer gewissen Enttäuschung über dessen Unverständnis nicht erwehren.

Kopfschüttelnd schob der ältere Feuerdrache den Rechenschieber von sich.

„Also das…“

„Ich habe diese Langeweile satt, Vater“, begann er daraufhin eindringlich, „Es ist nicht so, als wüsste ich den friedlichen Lebensstil mit dir und Mutter nicht zu schätzen, ich bin euch dankbar, sehr sogar, wirklich.“

Immerhin hatten sie ihn bei sich aufgenommen, ein ausgesetztes Waisenkind von unbekannter Herkunft, und ihm eine umfassende Ausbildung zukommen lassen. Ihm hatte es niemals an etwas gemangelt, sie waren ausgenommen vermögend, erfolgreiche Großhändler.

Sie liebten ihn wie einen leiblichen Sohn.

Der Junge senkte den Kopf, bedrückt über die emotionalen Schulden, die er nie erstatten können würde: „Aber… mich hält es hier nicht.“

Von Anfang an, als Kleinkind, hatte es ihn in die Ferne gezogen, war er von einer inneren Ruhelosigkeit geplagt worden, die ihm in der Nacht den Schlaf verwehrte, tagsüber in die Wildnis führte. Das häufige Umziehen der kleinen Familie aufgrund des väterlichen Gewerbes befriedigte sein eigentümliches Bedürfnis jedoch nicht.

Jene Rastlosigkeit seiner Seele schürte oftmals Nervosität in ihm, beeinträchtigte seine Konzentration, umgarnte ihn mit Tagträumen, und ihren Höhepunkt erreichte sie letztlich, als die Soldaten das erste Mal in der Stadt einmarschierten.

Damals vermeinte er seine Bestimmung erkannt zu haben, das Soldatendasein faszinierte ihn.

Sein Vater seufzte, schenkte ihm dann ein aufrichtiges Lächeln.

„Ich möchte, dass du glücklich bist.“
 


 

***
 


 

Aus kindlicher Naivität heraus beging ich damals den ersten schwerwiegenden Fehler meines Lebens und wurde Soldat.
 

Aus unwissender Liebe heraus beging ich bald darauf meinen zweiten, schlief mit der falschen Frau und zerstörte unser beider Zukunft…

Akt.III *** Auf Gedeih und Verderb: Kriegerinstinkt

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"

"herstjóri" bedeutet "General"

"leiðtogi" bedeutet "Anführer"

"ofursti" bedeutet "Oberst"
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Akt.III *** Auf Gedeih und Verderb: Kriegerinstinkt
 

Die drückende Schwüle des Nachmittages war kaum zu ertragen.

Am Himmel türmten sich massige Gewitterwolken auf, in Schwarz und Violett, Dunkelgrau, meliert von den gleißenden Zacken der Blitze und dem anschließenden Rumoren des Donners, die Sonne eine fahle Scheibe hinter dunklen Dunstschleiern.

Mit zusammengekniffenen Augen blickte der alte Schäfer zu den Wolken empor, schob seine Filzkappe in den Nacken.

Ihnen stand ein heftiges Unwetter bevor, wenn er die Anzeichen recht beurteilte.

„Da braut sich was zusammen, eiwei.“

Das Blöken der Schafe erfüllte die stagnierende Luft, in der sich Hitze und Statik gleichermaßen stauten, und er bezweifelte, dass er rechtzeitig zum Abendbrot zu Hause sein würde.

Dann pfiff er durch die Zähne, und drei schwarze Schemen wetzten aus dem Schatten eines chinesischen Rotholzes an seine Seite. Hechelnd und kläffend vor Ungeduld warteten die Hunde auf seinen Befehl, und als er seinen Arm anhob, stoben sie jählings davon, in die Weite der Talebene hinaus und trieben die große Herde mit erregtem Gebell zusammen.

Zweckmäßig ließ er seinen geschulten Blick zum Horizont schweifen, und er stutzte, als sich am gegenüberliegenden Hügelhang plötzlich die Silhouetten zweier Reiter abzeichneten.

Reisende? In dieser Gegend?

Eine seltene Erscheinung.
 

„Oh je, sieh dir das an. Wir sollten uns beeilen und nach einer Unterkunft Ausschau halten, bevor der Sturm losbricht“, grübelte Eldur halblaut vor sich hin, und unwillkürlich zog er seinen Kegelhut tiefer in die Stirn, als Schutz vor den Staub aufwirbelnden Böen, die unerbittlich an ihren langen Reisemänteln zerrten.

In von Menschen besiedelten Gegenden aufzufallen brachte zumeist Komplikationen der gewalttätigen Art mit sich.

„Hm.“

Logis universale Standardantwort auf alles.

Apropos Konversation.

Dass der kafteinn keinen sonderlich gesprächigen Reisegefährten abgeben würde, hätte er sich denken können, und es überraschte den Heiler nicht ernstlich, seit nunmehr achtundvierzig Stunden Selbstgespräche zu führen oder sich mit seinem Pferd zu unterhalten.

Worüber sprach man mit jemandem, den man nicht gedacht hatte jemals wieder zu sehen?

Er kannte ihn nicht, und Logi verzichtete geflissentlich darauf, ihn kennen lernen zu wollen.

Zusammenarbeit im Ernstfall?

Ausgeschlossen.

Insgeheim dankte Eldur dem göttlichen Geschick, oder dem herstjóri, wer auch immer es verantwortete, dafür, ihnen eine Mission in diplomatischer Angelegenheit zugeteilt zu haben. Ohne den Willen zur Kooperation endeten riskante Einsätze, die oftmals untrennbar mit kämpferischen Auseinandersetzungen verbunden waren, rasch und unvermeidlich im Desaster.

Oder gleich im Tod der Involvierten.

„Los.“

Kurzerhand ergriff er die Zügel von Logis Reittier und spornte das seine schnalzend zum Galopp an.
 

Dem Regen entkamen sie nicht.

Die ersten Tropfen fielen bereits, als sie den nahe liegenden Bach in der Talnische durchquerten, und alsbald entwickelte sich aus dem leisen Nieseln ein starker Schauer, sodass man die Hand nicht mehr vor Augen sah.

Ein Wolkenbruch.

Eldur rang mit seinem Orientierungssinn und den schlechten Sichtverhältnissen, und sein scheuender Wallach erleichterte dieses Unterfangen nicht gerade.

Verbissen klammerte er sich an die nassen Lederzügel, unschlüssig, wie er reagieren sollte.

Logi hingegen schienen die widrigen Umstände keine Ungemach zu bereiten.

Durch das ohrenbetäubende Rauschen und das Donnergrollen unfähig mit ihm zu kommunizieren, auf sich gestellt, mahnte sich der Heiler zur Ruhe – die Nervosität erschütterte seine Selbstbeherrschung.

Überdies hasste er Wasser.

Als ursprünglicher Gegenpol des Feuers störte es seine Wahrnehmung, verklärte seinen Verstand bis zur Benommenheit.

Schließlich zügelte er sein Pferd und hielt inne, keuchend, vom Stress und der Anspannung überwältigt, der endgültigen Konfusion erlegen, und er atmete erleichtert auf, als Logi seine Bereitschaft signalisierte, die Führung zu übernehmen.

Aus welchem Grund sollte er das Angebot des kafteinn ausschlagen?

Zugegeben, die Heeresleitung hatte beschlossen, ihm seine Stellung für eben diese Mission abzuerkennen, und den Heiler zum leitenden Verantwortlichen zu ernennen, doch er gestand sich seine Überforderung ein und die typischen Allüren hochrangiger – meist männlicher - Soldaten waren ihm fremd.

Im Feld besaß er de facto wenig Erfahrung, warum also auf einen falschen Stolz beharren und sich aus Prinzip nicht helfen lassen?

Je eher sie einen trockenen Platz zum Rasten fanden, desto besser.

Bei solch einer Witterung verging sogar ihm gehörig die Laune.
 

Eine Weile später und um diverse strapazierte Nerven reicher, artete ihr Ritt durch das nicht besonders idyllische Nirgendwo des Ostens allmählich in eine heitere Schlammpartie aus.

Die Pferde stolperten und rutschten, haltlos im Gefälle der hügeligen Landschaft, sodass die beiden Feuerdrachen letztendlich aus Rücksicht abstiegen und sich zu Fuß einen Weg durch den knöchelhohen Morast bahnten.

Eldur schnaufte, empfand es als unnötige Quälerei, die Tortur für eine Straftat, die er nicht begangen hatte, und er fluchte innerlich auf das vermaledeite Wetter und die verdammungswürdige Abhängigkeit aller Lebewesen vom Wasserelement.

Augenscheinlich hatte er durch die Bevorzugung seiner Heilertätigkeiten einen guten Teil seiner Kondition eingebüßt.

Außer Form. Verweichlicht.

Wann hatte er das letzte Mal eine Trainingshalle betreten?

Mit dem strammen Tempo, das Logi vorlegte, konnte er nur beschwerlich mithalten.

Welche verborgenen Energien der kafteinn dafür mobilisierte, war ihm ein Rätsel, denn er aß weder ausreichend viel noch regelmäßig. Feuerquellen existierten hier im Hinterland ebenso wenig.

Ob er nachts schlief, konnte er nicht mit Bestimmtheit behaupten.

Woher rührte seine unausgesprochene Motivation?

Er richtet sich zugrunde, langsam, aber effektiv.

Ratschläge und freundliches Zusprechen seinerseits zwecklos.

Stur, ausdauernd, und verschwiegen, das war er, wie die meisten Soldaten, dabei verhältnismäßig ausgeglichen.

„Hey… Logi“, ächzte Eldur entkräftet, nach Luft japsend. Der Regen rann ihm unablässig in den Nacken.

Und das Handzeichen, das ihm Logi anstatt einer Antwort gab, verstand er beim besten Willen nicht.

Zwischen Kapitulation und der Alternative des Lamentierens schwankend, schleppte er sich voran.
 

Erlösung erfuhr er erst in den frühen Abendstunden, die Dämmerung von den düsteren Regenwolken verschleiert, als er hinter einer Anhöhe mehrere Rauchfahnen entdeckte, die sich verheißungsvoll dem verhangenen Firmament entgegen kräuselten.

Frohgemut beschleunigte Eldur seine Schritte, in stiller Hoffnung auf ein Dach über dem Kopf und ein Bett für die Nacht.
 


 

***
 


 

Die antike Holztreppe knarrte unter Logis Gewicht, das Material abgewetzt und jahrhundertealt, und Eldur folgte ihm postwendend in das obere Stockwerk, nachdem er ein paar silberne Münzen gegen eine nummerierte Plakette auf dem Tresen eingetauscht hatte.

Wucher, brummte er in sich hinein.

Ihm behagte die Vorstellung nicht, die Nacht in einer Menschenherberge verbringen zu müssen, und er pflichtete dem Soldaten bei, dass das eine ziemlich blöde Idee war, doch allemal einem feuchten Nächtigen im Freien vorzuziehen.

Jenes Argument hatte die Entscheidung besiegelt und ihm Logis Segen gesichert.

Tarnung hieß die Devise, und demgemäß wagte der Heiler es nicht, auch bloß seinen Mantel abzustreifen oder den Hut abzulegen.

Die roten Haare waren verräterisch, das Signet der Feuerdrachen, und verleiteten so manch lebensmüden Sterblichen nicht selten dazu, Zeter und Mordio zu schreien bis sich die gesamte Rotte versammelte und gemeinsam auf einen zustürmte…
 

Sobald die Türe hinter ihnen geschlossen war, entledigte sich Eldur eilig seiner durchnässten Reisegarnitur, breitete die vollgesogenen Kleidungsstücke auf dem Boden aus.

„Zieh das aus“, wandte er sich nebenbei an Logi, der apathisch in der Mitte des Raumes stand, warf ihm einen auffordernden Seitenblick zu.

Der zeigte ihm daraufhin unverhohlen den Mittelfinger.

„Entzückend“, quittierte sein Gegenüber die obszöne Geste unbeeindruckt und hob die Augenbrauen.

„Aber vor mir brauchst du dich nun wirklich nicht zu zieren“, fügte er nüchternen Tones hinzu, während er sich aus seiner Unterwäsche schälte.

Logi schnaubte, trennte sich dann jedoch folgsam von Mantel und Waffenrock, trat seine Oberbekleidung achtlos beiseite.

Eldur erwog indes einen Moment, ob er sich weigern sollte, dem nachlässigen Drachen hinterher zu räumen wie ein Zimmermädchen, oder ob er sich fügte und dazu bereit erklärte, der morgigen Harmonie zuliebe.

Nachgiebig kam er letzterem nach.

Seufzend fuhr er sich durch das klamme, zinnoberrote Haar, erleichterte Logi mit einem fixen Handgriff um seinen Kegelhut.

Als er danach mit einem Fingerschnippen die Kerze auf dem niedrigen Nachttisch entzündete, erkannte er den möglichen Anlass für den Unmut des kafteinn.

Zwei Personen, ein Bett.

Hatte der Wirt sie etwa irrtümlich für ein Pärchen gehalten?

Er selbst hielt das für unwahrscheinlich, wenn er bedachte, dass er dieselbe Tracht trug und das Geld verwaltete, allerdings, verbesserte er sich, waren Menschen törichte Wesen, und Missverständnisse und dergleichen nichts Außergewöhnliches.

Was auch immer.

„Mich stört’s nicht, wir können uns das Lager teilen. Von mir aus nehme ich mit der Wandseite vorlieb.“

Logi zuckte teilnahmslos die Schultern.

„Gut. Sieh zu, ich bin müde“, bemerkte Eldur geruhsam, ehe er unter die Wolldecke schlüpfte und die Strohmatratze wider Erwarten als annähernd bequem befand.

Im fahlen Licht des Kerzenscheins wirkten die Bandagen um den Torso des Soldaten im Vergleich zu der bronzenen Haut noch akzentuierter, weiß und befremdlich, und der Feldheiler registrierte das Zögern des anderen Feuerdrachen, sie zu lösen.

Von der grauenvollen Verwundung musste er entsprechende Narben davongetragen haben – eine permanente Erinnerung an die fürchterlichen Vorkommnisse in der Mongolei.

Es belastete ihn.

Eldur schloss die Augen, lauschte dem Rascheln von Stoff, dem melodiösen Reigen der Regentropfen im Hintergrund, und er döste bereits, als sich die Matratze schlussendlich senkte, und er die komfortable Wärme eines zweiten Leibes neben sich spürte.
 


 

***
 


 

Spätestens, als ihm das dritte Mal etwas in die Flanke stieß, und das wahrhaft in übertrieben brutaler Art und Weise, äußerte er ein misslauniges Grunzen und rückte näher an die Wand; bloß, um anschließend das Knie des unbekannten Angreifers jählings, mit unschönem Nachdruck, zwischen die Beine gerammt zu bekommen und sich fluchend und stöhnend vor Schmerz zusammenzukrümmen.

Eldur war infolgedessen definitiv wach, wenn auch nicht gänzlich bei Bewusstsein.

„Gottverdammt…“

Deswegen fuhr er zusammen und schlug instinktiv zu, als er einer abermaligen abrupten Bewegung hinter seinem Rücken gewahr wurde, und er bereute es augenblicklich, denn sein Ellbogen traf auf Widerstand.

Etwas zähflüssiges, heißes benetzte seine Haut…

Erschrocken und mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend rollte er sich auf die Seite, die nächtliche Stille des Raumes lediglich von Logis harschem Atemschöpfen, oder vielmehr seinem Ringen nach Luft, durchdrungen.

Dessen war er sich zuvor nicht bewusst gewesen.

In der Finsternis vermochte er es nicht zu sehen, dafür roch er die metallische Schwere des Blutes umso intensiver.

„Logi…?“ fragte er unsicher, seine Fingerkuppen über die verschwitzten Laken dirigierend.

„Tut mir leid, aber es war nicht gerade nett von dir, mir exakt dahin zu treten…“

Nichts.

Logi rührte sich nicht, sein gepresster Atem allgegenwärtig.

Ich sterbe und er entschuldigt sich nicht mal.

Mühselig setzte sich der Heiler auf, erleuchtete das Zimmer mittels eines zierlichen Flämmchens, das er bedächtig auf den Handflächen balancierte.

Der kafteinn lag von ihm abgewandt, regungslos, die Augen starr ins Nichts gerichtet, und zitterte.

Jegliche Körperspannung war aus seinen Muskeln gewichen.

„Logi…“

Ein dunkelrotes Blutrinnsal floss ihm über die Lippen und das Kinn, über die rechte Wange.

Sorgenvoll zog Eldur die Augenbrauen zusammen. Jemand, der dermaßen friedlos schlief, der im Schlaf keine Ruhe mehr fand und selbst im Traum noch von den Schatten der Vergangenheit verfolgt wurde, durchlitt eine persönliche, qualvolle Form der Folter.

Alpträume, denen er nicht entrinnen konnte.

Ob ihn die Seelen seiner gefallen Kameraden heimsuchten?

Oder malträtierte ihn sein Gedächtnis mit den Impressionen seiner Peiniger?

Angesichts dessen war er machtlos, und nicht imstande, dem Soldaten in seiner mentalen Pein irgendeine Linderung zu verschaffen – seines Heilertitels unwürdig.

„Hier.“

Stillschweigend, der Ausdruck in den schwarzen Iriden abwesend, blank, nahm Logi das Tuch an, welches Eldur aus seiner Gürteltasche gefischt hatte, und drückte es gegen seine blutende Nase.

Feigling.

Er traute sich nicht, seine Hand zu ergreifen und ihm dadurch stummen Beistand zu leisten, und er brachte keinen Ton heraus, seine Zunge erstarrt und wie Blei in seinem Mund, die Worte, die ihm jetzt heuchlerisch und grob erschienen, versiegt.

Die Scham und die nagende Reue, die sich in seinem Gewissen eingenistet hatten, schwollen in seiner Brust unentwegt an, drängten in seinen Verstand, schnürten ihm die Kehle zu.

Unversehens schwang er sich über die Bettkante und tränkte einen Lappen mit dem Wasser aus seiner Feldflasche, versorgte Logis Nacken mit dem kühlen Umschlag.

Der protestierte nicht, seine Schultern versteiften sich unmerklich.

Verzeih mir.

Eldurs Blick wanderte die Wirbelsäule seines Genossen hinab, zufällig, bis zu der von weißlichen Narben verunzierten Nierenpartie.

Sich selbst maßregelnd, erstickte er konsequent die Flamme in seinen Händen…
 


 

***
 


 

Es war seine Schuld.

Seine törichte Leichtfertigkeit. Sein blindes Vertrauen.

Er hatte seine Kampfgefährten und Untergebenen, Unschuldige, mit in das von ihm heraufbeschworene Verderben gerissen.

Wieso war er als einziger mit dem Leben davongekommen? Obwohl er, im Gegensatz zu seinen Kameraden, den Tod verdient hatte?

Hätte er ofursti Múspells Bedenken nicht derart fahrlässig verworfen…

Respektlos, stümperhaft, er hatte bezüglich jener Angelegenheit weder den notwendigen Ernst noch die Rationalität aufgebracht, die ihr gebührt hätten. Und eine bittere Quittung kassiert.

Dennoch hatte er die Verantwortung von sich gewiesen und gelogen. Wissentlich.

Mutwillig…?

Hatte er es tatsächlich mit Absicht getan?

Oder tischte er sich selbst eine Lüge auf, indem er behauptete, die Wahrheit nicht in einen kohärenten Satz fassen zu können?

Erbärmlich…

Versuchte er so zu fliehen? Verleugnete er die Realität…?
 

Schlaftrunken öffnete der kafteinn die Augen, blinzelte, geblendet von den Strahlen der Morgensonne.

Auf dem Dach zwitscherten Rauchschwalben.

Wieder eine fremde Holzdecke…

Verwirrt stützte Logi sich auf die Unterarme, strich sich die störenden Strähnen aus dem Gesicht.

Das Narbengewebe seines Abdomens spannte unangenehm, wenn er sich bewegte; er hatte Magenschmerzen.

Logi erinnerte sich verschwommen an die Nacht, den Traum, an Eldurs unkonventionelle Weckmethoden.

Doch die Präsenz des Heilers war verschwunden, wie aufgelöst, und er begriff: Er war allein. Die Wärme des Schlafplatzes neben ihm verflogen. Sein Geruch haftete hingegen noch immer an den Leinen.

Hatte der Fuchs seine sieben Sachen gepackt und sich einfach aus dem Staub gemacht?

Kalkulierte er seinen anormal mütterlich-protektiven Charakter ein, wohl eher nicht.

Ruckartig begab er sich in eine sitzende Position, verbat sich den Schmerzenslaut, der ihm zu entfleuchen drängte, und sammelte eilends seine Kleidung zusammen.

Wohin konnte der Idiot nur gegangen sein?

Grummelnd streifte er seine Gewänder über, band sein karmesinrotes Haar zusammen, hielt jedoch inne, als er eine Notiz in seinem Stiefelschaft entdeckte.

„Dummkopf“, entfuhr es ihm, nachdem er die akkurat geschwungenen Schriftzeichen entziffert hatte.

Grenzenlos naiv. Wie kann man derart gutgläubig sein?
 

Im Endeffekt hätte er die Frage nach seinen Beweggründen nicht hinreichend beantworten können.

Vielleicht beunruhigte ihn die Nähe zu den Menschen. Vielleicht war es die fundierte Skepsis, die er religiösen Gruppierungen gegenüber hegte.

Vielleicht beeinflusste ihn auch die immanente Gewissheit, dass er ihm etwas schuldete, und die dringende Vermutung, dass der Fuchs im Begriff war, einen dummen Fehler zu begehen.
 

Feine Nebelschwaden waberten über den weichen Torfgrund der Ebene, der Himmel und die Sonne von grauen Wolken verhüllt. Gleichsam wog eine kalte Brise das krause Gras in ihren rauen Armen.

Logi ließ seinen Blick schweifen.

Das offene Terrain verunsicherte ihn, bescherte ihm das alarmierende Gefühl, im Nachteil, den Spähern eines imaginären Feindes ausgeliefert zu sein. Leichte Beute auf einem Silbertablett serviert.

Mitunter übermannten ihn seine Paranoia.

Er war nervös.

Insofern begrüßte er die Suche nach Eldurs Fährte, ein nette Zerstreuung trotz ihrer Kurzweiligkeit, und es erwies sich als Kinderspiel, den einsamen Hufabdrücken zu folgen.

Nach einer Weile zügelte er sein Pferd, dort, wo sich mehrere Spuren kreuzten, aufeinander zuliefen und stieg aus dem Sattel.

Zwar bestätigte sich sein Verdacht nicht, er konnte keine Anzeichen für eine kämpferische Auseinandersetzung ermitteln, den nachgiebigen Boden sorgfältig inspizierend, doch die offenkundige Konstellation mochte ihm nicht gefallen.

Fünf potentielle Gegner.

Eldur hatte sich ihnen widerstandslos angeschlossen. Oder sie hatten ihn zur Aufgabe zwingen können, ohne Waffengewalt, die Anwendung von Feuertechniken oder gar Druck durch einen Drachen in seiner wahren Gestalt.

Nachdenklich betrachtete Logi den Horizont.

Umkehren zog er nicht in Erwägung.
 

In den Außenbezirken der Stadt verlor sich jedweder Anhaltspunkt auf den Verbleib der sechs Reiter.

Menschenstadt, präzisierte er gedanklich.

Wie einfältig, wie blöd konnte man sein?

Sich in einer Siedlung einzuquartieren, in der man hervorstach wie ein bunter Hund. Nicht alle Sterblichen rannten gänzlich blind durch ihr vergängliches Leben und einige waren zweifellos fähig, einen Feuerdrachen von ihresgleichen zu unterscheiden.

Fanatiker und Götzenanbeter eigneten sich nicht als Krieger.
 

Tod und Elend.

Verwahrloste Baracken, eng aneinander gepfercht, und schlammige Gassen, leere Straßen und Stallungen, und niedergebrannte Scheunen prägten das Stadtbild, trostlos, der Geruch von Unrat und Angstschweiß unerträglich.

Hinter den dürftig mit Stroh isolierten Fenstern und abgehangenen Türen erspähte er die bleichen, geisterhaften Gesichter der einstigen Bewohner, die sich furchtsam, wie verschrecktes Vieh, in ihren Behausungen verschanzten, sich vor einem namenlosen Übel versteckten.

Scheele Blicke musterten den Neuankömmling, teils verschreckt, teils argwöhnisch.

Also keine friedfertige Sekte, die eine Menschensiedlung als Camouflage benutzte…

Für Logi bedeutete das: keine Gnade. Keine Zurückhaltung.

Ansonsten veranstalteten sie noch eines ihrer kultischen Rituale, absonderliche Festivals, während dem sie ihm die Pulsadern aufschlitzten und mit seinem Blut ihrem Gott huldigten oder dergleichen.

An solchen Erfahrungen hegte er wenig Interesse.

Dann vernahm er plötzlich Schritte, das aufgebrachte, heisere Wispern von Stimmen und ein dumpfes Poltern.

Im Morast verstreute Früchte, die wohl als Opfergabe für den hiesigen Tempel hätten dienen sollen, kennzeichneten den dazugehörigen Hauseingang; ein Holzkorb lag auf der Schwelle, dahinter stand ein Mädchen, leichenblass und bebend vor Angst, die Hände gegen ihre Brust gepresst. Die alte Frau, deren Antlitz von harten Jahren der Entbehrung gezeichnet war, zerfurcht und sonnengegerbt, schob sie entschlossen beiseite, ihr Ausdruck finster, unnachgiebig.

Jemand, der nichts zu verlieren hat…

Furchtlos sah sie dem kafteinn in die Augen, und sie wusste, dass er der Rasse ihrer Unterdrücker angehörte. Sie wusste es.

Aber das war nicht alles.

Ein Mensch, der die Intentionen eines Feuerdrachen durchschaut…

Mit einer unmissverständlichen Geste wies sie gen Stadtzentrum, und Logi dankte ihr stillschweigend, deutete ein Nicken an.

Die Blindheit der Alten für das hässliche, reale Angesicht ihrer Welt bemerkte er nicht.

„Mutter, bitte. Komm hinein“, flehte das Mädchen.

„Er wird uns retten. Warum er auch hier ist, er wird uns von diesem Fluch befreien…“
 


 

***
 


 

„Was machen wir mit ihm? Der Orden bedarf keinerlei Geiseln.“

„Wir werden diesem Dilettanten aus dem Süden eine Lektion erteilen“, brauste eines der jüngeren Ordensmitglieder empört auf, „Wir werden ihn lehren, was es bedeutet, sich mit uns anzulegen.“

„Uns einen Ketzer als Verhandlungspartner zu schicken! Uns zu verhöhnen!“ entrüstete sich ein anderer.

„Schlagt dem Sünder den Kopf ab!“ rief jemand aus der hinteren Reihe erbost, die Hand bereits am Schwert.

„Nein, den Arm!“ korrigierte ihn sein Nebenmann barsch: „Sollen wir uns etwa Nachlässigkeit oder gar Betrügerei nachsagen lassen?“

„Hier wird heute kein Blut fließen“, vermerkte eine gefasste Stimme aus dem abseitigen Bereich des Lagerraumes, was die Aufmerksamkeit der vermummten Gestalten abrupt einforderte.

„Verschiebt das auf morgen. Wir werden ihn unter dem Vollmond opfern…“ eröffnete die Gestalt im Halbdunkel, die Lippen zu einem vorfreudigen Grinsen verzogen und die Zähne gebleckt. Eine schadenfrohe Grimasse des Wahnsinns.
 

Eldur lauschte.

Zur Unbeweglichkeit verdammt, auf dem kalten Boden kniend, an Händen und Knöcheln gefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen, blieb ihm nichts anderes übrig.

Wehrlos, machtlos.

Sie hatten die Feuerenergie in seinem Inneren versiegelt, und somit seine Möglichkeiten zur Gegenwehr vernichtet; er war bei Bewusstsein, seine Wahrnehmung jedoch auf ein Minimum reduziert, trübe.

Die Kante des Holzpfeilers presste unangenehm in sein Rückgrat.

Noch konnte er die aufschäumenden Wogen leiser Panik kontrollieren und zurückdrängen, noch.

Eine Frage der Zeit.

Seine geschundenen Muskeln zitterten vor Anspannung, überanstrengt von der widrigen Körperhaltung, und vor der Kälte, die die entblößte Haut seiner Brust und seiner Schulterblätter streifte.

Gleichsam intensiv empfand er die krampfartigen Schmerzen in seinem rechten Unterarm.

Natürlich hatten sie es entdeckt…

An die morgige Vollmondnacht wollte er nicht denken. Sie würden ihm einen grausamen Tod bereiten, gläubige Drachen lebten ihre Religion, beugten sich ihrem vermeintlichen Gott bis zum blutigen Exzess, und die Barmherzigkeit der Heiligen wurde nicht an Ketzer wie ihn vergeudet.

Gezeichnet durch das schwarze Stigma der Sünder…
 


 

***
 


 

„Eine Sünde so schwer, so offensichtlich, Todsünde, und das schwarze Zeichen steht dir gut, Sünder, Sünder.

Es stinkt, dass man die Engelchen zum Himmel hinaus rauchen könnt.

Glaubst du nicht, dass du ein solches Urteil verdienst? Dachtest du, sie würden dich nicht richten…? Dachtest du, du könntest entkommen?

Deine Jugend rettet dich nicht.“
 

Die Kälte der anbrechenden Nacht, flankiert von den alten Geschichten seiner Vergangenheit, zermürbte ihn zusehends, und dieses ewige Warten in Ungewissheit, verbannt in die Einsamkeit der Finsternis, die sich ihm aufdrängte, ängstigte ihn.

Nichts als grenzenlose Schwärze.

Seines inneren Feuers beraubt, spürte er lediglich das verzehrende Brennen der Bannsiegel auf der Innenseite seiner Handgelenke, die Haut wundgescheuert von den engen Seilfesseln, und ein tiefgehendes Unwohlsein, das ihm mit Übelkeit auf den Magen schlug.

Wie ein Schwerverbrecher, ein gemeiner Mörder angekettet und zum Tode verurteilt, isoliert, die Verachtung der Sektenmitglieder beinahe ein vernehmliches Summen in der eisigen Luft – sein Verstand verweigerte sich vehement, lediglich ein Gedanke flagrant.

Wenigstens, so hoffte er, hatte er Logi vor einer weiteren katastrophalen Lage bewahrt. Solange der kafteinn sein Trauma nicht überwand, das Geschehene verarbeitete und zu akzeptieren lernte, würde ihn die nächste schlimme Erfahrung in den Wahnsinn treiben, dessen war er sich sicher.

Im Grund erging es ihnen in dieser Hinsicht ähnlich.

Ob Logi ebenso mit sich rang, wie er es tat, ob es ihm ebenso sehr widerstrebte, sich selbst zu vergeben…?

Wahrscheinlich nicht. Was auch…?

Er war keiner von der üblen Sorte, denjenigen, die ihren eigenen Kameraden einen Dolch in den Rücken stießen.
 

„Du glaubst also nicht an Gott, Junge?

Was weiß ein närrisches Kind wie du schon von der Welt?

Weil sie schlecht und ungerecht ist, sagst du?

Du rechtfertigst deine Gottlosigkeit damit, dass du deine eigenen Entscheidungen getroffen hast, treffen durftest, deine Freiheit ausgeschöpft, und sich dir nun die unerfreulichen Konsequenzen offenbaren?

Weil du nie hast Hunger leiden müssen, die Not nicht kennst, die der Mangel erwirkt?“
 

Mit einem Mal klärte sich der kompakte Dunst, der seine Sinne umfing, für einen Augenblick, und der vage Geruch von frischem Blut und verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase, aufdringlich, scharf.

Seinen aufbegehrenden Würgereiz unterdrückend, zuckte er zusammen, als er sich der gegensätzlichen Berührung von Hitze und kühlem Stahl gewahr wurde, im Nacken, am Oberarm.

„Keinen Mucks“, raunte ihm eine dunkle Stimme ins Ohr, und der Heiler schauderte, sein Rücken versteifte sich, der warme Atem des ihm nicht unbekannten Drachen so unerwartet nah.

Die Erleichterung und der Anklang einer profunden Dankbarkeit übertrumpften seinen unterschwelligen Ärger über den Ungehorsam des anderen.

Dessen schlanke Finger stahlen sich währenddessen zwischen seine Lippen, in seinen Mund und befreiten ihn von dem lästigen Baumwollknebel, sodass er das trockene, pelzige Gefühl endlich hinunter schlucken konnte. Die raue Handfläche verhinderte jedoch geflissentlich sein beabsichtigtes Durchatmen, unterband seinen intendierten Protest erfolgreich.

„Wie viele?“

Eldur wusste es nicht, schwieg befangen. Zehn? Zwanzig? Oder wesentlich mehr?

Wirklich, er war keine große Hilfe.

Unnötig. Ballast.

Leise grummelnd verlagerte der Feuerdrache hinter ihm sein Gewicht, presste die Klinge seines Schwertes in die Flachsfesseln, beflissen, den Gefangenen nicht zu verletzen.
 

Dann richtete sich der kafteinn auf, seine Präsenz unverhohlen und militant, und seine Haltung, aggressiv, offensiv, bekannte seine unmittelbare Kampfbereitschaft.

Silbrig schimmernd schnitt die Schneide des Anderthalbhänders durch die Düsternis, und die eiserne Entschlossenheit, die brachiale Gewalt, mit der Logi schließlich auf seine selbst ernannten Gegner losstürmte, entsetzten ihn regelrecht.

Dieser animalische Schatten, der seine Züge überlagerte und verzerrte, die unglaubliche Stärke und Brutalität, mit der er zu Werke schritt, das Schwert in die nachgiebigen Leiber seiner Kontrahenten trieb, mitunter durch diese hindurch, und die Unmengen an Blut, die er vergoss ohne den Bruchteil eines Momentes zu zögern…

Dabei interessierten ihn die erzielten Treffer der Widersacher nicht.

Er war gefährlich. Ein Berserker.

Bang verharrte Eldur in seiner kauernden Position, das Szenario vor ihm unbegreiflich, und den Blick auf den breiten Rücken des Soldaten fixiert, der sich mühelos, oder so schien es ihm, eine Schneise durch die Reihe der Ordensmitglieder drosch.

Sprachlos, wie gelähmt verharrte er, niedergedrückt von der hitzigen Feuerenergie, die die Materie der Lagerhalle aufzuzehren drohte.

Ehe er nachvollziehen konnte, was um ihn herum geschah, fühlte er sich grob am Arm gepackt und auf die Beine gezerrt, wodurch ihm der Schwindel unbarmherzig in den Kopf schoss. Schwankend stolperte er vorwärts, fing sich, indem er die Hände in Logis Kleidung vergrub.

Die Spannung der Muskeln darunter schätzte er als alarmierend ein.

„Wie hast du mich gefunden?“ wisperte er, dem harschen Kontrast zwischen Totenstille und lautstarkem Tumult des unausgeglichenen Gefechts überdrüssig.

Daraufhin fasste Logi ihn brüsk an der bloßen Schulter und zwang ihn wieder auf Distanz. In den pechschwarzen Iriden schwelte eine gestaltlose Härte und konsequente Unnachgiebigkeit.

„Wieso haben sie mir jemand mitgeschickt, der sich nicht mal selbst verteidigen kann?“

„…“

Stumm wandte der Angesprochene das Gesicht ab, sich seiner Untauglichkeit bitterlich bewusst.

„Wieso?“ herrschte der kafteinn ihn erneut an, festigte seinen unerbittlichen Griff um den Schlüsselbeinknochen des anderen Drachen.

Der keuchte mitgenommen, wehrte sich aber nicht gegen die schmerzliche und unangebrachte Handlung.

„Ich…“ setzte Eldur ein wenig überfordert an, die Erschöpfung seines Körpers mittlerweile obsiegend, „also… es wurden Zweifel laut, was deine Person angeht-“

„Weil sie glauben, ich wär ein Irrer, der seine Kameraden gemeuchelt hat“, beendete Logi, ihm sauber das Wort abschneidend, den Satz.

Eldur verneinte knapp: „Ich glaube das nicht. Ich-“

„Deine Meinung bedeutet nichts.“

Und die Endgültigkeit dieser Äußerung entsprach unglücklicherweise der Realität. Nichtsdestoweniger erschreckte und kränkte es ihn zugleich, dass Logi seine Anschauung derart direkt für nichtig erklärte und kaltblütig liquidierte.

„Ich weiß…“
 


 

***
 


 

„Leiðtogi.“

Das monotone Klappern der Pferdehufe, das Geräusch der im Gleichschritt marschierenden Eskorte vernachlässigend, schaute er auf: „Was ist?“

Der Bote räusperte sich, seine verkrampfte Haltung und der abgewandte Blick dabei Beweis genug für sein nervöses Unwohlsein.

„Die Mongolen…“ begann er mit zittriger Stimme, und Hraunar horchte auf.

„Sie haben ihre Antwort geschickt.“

Schluckend vergrub der junge Feuerdrache die Hände in der dichten Mähne seines Pferdes.

„Köpfe in Lackschachteln…“ presste er hervor.

„Was?“ entgegnete der Höherrangige verständnislos, seine Züge verfinsterten sich.

„Sie haben unsere Kuriere enthauptet und Ihre Köpfe in Lackschachteln zurückgesandt…“

Hraunar Mundwinkel zuckten, doch er ließ sich die siedend heiße Wut, die nun in ihm aufwallte, nicht anderweitig anmerken, wahrte ein indifferentes Antlitz.

„Ist das so…“ sagte er tonlos.

„Ich habe eine Botschaft für herstjóri Hörvir.“

Hastig nickend bezeugte der Bote seine Verfügbarkeit und zog einen Kohlestift und Pergamentpapier hervor.

„Töte den Khan der mongolischen Streitkräfte. Außerdem jeden, der kein Krieger ist.“

Zeit, ein Exempel zu statuieren…
 


 

***
 


 

Sicheren Schrittes trotteten die beiden Pferde hintereinander durch das gigantische Meer aus leuchtend roten Mohnblüten, das in der sanften Brise wogte, schnappten ab und an dreist nach vereinzelten Grashalmen, und genossen zufrieden schnaubend und kauend die ruhige Rückreise bei sonnigem Wetter.

Logi ritt voran, Eldur folgte, den Blick abwesend in die Landschaft gerichtet.

Zumindest hielt er den Mund.

Obwohl er ziemlich bedrückt wirkte, störte ihn das nicht ernstlich; der Fuchs hatte keinen Grund sich zu beschweren. Immerhin hatte er ihn ausfindig machen können, bevor diese Fanatiker dazu gekommen waren, ihm das sommersprossige Fell über die spitzen Ohren zu ziehen.

Glückskind.

Derzeitig starrte er apathisch vor sich hin, mehr oder weniger bis zum Kinn versunken in dem viel zu großen – teilweise blutbefleckten - Reisemantel, den der kafteinn ihm zuvor geliehen hatte. Beklagt hatte er sich über jenen Makel nicht, überhaupt hatte er kein Wort mit ihm gewechselt, seitdem sie die Stadt verlassen hatten.

Die oberflächliche Idylle täuschte.
 

An einem schmalen Bachlauf gebot Logi zum Halt.

Entgegen der milden Temperaturen fröstelte der Heiler noch immer, und er wollte nicht riskieren, dass er irgendwann unbemerkt aus dem Sattel kippte und er ihn womöglich noch in den Unweiten dieses dämlichen Mohnfeldes suchen musste.

Innerlich murrend stieg der Soldat ab und begab sich aus den Schatten einiger Birken hinaus in die Sonne, in der Wärme ihrer Strahlen auf seinen baren Hautpartien schwelgend.

Indessen glitt Eldur vom Rücken seines Reittieres und wankte ans Ufer der Wasserstelle, wo er ermattet auf die Knie ging und den rechten Arm bis zum Ellbogen unter die Oberfläche tauchte.

Das Spiegelbild seines bleichen Gesichtes blickte ihm starr entgegen, und er schloss, angewidert von sich selbst, die Augen.

Dieses verfluchte Brandmal, eingraviert in seinen Unterarm und sein Gedächtnis…

„Arthritis“, murmelte er entschuldigend, als er den kafteinn passierte.
 

Eines wurde Eldur schmerzlich bewusst: sollte Logi sich, aus welchen Gründen auch immer, dazu entschließen sich seiner zu entledigen, war er verloren, seiner Willkür auf Gedeih und Verderb ausgesetzt. Logi war nicht gefährlich, weil er sich am Leid seiner Gegenspieler weidete oder sein perverses Vergnügen im Töten auslebte. Nein. Sondern weil er dem mit Gleichgültigkeit begegnete.

Gegen einen Krieger dieses Kalibers konnte er nie und nimmer bestehen, chancenlos.
 


 

***
 


 

»Der Süden steht hinter Euch, leiðtogi, ohne Einschränkungen.

Der Westen hat angesichts des Sturzes der vier Herrscher bedingungslos kapituliert, und die militärischen Führungspersönlichkeiten haben ihre Bereitschaft beteuert, sich freiwillig Eurer Autorität zu beugen.

Sie ersuchen das Gespräch mit Euch, um Einzelheiten zu klären.

Es gibt keinerlei Hinweise auf Opposition oder einen drohenden Putsch.

Der Osten steuert derweil einem Bürgerkrieg entgegen.

Gleich mehrere der mächtigen Splittergruppen haben dem Süden und seinen Verbündeten den Krieg erklärt, der Rest hält sich bedeckt und lässt sich nicht auf fadenscheinige Bedingungen festnageln. Sie lehnen jedoch entschieden ab, sich einem Feuerdrachen aus dem Süden mit nichtssagendem Namen zu unterwerfen.

Vor allem passiver Widerstand der Geistlichen, Gläubigen und Zivilbevölkerung, allerdings konzentrieren sich die aggressiven Kräfte an gewissen Brennpunkten.

Dass sich der herstjóri und einige andere hochrangige Soldaten bereits zu Euch bekannt haben, beurteilen sie als Verrat.

Der Norden hingegen hat sich geschlossen dagegen ausgesprochen, Euch als leiðtogi zu akzeptieren und lehnt jedwede Verhandlung ab. Ihre provisorische Militärregierung zieht die Truppen an der Grenze zusammen und wappnet sich zum Kampf.«
 

Verstimmt ließ Hraunar den Lagebericht zwischen seinen Fingern in Flammen aufgehen, woraufhin schwarze Ascheflocken im aufkommenden Wind in alle vier Himmelsrichtungen davon stoben.

Ein Ärgernis, wie sich diese Narren benahmen, als würden sie es prinzipiell ablehnen, ein Friedenskonzept anzunehmen.

Halsstarrige Reaktionäre.

Was versprachen sie sich davon?

Ihre Tradition über das Wohlergehen ihrer Untergebenen zu erheben, und diese wehrten sich nicht dagegen, im Irrglauben, ihre ausnahmslos militärischen Befehlshaber wären im Recht.

Sie verschwendeten seine Zeit…

„Hraunar…?“

Das Kleinkind, das bis jetzt still auf seinem Schoß gesessen hatte, zupfte behutsam an seinem Ärmel.

„Wieso tun sie das, Hraunar? Wieso wenden sie sich gegen ihre eigenen Genossen?

Wir gehören doch alle demselben Clan an, sie sind doch genauso Feuerdrachen, wie wir auch…“

„Frag mich einmal was, das ich weiß, Neisti“, entgegnete er mürrisch, den Blick auf einen imaginären Punkt in der Ferne fokussiert.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich der Junge gedrückt.
 

Was hatte den Clan einstmals zusammengehalten? Was hatte sich seitdem so grundlegend verändert?

Bevor die Sippenfehden die einstige Einheit der Feuerdrachen unter Helvíti zerrissen…

„Rok.“
 


 

***

Akt.IV *** Gespenster der Gegenwart: Illusorische Katharsis

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"

"herstjóri" bedeutet "General"

"leiðtogi" bedeutet "Anführer"

"ofursti" bedeutet "Oberst"
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Akt.IV *** Gespenster der Gegenwart: Illusorische Katharsis
 

„Hey.“

Nichts.

„Eldsvoði.“

Keine Reaktion.

„Wach.Auf.“ diktierte die nicht mehr allzu lieblich klingende Frauenstimme gefährliche nahe an seinem Ohr.

Dennoch hörte sie sich für ihn noch etwas zu gefasst, zu mild an, als dass er in Erwägung gezogen hätte, sich aus seinem komatösen Rauschzustand empor zu kämpfen. Die Schwerelosigkeit, die ihn in ihre süßen Fäden wob, ihn lockte, mit zärtlichen Fingern liebkoste, verführte ihn aufs Neue und er dämmerte wieder in die Bewusstlosigkeit, die Wonne der Vergessenheit hinweg…

Bis irgendetwas Hartes gewaltsam mit seinem Kiefer kollidierte, möglicherweise eine leere Tonflasche, und demzufolge ein ungesundes Knirschen durch seinen vernebelten Schädel dröhnte.

Ob er um seine Zähne bangen sollte…?

„Komm zu dir, du besoffener Penner!“ schallte es durch die gesamte Herberge, und er schlug gezwungenermaßen die Augen auf, keuchend und nach seinem lädierten Unterkieferknochen tastend.

Die Faust des Zorns, zweifellos.

Askas Signatur.

„Was los…?“ lallte er halblaut, seine Zunge und Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Elende Verräter.

„Elds-vo-ði!“ rügte sie ihn nachdrücklich, und erst in diesem Augenblick bemerkte er das Zerren an seinem Arm, und er hoffte halbherzig, dass Aska ihm damit nicht die Schulter auskugeln würde. Das wäre vergleichsweise schlecht.

„Herrgott, Eldsvoði, muss ich deinen Namen ausbuchstabieren oder warum läuft’s nicht?!“
 

Nach ungefähr einer Stunde ununterbrochenem Schreien und Zetern ließ sich Aska erschöpft neben ihm auf den Boden sinken, trat die Keramikschalen zur Seite und stieß ihm misslaunig den Ellbogen in die Flanke.

Sie kapitulierte.

„Hörst du mich?“

Eldsvoði gab einen unbestimmten Laut von sich, rang mit der Übelkeit, die seinen Magen überwältigte.

„Tee?“ fragte sie beinahe sacht nach, strich ihm zärtlich über die blasse Stirn und durchs Haar.

Zu betrunken, um einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. Oder er wandelte wieder auf einem seiner berüchtigten Drogentrips.

Der Unterschied war verschwindend gering.

So ein Idiot.
 


 

***
 


 

Eldur hasste Missionsberichte.

Der im Aufschwung befindliche Bürokratismus, ein Apparat geschaffen von der Heeresleitung zur Maximierung der Kontrolle, ein System, das Gesetze und Regeln über Rechte und Bedürfnisse, über das Wohlergehen des Individuums, gleich seiner Position, stellte; er zerstörte die ursprüngliche Dynamik zwischen Soldaten und deren Vorgesetzten, raffte das traditionelle Wesen des Clans und seiner Streitkräfte dahin.

Eine bedenkliche Entwicklung, befand er im Stillen.

Seufzend schlurfte der Heiler den halbseitig offenen Gang entlang, den sorgfältig gestalteten Garten nach japanischem Vorbild versonnen betrachtend. Das geruhsame Plätschern des kleinen Teiches und das Rauschen des Windes in den Ziersträuchern registrierte er am Rande seines Bewusstseins, in Gedanken versunken.

Logis Rohheit beunruhigte ihn noch immer…

Hinter der nächsten Biegung hielt er inne, klopfte zögerlich an die geschlossene Schiebetür.

„Herein!“

Geneigten Hauptes trat Eldur ein, unwillig, steif, verbeugte sich förmlich.

Als er niederkniete und anschließend aufblickte, staunte er nicht schlecht: auf dem Holzboden des sonnendurchfluteten Raumes saß, nachlässig im Schneidersitz, herforingi Fölskvi.

Es war mehr als ungewohnt, ihn nicht in Militärstracht zu sehen, und die hellen, weiten Gewänder akzentuierten die für ihn ungewöhnliche Blässe seiner Züge.

„Herforingi, Ihr…?“

Der Soldat begrüßte ihn lächelnd - vermochte damit jedoch nicht die gewichtige Müdigkeit zu verbergen, die sein Gesicht prägte.

„Keine Sorge, ich bin nicht zum Beamten befördert worden. Zum Glück. Nur vorübergehend vom aktiven Dienst suspendiert“, erklärte Fölskvi kurzerhand und forderte ihn mit einem nonchalanten Wink auf, näher zu kommen.

„Aus gesundheitlichen Gründen…?“ hakte er befangen nach.

Dem Kompanieführer entging keineswegs der wache, analytische Blick seines Genossen, und eine flüchtige Warngestik seinerseits genügte, um ihm das Tabu um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen.

Demgemäß verbat Eldur sich wohlweislich eine weitere Anmerkung in dieser Richtung.

„Und? Wie ist’s gelaufen?“ verlangte der herforingi dann in einem lässigeren Ton zu wissen, die Hände in seinem Schoß gefaltet: „Die meisten haben darauf gewettet, dass du nicht einmal in einem Stück wiederkommst.“

Eldur legte den Kopf schief.

„Wie meinen…?“

„Wie hat sich Logi während der Mission angestellt?“

Nachdenklich fuhr sich der Heiler durchs Haar, zauderte mit seiner Antwort, denn ihm war bewusst, was seine Worte anrichten konnten, wenn er sie nicht mit Bedacht abwog und wählte.

„An seinen soldatischen Fähigkeiten zweifle ich nicht.

Er ist flexibel, sehr ruhig, und… er tut, was man ihm sagt“, meinte er letztlich, die Respektlosigkeit des kafteinn in solchen Angelegenheiten vorsätzlich unterschlagend.

Fölskvi durchschaute ihn augenblicklich, und die dunkelgrünen Iriden blitzten: „Soso.

Hör zu, Eldur. Ich will keine Fragestunde veranstalten, und unter uns: du bist ein mieser Lügner.

Ich will hören, was du über ihn denkst. Ernsthaft – ob er in der Lage ist, die Aufgaben, die sein Rang verlangt, weiterhin auszuführen oder ob er eine Gefahr für seine Umwelt darstellt.“

Missmutig presste der Feuerdrache die Lippen aufeinander, fügte sich aber gleichermaßen dem Befehl des Höherrangigen.

„Ich denke, der Vorfall in der Mongolei belastet ihn ziemlich. Er sondert sich ab. Sein körperliches Wohl interessiert ihn überhaupt nicht, er ist unvernünftig und respektlos und vollkommen unkommunikativ.

Zudem fürchte ich… dass er gefährlich ist, überdurchschnittlich gewaltbereit. Dabei psychisch labil. Die Sicherheit in seiner Nähe würde ich nicht unbedingt garantieren.

Um ehrlich zu sein, ich würde ihn in ärztliche Obhut empfehlen.“

Abwesend begutachtete Fölskvi die Schattenmuster auf dem lichten Holzdielen, das karierte Spielfeld auf dem niedrigen Tisch vor ihm, darüber amüsiert, dass Eldur gerade die Gewaltbereitschaft des Frontsoldaten dergestalt unterstrich.

Wie heillos naiv konnte man sein?

Entzog es sich tatsächlich seinem Wissen, durch welche Verdienste und Leistungen man sich im Militär eine bessere Stellung zu sichern vermochte…?

„Hat er eine Chance? Oder ist er ein hoffnungsloser Fall?“ richtete er sich wieder an Eldur, die Stimme träge und beschwert von seiner physischen Erschöpfung.

„Mit viel Arbeit sehe ich für ihn durchaus Aussichten auf Erfolg“, erwiderte sein Gegenüber prompt, als würde er seine aufrichtige, aber negativ behaftete Einschätzung des kafteinn bereuen, „Er ist kein gestörter Meuchelmörder mit einem bis zur Unkenntlichkeit verdorbenem Charakter, er-“

Ich verdanke ihm mein Leben.

Eldur brachte es nicht heraus.

„Er hat sich seinen kameradschaftlichen Geist bewahrt.“

„Hm, verstehe. Gut. Viel Spaß!“

Verwirrt sah ihn der Feldheiler an: „Huh…?“

Vergnügt grinsend wedelte der herforingi etwas unbeholfen mit der schwarzen Springerfigur zwischen seinen Fingern, ehe er sie auf das Feld setzte.

„Ärztliche Betreuung und so. Das kann ich bedenkenlos dir überlassen.“

Der Ausdruck des jüngeren Drachen entgleiste.

„…“

„Auf eine Partie…?“
 

Die Tür zum Privatbereich des Zimmers war halbwegs aufgeschoben.

Vor dem zerwühlten Lager stand ein Tablett mit zahlreichen, reichlich gefüllten Schüsseln und Schalen, die weitaus mehr entsprachen als der üblichen Tagesration eines Kriegers, und Eldur musste nicht zweimal hinsehen, um einen korrespondierenden Schluss daraus ziehen zu können.

Fölskvi hatte die Mahlzeit nicht angerührt, und auch dem Papiertütchen neben seinem Kissen hatte er keine Aufmerksamkeit gewidmet.

Als er den herforingi im letzten Spätherbst kennen gelernt hatte, blutüberströmt und fluchend, weil er sich im Gefecht den gesamten rechten Arm aufgerissen hatte, war ihm nichts dergleichen aufgefallen…

Es fiel ihm ausgesprochen schwer, das Thema auszuschweigen und sich nicht besorgt dazu zu äußern.

Allerdings hatte ihn die erbitterte Härte in den Augen seines Kameraden eines besseren belehrt – eine unmissverständliche Verwarnung.

„Woher kennt Ihr ihn?“

„Wen…?“

Er räusperte sich, perplex, dass er laut gesprochen hatte.

„Logi.“

Der schwarze Turm schlug den weißen Läufer.

„Sein Bruder und ich waren im selben Regiment“, gab der Offizier zurück, „Ich habe ihn nach seiner Ankunft hier am Tempel gesehen und mich erkundigt. Die beiden ähneln sich sehr. Mit ihm sprechen durfte ich nicht, Hörvir hält ihn für einen Kollaborateur, paranoid, wie er zurzeit ist.“

Patt.

„Ach, und Eldur, noch etwas…“
 


 

***
 


 

Auf dem Hof begegnete er Brigadier Kopar, und er salutierte verwundert, als dieser wortlos, und nach seinem unleserlichen Gesichtsausdruck zu urteilen, vergrämt, an ihm vorbei marschierte.
 

Zerknirscht, und noch immer etwas konfus, machte Eldur sich auf den Weg zur Kaserne, obschon er ernstlich bezweifelte, dass er Logi dort antreffen würde.

Die simple Frage, wohin der kafteinn nach ihrer gestrigen Rückkehr in die südliche Hauptstadt verschwunden war, konnte er nicht beantworten.

Herforingi Fölskvi ahnte nicht, wie viel er von ihm verlangte.

Womöglich zu viel, fürchtete Eldur insgeheim.

Er allein sollte die Verantwortung für Logi und dessen psychische Genesung übernehmen?

Dabei besaß der Feldheiler weder die notwendige Erfahrung auf diesem komplizierten Gebiet noch hatte er den Hauch einer Ahnung, wie er mit dem Soldaten im Allgemeinen umgehen sollte, besonders jetzt, nachdem er ihn in blutiger Aktion gesehen hatte, um die Problematik einer anständigen Therapie gar nicht erst anzusprechen.

Logis Vertrauen zu gewinnen, sich mental dem stoischen Feuerdrachen anzunähern, sodass dieser es wenigstens tolerierte, und der dazu erforderliche Zeitaufwand, das klang in seinen Ohren bereits wie ein Ding der Unmöglichkeit.

Wie sollte er das bitteschön anstellen?

Was für eine Schnapsidee.

Fölskvi überschätzte seine Fähigkeiten, maßlos, bürdete ihm einen Auftrag auf, eine Pflicht, die er kaum erfüllen können würde.

Einerseits stieß es ihm sauer auf, diese Verfügung über seine Person und auch Logis, nach dem Gutdünken eines Einzelnen, der über sie entschied und sie im Grunde zu jeglicher Tätigkeit abkommandieren durfte, die ihm gegenwärtig sinnvoll erschien.

Andererseits vermutete er, dass ihm die alternativen Vorschläge in diesem Punkt nicht gefallen würden, dass Fölskvis Motivation keineswegs seiner Spontaneität entsprungen war, sondern auf Kenntnissen gründet, die ihm selbst fehlten.

Mit fundierten Auskünften hatte das nichts zu tun, doch es gab Gerüchte, und das zuhauf.

Gerüchte über verantwortungslose Heiler, die eine barbarische Inquisitionsmethode entwickelt hatten und nun an Kriegsgefangenen praktizierten, Folter, um das Kind beim Namen zu nennen, die die Informationen aus dem Verstand ihres Opfers extrahierte, und den Betroffenen dabei durch die Hölle und zurück jagte. Der unweigerlich darauf eintretende Tod des Befragten war ein lästiger Nebeneffekt, aber nicht zu vermeiden.

Im Sinne der Wissenschaft nahm man es schweigend hin.

Ihm wurde schon bei dem Gedanken an sich übel.
 

Als er das zentrale Quartiergebäude, die Unterkunft der niederrangigen Soldaten, erreichte, kam ihm postwendend eine junge Heilerschwester entgegen, sie hatte die dunkelgrüne Binde an seinem Arm entdeckt, ihren flehentlichen Blick der Hilflosigkeit eindeutig auf ihn gerichtet.

Sie war am Ende ihres Lateins.

„Ein Glück, dass du hier bist“, atmete sie erleichtert auf, sich des vertrauten Per du des Heilkunstordens bedienend, und verneigte sich vor ihm, ihre Stirn gefurcht von Stress, „du musst mir einfach helfen, ich schaff das nicht.“

Eldur lächelte, musterte das hübsche Mädchen gründlich vom Scheitel bis zur Sohle.

„Was ist denn los?“ erkundigte er sich mit einem Achselzucken.

Gewandt vollführte sie eine Kehrtwende, eine anmutige Bewegung, die ihre Robe bauschte und die schlanken Beine entblößte, und winkte ihn hinter sich her: „Komm mit.“

Nickend, wie in Trance, folgte er ihr, oder eher, ihrem wohlgeformten Rundungen, abgelenkt, und seine Augen nicht unbedingt an der rechten Stelle, und erhaschte während dessen nicht ein einziges Wort aus ihrem Mund. Weißes Rauschen, persistent wie das Meer, insignifikant.

So weit, so gut.

„Vielleicht hört er ja auf dich“, meinte sie abschließend, ehe sie stehen blieb und auf die Schiebetür des Waschraumes wies.

Eldur blinzelte, verwundert von dem abrupten Halt und dem Auftauchen der hölzernen Barriere direkt vor seiner Nase, und rang mit seinem inneren Schweinehund, sich zwingend, ihr nicht in den Ausschnitt zu starren.

„Auf geht’s“, forderte die Schwester ihn mit gehobenen Augenbrauen auf.

Dumm war sie nicht, ebenso wenig gutgläubig, sie hatte seine unsittlichen Blicke längst bemerkt. In Ermangelung einer Reaktion seinerseits stemmte sie verärgert die Hände in die schlanken Hüften und funkelte ihn an.

„Hör mal, Don Juan“, belehrte sie ihn streng, „hier will sich jemand umbringen, und du verhältst dich wie ein notgeiler Bock.

Mann! Tu was!“

„Tut mir leid, ich wollte nicht respektlos sein“, entschuldigte er sich sogleich, trotz der Verlockung einsichtig und sammelte seine Konzentration.

„Die Schönheit einer Frau ist die Schwäche eines Mannes“, murmelte er und trat an ihr vorbei.

Unschlüssig blickte sie ihn an, sowohl geschmeichelt als auch aufgebracht über seine Taktlosigkeit, und errötete, presste verlegen die Handflächen auf ihre Wangen.

„G-geh einfach…“ stammelte sie und überließ ihm mit einer ausladenden Geste das Feld.
 

Behutsam klopfte der Heiler an den Rahmen der Schiebetür.

Es war ungewöhnlich, dass ein Soldat zögerte, gemeinhin hatte der verzweifelte Drache seinem Leben längst ein Ende bereitet, wenn das Rettungskorps samt Feldheilern eintrudelte.

Zumal die Genossen oftmals über erschreckende anatomische Kenntnisse verfügten.

Von wegen Dilettanten.

„Hey, kannst du mich hören?“ rief er bedachtsam, um einen möglichst einfühlsamen Tonfall bemüht, „Wir können über alles reden. Bitte!“

Eine verbale Antwort erhielt er nicht, und er hoffte inständig, dass sich sein Kamerad in diesem Moment nicht die Pulsadern aufschnitt.

Noch spürte er die Schwingungen seiner Feuerenergie, etwas unstet, doch intensiv, was einen gesunden Herzschlag implizierte.

„Nichts kann so schlimm sein“, versuchte Eldur es erneut, nunmehr mit fester Stimme und schob die Tür einen Spalt breit auf.

„Selbstmord ist doch keine Lösung!“

Dann stockte er unwillkürlich, erstarrte, als er in das Zimmer lugte.

„Wer zur Hölle will sich denn hier verdammt noch mal umbringen?!“ schallte es ihm unwirsch entgegen, und der Heiler grub die Fingernägel in das helle Holz.

„Logi?“

Ein Grummeln drang aus der gegenüber liegenden Ecke, und Eldur schritt ohne Umschweife über die Schwelle, traute sich allerdings nicht, sich ihm auf mehr als zwei Schrittlängen zu nähern, gehemmt, die Erinnerungen an dessen berechnende Erbarmungslosigkeit zu präsent.

Der kafteinn trug sein Schwert bei sich, hockte halbseitig kniend an der Wand, leicht nach vorne gebeugt, als wollte er seinen Rücken entlasten und war sichtlich nicht erfreut darüber, Eldur zu sehen; seine Haltung, sein Ausdruck sprachen Bände über seinen wohl erbitterten und gereizten Gemütszustand.

„Sagst du mir, was los ist…? Oder eventuell, was du hier treibst?“

Logis Blick schweifte ab, und er nuschelte irgendetwas Unverständliches, das halblange rote Haar fiel ihm ins Gesicht, überschattete seine Züge.

Ratlos schaute Eldur ihn an.

Das verlangte Improvisation.

Dementsprechend hielt er zunächst an seiner intuitiven Vermutung fest: „Schmerzen?“

Der Angesprochene brummte widerwillig, deutete ein vages Nicken an.

Oder er bildete sich das ein.

Jedenfalls besser als kein Hinweis.

„Wo?“ spezifizierte der Heiler geduldig.

„Keine Ahnung.“

Was hatte er auch erwartet?

Mit einem dumpfen Seufzer machte er vorsichtig einen Schritt auf Logi zu und ging auf die Knie nieder, sich der rabenschwarzen Iriden gewahr, die ihn argwöhnisch taxierten.

„Kannst du aufstehen?“

Er wich ihm hartnäckig aus, sträubte sich gegen seine Hilfe, wie ein sturer Esel, und als er ihm die Hand anbot, entzog er sich der Berührung ruckartig, zu unkontrolliert, und ein hässliches Knacken ertönte, gefolgt von einem derben Schmerzenslaut und diversen unseligen Flüchen.

„Fass mich nicht an!“ schoss es ihm danach unverzüglich entgegen, erbitterte Worte, von tiefster Unsicherheit erfüllt.

Risse in der rauen Fassade des Feuerdrachen.

Flößte er ihm – so verquer und skurril es ihm erscheinen mochte - etwa Angst ein…?

Oder schämte er sich für seine vermeintliche Schwäche?

„Ich werd dir nicht wehtun, in Ordnung?“ versprach Eldur rücksichtsvoll, erntete für seine Anteilnahme lediglich ein undefinierbares Grunzen.

Noch nicht, vervollständigte er seine wohlmeinende Beteuerung gedanklich.

Sich der potentiellen Gefahr, in die er sich begab, bewusst, rückte er beiseite, manövrierte sich geschickt schräg neben den kafteinn, damit dieser seine angestrebten Tätigkeiten wenigstens aus den Augenwinkeln verfolgen konnte, und platzierte die linke Hand flach unterhalb der kantig hervorstehenden Schulterblätter. Die Muskeln darunter verkrampften sich reflexartig.

„Weiter unten“, informierte Logi ihn harsch, und erst jetzt bemerkte Eldur den penetranten Alkoholgeruch, Schnaps oder Branntwein, vielleicht beides, der von dem Soldaten ausströmte.

Er verdrängte jene unbedeutend anmutende Nebensächlichkeit, fuhr mit den Fingern die Wirbelsäule des Feuerdrachen entlang, und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er unter dem doppellagigen Stoffhindernis den betroffenen Wirbel erfühlte.
 


 

***
 


 

Es hatte Eldur einiges an Überredungskunst gekostet, Logi von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihn in sein Pensionszimmer zu begleiten, damit er sich seinen Rücken genauer ansehen konnte.

Anstrengend beschrieb dieses Unterfangen nicht annähernd adäquat.

Und über die dadurch verpatzte Chance bei der attraktiven Heilerschwester wollte er nicht nachdenken.
 

Derweil entledigte sich der kafteinn seiner Oberbekleidung, warf diese achtlos von sich und legte sich, der Anweisung des Heilers gehorchend, bäuchlings auf dessen Nachtlager, recht unbeholfen, wie er sich eingestehen musste. Murrend kreuzte er die Arme und bettete sein Kinn darauf.

Das alles gefiel ihm absolut nicht.

Eldur krempelte seine Ärmel hoch, begutachtete kritischen Blickes die Schrammen und allmählich abheilenden Verbrennungen an Logis Schulter, sog die Luft mit einem Zischen durch die Zähne.

Bedeutete das, er…?

„Hast du dir etwa die Wunden selbst ausgebrannt?“

„Ja.“

„Wieso?“ platzte es ungehalten, fassungslos aus Eldur heraus, die reine Vorstellung jagte ihm einen eiskalten Schauer die Wirbelsäule hinab.

„Ich hatte keine Zeit.“

Entgeistert starrte er den Soldaten an und schluckte, unfähig, seine Meinung darüber unmittelbar kundzutun.

Sich selbst Schmerzen zuzufügen, sich das eigene Fleisch zu versengen, um eine verräterische Blutung zu stoppen…

Kopfschüttelnd verbannte der Feldheiler die lebhaften Impressionen in die hintersten Areale seines Verstandes, und entschloss sich zu einem Themenwechsel, befürchtend, dass sich das nächste als ein ebenso leidiges entpuppen würde: „Es wäre einfacher, wenn du-“

„Denk nicht mal dran.“

Aus Scham, und falschen Schuldgefühlen – Eldur fügte sich nichtsdestotrotz, hütete sich, die Bandagen um den Torso des kafteinn zu lösen.
 

Der schwache Schein einer Kerze erhellte das Quartier, die Nacht war bereits hereingebrochen, als er wieder erwachte.

Im Fuchsbau.

Kurz vor Mitternacht.

Schläfrig wälzte er sich auf die Seite, erblickte besagten Heiler am Fußende des Bettes, auf dem Boden sitzend; Refur in seiner dunkelgrünen Heilerrobe mit dem weißen Sonnenzirkel auf der Rückenpartie, die Beine bis zu den Knien entblößt, barfuß. Schlanke Waden, die blassen Knöchel…

Das helle, rote Haar fiel ihm offen über die Schultern.

Er las.

Logi verstand den Titel des Buches nicht, die schwarz geprägten Schriftzeichen auf dem Einband waren ihm fremd.

„Hab ich dich geweckt?“ fragte er tonlos, eine monotone Aneinanderreihung von Silben ohne Ausdruckskraft, und rührte keinen Muskel. Ob er zu sehr in seine Lektüre vertieft war, oder ihn tatsächlich auf Abstand zu halten beabsichtigte, konnte Logi zu diesem Zeitpunkt nicht beurteilen.

Er verneinte knapp, rollte sich auf den Rücken, in eine bequemere Lage, verflucht dankbar, dass sein Körper ihm gehorchte und lediglich ein harmloses Ziepen ihn daran erinnerte, was ihm ein eingeklemmter Nerv, ein verschobener Wirbel, was auch immer, zuvor beschert hatte.

Refurs Hände hatten Wunder gewirkt.

„Tut mir leid…“ flüsterte der Feldheiler kaum vernehmlich in die nächtliche Ruhe, „Ich habe mich wie ein Idiot verhalten, die Mission beinahe zum Scheitern und dich unnötig in Gefahr gebracht. Und das nur, weil ich nicht über die Konsequenzen nachgedacht habe.“

Ich wollte dich, deine geschundene Seele, schonen.

Gute Intentionen reichten nicht aus.

Es schmeckte bitter, sich seine Fehler einzugestehen, und offenkundig fiel es Eldur besonders schwer. Schuldbewusst senkte er den Kopf, die filigranen Finger in den Stoff seiner Robe gekrampft.

„Ich habe mich nicht einmal dafür bedankt, dass du mir das Leben gerettet hast…“

Die Angelegenheit hatte ihm Magenschmerzen bereitet, begriff der kafteinn, und er registrierte das Unwohlsein des anderen, dessen Distanzlosigkeit sich ihm gegenüber von jetzt auf gleich verloren hatte.

Nun wusste er, warum.

Nicht, dass es ihn störte, im Gegenteil.

Leise schnaubend schloss er die Augen: „Vergiss es. Du bist mir nichts schuldig.“

Unter dem Strich waren sie quitt.

Ohnehin empfand er es als groben Unfug, auf einen Gefallen zu bestehen, den er, zum einen, nicht verdiente und der, zum anderen, niemandem nutzte.

Vorwiegend ihm nicht.

Eldur atmete hörbar aus, legte den Buchband zurück auf den Stapel – ein penibel aufgeschichtetes Kunstwerk der Architektur, dem Turm zu Babel gleichend, und ebenso verwirrend, Logis Meinung nach.

Fahrig strich sich der Fuchs die rötlichen Strähnen aus der Stirn, lehnte sich an den Bettrahmen und wandte den Blick zu Logi, der sich indessen über die gesamte Breite und Länge der Matratze ausgestreckt hatte.

Das silbrige Mondlicht verfing sich in den verschiedenfarbigen Iriden, und den Soldaten verwunderte es nicht, dass sich die Intensität der Reflektionen minimal unterschied.

„… wie hast du mich gefunden…?“ wisperte er atemlos.

Der jähe Bruch des Kontextes irritierte den kafteinn: „Huh?“

Daraufhin drehte sich der Fuchs vollends zu ihm, stützte die Unterarme auf die Holzkante seiner Bettstatt, mit einem Male wieder so nah, dass er seinen warmen Atem spüren konnte.

Draußen zirpten die Zikaden.

„Das Lagerhaus lag abseits, und innerhalb der Stadt eine Spur zu finden, war bei der Nässe schlichtweg unmöglich…“ erläuterte er relativ sachlich, überzeugt, einen Mangel an Logik eruiert zu haben.

Dabei war die Antwort banal.

„Du riechst nach Opium“, entgegnete er gelassen, doch das unterschwellige Zusammenzucken des Fuchses beunruhigte ihn.
 


 

***
 


 

Das wiederholte, ungestüme Klopfen - oder eher, das rabiate Einschlagen auf die Zimmertür, schreckte den herforingi jählings aus seinem dösigen Halbschlaf auf.

Er besann sich rasch und setzte sich auf, von einer gewissen Ahnung beschlichen, wer so anstandslos auf das schutzlose Holz eindrosch, und gewährte leise Einlass.

Wenig überrascht hob er fragend eine Augenbraue, als er die große, stämmige Gestalt im Türrahmen erkannte.

Brigadier Kopar.

Wer auch sonst…?

Lax streckte der Kompanieführer seine müden Beine von sich, fing den eindringlichen Blick seines Gegenübers auf.

„Ich bin nicht in der Stimmung für-“

Der männliche Feuerdrache schloss die Schiebetür hinter sich und fiel ihm unverwandt ins Wort: „Ich weiß.“

Dann erhellte ein verschmitztes Grinsen die definierten Züge, dreist, schamlos, und er fügte heiter hinzu, „Nur hier, um sicherzustellen, dass du dein Zeug nimmst.“

Fölskvi stieß ein gedämpftes Murren aus und verschränkte abweisend die Arme vor der Brust, sein Ausdruck verhärtete sich.

Wie er diese Angelegenheit hasste.

Es war schlichthin beschämend für einen Soldaten seines Ranges.

Und ihm stand absolut nicht der Sinn danach, über seine gesundheitliche Verfassung zu diskutieren.

Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht mit Kopar.

„…“

Er konnte es einfach nicht, wollte es nicht können.

„Tu's und ich halt sofort den Mund“, bot ihm sein Genosse kompromissbereit an, gemächlich den Raum durchquerend, ehe er vor ihm in die Hocke ging.

Sonnenbrand verunzierte wie eine rötliche Bordüre auf bronzefarbenem Grund seinen Nasenrücken und die Halsbeuge, verlief vermutlich auch über seine Schultern und die sensible Haut im Nacken.

Fahrlässiger Idiot.

„Tust du’s nicht“, ergänzte er dräuend, sein Tonfall wesentlich ernster als zuvor, „helf ich nach.“

Auf dieser Ebene scherzte der Brigadier nicht, das wusste er mit Sicherheit.

Verdrossen knirschte der herforingi mit den Zähnen, frustriert, jedweden Augenkontakt vermeidend und den Kopf abgewandt, wütend auf Kopar, auf sich, auf die Situation an sich.

Er spürte nur zu deutlich, wie seine Haltung sich unterbewusst verspannte und zusammenkrampfte.

„Dir ist geläufig, dass das Nötigung ist?“ presste er letztendlich nach einer schier unerträglichen Weile des friedlosen Schweigens hervor, denn das Missbehagen, verursacht durch jenen Druck zwischen ihnen, ertrug er nicht.

Seine rhetorische Frage war lahm und einfallslos, das bestritt er gar nicht.

„Stell dich nicht so an.“ seufzte Kopar daraufhin, verständnisvoll, aber dennoch bestimmend.

Fölskvi schwieg.

Du schikanierst mich. Und du weißt es.

„Ich hasse das…“
 

Unterdessen lag Fölskvi auf der Seite, Kopar, der neben ihm saß, den Rücken zugekehrt und schmollte still vor sich hin.

Anfassen verboten.

Kindisch.

Allerdings leugnete der Brigadier nicht, dass der jüngere Feuerdrache nicht gänzlich auf dem Damm war, ausgesprochen launisch, und die nächsten Tage wahrscheinlich besonders auf ihn nicht gut zu sprechen.

„Hab Neuigkeiten“, versuchte er ihn zaghaft auf ein Gespräch einzustimmen.

Der herforingi grummelte lediglich unverständlich, desinteressiert: „Hm.“

„Ist wichtig“, lockte er, überzeugt, die Attraktivität seiner Informationen somit zu betonen.

„Aha.“

Jedoch vergebens.

Langsam kam ihm die Geduld abhanden, doch Kopar beherrschte sich eisern.

Es war nicht Fölskvis Schuld.

Unter Umständen erging es ihm schlechter, als es den Anschein erweckte.

„Hraunars Kurs hat sich geändert. Hat Hörvir mit einem Sonderregiment in den Osten geschickt, er selbst ist gestern abgereist. Alleine.

Plant eine Art Kongress mit den militärischen Führern, natürlich unter strengster Geheimhaltung. Dass ich nicht lache!

Außerdem gibt's da noch einen Ausschuss, der sämtliche alten Niederschriften wälzt und auf Teufel komm raus nicht verraten will, was er recherchiert…“
 


 

***
 


 

Mit gemischten Gefühlen beobachtete Eldur sein Gegenüber, welches derzeit lustlos in seiner Schüssel Reis stocherte und den gebratenen Fisch nicht eines einzigen Seitenblickes gewürdigt hatte, ganz zu schweigen vom Beilagengemüse.

Es war deprimierend.

Hunger hatte Logi definitiv, jedoch vermochte das seinen Appetit nicht anzuregen.

„Schmeckt’s dir nicht?“

Logi reagierte nicht, und traktierte ungeachtet der besorgten Nachfrage des Heilers kontinuierlich sein wehrloses Mittagessen.

„Du schadest dir nur selber, wenn du so weiter machst“, beschwor er den kafteinn, suchte, vergebens, nach Augenkontakt.

Auf diesem Pfad kam er keinen Schritt voran, konstatiert er entmutigt, und er musste unwillkürlich an die gestrige Unterhaltung mit Fölskvi denken.

Noch zögerte er, auf die Option zurückzugreifen, die der herforingi ihm eröffnet hatte, und er ermaß nicht das erste Mal die Risiken und Konsequenzen seiner spontanen Idee. Ob diese moralisch vertretbar war, stand auf einem anderen Blatt geschrieben.

Verworfen hatte er sie nicht, doch sein Gewissen plagte ihn - durfte er Logi, um seines Wohlbefindens Willen, mehr oder minder erpressen?

Zudem galt es einzukalkulieren, dass er, Logi oder Fölskvi dafür zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Welche Strafe auf einen solchen Ungehorsam folgte, blieb ungewiss.

Eldur versank in fruchtloses Grübeln, argumentierte für und wider und vergaß darüber hinaus das Essen, die Stäbchen entglitten seinem erschlaffenden Griff.

Dann straffte sich seine Haltung.

„Ich biete dir einen fairen Handel an, Logi. Du sagst mir, was ich von dir wissen möchte, und im Gegenzug gebe ich dir… nennen wir es, eine inoffizielle Auskunft.

Ist das akzeptabel?“

Der Angesprochene studierte apathisch die Maserung der Holzdielen, ignorierte das freundliche Angebot und das Mitgefühl, das sich dahinter verbarg.

„Auch gut, hör mir zu“, lenkte Eldur ein, in Erwartung einer Migräneattacke und massierte seine schmerzenden Schläfen, „Es ist nicht gerade leicht mit dir. Also entspann dich und lass zu, dass ich dir helfe. Einmal.“

Strategieänderung.

Fraglich, ob das die Konversation retten konnte – oder bloß seinen Monolog sinnlos verlängerte.

„Ich habe nicht drum gebeten“, entgegnete Logi knapp und schob das Essgeschirr betont, schier angeekelt, von sich.

Jene Aussage mit einem abgrundtiefen Seufzen quittierend, fuhr sich Eldur durch das zinnoberrote Haar: „Das ist das Problem. Aber darum geht’s nicht.

Dass du nicht auf der Höhe bist, ist ein Faktum. Ich meine, es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst, ich hab das gesamte Ausmaß des… Schadens gesehen.“

Er pausierte, unsicher, ob er die Aufmerksamkeit des kafteinn gewonnen hatte oder nicht.

Dessen Körpersprache verriet nichts.

„Versuch nicht, es auszusitzen, das klappt nicht. Es zerfrisst dich.

Aus manchen Situationen kommt man nicht mehr alleine heraus, glaub mir, ich will dir helfen, und keine Almosen verteilen, um mich zu profilieren oder mein Selbstwertgefühl aufzupolieren.

Das hat mit geschenktem Mitleid nichts am Hut.

Verstehst du nicht, dass es sich hier um dich dreht?

Sei einmal ein Egoist und nimm an, was dir jemand aus freien Stücken in die Hand gibt!“

Niemand verdient es zu leiden.

Logis unfokussierter Blick schweifte durch den Raum, teilnahmslos, seine Finger zuckten flüchtig, ansonsten wirkte er gänzlich unbeeindruckt, und Eldur bezweifelte, dass seine Botschaft den Soldaten erreicht hatte.

Zwecklos.

Vergebliche Liebesmüh.

„Ich weiß leider nicht, was in deinem Kopf vorgeht, deswegen…“ und der Heiler stolperte über die Formulierung am Ende seines Satzes, wählte kurzerhand die triviale Version: „Dein ofursti ist in der Stadt.“

Das hatte gesessen.

Mit einem Schlag büßten Logis Züge ihre harten Linien der Unnachgiebigkeit ein, schmolzen förmlich zu einem weicheren, nahezu verzweifelten Ausdruck.

Und es war gut so.

Irgendjemand musste ihn aufwecken, gleichgültig, welche drastischen Methoden dies erforderte, denn solange Logi sich nicht mit der Realität auseinandersetzte, solange er sich selbst nicht verzieh, verbuchte Eldur keinerlei Erfolgsaussichten.

Zwar hatte die Heeresleitung jegliche Interaktion zwischen dem ofursti und Logi verboten, ausdrücklich sogar, doch er weigerte sich im Zuge seiner ärztlichen Tätigkeit, diesen Befehl als gültig anzuerkennen.

Gleichermaßen stellte sich Eldur ein Ultimatum.

Sollte das Gespräch mit ofursti Múspell scheitern, keinen positiven Effekt erzielen, würde er die Folgen der Gehorsamsverweigerung auf sich nehmen und den kafteinn aufgeben…
 


 

***
 


 

Der Geruch von Blut.

Der Nachhall der panischen Todesschreie der Frauen und Kinder.

Der ungebrochene Wille der mongolischen Krieger, die sich eher selbst getötet hatten als unter einem Fremden zu dienen.
 

In seiner langen Karriere als Soldat und herstjóri hatte Hörvir keine vergleichbare Schlacht erlebt, und eine morbide Mischung aus Faszination und Entsetzen hielt seinen Verstand in ihrem eisernen Griff.

Er war sprachlos - und das wollte schon etwas heißen.

Das Sonderregiment hatte die Mongolen ausgelöscht, buchstäblich annihiliert, ohne Gnade, sie grausam vom Erdboden getilgt, mehr ein Abschlachten als ein Kampf, ein bestialisches Gemetzel.

Grundlos.

Sie hatten ein Blutbad angerichtet; das war Genozid, kein Krieg gegen einen ebenbürtigen Gegner oder das Eindämmen einer potentiellen Bedrohung für das neue Reich.

Unschuldige zu ermorden, um Erbarmen winselnde Minderjährige zu meucheln, das ging selbst ihm zu weit, und die Ungerechtigkeit des jüngst Geschehenen appellierte an seine Ehre.

Irrsinn.
 

Hraunar bedachte ihn mit einem undurchsichtigen Blick, ehe er den Rest seiner Ration gierig hinunterschlang und sich an Hörvir wandte.

Ob er etwas von seinen Zweifeln ahnte…?

Seine indifferente Mimik wahrend, kniete er sich höflich in das raue Gras der Ebene.

Auf den Hügeln weideten Ziegen.

„Was ist der primitivste Weg, eine zerstrittene Gemeinschaft zu einen…?“ fragte er ihn frei heraus, und mitnichten so zufällig, wie er es vorzuschützen gedachte.

„Ein Problem zu finden, das alle betrifft?“ riet Hörvir auf gut Glück und zuckte ahnungslos die Schultern, „Etwas, das jeden bedroht und mit dem sich jeder identifizieren kann…?“

Das diabolische Grinsen des jüngeren Feuerdrachen vertiefte sich.

„Exakt.“

Irritiert runzelte der hochrangige Soldat die Stirn: „Huh? Wie…?“

„Bevor Helvíti fiel und die Einheit des Clans zersplitterte, gab es einen äußeren Feind“, erklärte der leiðtogi bereitwillig, die Augen von einem Feuer erhellt, maßlos und boshaft, das aus den Untiefen seiner Seele drang, und als hätte er heimlich darauf gehofft, auf Unverständnis zu stoßen, „Roks Clan, die Luftdrachen in Europa.“

Rok…?

Er hatte die alten Geschichten immer für Legenden, Rok und die Erzählungen um Helvíti für Kindermärchen gehalten, mit einem wahren Kern aber ohne Anspruch auf eine vergangene Realität.

Ahnenkult, meine Fresse.

„Auf was wollt Ihr hinaus, leiðtogi?

Die Luftdrachen sind seither verschollen.“

„Nein, bloß ausgeflogen“, versicherte Hraunar schmunzelnd, und ein abgründiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

Hörvir schwante Übles: „Was habt Ihr vor?“

Mit einer umfassenden Gestik umschrieb der Drachensouverän das Panorama der Mongolei, führte die gewölbten Handflächen wieder zusammen, und der herstjóri rätselte, was genau er damit veranschaulichen wollte.

„Es ist, wie ich sagte, primitiv, Hörvir.

Wir malen den Teufel an die Wand, auch wenn wir uns die Gegebenheiten dafür etwas zurechtlegen müssen.“

Zufrieden verschränkte der Drachensouverän die Finger ineinander, lächelte wie ein Kind, das sich der lobenden Worte seiner Eltern gewiss war.

„Propaganda?“ entfleuchte es ihm skeptisch, und Hraunar nickte bestätigend: „In der Tat.

Ist dir geläufig, was der Sonderausschuss zusammenträgt?“

Überfragt schüttelte Hörvir den Kopf.

„Sobald er die Listen komplettiert hat, gehen alle verschwundenen Soldaten auf das Konto der Luftdrachen“, säuselte der leiðtogi euphorisch, von der Unfehlbarkeit seiner perfiden Taktik überzeugt, „Und alle Beteiligten werden beseitigt.“

Als unauffällig konnte man dieses Vorhaben nicht gerade bezeichnen.

„Aber-“

„Es ist keine Lüge“, unterbrach Hraunar ihn abrupt, unbarmherzig, „Die Wahrheit ist flexibel.

Ein Wort zu jemand anderem, und…“

Seine eigenwillig gefärbten Iriden funkelten, als er die Innenkante seiner rechten Hand betont über seine Kehle zog.

„Ich verstehe, leiðtogi.“

Effizienz garantiert.

Die wahrhaft Schuldigen würden selbstverständlich Stillschweigen bewahren und brav mit dem Strom schwimmen.

Ein gefährliches Spiel, das er da wagt…
 


 

***
 


 

Kies knirschte unter Ledersohlen.

Jeder Schritt kostete ihn Überwindung.

Sein Herz raste, schlug beinahe schmerzhaft gegen seinen Brustkorb, und sein Gedächtnis verschwamm im Angesicht der quälenden Erinnerungen an einen schwarzblauen Sternenhimmel über der mongolischen Einöde.

In seinem bisherigen Leben hatte er niemals eine ähnliche Unsicherheit verspürt; eine lähmende Angst beherrschte seine Glieder.

Die Scham und Gewissensbisse, der Hass auf sein vermaledeites Unvermögen stiegen abermals siedend heiß in ihm hoch, unerbittlich, verzehrend wie das Fegefeuer, und er verdiente es.

Was er ofursti Múspell sagen, wie er sich vor ihm rechtfertigen sollte, er wusste es nicht. Es war zu spät, um für seine Dummheit um Verzeihung zu bitten.

i]Wie ein geprügelter Hund, der zu seinem Herrn zurückkriecht…

Vom Lauf der Geschehnisse gedemütigt und verspottet, eine elende, miserable Gestalt zwischen den Mühlsteinen der Zeit.

Erbärmlich.

Vielleicht sollte er seinen ehemaligen Mentor anflehen, dieser Misere ein Ende zu bereiten…
 

Er kannte die Mehrzahl der Soldaten, die sich vor und in der Herberge herumtrieben, offensichtlich angespannt und sich der prekären Situation ihres ofursti durchaus bewusst.

Scheele Blicke verfolgten ihn über die Korridore, sein Gesicht war ihnen ebenfalls nicht unbekannt, und nach einer Weile lasteten die Geringschätzung und die Abscheu seiner Genossen aus dem Osten wie bleierne Gewichte auf seinen Schultern.

Der Gang zu seinem höchstpersönlichen Schafott, gerichtet und verurteilt, und wenn ofursti Múspell Nachsicht walten lassen würde, so würden seine einstmaligen Kameraden ihn lynchen.

Dafür, dass er ihren Befehlshaber in Verruf gebracht, dessen Vertrauen und Wohlwollen dermaßen schändlich missbraucht hatte.

Er konnte es ihnen nicht verübeln.
 

Seine Nerven schienen ihm taub vor unsäglicher Pein, als würde es sein Innerstes zerreißen wollen, die schmerzenden Narben ein ehernes Memento an zerschmetterte Knochen und zerfetzte Organe, an Verrat und Einsamkeit, und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren übertönte die Wirklichkeit.

Wispernd geisterten die Schatten der Toten jener Nacht um seine Seele, ein Wirrwarr heiseren Flüsterns voller Klage und Leid, das sein Bewusstsein, wachend und im Schlaf, marterte und plagte. Rastlose Gespenster der Unterwelt, die ihn umschwirrten wie die Motten, doch noch immer mit dem Diesseits verbunden, durch Ambitionen, Träume und das Bedauern ihres frühzeitigen Ablebens.

Es war eine Tortur.

Zerschlagen zwang er sich vorwärts, die Hände zu Fäusten geballt und die Knöchel blutleer, einen flatterhaften Atemzug nach dem anderen schöpfend.

Múspells ruhige, und desgleichen machtvolle Präsenz war allgegenwärtig, tünchte die Atmosphäre nachhaltig, und heuchelte eine vertraute Geborgenheit aus alten Tagen.

Eine Illusion, die ihn einzulullen drohte, ihn das Anklopfen vergessen ließ und schließlich in blanke Verzweiflung ausartete, als er die Tür des Nachtquartiers aufschob.

Gesenkten Hauptes verharrte er im Türrahmen, keuchend vor Anstrengung und der Agonie, die in seinem Herzen tobte, brach unvermittelt in die Knie und verneigte sich so tief wie nur möglich, presste die Stirn auf die Holzdielen.

Múspell, der gegenwärtig am Fenster weilte und seine Gedanken zu ordnen versuchte, wohnte dem schweigend bei, überfordert und gewissermaßen ärgerlich über die Störung, als er jedoch das unterdrückte Schluchzen seines nächtlichen Besuchers vernahm, wurde ihm bewusst, wer ihm da einen Besuch abstattete und um was es ging.

Verdammt.

Im Endeffekt hatte er Recht behalten, sein Verdacht hatte sich bestätigt, und das verhieß nichts Gutes.

Sämtliche Berichte über den Grenzüberfall in der Mongolei stapelten sich neben einem niedrigen Arbeitstisch, Personalakten und Profile, ob klassifiziert oder nicht.

„Logi…“

„Es ist meine Schuld“, antwortete der prompt, die Stimme gebrochen von den Tränen, die ihm nunmehr bedingungslos über die Wangen rannen.

Es tut mir leid.

In all den Jahren hatte er ihn nicht weinen sehen.

Man hatte ihm mitgeteilt, dass Logi überlebt hatte, allerdings nicht über seine zerrüttete Verfassung aufgeklärt und der Anblick traf ihn wie ein Peitschenhieb ins Gesicht; es tat weh, seinen ehemaligen Schützling anzublicken.

„Logi“, sprach er dem heftig zitternden kafteinn beruhigend zu, während er sich neben ihn kniete und die Hand auf dessen Rücken legte, „ich habe dich um Rat gebeten, als Soldat und Genosse. Es war meine Entscheidung, und ich trage die Verantwortung.

Da selbst du es nicht ahnen konntest, beweist, dass es nicht zu verhindern war. Und sie waren bereits verschwunden, als ich sie zu mir rufen wollte.

Du hast nichts Falsches getan.“

Gib dir nicht die Schuld für etwas, das du nicht kontrollieren konntest, für das, was unausweichlich geschehen musste, wenn man die Abgründe und das geheime Streben des Einzelnen bedenkt.

„Hör auf dir selbst Vorwürfe zu machen.“
 


 

***

Intermezzo.III *** Aufmarsch

Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Intermezzo.III *** Aufmarsch
 

Die Wärme der Sonne streichelte die Haut des jungen Feuerdrachen, der im halbhohen Gras auf dem Hügel über dem Kasernenhof lag, sorglos, entspannt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen, während er die ersten angenehmen Stunden des Frühlings genoss.

Es war eine rare Gelegenheit, die Ausbildung zum Soldaten ließ wenig Raum für Freizeit.

Purer Zufall.

Heute marschierten die Bataillone des Ostens auf, formierten sich zu Korps, Kriegvorbereitungen.

Zwar spürte er die Versuchung, irgendwo, tief in seiner Brust, den Neid, noch nicht mit seinen Genossen in die Schlacht ziehen zu dürfen, trotz seiner oftmals gelobten Leistungen, doch er wusste seine Ungeduld zu zügeln.
 

Schritte.

„Yo“, grüßte der Neuankömmling nonchalant, ehe er sich zu ihm gesellte und, ohne auf eine Aufforderung zu warten, setzte.

Er erkannte ihn an dem einzigartigen Muster seiner Feuerenergie, der behänden Leichtigkeit seiner Bewegungen.

Fönix.

„Yo“, echote er träge, blinzelte in den blauen Himmel hinauf.

„Warst du nicht beim Appell?“

Gähnend streckte der Feuerdrache seine müden Glieder und warf seinem Genossen einen skeptischen Blick zu.

„Wozu?“ fragte er verständnislos.

Fönix lächelte hintergründig, und in den pechschwarzen Iriden schwelte ein ihm wohlbekanntes Feuer, das aus dem Innersten seiner Seele rührte.

Wissend, herausfordernd, jahrhundertealt.

„Diesmal sind ein paar große Nummern dabei“, erwiderte er, und eine fremde Inbrunst schwang in seiner Stimme mit, „Eír von der Roten Heide, Herkir, das Feuergespenst und Skarði aus der Schwarzen Wüste.“

„Sag bloß.“

Desinteresse überschattete den schnippischen Kommentar, Fönix jedoch ging nicht darauf ein.

„Die sind von einem völlig anderen Schlag, Fölskvi. Ihre Präsenzen sind…“

Fölskvi schnalzte mit der Zunge und fiel ihm unverwandt ins Wort, sein Amüsement evident: „Hat da etwa jemand eine Schwäche für ältere Männer, die in einer wesentlich höheren Liga spielen?“

Schnaubend fügte sich Fönix und verwarf das Thema, „Darum geht’s nicht. Ist egal, vergiss es.“

Im Übrigen war Herkir eine Frau – obwohl ihr eindeutig männlicher Name das Gegenteil implizierte.
 

Eine unbefangene Schweigsamkeit umfing die beiden jugendlichen Feuerdrachen, bis sich die Haltung des aufrecht sitzenden Fönix sich straffte.

„Der Korps rückt aus“, sagte er sachlich, und Fölskvi legte unwillig den Arm über seine Augen.

„Und wenn schon“, murrte er gedämpft.

Fönix seufzte kaum vernehmlich, sein Blick auf das im Gleichschritt voranschreitende Heer gerichtet.

Dann schmunzelte er: „Wieso wird jemand wie du Soldat, Fölskvi?“

Keine Motivation, kein Engagement, nichts.

Auch ein Tritt in den Hintern erzielte nicht immer die gewünschte Wirkung.

„Hm…? Aus keinem besonderen Grund…“ gab der zurück und winkelte sein rechtes Bein an, seinen strapazierten Muskeln nachgebend.

Er verstand, worauf Fönix hinaus wollte; er war ein Taugenichts, faul und antriebslos, für nichts zu begeistern.

Ohne Perspektive.

Selbst nachdem sein Vater wegen Korruption exekutiert worden war, hatte seine Familie niemals Not leiden müssen, und daher hatte er seinerseits niemals das Bedürfnis verspürt, vermeintliche Talente in sich selbst zu entdecken und zu fördern.

„Du bist weder leichtgläubig noch aus schlechtem Hause. Was hat dich hergetrieben…?“

Ein bitteres Lächeln prägte Fölskvis Züge, ehe er antwortete, „Ich habe keinerlei Begabungen, und keine Tätigkeit hat mein Interesse wirklich halten können.

Das einzige, worin ich jemals gut war… ist das Töten.

Heh, und ich bin dabei geblieben, wie du siehst.“

Dem folgte ein hohles Lachen, das jedweden Humor vermisste.

„Was für eine erbärmliche Bilanz, was für eine perverse Beschäftigung, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, unseresgleichen abzuschlachten…“

Fönix schwieg dazu.

Denn hinsichtlich dessen saßen sie im selben Boot.
 

„Sieh sie dir an…“ brach Fölskvi schließlich die neuerliche Stille, als die letzten Reihen des Korps den Hügel passierten, der Kopf des Trosses am Horizont bereits zu einer verschwommenen, schwarzen Masse verschmolzen.

„Sie sind wie Schafe, die ihrem Leithammel nachgehen, wohin er sie auch führt; es fällt ihnen leichter zu sterben als selbst zu denken.“

Verwundert blickte Fönix ihn an, und der melancholische Unterton seines Kameraden entging ihm nicht.
 


 

***
 


 

Uns beiden stand eine beispiellose Karriere innerhalb des Militärs bevor, wir waren jung und ambitioniert, wir hatten das notwendige Potential.

Doch der Verlauf der Geschichte meinte es nicht gut mit uns.
 

Fönix verschwand spurlos auf dem Schlachtfeld.

Ich fiel meinem plötzlich schwächelnden Leib zum Opfer…

Akt.V *** Scharlachroter Osten: Geheimnisse und Heuchelei

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"

"herstjóri" bedeutet "General"

"leiðtogi" bedeutet "Anführer"

"ofursti" bedeutet "Oberst"

"refur" bedeutet "Fuchs" (negativ besetzt)
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Akt.V *** Scharlachroter Osten: Geheimnisse und Heuchelei
 

Ein einziges Klischee, das verräterische Rascheln der Laken und das übliche Stöhnen und Keuchen, der penetrante Geruch von Schweiß und Lust, den er aus den Bordellen im Rotlichtviertel kannte, und dennoch hatte es keinerlei Effekt auf ihn.

Sein Körper reagierte nicht, trotz der langen Abstinenz.

Zum Glück – ein solches Problem konnte er im Augenblick nicht gebrauchen.

Für bedenklicher hielt er, dass der Fuchs sich die Prostituierten mit aufs eigene Zimmer nahm, diese unangebrachte Intimität, und momentan empfand er es vor allem als Störfaktor und Hindernis, als eine unnötige Zeitverschwendung.

„Oh, Eldur…“

Auch das noch.

Ihm blieb wirklich nichts erspart.

Missmutig verschränkte der kafteinn die Arme vor der Brust, versuchte, die anrüchige Geräuschkulisse auszublenden.

„Ah… meine Güte!“

Ohne nennenswerten Erfolg, was ihm ziemlich sauer aufstieß.

Als ob Refur nicht schon alleine gut und gerne für zwei oder drei schwätzte, nein, das reichte nicht, für seine Bettgeschichten wählte er die redseligste Dirne, die ihm über den Weg lief.

Nun, jeder hatte seine persönlichen Vorlieben.

Wobei er Voyeurismus nicht unbedingt zu den seinen zählte.

Zugegeben, er war bezüglich dessen kein unbeschriebenes Blatt, aber er hatte damals, als Jugendlicher, nicht gewusst, auf was er sich einließ, und schließlich hatte ofursti Múspell in dazu gedrängt. Wahrscheinlich, weil er der wesentlich älteren Frau mit seinen Blicken nachgelechzt hatte wie ein verhungerter Hund aus der Gosse.

Peinlich.

„Mh… hey! W-warte, das… warte!“ quiekte die weibliche Stimme auf einmal hysterisch, und übertrieben schrill, „Nicht! Nicht… da! Das ist… oh mein Gott!“

Nein.

Er hatte sich geirrt. Definitiv kein Straßenmädchen.

„Heh, Eldur ist vollkommen ausreichend“, kam auch prompt die raue Replik darauf, etwas zu selbstgefällig für seinen Geschmack.
 

Eldur saß im Schneidersitz auf dem Bett, die dünne Zudecke im Schoß und lediglich mit einem Paar Gamaschen und Stulpen bekleidet, grinsend wie ein Honigkuchenpferd, eine beinahe verstörende Mischung zwischen absoluter Befriedigung und Selbstzufriedenheit.

Vermutlich hatte er ihn bereits zuvor wahrgenommen.

Das Mädchen reagierte nicht so gelassen auf Logis plötzliche Störung.

Für einen Moment schien sie unentschlossen, als würde sie überlegen, ob sie schreien oder in schallendes Gelächter ausbrechen sollte, angesichts der heiklen Situation, und zum Leidwesen der beiden männlichen Feuerdrachen entschied sie sich binnen weniger Herzschläge für ersteres.

Logi widerstand dem vehementen Drang, sich die Ohren zuzuhalten, während die junge Heilerschwester – er erkannte sie an der dunkelgrünen Robe, mit der sie panisch ihre Blöße bedeckte - aufsprang, den Rest ihrer über den Boden verstreuten Kleidung zusammen klaubte, simultan dazu den Eindringling mit ihren bitterbösen Blicken erdolchend, und im Nebenzimmer verschwand.

„Was gibt’s, Logi?“ ergriff Eldur kurzerhand das Wort, wies mit einer einladenden Gestik auf die nunmehr unbesetzte Hälfte der Matratze.

„Wir hatten eine Abmachung“, entgegnete der Soldat kühl und bedachte Refur, der sich in seiner nackten Glorie sichtlich wohl fühlte, mit einem kritischen Blick, distanziert, die Arme vor der Brust verschränkt.

Sein Gegenüber blinzelte, setzte zu einer Erwiderung an, die ihm jedoch nicht über die geöffneten Lippen kommen mochte.

„Oh“, machte er nach einer Weile des Schweigens wenig hilfreich, hob den Zeigefinger seiner rechten Hand und blickte Logi verblüfft an: „Du meinst das ernst!“

Nein, er war zum Spaß hier!

Innerlich murrend verbat sich der kafteinn einen sarkastischen Kommentar; der Fuchs irritierte ihn, nachhaltig, und das nicht nur durch seine Augen, nein, viel mehr noch durch seine eigenwillige Persönlichkeit. Schwer einzuschätzen, undurchsichtig. Ein unbekannter Faktor in der Rechnung.

Als Krieger schürte das ein gewisses Unwohlsein in ihm, das alsbald in Nervosität resultierte.

„Wie geht’s dir?“

Eldur konnte Logis Anspannung erahnen, in seinem defensiven Auftreten und seiner abweisenden Haltung.

„…“

Anscheinend verstand er seine Frage in diesem Kontext nicht als Versuch, die Stimmung aufzulockern, vermutete wohl einen psychologischen Trick dahinter, ihm durch eine Antwort mehr zu entlocken, als er freiwillig preisgeben würde.

„Herforingi Fölskvi hat mich dazu verpflichtet, mich um deine medizinischen Belange zu kümmern. Deshalb will ich dir ein paar Routinefragen stellen“, versicherte der Heiler aufrichtig und seufzte, „Sonst nichts. Keine große Sache.“

Obwohl Logi seine Distanz so gründlich wahrte wie seinen Widerwillen und den Kopf betont abwandte, nickte er zaghaft.

Mehr würde er von ihm als Einverständnis nicht erhalten.

„Sag einfach ‚ja’ oder ‚nein’“, vereinfachte der Feldheiler die Angelegenheit, um dem wortkargen Soldaten wenigstens ein bisschen entgegen zu kommen, „Also: Bist du körperlich wieder voll belastbar?“

„Ja.“

„Hast du noch Schmerzen?“

„… hm.“

„Appetit?“

„Nein.“

„Schlafstörungen?“

„Hm.“

„Alpträume?“

„…“

„Libido?“

„… hä? Was?“

Das versprach ein langes Gespräch zu werden.
 


 

***
 


 

„Eldur, Eldur… ich wusste, du reitest mich irgendwann, eines netten Tages, in Schwierigkeiten“, lamentierte der herforingi gespielt theatralisch, seine dramatische Pose ernstlich zu viel der Inszenierung, doch der seriöse Unterton in seiner Stimme, der unterschwellige Tadel, strafte seine Sorglosigkeit Lügen.

Fölskvi war ein verdammt guter Akteur – gleichgültig, ob er seinen wahren Gemütszustand oder seine körperliche Verfassung kaschierte.

Was er damit allerdings bezwecken wollte, blieb Eldur unbegreiflich.

„Es…“ begann der Heiler, verstummte jedoch abrupt; es tat ihm nicht leid, den Befehl der Heeresleitung ignoriert und Logi über ofursti Múspells Anwesenheit in Kenntnis gesetzt zu haben.

Unwillkürlich zog er die Augenbrauen zusammen.

Wozu sollte er sich entschuldigen…?

Er bereute es nicht im Geringsten, und er würde es wieder tun.

„Keine Panik“, winkte Fölskvi großzügig ab und faltete die Hände in seinem Schoß, „Um ehrlich zu sein, ich hatte mit so etwas gerechnet.“

„Ja…?“ hakte der Heiler verwundert nach, unsicher, studierte eingehend das milde Lächeln, das der Kompaniechef ihm schenkte.

Dessen grüne Iriden leuchteten vor heimlichen Vergnügen.

„Ja! In der Hinsicht bist du berechenbar“, eröffnete der ihm bereitwillig, „Du meinst es gut mit deinen Kameraden. Vielleicht zu gut.“

Dahinter verbarg sich kein Vorwurf.

„Ich beneide dich um diesen Respekt vor dem Leben. Als Krieger kann man sich das nicht leisten, nicht auf Dauer.

Deswegen taugst du auch nicht zum Soldaten, Eldur. Selbst wenn es ums Überleben ginge, du könntest niemanden töten. Niemals.

Man sieht dir an, dass du bis jetzt drum herum gekommen bist.“

Schweigen.

Zwischen Verlegenheit und tiefgehenden Schamgefühlen schwankend, wandte Eldur sich ab und starrte in seine leere Teeschale.

Einerseits verdiente er jene Anschuldigung der Heuchelei, denn es stimmte, er hatte seine Pflicht auf dem Felde nicht ausreichend wahrgenommen und seine Feinde stets verschont; andererseits hatte ihn dies vor der charakterlichen Verrohung behütet, der man zwangsläufig anheim fallen musste, wenn man permanent mit dem Tod konfrontiert wurde.

Eine Zwickmühle, der er sich über all die Jahre gewahr gewesen war.

„Was wisst Ihr eigentlich nicht…?“ entfuhr es ihm, bevor er es verhindern konnte.

Sein Gesprächspartner aber blickte in die Ferne, abwesend, sehnsüchtig, und es war ihm abermalig offensichtlich, wie sehr ihm sein derzeitiger Status missfiel.

Hier mit ihm auf der Veranda zu sitzen und sich zu unterhalten, in die Handlungsunfähigkeit verbannt zu sein, widerstrebte seinem eigenwilligen Wesen. Es war demütigend für jemanden, der sich aus Überzeugung zum Kämpfen verpflichtet hatte, und umso frustrierender, mit einem Verweigerer, einem Hypokriten wie ihm zu sprechen.

Der Augenblick verging, mit ihm die Impression einer leidenden Feuerseele.

„Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewusst.“ schmunzelte Fölskvi in sich hinein, seine Züge unleserlich, und der Feldheiler zügelte seine Zunge, sparte sich die dreiste Randbemerkung, die ihm durch den Kopf geisterte.

Schreib’s auf, veröffentliche ein Buch…

In warmen Rotnuancen spielte der Schein der späten Nachmittagssonne auf den Dächern der umliegenden Gebäude, in den Wipfeln der Zierkirschbäume, und entfachte dort ein glühendes Inferno, wie ein Kupferfirnis, ein vergängliches Gedenken an das in unzähligen Schlachten vergossene Blut.

Metallisch glänzende Libellen kreisten über dem Fischteich.

„Es wäre besser, wenn ihr eine Zeitlang verschwindet. Sollte es hier hässlich werden, dann seid ihr wenigstens aus der unmittelbaren Schussbahn.“

„Wie meint Ihr das?“ fragte Eldur verdutzt nach, aus seinen Gedanken gerissen, und sah auf.

„Nimm dir frei, und schaff Logi weg von hier, für ein oder zwei Wochen. Den Rest regle ich“, erklärte der herforingi amüsiert, „Diese engstirnigen Chauvinisten in der Heeresleitung sind nicht erbaut darüber, dass ihre Befehle missachtet wurden.

Hiermit habe ich dich ausdrücklich gewarnt, verstanden?“

Eldur nickte langsam und erhob sich.

„Nutze deine Freizeit, Eldur, und denk darüber nach, was du wirklich willst. So kannst du nicht ewig weitermachen, es wird anderen auffallen.

Du solltest deine momentane Beschäftigung endlich als Berufung anerkennen.“

Ich beneide dich um deine Fähigkeit des Heilens, um die Gabe, etwas erhalten zu können. Mir ist es nicht vergönnt, mit meinen Händen etwas anderes als Chaos und Zerstörung zu bringen…
 


 

***
 


 

Ein vages Rascheln ließ den Abt aufblicken, über die abschüssige Gebirgswiese hinweg zum Rande des Waldes, wo ein Goldfasan erhobenen Hauptes durch das Unterholz des Bambusdickichts schritt, das bunte Gefieder auf sanftem Grün eine Augenweide, aber ebenso auffällig und nachteilig in den Augen eines potentiellen Feindes.

Gleichsam eine Warnung und eine Herausforderung.

Trügerische Realität.

Die Wahrheit verbirgt sich oftmals unter dem Deckmantel eines flüchtigen ersten Eindrucks…
 

Im Hauptsaal des winzigen Bergklosters herrschte beklommenes Stillschweigen.

„Womit diese Angelegenheit geklärt wäre“, folgerte der junge Drachensouverän sachlich, und wies beiläufig auf den leblosen Leib seines Artgenossen, des Attentäters, der nunmehr nicht nur sein Blut auf die blank polierten Holzdielen ergoss.

Ein Auftragsmörder aus dem Norden, so offensichtlich.

Die übrigen Abgeordneten des geheimen Kongresses, Gesandte der vier Reiche und zum größten Teil pazifistisch gesinnte Diplomaten, vermochten ihre Betroffenheit, ihre schiere Fassungslosigkeit schwerlich zu verbergen.

Hraunar hingegen fuhr unbeirrt fort: „Genau das ist es, was aufhören muss, und was ich mit all der mir zur Verfügung stehenden Macht zu vermeiden versuchen werde.

Wir müssen endlich aufhören, uns gegenseitig zu bekämpfen und damit beginnen, unseren wahren Feind zu erkennen.

Während wir uns immer mehr in interne Sippenfehden verstricken, verlieren wir den Überblick und unseren Sinn für die wirkliche Gefahr, die die Existenz unseres Clans bedroht; dieser Feind stammt nicht aus unseren eigenen Reihen!

Er kommt von außen, klammheimlich, und zurzeit geben wir, aus Unwissen, unseren Brüdern die Schuld für die Schandtaten eines anderen.

Wie viele unserer Krieger verschwinden auf den blutigen Schlachtfeldern? Wie viele kehren von den abgelegenen Außenposten nicht wieder zurück?

Das sind keine Zufälle!

Das sind keine ‚üblichen Verluste’!

Auf infame Weise versucht der Feind uns gegeneinander aufzuhetzen und von innen heraus zu zermürben, und den Grundstein dafür legte er bereits mit dem Tod Helvítis, mit dem Zerbrechen unserer Einheit.

Dadurch, und ausschließlich dadurch, funktioniert seine Taktik bis heute – wir dürfen nicht der Spielball feindlicher Kräfte bleiben!

Wir müssen jenen Status der Paralyse als Nation überwinden, um unserer Unabhängigkeit und des Fortbestandes der Feuerdrachen willen!

Wir wollen nicht so enden wie die Mongolen, die hinterrücks angegriffen und abgeschlachtet wurden, deren Blindheit ihren Frauen und Kindern zum Verhängnis wurde.

Dem Treiben von Roks Nachfolgern muss Einhalt geboten werden!“

Wohlerwogen pausierend, labte sich Hraunar an der Verunsicherung, die er mit seiner Ansprache gestiftet hatte, lauschte dem Raunen und erregten Flüstern, das in den Reihen der Delegierten ausbrach.

„Zu diesem Zweck schlage ich die Bildung eines überregionalen Sonderkorps vor, zum Schutz und zur Verteidigung, die Aufhebung der Grenzen und einen umfassenden Friedenspakt. Ich hoffe auf die Kooperation aller Reiche, ohne die ein solches Vorhaben nicht realisierbar ist.

Nicht als Verbündete wollen wir gemeinsam, Seite an Seite für unsere Zukunft streiten, sondern als Brüder im Blute und im Geiste!“
 


 

***
 


 

Tiefe Wagenrillen und dutzende verschiedene Pferdespuren zeugten von der Popularität der Route, die in den weiten Osten hinein führte, die Wegesränder entlang der Hauptstraße von Plantagen und Feldern aller erdenklichen Variationen gesäumt.

Der dichte Strom der Reisenden und Händler brach hier niemals ab, auch nicht in der Nacht, wenn die Mehrzahl der Karawanen rastete und an den unbewirtschafteten Seitenarealen kampierte.
 

Nach einem etwa fünftägigen Ritt ohne längere Unterbrechungen zügelte Eldur sein Pferd und deutete gen Horizont.

„Das wär’s, wir sind da!“

Elegant schwang er ein Bein über die Kruppe seines Falben und saß ab, ein sonniges Lächeln auf den Lippen, und tätschelte Logis Reittier den Hals.

Der kafteinn selbst schwieg, betrachtete anstatt dessen eingehend die unmittelbare Umgebung, die Herde Wasserbüffel, die im Schatten einiger Chinesischer Kastanien döste.

Mittlerweile waren sie im Vorort der prosperierenden Provinzmetropole des Ostens angekommen, ein ruhiges Städtchen wie aus dem Bilderbuch, nahe der großen Handelsstraße und direkt an einer breiten Flussader gelegen, und wo man auch hinschaute, kein Anzeichen von Armut oder Elend.

Das Blendwerk einer gehobenen Gesellschaft.

Makellos. Vorbildlich.

Im Gegensatz zu mir…

Stumm folgte er dem vor sich hin gestikulierenden Feldheiler, der wohl bereits seit geraumer Zeit über klimatische Bedingungen der Gegend berichtete, zwischendrin irgendetwas über Wein, und von dem nicht weit entfernten Binnensee schwärmend, zu sehr einvernommen von seiner eigenen Begeisterung, als dass er die nachdenkliche Abwesenheit des Soldaten bemerkt hätte.
 

Logi war erstaunt über das herzliche Willkommen, das die Stadtbewohner ihnen bereiteten.

Offensichtlich kannten vor allem die jüngeren Frauen Refur mit Namen, grüßten ihn mit freundlichen Worten und gewogenen Blicken, und nicht selten schenkten sie ihm im Vorbeigehen ein Körbchen mit Mondkuchen oder kandierten Früchten.

Und der Fuchs schöpfte die Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbrachte, vollständig aus, bedankte sich eifrig für die Komplimente, die nach einer Weile seine sommersprossigen Wangen röteten.

Dennoch gefiel es ihm augenscheinlich, im Mittelpunkt der Dinge zu stehen.
 

Dann hielt der Heiler plötzlich inne.

Um den Brunnen hatte sich ein Grüppchen tuschelnder und kichernder Mädchen versammelt, die die beiden männlichen Neuankömmlinge aus der Entfernung mit regem Interesse beobachteten; lediglich eine hielt sich zurück und wirkte verschüchtert, was ihre Kameradinnen mit allgemeinem, begeisterten Quieken registrierten.

„Bleikja!“ rief der Fuchs daraufhin, hob die rechte Hand zum Gruß, doch die besagte Dame wandte sich schlagartig um und verschwand fluchtartig hinter dem nächsten Haus.

„Sie ist ein wenig schüchtern“, beteuerte er Logi gegenüber grinsend und setzte sich wieder in Bewegung.
 


 

***
 


 

Vor einem halben Jahr war er das letzte Mal hier gewesen, nun schien es ihm wie eine halbe Ewigkeit.

Und trotz dessen hatte sich nichts verändert.

Erleichtert atmete Eldur auf, dankbar für diese Konstante in seinem Leben, die ihm Halt und Sicherheit gewährte seit er denken konnte, und er genoss die Glückseligkeit, die damit einherging und ihn erfüllte, die sein Herz schneller schlagen ließ.

Seine Heimat.

Die frühesten, einigermaßen kohärenten – und die schönsten - Kindheitserinnerungen in seinem Gedächtnis spielten sich im Obergeschoss dieses Hauses ab; seine Eltern wohnten längst nicht mehr hier.

„Ich hoffe, es macht euch beiden keine Umstände, dass ich noch jemanden mitgebracht habe. Unangekündigt“, meinte der Feldheiler langsam, als er liebevoll über das glatte Holz des Treppengeländers fuhr, in sich gekehrt, und blickte Hrapa in die dunklen Augen.

Womöglich wäre es besser gewesen, einen Eilboten voraus zu schicken.

„Nein, nein. Mach dir keine Sorgen, wir haben wahrlich Platz genug“, antwortete sein Gegenüber beschwichtigend, während sie sich die Hände an ihrer Schürze säuberte, „Ah, also deswegen ist Bleikja vorhin so aufgeregt zurückgekommen.“

Hrapas Lachen war das einer einsamen Witwe, verloren in der Welt, die wenig Kontakt zu ihren Nachbarn pflegte, und sich mit anderen bloß aus Höflichkeit unterhielt, die den Tod ihres Gatten nach Jahrzehnten nicht überwunden hatte und innerlich litt wie am Tage des Unglücks.

Eldur bemitleidete sie aufrichtig.

„Tut mir leid, dass ich so hereinplatze, aber ich konnte es kaum erwarten. Als ich von meiner Beurlaubung erfahren habe, musste ich sofort los“, versuchte er, seinen regelrechten Überfall zu rechtfertigen, obwohl ihm dabei nicht wirklich wohl war, denn seine oberflächliche Begründung stimmte nicht unbedingt mit der Wahrheit überein, die ihn zu jenem Besuch gedrängt hatte.

„Du musst dich nicht entschuldigen, Eldur. Ich bin froh, dass du da bist. Du bringst Leben in die unerträgliche Stille, du hilfst mir mit der Arbeit und nebenbei machst du mein Kind glücklich.

Was will ich mehr?“
 


 

***
 


 

Eher nebenher entledigte Logi sich im Eingangsbereich seiner Stiefel und stellte sie ordentlich neben Eldurs, ungeachtet des weiteren Paares, das in der Ecke vor dem Absatz stand, eingestaubt, das Leder alt und rissig, von der Zeit heimgesucht.

Er wusste, was das bedeutete.

Wortlos richtete er sich auf und erkundete die Räumlichkeiten, sich der Impertinenz seines Verhaltens bewusst.

Kriegergewohnheit.

Konzentriert schritt er durch die leeren Zimmer, die er sauber, aber wie verlassen vorfand, und ihm war, als könnte er die Gespenster der Vergangenheit auf den Fluren spüren.

Erst in der Wohnstube stockte er unverwandt.

Sein Blick schweifte von dem spartanischen Mobiliar zu dem Schrein, der hingebungsvoll an der Wand arrangiert worden war. Blumen, eine Schale Obst und Wachskerzen schmückten die verblichene Kohlezeichnung, umrahmt von edlem Holz, und der intensive Geruch von Räucherstäbchen durchwob die Luft.

Zögerlich trat Logi näher, bewahrte jedoch seinen respektvollen Abstand.

Das Gesicht der Person auf der amateurhaften Skizze konnte man nicht mehr erkennen, und der schlechte Zustand des Pergaments bestätigte sein hohes Alter.

Wie ein Déjà-vu.

Nein. Eine perfekte Kopie meines-

Seine Selbstbeherrschung geriet ins Wanken, und er ballte die Hände zu Fäusten, schloss nach einem Moment die Augen und schöpfte einen zittrigen Atemzug.

All dies…

All dies, was nicht mehr existieren sollte, was angeblich nicht mehr auf Erden weilte – schlief er? Träumte er?

Gaukelte ihm sein zerrütteter Verstand eine heile Scheinwelt vor, eine Halluzination in der Wüste seiner Einsamkeit…?

„Das ist… unmöglich…“ wisperte er ungläubig, um seine Fassung ringend.

Plötzlich zuckte der kafteinn zusammen, wurde sich mit einem Mal der Präsenz zu seiner Rechten gewahr und wich perplex einen Schritt zurück.

Er fühlte sich ertappt und brachte im Folgenden keinen Laut über die Lippen.

„…“

Der weibliche Drache schüttelte nur unmerklich den Kopf, die Finger im Stoff ihrer Schürze vergraben, und ein bitterer Ausdruck ergriff kurzzeitig Besitz von ihren Gesichtszügen, ehe sie sich wieder sammelte und nichts als ungerührte Neutralität ihr Antlitz beherrschte.

Logi schluckte.

Sie ähnelte ihr ungemein.

So sehr es ihn innerlich schmerzen mochte, er kam einfach nicht umhin, die beiden miteinander zu vergleichen: eine durchaus hübsche Frau, verwitwet, Mutter, gezeichnet von den schweren Verlusten, die ihr auf der Seele lasteten. Jemand, der zurückgezogen lebte, und sich seinen Kummer nicht anmerken ließ, der sich seines Kindes wegen an eine erbärmliche Existenz klammerte…
 


 

***
 


 

Es war spät am Abend, als Eldur schließlich von seiner Stippvisite bei den Nachbarn zurückkehrte.

In seinem ehemaligen Elternhaus brannte kein Licht mehr.

Geräuschlos schloss er die Eingangstür hinter sich und schlich auf leisen Sohlen in die Wohnstube, der Zugrichtung der lauen Nachtbrise folgend, und bemerkte im Stillen, ohne ernstliches Erstaunen, dass Logi noch nicht schlief.

Vorsichtig näherte er sich der Silhouette des Soldaten, stolperte in der Dunkelheit über eines der Sitzkissen und fluchte ungehalten über sein Ungeschick.

„Was musst du dich hier auch ins Düstere hocken“, schimpfte er halbherzig und tastete sich mit mehr Umsicht weiter vor. Er musste sich neben Logi auf die Zehenspitzen stellen, um die Kerze in dem Lampion zu entzünden, der am Stützbalken der Überdachung befestigt worden war.

Der kafteinn saß auf der Veranda, die Beine überkreuz und das Schwert auf dem Schoß, neben sich hatte er die – bis auf den eingelegten Rettich - leeren Schüsseln vom Abendessen penibel ineinander gestapelt.

Eldurs Lächeln verschmolz mit dem Zwielicht.

„Gefällt's dir hier?“ fragte er aufmerksam und blickte in den Garten, wo das Leuchten unzähliger Glühwürmchen mit dem sternenklaren Himmelszelt konkurrierte, wo sich das Zirpen der Zikaden und das Quaken der Frösche zu einem harmonischen Kanon verbanden.

„Es ist verdammt laut“, gab Logi knapp zurück und zuckte die Schultern.

„Achso?“ erwiderte der Heiler etwas verständnislos, dann lachte er, „Ich finde es entspannend.“

Vielleicht mochte er keine Frösche.

„Naja, ist nicht so, als hätte Fölskvi mich nicht vorgewarnt. Er erwähnte, du wärst ein Hinterwäldler der speziellen Sorte.“

Zugegeben, herforingi Fölskvi hatte ihm mehr als nur das erzählt und insofern eingebläut, ein wachsames Auge auf ihn zu haben; zum Beispiel von Logis eigenwilliger Angewohnheit, plötzlich zu verschwinden und nach zweitägiger Abwesenheit oder gar mehr aus dem Nichts wieder auf der Bildfläche zu erscheinen.

Einfach so.

Offenkundig wanderte er zu diesen Gelegenheiten durch die abgelegenen Stadtviertel oder mutterseelenallein durch die Natur.

Wozu das auch immer gut sein sollte.

Seltsamer Bursche.

Logi schnaubte unwirsch, eine Erwiderung zu seinem unüberlegten Kommentar, und Eldur wechselte beflissen das Thema: „Dieses Haus gehörte früher meinen Eltern, ich bin hier die ersten Jahre aufgewachsen. Es war eine schöne Zeit, wirklich. Allerdings hat das Stadtleben genauso was für sich.“

Er überspielte das Desinteresse seines Gesprächspartners fachgemäß, lenkte ein, als er nicht antwortete.

„Lassen wir's, ein andermal.“

Erschöpft gähnend streckte er seine müden Glieder, das Knacken seiner Gelenke vernachlässigend, eine Übersprungshandlung, und setzte sich an den Außenrand der Verandadielen, ließ die Beine baumeln.

Logi schenkte er dabei ein halbseitiges, schiefes Grinsen.

„Bleikja ist übrigens meine Verlobte.“

Dazu sagte er besser nichts, entschied der kafteinn.
 

Eine weiß melierte Motte flatterte im schummerigen Lichtschein des Lampions, umschwirrte diesen mit erratischen Flügelschlägen, und Logi fixierte sie mit einem finsteren Blick.

Eldur wohnte dem schweigend bei, stieß jedoch einen überraschten Laut aus, als der Falter an ihm vorbei, auf Logi zuflog und der ihn augenblicklich mit einer einzigen Bewegung, die er spürte, aber nicht sah, aus der Luft fing.

In der hohlen Faust hielt er das Tierchen gefangen, und der Heiler konnte erkennen, wie sich die Muskeln im Arm des Soldaten anspannten.

„Mach das nicht“, meinte er gedämpft und umfasste sanft Logis Finger, zwang sie auseinander.

Die Motte wich nicht vom Fleck.

Das letzte Mal…
 


 

***
 


 

Während Eldur sich einem Großteil der häuslichen Pflichten annahm, um Hrapa und ihre Tochter ein wenig zu entlasten, hielt sich Logi geflissentlich aus diesen Tätigkeiten heraus.

Der Heiler empfand dies nicht als verwunderlich.

Hausarbeit war für die meisten Krieger Frauensache, ein überflüssiges und lästiges Übel, mit dem sie sich nicht auf einer täglichen Basis auseinander setzen mussten und es außerhalb ihres Dienstes tunlichst vermieden.

Reines Proletengehabe – und damit hatte er bei Logi gerechnet.

Anstatt sich in den Alltag der beiden Frauen zu integrieren wie Eldur, der hinsichtlich dessen keine Hemmungen hegte, gesellte sich der kafteinn lediglich zum Essen zu ihnen, verschwiegen, aber höflich, und widmete sich ansonsten einem ausgiebigen Training.

Er testete wohl seine körperlichen Grenzen aus.

Nach der wochenlangen Verhinderung durch seine Verletzungen wirkten seine Bewegungen steif und unkoordiniert, und es verdross ihn im höchsten Maße, dass ihm nicht einmal die Grundübungen mit dem Schwert fehlerfrei gelingen mochten.

Das konnte Eldur sogar aus der Distanz erkennen.

Doch im Punkte Ehrgeiz bewies Logi eiserne Disziplin: er begann im Morgengrauen und beendete seine kämpferischen Betätigungen erst, wenn die Schwärze der anbrechenden Nacht ihm die Sicht verwehrte.

Ohne sich irgendwelche Nachlässigkeiten zu erlauben.

Der Feldheiler respektierte diese Konsequenz bedingungslos, und auch die in ihm aufkeimende, leise Bewunderung konnte er nicht abstreiten.

Deswegen hatte er einst Soldat werden wollen, als Idol für andere, als Schutzpatron für Schwächere...

Eine kindische Vorstellung.
 

Das feine Haar zu einem Zopf zusammengefasst, die Ärmel hochgekrempelt, beugte sich Eldur erneut über die Holzschüssel und wrang seinen Putzlappen erneut aus. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn, und sein Blick schweifte abermals über Bleikjas schlanke Gestalt.

Zusammen mit ihr schrubbte er bereits seit zwei Stunden die Bodendielen in der oberen Etage, und die durchaus ansprechende Aussicht auf das junge Mädchen verleitete seinen von Langeweile und Eintönigkeit geplagten Verstand immer öfter dazu, seine Augen auf etwas Ansehnlicheres als seine mittlerweile aufgequollenen Finger zu richten.

Er mochte sie, keine Frage.

Bleikja war eine Sandkastenfreundin, hübsch und mit guten Manieren, vorzeigbar, aber sie reizte ihn absolut nicht über eine physisch fixierte Begierde hinaus.

Kurzum, er liebte sie nicht.

Sein Vater hatte damals den Beschluss betreffs ihrer Verlobung mit einem seiner langjährigen Freunde gefasst, ihm war keinerlei Mitspracherecht zugestanden worden, und so hatte er sich gefügt, zwangsläufig.

Keine Seltenheit, es gab Schlimmeres - und was er in der Stadt, fernab von zu Hause zuweilen trieb, musste und würde sie ohnehin niemals erfahren.

Freilich durfte der sprichwörtliche Haken an der Sache nicht fehlen: sie brachte es ihm gegenüber zwar nicht offen zum Ausdruck, doch ihr Verhalten sprach Bände über ihre wahren Empfindungen.

Sie war schlichtweg zu schüchtern, um es zu verlautbaren oder sich überhaupt selbst einzugestehen.

Daher betete er zu den höheren Mächten, dass ihre Verlobung und alles Nachfolgende nicht in Tränen auseinander brechen würde...

„Hey!“

Im nächsten Augenblick traf ihn, gänzlich unvorbereitet, etwas Kaltes und ziemlich Nasses klatschend im Gesicht, und Eldur blinzelte perplex, als der unförmige Lumpen vor ihm zu Boden fiel.

„Eh?“ machte er verwirrt und blickte auf.

Schäumend vor Wut hatte sich Bleikja am anderen Ende des Korridors aufgebaut und drohte ihm mit geballten Fäusten. Ihre geröteten Wangen jedoch bezeugten ihre Scham.

„Hast du nichts anderes zu tun, als mir auf den Hintern zu glotzen, du perverses Schwein?!“ fauchte sie ihn an, ehe sie beleidigt die Treppe hinunter stürmte und die Tür der Wohnstube hinter sich geräuschvoll zuschlug.

Eldur kratzte sich überfragt am Kopf.

Frauen.

Das musste er nicht verstehen.
 

Hrapa besorgte auf dem Markt die wöchentlichen Einkäufe, und Bleikja verbarrikadierte sich mittlerweile in der Küche, sodass sich der Heiler wohl oder übel dazu genötigt sah, sich alleine um die Wäsche zu kümmern.

Den kafteinn um Hilfe zu bitten, wagte er sich nicht.

Wenig begeistert schritt er im Garten hinter dem Haus zur Tat, das Wasser des großen Bottichs reichte ihm bis über die Ellbogen, und Eldur entschied, dass er Waschen nicht ernsthaft zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählte.
 

Derweil hatte sich Logi auf dem Dachfirst postiert, ausnahmsweise zufrieden mit seinem heutigen Trainingsfortschritt, die Ruhe der Kleinstadt und die unbeschränkte Aussicht auf die weite, relativ flache Umgebung genießend.

In der Ferne konnte er die Silhouetten der Weinberge ausmachen.

Trotz dessen störte ihn etwas, ein undefinierter Faktor am Rande seiner Wahrnehmung, wie ein schwarzer Fleck, der die Komposition eines Bildes nachhaltig verfremdete, und dies beunruhigte ihn.

Zu benennen vermochte er es nicht.

„Hey, Logi“, unterbrach Eldurs Stimme seinen Gedankengang, und er wandte den Kopf in die Richtung des Fuchses.

„Könntest du mir einen Gefallen tun?“

Der Soldat zuckte die Schultern.

„Ist das ein Ja?“ hakte er grinsend nach, und Logi nickte.

„Du könntest zum Brunnen gehen und Wasser holen. Wenn Bleikja sich schon in der Küche einsperrt, kann sie auch gleich mit dem Kochen anfangen.“
 


 

***
 


 

Skeptisch musterte Hrapa die drei jungen Männer, nach ihrer Kleidung zu urteilen offenkundig Fremde, die auf der anderen Straßenseite den Hafervorrat für ihre Pferde aufstockten und lautstark um den Preis feilschten.

Sie waren bewaffnet und trugen keine sichtbaren Symbole auf ihren langen Roben.

Für die Bewohner dieses Vorortes stellten Durchmärsche von Garnisonen oder größeren Truppenteilen keine Besonderheit dar, sie gehörten ebenso zum Alltag wie das Passieren der ein oder anderen zwielichtigen Person, aber diese drei...

„Das sind keine Soldaten“, murmelte sie abwesend zu sich selbst.

„Verdächtig, he?“ ergänzte die Frau hinter der Theke flüsternd, „Die drei Jungspunde kamen hier im Morgengrauen an, aus dem Westen und sie sind definitiv nicht von der östlichen Armee.

Trotzdem stolzieren sie öffentlich mit ihren Schwertern umher und machen keinen Hehl daraus. Solange die sich hier rumtreiben, lasse ich meine Kinder sicher nicht auf die Gasse.“

Mit verengten Augen betrachtete die Ältere der beiden die Neuankömmlinge, ihr Ausdruck geprägt von Furcht und Abscheu, bevor sie ein „Dreckiges Pack!“ zischte und sich wieder ihrem Gemüse zuwendete.

Hrapa schätzte die Präsenzen der drei Feuerdrachen als bedrohlich ein, eine eindeutige Warnung, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Söldner. Oder Schlimmeres.
 

Lässig lehnte sich der ranghöchste der drei Feuerdrachen wenig später an die hölzerne Brüstung des Brunnens, überließ das Tränken der Pferde seinen beiden Kameraden.

„Habt ihr mitbekommen, was Ákafi über die Aktion an der mongolischen Grenze erzählt hat?“ fragte er mit einem belustigten Grinsen auf den Lippen in die kleine Runde, und da seine Genossen sich dazu nicht verbal äußerten, fuhr er fort: „Die unfähigen Deppen, die die Heeresleitung dort stationiert hatte, wussten gar nicht, wie ihnen geschieht!

Und ratet mal, wen sie am letzten Posten umgelegt haben!

Na? Na?“

Der Feuerdrache ignorierte das überforderte Schulterzucken seiner Untergebenen und beantwortete sich seine Frage postwendend selbst – dass er sich dabei nicht noch selbst ins Wort fiel, war alles.

„Glaubt es oder nicht: das arrogante Schoßhündchen aus Múspells Kindergarten, das der sofort zum kafteinn berufen hat.

Jetzt sitzt Múspell in einem ganz schönen Schlamassel, und das hat er sich selbst zuzuschreiben.“

Dann wich der grimmige Ausdruck von seiner Miene und er lachte schallend auf.

„Jedem das, was ihm gebührt.“

Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, wie Recht er damit behalten sollte.
 

Zuerst dachte er sich bei dem dumpfen Aufschlag zu seiner Linken nichts.

Als ihm ein Schwall Brunnenwasser über die Stiefel schwappte, ärgerte er sich zugegebenermaßen über die Unfähigkeit des Verantwortlichen, ging jedoch von einem Missgeschick aus.

Als keine Entschuldigung erfolgte, fuhr er verstimmt auf und holte Atem, um dem dämlichen Tölpel die Leviten zu lesen, und stockte augenblicklich, als er dessen Antlitz erblickte.

Nein.

Weder ein Missgeschick noch ein Zufall.

„Wie...?“

Er verstummte, starrte ungläubig den Übeltäter an, plötzlich blass und wie erstarrt.

„Das kann nicht sein“, brachte er noch verwirrt hervor, ehe sein Gegenüber ein Jagdmesser zückte und ihn mit den dunklen Iriden fokussierte...
 


 

***
 


 

Eldur seufzte wohlig auf und schloss den zierlichen Körper des Mädchens fester in seine Arme, vergrub die Nase in ihrem langen, rostroten Haar.

Es galt die Chance des Momentes zu nutzen, derart ruhig und anschmiegsam würde sie sich ihm gegenüber nicht auf Dauer zeigen. Dafür war sie zu scheu – und zu stolz.

Wie es dazu gekommen war?

Nachdem er die Wäsche gewaschen und aufgehängt, und seines Erachtens nach viel zu lange auf Logi gewartet hatte, war er, einsichtig, zu Bleikja gegangen und hatte sich entschuldigt.

Durch die Küchentür hindurch.

Nach einer Weile des Schmollens hatte sie ihm widerwillig nachgegeben und die Schiebetür geöffnet, und seitdem weigerte sie sich tunlichst, ihm auch nur annähernd in die Augen zu sehen.

Er hatte sie umarmt, frei heraus.

Was hätte er sonst tun sollen?

„Eldur... du kannst mich jetzt wieder loslassen“, merkte sie verlegen an, und der Feldheiler gab sie frei.

„Ich, also... weißt du, äh... ich...“ stammelte sie betreten, durcheinander, was Eldur ein ehrliches Lächeln entlockte.

„Schon gut“, sagte er behutsam und legte seinen Zeigefinger über die Lippen des stotternden Drachenmädchens, das daraufhin konsterniert zusammenfuhr.

Ihr Herz raste, schlug beinahe schmerzhaft gegen ihren Brustkorb.

Was...?

Zunächst begriff sie nicht; was versprach er sich von einem solchen Spielchen?

Oder... meinte er es in der Tat ernst?

Unschlüssig hob sie ihre rechte Hand und berührte zögerlich seine Wange, und dem Feldheiler wurde bewusst, dass er diese Partie gewonnen hatte.

Und das, ohne unlautere Methoden angewandt zu haben.

Sie schloss die Augen, gewährte ihm den unschuldigen Kuss, kurz und zaghaft, und all ihr Widerwille war dahin.

Eldur hingegen hatte sich mehr erhofft, doch dann forderte mit einem Mal etwas anderes seine Aufmerksamkeit ein.

„Eldur? Was ist?“

Er spürte das Aufflammen von Logis Feuerenergie, den unbändigen Zorn, der sich dahinter verbarg, und das verhieß nichts Gutes.

Was zur Hölle hatte das zu bedeuten?

Hatte Logi den Verstand verloren?

Wenn er hier ein ähnliches Massaker anrichtete, wie zuvor unter den Ordensmitgliedern...

„Tut mir leid, Bleikja, wir müssen das verschieben“, informierte er sie nüchtern und mit den Gedanken längst bei der Schadensbegrenzung, die garantiert notwendig sein würde.

Als er das Haus daraufhin hastigen Schrittes verließ, spürte sie erneut wiederholt eine siedend heiße Wut in sich aufwallen.

„Idiot.“
 

Was spielte sich bloß in Logis Hirn ab?

Seinem unüberlegten Agieren nach nicht sonderlich viel. Er war drauf und dran, sich zum Gespött zu reduzieren, Eldurs Ruf als Gastgeber und Mitbürger zu ruinieren.

Zähneknirschend eilte er durch die schmalen Seitenstraßen, empört, bis ihm der Geruch von Blut in die Nase stieg, und seine Besorgnis die Oberhand gewann.

Ein schlechtes Zeichen, wenn er bedachte, dass der kafteinn sein Schwert im Haus gelassen hatte.
 

Kurz darauf erreichte Eldur den Dorfplatz, und er stockte abrupt, als er der Szenerie gewahr wurde, die sich dort zutrug.

Logi kniete über einem auf dem Rücken liegenden Feuerdrachen, hielt ihn so mit seinem Gewicht am Boden, das Schienbein gegen dessen Brust gesetzt und drosch unbarmherzig, mit den baren Fäusten, auf ihn ein; zwei andere lagen regungslos neben der Tränke, Blut verfärbte die Lache verschütteten Wassers und die Fragmente einer geborstenen Klinge glitzerten verräterisch im Sonnenlicht.

In den Schatten der umstehenden Häuser standen, dicht an dicht aneinander gedrängt, die entsetzten Frauen und Kinder.

Der Heiler musste sich sammeln – Gewalt, unausweichlich auf dem Schlachtfeld, war eine Sache, aber mutwillige Grausamkeit entschuldigte nichts.

Das konnte und würde er Logi nicht durchgehen lassen!

Entschlossen näherte er sich dem Soldaten und packte diesen am Schwertarm, zerrte ihn von seinem Opfer weg.

Logis verzerrter Ausdruck verfinsterte sich, doch sein vergeblicher Protest erstarb alsbald, erwägend, dass die Knochen in seinem Unterarm eine harsche Bewegung entgegen Eldurs Griff nicht überstehen würden.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen, Logi?!“ herrschte er den keuchenden Drachen an, zitternd vor Rage und Bestürzung.

Sein Gegenüber schwieg, wandte trotzig den Blick ab.

„Wag es nicht, dich von der Stelle zu rühren“, diktierte Eldur in einem für ihn ungewöhnlich resoluten Ton, der keinen Widerspruch duldete, „Solltest du auch nur Anstalten machen, werde ich dir diesmal wirklich weh tun. Kapiert?“

Für den unbekannten Drachen kam unglücklicherweise jegliche Hilfe zu spät.

Verdammt.

Eldur sank an seiner Seite kraftlos in die Knie, warf dem kafteinn einen verständnislosen Schulterblick zu.

„Du blutest“, stellte er sachlich fest, doch Logi gab sich unbeeindruckt.
 

Bis sie nach Hause zurückgekehrt waren, und Eldur die Wunde genäht und einigermaßen verbunden hatte, verlor Logi mindestens dreimal das Bewusstsein.

Wortlos und in sich gekehrt versorgte der Heiler den Verwundeten, half danach dabei, die drei fremden Männer am Stadtrand zu begraben.
 


 

***
 


 

Drei Tatsachen waren es, die ihn hinsichtlich der toten Feuerdrachen nachdenklich stimmten.

Erstens: die absichtlich ungezeichnete Kleidung.

Folglich wollten oder sollten sie unerkannt bleiben. Aber warum?

Waren sie Auftragsmörder gewesen? Oder hatten sie einen geheimen Auftrag ausführen sollen, im Namen eines Unbekannten?

Zweitens: die erstaunlich umfangreiche Sammlung an Identitätsplaketten, die die drei gehortet hatten.

Selbst hatte keiner von ihnen eine getragen, und Eldur bezweifelte, dass sie ihre eigenen noch besessen hatten.

Dies fügte sich perfekt an die Symbollosigkeit ihrer Roben, und deutete auf das Metier der Kopfjäger hin.

Drittens: der grobe Versuch, ihre Herkunft zu vertuschen, indem man das Rangabzeichen auf ihrem rechten Oberarm entfernt hatte.

Die Narben, die nun anstatt dessen an dieser Stelle prangten, weiß wie Perlmutt, waren ein ebenso präzises Erkennungsmerkmal – sie stammten ursprünglich alle drei aus dem Osten.

Deserteure?

Hatten sie ihrem Reich entsagt und waren lediglich ihrem persönlichen Willen unterstellt gewesen?

Eher nicht.

Doch etwas an dem Kopfjägermotiv irritierte ihn noch immer.

Desillusioniert hob Eldur den Blick und fixierte Logis breiten Rücken; der kafteinn hatte sich von ihm weg, zur Wand gedreht, natürlich ohne Rücksicht auf seine verletzte Schulter zu nehmen, und bewies abermalig seine grenzenlose Sturheit.

Logi wusste die Antwort.

„Hast du sie deswegen getötet?“ brach er die angespannte Stille der Wohnstube und schwenkte die Plaketten in seiner Hand, sodass sie klimperten wie ein Windspiel.

„Nein...“ presste der nach einer Weile knapp hervor, unwillig, die Thematik zu vertiefen.

„Mir wurde erzählt, du hättest sie angegriffen, grundlos. Wozu?

Ich verstehe das nicht. Davon hättest du nichts, und ein Anlass ist verdächtiges Wirken allein sicher nicht. Niemand tötet ohne Grund. Auch du nicht.“

Schon gar nicht auf so eine bestialische Art und Weise.

Dahinter steckte mehr, wesentlich mehr.

„Was ist los mit dir, Logi?“ fragte der Feldheiler ernüchtert, „Ich hatte das Gefühl, es würde dir allmählich besser gehen.“

„Nichts“, erwiderte der Soldat dumpf und erklärte das Gespräch somit offiziell für beendet.

Gar nichts.
 

Er hätte ihm gerne Vorwürfe gemacht, aber er konnte es nicht.

Niemand tat es.

Insgeheim waren die Stadtbewohner erleichtert, ja, froh über Logis impulsives Vorgehen, im Endeffekt hatte er die Gefahr gebannt und niemand von ihnen hatte sich die Hände mit Blut besudelt.

„Sobald du aufstehen kannst, gehen wir.“

Hrapa beobachteten ihn besorgt aus dem Nebenzimmer, die uncharakteristische Härte in Eldurs Worten, in seinen Augen mochte ihr nicht gefallen.

Als er zu ihr auf den Gang trat, fasste sie ihn am Handgelenk: „Sei nicht zu streng mit ihm, Eldur. Um die drei ist es nicht schade.“

„Tut mir leid. Aber das sehe ich anders“, teilte er gefasst mit.

„Ich kann ihn nicht frei hier rumrennen und irgendwelche Fremden abstechen lassen, weil es ihm beliebt.“

„Eldur“, warnte sie kalt, „du hast nicht das Recht dich in die privaten Angelegenheiten deiner Genossen einzumischen.

Du weißt mindestens so gut wie ich, dass das heute nicht die Tat eines armen Irren oder geistig Verwirrten war.“
 


 

***
 


 

In weitläufigen Bögen schlängelten sich die Serpentinen den Berghang hinauf, steile Kreidefelsen und üppige Vegetation ein kontrastierender Hintergrund von nahezu malerischer Qualität.

Ein Habichtsadler auf Nahrungssuche kreiste weit oben am Himmel.

Blinzelnd, und mit der Hand die zusammengekniffenen Augen abschirmend, spähte der junge Drache in die Ferne.

„Ich glaub das einfach nicht!“ brauste das voran reitende Mädchen plötzlich in beachtlicher Lautstärke auf, sodass er sie in sage und schreibe fünfzig Schrittlängen Entfernung noch einwandfrei vernehmen konnte.

Finster dreinblickend drehte sie sich im Sattel um und zog, offenkundig ausgenommen verstimmt, die Augenbrauen zusammen.

„Was denn?“ winkte er verständnislos ab und zuckte die Schultern, „Reg dich ab.“

Eingeschüchtert von ihrer nun erbosten Miene hob er beschwichtigend die Hände: „Immerhin bist nicht du diejenige, die laufen muss.“

Mitnichten hatte er das geplant. Und er musste zu seinem Leidwesen einräumen, so anstrengend hatte er sich das Reisen zu Fuß nicht vorgestellt.

Seine vermaledeite Pechsträhne hatte ihm das beschert!

„Das wär ja noch schöner!“ zeterte sie daraufhin und verschränkte die Arme vor der Brust, bis sie sich anschließend in wilder Gestikulation verlor, um ihrer Frustration gebührenden Ausdruck zu verleihen.

„Du verscheuerst mein Pferd-“

„Schon verstanden.“ unterbrach er sie versöhnlich, ein erzwungenen Lächeln auf den Lippen, da ihm bereits der Gedanke an einen Streit mir ihr Unbehagen bereitete, wissend, dass sie im Notfall - sollte es ihm gelingen, ihre Argumentation als hinfällig zu entlarven - auf Gewalttätigkeiten zurückgreifen würde.

Unberechenbar.

Unheimlich, bisweilen.

„War ’ne blöde Idee…“

„Saublöd!“ korrigierte sie ihn barsch und stieß der braunen Stute die Fersen in die Flanken.

Beschämend, wie manipulativ das Temperament seiner Schwester auf ihn einwirkte…
 

Stunde um Stunde verstrich.

Die Schatten der Bäume wurden stetig dunkler und kühler.

„Sag mal, Aska… wo genau sind wir gerade?“ wagte er nach einer Weile des angespannten Schweigens die Frage, die ihm bereits seit einiger Zeit auf der Zunge lag.

Aska schnaubte.

„Ich weiß, was ich tue!“ versicherte sie schroff, kramte jedoch die zerschlissene Landkarte aus der Satteltasche und warf sie ihm zu.

„Schaut selbst nach, Eure allwissende Heiligkeit, die Ihr beim Glücksspiel unseren Kompass verscherbelt habt!“

Ihr Begleiter runzelte bloß die Stirn und musterte sie skeptisch, nachdem er das abgenutzte Stück Pergament entfaltet hatte.

„Aska…“ begann er langsam.

„Was denn noch?!“

„Dir ist schon bewusst, dass das eine Europakarte ist…?“
 


 

***

Akt.VI *** Im Angesicht des Todes: Sein Geständnis

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"

"herstjóri" bedeutet "General"

"leiðtogi" bedeutet "Anführer"

"ofursti" bedeutet "Oberst"

"refur" bedeutet "Fuchs" (negativ besetzt)
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Akt.VI *** Im Angesicht des Todes: Sein Geständnis
 

Ofursti Múspell fasste instinktiv nach seinem Schwert und zog, als er ein Geräusch auf der Veranda vernahm – er kannte alle Soldaten, ausnahmslos, die freien Zutritt zum zweiten Stock des Hauses erhalten hatten, und die leichten Schritte, die sich ihm nun näherten, gehörten definitiv zu keinem von ihnen.

Ein Attentäter...?

Wenn, ein miserabler.

Er verbarg seine Präsenz bloß mäßig, und dies verkam ohnehin zur Nebensache, bedachte man, dass Múspell ihn hören konnte.

Einen Hinterhalt sollte er nicht leichtfertig ausschließen.

Es war eine unerträglich warme Sommernacht in der sich kein Lüftchen regen mochte, wodurch er keine auffällige Witterung bemerkt hatte, die Schiebetür zum Balkon stand offen.

Leise erhob sich der Feuerdrache und durchquerte den Raum, spähte in die nächtliche Dunkelheit hinaus; nichts als grauschwarze Schemen und die Schatten der Bäume, die ideale Tarnung.

Eine Fledermaus flatterte am nahezu vollen Mond vorüber.

Múspell ging in Angriffshaltung.

Dann stieß er in einer flüssigen Bewegung vorwärts, um die Kante der Tür herum und dem Eindringling direkt entgegen.

„Yo, ofursti“, grüßte die ihm nicht so unbekannte Gestalt im Halbschatten nonchalant, und unbeeindruckt von dem feindlich gesinnten Empfang, „Guten Abend.“

Gelassen schob diese die Spitze der Schwertklinge aus ihrem Gesicht und schenkte dem perplexen Drachen ein schadenfrohes Grinsen.

„Hab ich Euch erschreckt?“

„Herforingi Fölskvi?“ erfolgte die prompte und gleichsam verdutzte Nachfrage des ofursti, „Was um Himmels Willen macht Ihr hier?“

Der Angesprochene winkte ab: „Naja... ich schätze, jedenfalls keinen Nachtspaziergang um mich zu entspannen.“

Für einen kurzen Moment überlegte Múspell, welcher einfältige Idiot ihm eine solche Ausrede abkaufen würde, hütete sich jedoch, nachzuhaken.

„Was wollt Ihr von mir?“

Er mochte ihn nicht sonderlich, seiner Einstellung, seiner Art zu kämpfen und der fragwürdigen Karriere wegen.

Seufzend steckte er sein Schwert zurück, folgte dem dreisten Kompaniechef, der sich bereits an ihm vorbei gedrängt und selbst hineingebeten hatte, in sein Quartier.

„Ihr werdet besser bewacht als die Höllenklinge im hiesigen Tempel, ofursti Múspell“, konstatierte der junge Offizier nüchtern, und angesichts seiner unangemessenen Garderobe, des wissenden Ausdrucks in den grünen Iriden ahnte er zumindest die Gründe für seine übertriebene Bewachung.

„Ich hoffe, Logi konnte einige Details klären, was den Grenzüberfall in der Mongolei angeht“, meinte der herforingi beinahe nebensächlich, als er sich an dem niedrigen Arbeitstisch niederließ und ein Nicken in Richtung des Aktenstapels andeutete.

Múspell fügte sich wortlos und gewährte ihm freien Zugriff – also hatte Fölskvi ihre kürzliche Begegnung zu verantworten.

Wieso riskierte er seinen Kopf für eine vermeintliche Lappalie, die für ihn nicht von Belang war?

Er weiß mehr, als es den Anschein erweckt.

Und er wusste ebenfalls, dass ihm keine Wahl blieb, dass er ihm keine Wahl ließ; zum einen, da er den höheren militärischen Posten bekleidete und ihm einfach den Befehl dazu erteilen konnte, zum anderen, da er sich in nächster Zeit wohl kaum einem anderen anvertrauen können würde. Denn wenn Hraunar oder die Heeresleitung wirklich planten ihn zu liquidieren, ging sein Wissen mit ihm ins Jenseits ein, verloren.

„Er hat meine Befürchtungen bekräftigt“, erwiderte er langsam, „Der Vorfall an der mongolischen Grenze geht auf die Kappe unserer eigenen Soldaten, und ich weiß, dass wenigstens ein Teil von ihnen aus meinem Regiment stammt.“

„Ernsthaft?“

Sein Genosse zuckte ohne aufzublicken die Schultern, blätterte abwesend in den Personalakten, die er ordentlich vor sich ausgebreitet hatte.

„Deserteure sind nichts Ungewöhnliches“, fügte er hinzu, in seine Lektüre vertieft: „Sind diese Daten offiziell?“

Kopfschüttelnd trat der ofursti näher und setzte sich an die gegenüberliegende Seite des Tisches, seine zuvor vergleichsweise neutrale Miene von bitterer Ernsthaftigkeit überschattet.

„Deserteure, die vier abgelegene Außenposten in der Mongolei hintereinander überfallen, den Großteil der Anwesenden grausam abschlachten und zwei Heiler verschleppen...“ und er schöpfte einen tiefen Atemzug, ehe er fortfuhr: „Jemand, der desertiert, hegt normalerweise keinen solchen Groll gegen seine Kameraden.

Selbst wenn, so etwas Auffälliges zu veranstalten, an vier Orten, womit die Wahrscheinlichkeit steigt, gesehen oder gar erwischt zu werden... Niemals.“

Obwohl Fölskvi den Kopf gesenkt hielt und las, bemerkte er das kurzzeitige Aufblitzen in seinen Augen, das unterschwellige Amüsement.

Eiskalte Augen. Blank.

Die Augen eines skrupellosen Mörders.

Es schien ihm, als wollte sein Gegenüber ihn mit seinem berechnenden Lächeln verhöhnen.

„Ergo: es war nicht ihre hirnrissige Idee“, kombinierte Fölskvi, den Grundsätzen der Logik gemäß, „und jemand anderes zieht die Fäden aus dem Hintergrund, ohne sich die Finger schmutzig zu machen.“

Was das letztendlich bedeutet...

Freilich war ihm Múspells warnender Blick nicht entgangen.

„Nicht verwunderlich“, erläuterte dieser, „die drei waren keine Überflieger.

Außerdem ist mir zu Ohren gekommen, sie hätten Kontakt zu einer dubiosen religiösen Gruppierung gehabt, bevor sie ein paar Tage vor dem Grenzvorfall verschwanden.“

Fölskvi bekundete seine Aufmerksamkeit mit einer flüchtigen Geste, während er sich die individuellen Angaben zu den drei besagten Feuerdrachen einprägte.

Allesamt Hinterwäldler, stellte er gedanklich fest.

„Allerdings fiel mir etwas ein: über die Jahre gab es immer wieder ungeklärte Verluste, aber ich erinnere mich genau an einen Rekruten namens Ofsi, der mir damals abhanden kam.

Schwach im Charakter, fürchterlich impulsiv und insgesamt zu emotional, dabei durchaus talentiert. Durch sein unmögliches Benehmen und die übermäßige Ambition hat er sich seinen Weg eigenhändig verbaut.

Als ich Logi zum kafteinn berief, war Ofsi außer sich, und er versuchte auf jede erdenkliche Weise, meine Entscheidung für ungültig erklären zu lassen.

Wenig später verschwand er spurlos.“

Er zog zielstrebig einen der Aktenordner aus dem Stapel, wies darin auf eine handschriftlich verfasste Liste, die unzählige Namen und Zusatzinformationen von diversen Verschollenen umfasste. Das Pergament war mit Fußnoten und Randnotizen übersät.

„Eine nicht unerhebliche Anzahl von ihnen brachte hohe Erwartungen mit. Sie strebten alle nach dem schnellen Ruhm, nach Geld und Ansehen, nach einem Aufstieg aus ihren bescheidenen Verhältnissen und vernachlässigten trotz dessen ihre Pflichten und ihre Ausbildung-“

„Charakterschweine“, fiel ihm Fölskvi geradeheraus ins Wort, sodass der ofursti sich nachdrücklich selbst ermahnen musste, den Ranghöheren aufgrund dessen nicht scharf zu kritisieren.

Null Anstand.

Für sein loses Mundwerk war er bekannt.

„Ich will damit sagen, dass sich das wie ein roter Faden durch die Vermisstenliste zieht. Es sind zu viele, um von einem Zufall reden zu können“, schloss er beherrscht.

Doch der Offizier wirkte nicht überrascht.

„In der Tat ein leichtes Unterfangen, frustrierte Jugendliche ohne Perspektive mit fadenscheinigen Versprechen zu schwerwiegenden Dummheiten zu verleiten“, meinte er nachdenklich, die Hände auf der Tischplatte gefaltet.

Seine Züge kippten ins Abwesende, und eine Weile herrschte Schweigen.

Das Portrait einer verkorksten Jugend, das womöglich ihn selbst betrifft...?

„Wie verdächtig ist dieser Pfaffenverein?“ erkundigte sich der herforingi noch immer in Gedanken versunken, und dennoch konnte sich Múspell eines gewissen Unbehagens nicht erwehren, dem Gefühl, dass der jüngere Feuerdrache die Antwort längst kannte.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete er ehrlich.

Sicherlich beglückwünschte sich Fölskvi in diesem Augenblick innerlich selbst und aalte sich in seinem Triumph.

„Möglicherweise nur ein Strohmann...“, sinnierte der Kompanieführer weiter, bis er unverfroren unterbrochen wurde: „Wozu solch ein Aufwand?“

Fölskvis Augen verengten sich unmerklich.

„Spielt keine Rolle.

Rachegelüste, Kreuzzug gegen die Sünder, Größenwahnsinn - alles schon da gewesen.“

Múspell unterdrückte den missmutigen Laut, der seiner Kehle zu entfleuchen drohte. Jene Kälte, die Gleichgültigkeit, mit denen er der Angelegenheit begegnete, verdross ihn.

„Ihr habt keinen Respekt, herforingi.“

Enttäuschung klang in der rauen Aussage nach, aber Fölskvi reagierte nicht.

„Und das muss ich aus Eurem Munde hören, ofursti?“ säuselte er anstelle der berechtigten Rüge, „Würdet Ihr nicht halsstarrig auf Eurer kontraproduktiven Meinung beharren, wärt Ihr seit langem ein einflussreicher Mann.

So werdet Ihr nie etwas bewegen können.“

An seinen Fähigkeiten zweifelte er hingegen nicht.

„Ein halbes Kind wie Ihr“, knirschte sein Gegenüber in sich hinein, verstimmt und jeglichen Augenkontakt meidend, „das durch Unzuverlässigkeit glänzt, durch ominöse Unpässlichkeiten die Vernachlässigung seiner Verpflichtungen rechtfertigt...“

Verwöhntes Gör.

Dass die Heeresleitung ihm seinen Rang nicht aberkannte, traf bei ofursti Múspell auf Unverständnis. Seine kriegerischen Qualitäten waren unleugbar, als Entschuldigung taugten sie dennoch beileibe nicht.

Tagelange Versäumnisse, wochenlange Auszeiten außerhalb der Regel...

Fölskvi begriff, worauf das hinauslaufen würde. Momentan würde ihm die Aufregung nicht bekommen.

Besonnen raffte er sich auf und wandte sich zum Gehen.

„Glaubt ja nicht, ich sei ein Verweigerer, so wie Ihr es seid.“

Ihr werdet genauso elend enden wie-
 

Mit einem eleganten Satz schwang sich Fölskvi über das Balkongeländer, verschmolz mit der Schwärze der Nacht.

Auf seinem Weg zurück, durch das Zwielicht der Allee vor der hell erleuchteten Tempelanlage, versuchte er verbissen sich zu beruhigen, doch bereitete ihm das Atmen zunehmend Schwierigkeiten, der angenehmen Witterung zum Trotz.

In diesem Zustand strengte ihn sogar das Fluchen an.

„Spaziergang, he?“ ertönte eine Stimme aus dem dämmerigen Nichts und Fölskvi zuckte erschrocken zusammen.

Ertappt.

Er hatte ihn nicht wahrgenommen, dabei demonstrierte er die Präsenz seiner Feuerenergie ungeniert.

„Wieso musst du mir immer hinterher rennen?“ murrte er atemlos, beobachtete die Silhouette seines Verfolgers aus den Augenwinkeln.

„Solltest mir demnächst vielleicht eine bessere Lüge auftischen“, riet ihm die schattenhafte Figur trocken, mit verschränkten Armen am Stamm einer Birke lehnend.

„Was ist los mit dir, Fölskvi?

Verhältst dich zurzeit erstaunlich unvernünftig für-“

„Lass mich einfach in Ruhe.“ schoss es ihm jählings entgegen, gereizt, kompromisslos.

„Schon gut, schon gut. Kannst mich ruhig anschreien, wenn es dir danach besser geht“, versicherte der Brigadier bedächtig und hob beschwichtigend die Hände. Der herforingi richtete einen gehörigen Anteil seiner Verbitterung gegen sich selbst, das wusste Kopar aus Erfahrung, und das, was er ihm an den Kopf warf, stellte lediglich einen Bruchteil dessen dar.

Es ist nicht seine Schuld.

„Ehrlich. Wenn du deinen Brass abreagieren willst, steh ich dir gern zur Verfügung“, bot er ihm entgegenkommend an, „unter der Bedingung, dass du aufhörst, dich wie ein bockiges Balg aufzuführen.“

Fölskvi verweigerte sich nichtsdestotrotz vehement und setzte sich, ungerührt, wieder in Bewegung – Kopars wohlmeinendes Angebot schlug er schnaubend aus.

„Behalt deine Almosen für dich“, zischte er abschätzig, bevor er abrupt inne hielt, sich plötzlich der unmittelbaren Nähe des Brigadier bewusst.

Sein Atem streifte die sensible Haut in seinem Nacken.

„Fass mich nicht an“, fuhr ihn der Offizier mit ernstem Nachdruck an, und Kopar trat einen Schritt zurück.

Das harsche Keuchen des jüngeren Soldaten empfand er als alarmierend genug.

„Ich bemitleide dich nicht, Fölskvi. Macht mir viel mehr Sorgen, dass du Leib und Leben für was riskierst, das es schlicht nicht wert ist.“

„Ich versuche mit dem kläglichen Rest dieses verfehlten Lebens etwas Sinnvolles anzufangen.“

Nichts als eine Lüge?

Oder handelt es sich das dabei um eine egoistische Entschuldigung, Ausflüchte, um ihm nicht glauben zu müssen?
 


 

***
 


 

Das Rauschen eines leichten Sommerschauers erfüllte die warme Morgenluft, übertönte das Lamentieren des durchnässten Wachpostens auf dem Hof ebenso effizient wie die gleichmäßigen Atemzüge des herforingi im angrenzenden Schlafraum.

Brigadier Kopar saß auf der Veranda und stapelte gelangweilt einen Turm aus Mikadostäbchen und Dominosteinen aufeinander.

Fölskvi hatte ihn vor einigen Stunden lautstark seines Quartiers verwiesen, mittels diverser kreativer Beleidigungen und einer leeren Suppenschüssel, sodass er erst einmal aus der potentiellen Gefahrenzone geflohen war.

Launisch, der Gute.
 

Als es dann an der Tür klopfte, sah er unwillkürlich auf.

Wer ist um die Zeit freiwillig wach...?

„Herein“, erteilte er die knappe Erlaubnis zum Eintreten, und lugte träge in den Eingangsbereich.

Den jungen Soldaten, der daraufhin die Schiebetür aufschob und hinter sich wieder schloss, vermochte Kopar nicht recht einzuordnen. Daher vermutete er, dass es sich um einen von Fölskvis zeitweiligen Schützlingen handeln musste.

Dessen flüchtiger Blick an ihm vorbei bestärkte diese Annahme.

Fölskvi hatte die beiden nebenbei erwähnt; wie ein Heiler sah der Knabe allerdings nicht aus.

„Herforingi Fölskvi...?“ fragte er geneigten Hauptes nach, nicht unbedingt unhöflich, aber mit mehr Bestimmtheit, als es sich für einen Niederrangigen gehörte.

Wahrscheinlich kannte er weder Rang noch Namen seines derzeitigen Gegenübers, mindestens ebenso irritiert von seiner Anwesenheit wie dieser von seinem frühmorgendlichen Besuch.

„Pennt“, gab Kopar unverblümt zurück, gestikulierte in Richtung des schlummernden Leviathan im Nebenraum.

Mehr oder weniger, berichtigte er sich gedanklich.

Halbwegs. Mit seinem Schwert im Arm.

„Würde dir nicht empfehlen, da jetzt reinzugehen. Hat dir die Kehle aufgeschlitzt, bevor du's merkst.“

Sein Genosse nickte. Erstaunt erschien er ihm nicht.

Der Brigadier schmunzelte: „Auf dem Tisch liegt ein Kuvert, für dich und deinen Heilerfreund. Ein Botengang, soweit ich mitgekriegt hab.“

Damit widmete er sich wieder seinem improvisierten Turmbau.

„Kannst gehen.“
 


 

***
 


 

Die Pensionswirtin verbarg ihr Lächeln hinter dem leeren Tablett, das sie bei sich trug, als sie am oberen Ende des Korridors den jungen kafteinn entdeckte.

In letzter Zeit war er oftmals hier.

Anscheinend hatte er sich doch noch mit dem liebenswerten Feldheiler angefreundet, den sie seitdem er hier wohnte ins Herz geschlossen hatte.

Verglichen mit dem pfiffigen Heiler erwies sich der Soldat mehr und mehr als stilles Wasser – er grüßte verhalten, bedankte sich förmlich für das Frühstück, zeigte sich insgesamt jedoch wortkarg und nahezu scheu.

Mit Schüchternheit hatte das nichts zu tun.
 

Logi schenkte sich das Anklopfen.

Und er hatte gut daran getan, denn der Fuchs fläzte sich träge auf seinem Bett, halbnackt und alle Viere von sich gestreckt, warf ihm einen zerstreuten Seitenblick zu.

„Du hast sie nicht alle“, murmelte der Heiler kaum vernehmlich und schloss die Augen wieder.

„Steh auf“, diktierte der kafteinn kühl, woraufhin Eldur unwillig aufstöhnte und sich wunderte, wie Logi es schaffte, bei der schwülen Mittagshitze in voller Montur hier zu erscheinen ohne zu schwitzen oder zu hecheln wie ein Hund.

„Es ist viel zu heiß, um überhaupt irgendwas zu machen“, quengelte der Feldheiler und pflückte ein weiteres Mal demonstrativ die verschwitzten Laken von seiner Haut.

Der Soldat zuckte die Schultern, gleichgültig, zog das Kuvert aus seiner Robe hervor.

„Befehl von herforingi Fölskvi.“

Schwerfällig richtete sich Eldur auf und schnappte sich den Umschlag, murrte etwas Unverständliches, ehe er das Stück Papier ungeduldig entfaltete und las.

„Ah... das ist... be-“, er verstummte abrupt.

Nicht gut.

Unglücklicherweise wusste Logi sein Zögern, das Kippen seiner Miene augenblicklich zu deuten, und hakte prompt nach: „Was ist?“

Eldur biss sich auf die Unterlippe, überdachte seine Worte mehrfach.

„Hast du das schon gelesen?“

Als er den Kopf schüttelte, verbat er sich das Aufatmen.

Zu früh, um sich in Sicherheit zu wähnen.

„Also... ich, wir...“ begann er stockend, und die Skepsis seines Genossen wuchs mit jedem Moment, den er haderte, das spiegelte sich unverkennbar im Ausdruck des kafteinn wider.

Sollte er es ihm sagen? Einfach so?

War das eine gute Idee?

Fahrig rieb er sich über den Nacken.

Welche andere Möglichkeit blieb ihm als Alternative?

Keine.

„Dieser Botengang... wir müssen in den Osten.

In die Mongolei.“

Um einen Brief zu übergeben.

Was hatte sich Fölskvi dabei gedacht?
 


 

***
 


 

Sie hatten sich zweifellos verlaufen.

Den Wald hatten sie lange hinter sich gelassen, und der schmale, unwegsame Pfad, dem sie seit Stunden folgten, führte sie stetig tiefer in das Gebirgsmassiv, die Gipfel in der Ferne bereits weiß, mit Schnee bekrönt; das Gelände wurde schroffer, ausgenommen einiger Krüppelsträucher gedieh hier nichts, und der raue Wind frischte mit der zunehmenden Höhe weiterhin auf.

Von den Felswänden der Schlucht zu ihrer Rechten hallte das Echo ihrer Schritte wider.

Aska fror.

Zwar spendete der Leib ihres Pferdes wenigstens ein bisschen Wärme, vor den Böen schützte sie dies jedoch nicht. Das zierliche Mädchen zitterte wie Espenlaub.

„Aska, ist...“, ergriff Eldsvoði nach einer Weile das Wort, unsicher, ob er sich die Bemerkung leisten konnte, wollte er nicht sofort wieder eine verbale Abfuhr kassieren.

Höchstwahrscheinlich ohrfeigte sie sich innerlich selbst für ihren schlechten Orientierungssinn und die unnötige Rechthaberei, die sie in diese missliche Lage manövriert hatte.

Ermüdend, solche überflüssigen Dominanzspielchen um nichts und wieder nichts.
 

Gegen Mittag erbebte plötzlich das Gestein unter ihren Füßen, unvermittelt, und ein infernalischer Schrei zerfetzte die Stille des Panoramas.

Eldsvoði strauchelte unter der brachialen Gewalt des Erdstoßes, und auch Askas Reittier verlor das Gleichgewicht, doch während sich der junge Drache wieder fing, geriet das Pferd in Panik. Es bäumte sich auf und warf sich unachtsam beiseite, trat mit einem Vorderhuf über die Kante des Wegesrands ins Leere und fiel.

In diesem Augenblick reagierte Eldsvoði rascher als er dachte, erwischte seine Schwester mit einem gewagten Hechtsprung gerade noch am Zipfel ihres Ärmels.

Das Pferd stürzte in den Abgrund.

„Was war das?“ keuchte das Mädchen irritiert, nachdem er sie wieder hochgezogen hatte, die Arme einen Deut zu fest um den Torso ihres Begleiters geschlungen.

Dessen Aufmerksamkeit galt etwas Anderem.

Auf dem Felsvorsprung knapp über ihnen stand eine dunkel gekleidete Gestalt, groß und grobschlächtig, kastanienbraunes Haar umspielte ein von Härte und Entbehrungen geprägtes Gesicht, und ihre entschlossene Haltung, die mannshohe Sense, die sie sicher fasste, signalisierten unverfälschte Kampfbereitschaft.

Jemand, der keine Gnade kennt.

Purpurne Streifen verliefen über seine Arme, den Nasenrücken und die Augen. Kriegsbemalung.

„Ein Krieger der Erddrachen.“

Der jugendliche Feuerdrache zog sein Kurzschwert, stellte sich schützend vor Aska. Diese schluckte, umfasste unbewusst den Griff ihres eigenen Schwertes.

„Was hast du hier zu suchen?“ fuhr Eldsvoði den Erddrachen energischen Tones an, „Dieses Gebiet gehört dem Clan der Feuerdrachen!

Wenn ihr uns durch Grenzverletzungen provoziert, werden wir mit einer Gegenmaßnahme nicht zögern!“

Unbeeindruckt von der Drohung eines Halbwüchsigen schwang der Eindringling seine Waffe und stürmte vorwärts, gewiss dem Faktum, dass die beiden Feuerkinder keinerlei Chance auf einen Sieg gegen ihn verzeichneten.

Mit einem gewaltigen Satz brachte er sich unmittelbar vor den Feuerdrachen in Angriffshaltung, schlug mit seiner Sense zu, gegen seinen Hals zielend, und verfehlte ihn um Haaresbreite.

Eldsvoði rollte sich geschickt ab und stieß auf Kniehöhe seines Gegners zu, doch der Erddrache wich dem Hieb mit einer geringfügigen Drehung aus, traf den unvorbereiteten Jungen mit dem Stabende an der Schläfe.

Benommen taumelte der Jungdrache zurück, um seine Besinnung, mit dem Rauschen in seinen Ohren und den bunten Punkten in seinem Sichtfeld ringend.

Kaum einen Augenblick später rammte ihm der Krieger die Rückseite der Sensenklinge in sein ungeschütztes Abdomen, trieb ihm mit einem gleich darauf folgenden Schlag gegen den Solarplexus die Luft aus den Lungen – ein kräftiger Stoß unter sein Kinn beförderte ihn schließlich rücklings zu Boden, ins Aus.

„Eldsvoði!“

Röchelnd und hustend ließ Eldsvoði von seinem Schwert ab.

„Lasst euch nie wieder hier blicken“, grollte der Erddrache kalt und schulterte seine Sense. Dann wandte er sich um und setzte ohne Schwierigkeiten die Steilklippen hinauf.

Das nächste Mal wird er sich zweimal überlegen, ob er einen Unbekannten so blauäugig und arrogant herausfordert...
 


 

***
 


 

Am Horizont verblasste langsam der letzte rosige Streifen Tageslicht in der Dämmerung der anbrechenden Nacht, und Eldur blickte bang zum samtenen Firmament empor, an dem sich neben den ersten bleichen Sternen das runde Antlitz des Vollmondes abzuzeichnen begann.

Beunruhigt musterte Eldur den kafteinn von der Seite; seine verkrampfte Haltung und die steifen Züge verrieten seinen innerlichen Kampf mit sich selbst, um seine Fassung, seine Glaubwürdigkeit als Krieger.

Es war nicht einfach für ihn.

Dennoch traute sich der Heiler nicht, seinen Genossen nach seinem Befinden zu befragen, geschweige denn sich zu erkundigen, ob dieser glaubte, den Auftrag – rein nervlich betrachtet - erfüllen zu können.

Seine Anspannung übertrug sich sogar auf die Pferde.

Im Laufe des Tages hatte sein Wallach mehrmals gescheut, wahrscheinlich aus eben jenem Grund, und da er sich ohnehin nicht für einen guten Reiter hielt, hoffte er, dass ihm die Blamage eines Sturzes erspart bleiben würde.
 

Gedankenversunken starrte Eldur in die leuchtenden Flammen des kleinen Feuers, bedachte Logis Rücken ab und an mit einem prüfenden Blick aus den Augenwinkeln. Viel mehr als das konnte er von dem kafteinn in der Finsternis nicht ausmachen.

Bizarre Schatten tanzten über den schwarzen Stoff seines Mantels, wie Gespenster, Geister aus jener Nacht der Vergangenheit, die ihre Klauen nach ihm ausstreckten und die Fänge bleckten, nach seinem Verstand trachteten, ihn zu zermürben gierten.

Die Last seiner vermeintlichen Schuld war erdrückend.

Sollte der Soldat hier und jetzt einen Zusammenbruch oder eine Panikattacke erleiden, irgendetwas dergleichen, dann-

Gnade mir Gott.

Was konnte er tun...?

Er fühlte sich hilflos, schwach, nutzlos.

Eldur seufzte leise, schlang die Arme um seine Knie.

Machtlosigkeit fügte sich in die Reihe von Empfindungen ein, die er gleichermaßen hasste und fürchtete, die an seiner Selbstbeherrschung nagten und ihn an das Limit seines Denkvermögens drängten.

Wie er sich in einem solchen Zustand auch noch Logis Depression annehmen sollte, war ihm ein Rätsel.

Wahrscheinlich behielt herforingi Fölskvi im Endeffekt Recht.

Mehr Zeit zum Eigenstudium, Literatur und allgemeine Studien...

Vertrackt.

„Willst du drüber reden?“ fragte der Heiler zaghaft nach, zweifelnd, was aus einem Gespräch, falls es zustande kommen würde, resultieren konnte.

Logi und Worte.

Da passte eines nicht zum Anderen.

„... nein.“

Ich kann nicht.

Unwillkürlich krampfte der Soldat die Finger in seine Oberbekleidung, unterdrückte ein Aufkeuchen.

Seine Narben schmerzten.

Schlimmer als zuvor, keiner seiner Alpträume war vergleichbar mit der Intensität der Wirklichkeit, mit dem Vollmond und dem sternenklaren Himmel der Mongolei, seine Verantwortungslosigkeit und den anklagenden Gesichter seiner einstmaligen Kameraden...

„Man fragt sich, wieso sowas geschieht“, wisperte Eldur dumpf, zu sich selbst, „aber meistens ist der Grund zu trivial, zu unbedeutend, als dass man ihm Glauben schenken würde. Oder wollte.“

Vielleicht musste er schlichthin einen anderen Ausgangspunkt wählen, auch, wenn ihm dies ziemlich widerstrebte; die Preisgabe einer persönlichen Erfahrung erachtete er als den höchsten Einsatz, mit dem er pokern konnte.

Zugegeben, mit der relativen Sicherheit, dass Logi es niemandem weitererzählen würde.

Wem...?

Außerdem ertrug er es nicht, das Leid, den Schmerz, der ein fühlendes Wesen nach und nach zerbrechen ließ.

„Es tut weh, ähnlich einem Phantomschmerz.

Selbst wenn man keine oberflächlichen Narben davon trägt, auf der Seele lasten sie wie ein eingraviertes Memento.“

Stimmen, Bilder, Gerüche – Kleinigkeiten in der Erinnerung.

Sie reichten aus, um jemanden tagelang, nächtelang zu martern und zu quälen, in die Schlaflosigkeit zu verdammen, Aggressionen zu schüren, die in Verzweiflung mündeten...

Phantomschmerz...?

Er durchlebte genau dasselbe.

Entkräftet presste der Heiler seine Stirn gegen die gefalteten Hände.

„Wieso gerade du...?“ fuhr er tonlos fort, die selbe, ewige Frage aussprechend, die sich nahezu alle vom Schicksal gebeutelten stellten.

Wieso ich?

„Das hat im Grunde nichts mit dir, nichts mit deiner Persönlichkeit zu tun, es ist oft nur Pech. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Zufall.“

Weil ich schlechter, unwürdiger, ein verdorbenes Individuum bin?

Weil ich eine Sünde begangen habe, ohne es zu wissen?

Es ging nicht um Logi.
 


 

***
 


 

Verschlafen blinzelte Eldur in die viel zu hellen Strahlen der Morgensonne, nicht gänzlich sicher bezüglich seines momentanen Aufenthaltsortes, rieb abwesend über die unter den Fingerkuppen vage spürbaren Abdrücke, die die Falten in seinem Ärmel auf der Haut seiner Wange hinterlassen hatten.

Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, wann oder wie er gestern Nacht überhaupt eingeschlafen war.

„Gott, is' mein Nacken steif...“ jammerte er vor sich hin, ein undeutliches Nuscheln, das nicht wirklich an irgendjemanden gerichtet war.

Gähnend setzte er sich auf, um sich der Richtigkeit der jüngsten Ereignisse in seinem Gedächtnis zu vergewissern.

Mongolei. Auftrag. Logi...

Ihre Pferde grasten in einiger Entfernung.

Und seine Begleitung...

Apropos steif – Logi wirkte ungefähr so entspannt wie ein gut gezurrter Stolperdraht, immer noch, nun aber mit der Hand an seinem Anderthalbhänder, und wenn der Heiler ihm jetzt zu nahe kam, musste er wohl um seinen Kopf bangen.
 

Der Vormittag, getüncht in beidseitige Schweigsamkeit und Langeweile, aus verschiedenen Gründen, verstrich unangenehm schleppend und die stumme Spannung zwischen ihnen wurde unerträglich, während die Sonne über den makellos blauen Himmel wanderte.

Eldur verleibte sich gerade die Hälfte seines Proviants mit einem überdurchschnittlich gesunden Appetit ein, als ihm ein eiskalter Schauer die Wirbelsäule hinab jagte, ihn unwillkürlich erschaudern ließ.

Der Bissen Dörrfleisch blieb ihm sprichwörtlich im Halse stecken.

Was zur Hölle...?

Obgleich ihn der befremdliche Impuls lediglich gestreift hatte, nistete sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend ein, nachdrücklich, penetrant, das selbst nach mehreren Stunden nicht weichen mochte.

Unheimlich.

Ob Logi es ebenfalls wahrgenommen hatte?

Dessen unantastbare Miene verriet nichts; wobei der Feldheiler das sowieso nicht als Maßstab in Betracht zog.

Einbildung...?

Dafür hatte es sich eigentlich zu real angefühlt.

Seine Hände zitterten.
 

Befangen hob Eldur den Kopf, momentan im rauen Gras der Ebene kniend, und ganz und gar nicht glücklich über die Gegebenheiten.

Nervös blickte er umher, suchte den Horizont nach den winzigsten Anzeichen einer Bewegung ab.

Die relativ frischen Hufspuren im Boden führten exakt in die Richtung, die auch sie einschlugen, implizierten durch ihre Größe und Tiefe eine akute Gefahrenquelle in nächster Nähe.

Das Pferd musste ein riesiges Tier sein, beschlagen, und sicher kein gewöhnliches, vielleicht ein Dämon, sein Reiter jedoch bereitete ihm ärgere Sorgen: entweder waren es zwei, was er aufgrund der verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit wieder verwarf, oder es war ein über die Norm schwer bewaffneter Krieger.

Was man mit sich herumtragen musste, um eine derart tiefe Spur zu verursachen, wollte sich Eldur nicht vorstellen.

Auf eine Begegnung mit der verantwortlichen Person konnte er getrost verzichten, davon abgesehen, dass Logi jene Aufregung ebenso wenig verkraften würde.
 

Und dann stand mit einem Mal die Zeit still.

Die Pferde stoppten abrupt und rührten sich nicht mehr, die Nüstern gebläht und die Flanken schweißnass. Sie bebten vor Angst und schließlich erfasste die Woge der gewaltigen Feuerpräsenz auch Eldur, übermannte ihn regelrecht, bemächtigte sich seiner Muskeln, seiner Wahrnehmung.

Wie gelähmt verharrte er, hörte nichts als das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, den rasenden Herzschlag, der in seiner Brust widerhallte, seinen flachen Atem.

Sein Verstand revoltierte.

Weg von hier! Flieh, wenn du nicht sterben willst! Flieh, flieh!

Du armseliger Narr.

Vor seinem geistigen Auge versank die Welt um ihn herum im grellen Feuerschein eines höllischen Infernos, das jegliche Materie unersättlich verschlang, gefangen in den Klauen einer jahrhundertealten Macht, chaotisch, mörderisch, allumfassend.

Feuer, das Feuer vertilgt.

Panisch forderte sein Instinkt ihn zur Flucht auf, versuchte hartnäckig, ihn zur Raison zu rufen.

Erfolglos.

Nur eine Warnung.

Entsetzt registrierte er, wie der kafteinn indessen von seinem Pferd stieg, sein Ausdruck distanziert und vollkommen verschlossen, und gefassten Schrittes weiterging.

Was sollte das werden?

Wohin...?

Wollte er etwa...?!

„...“

Sogar seine Stimmbänder versagten ihm den Dienst, seiner zugeschnürten Kehle mochte sich kein Laut entringen.

Er ist wahnsinnig, das ist glatter Selbstmord.
 

Logi verstand nicht, was er im Begriff war zu tun.

Oder warum.

Nichtsdestoweniger hegte er weder Furcht noch Scheu, seine Unwissenheit beunruhigte ihn nicht, und er vermeinte die Empfindung wiederzuerkennen, die ihn unbarmherzig vorwärts trieb, entgegen aller Vorsicht – wie in Trance schritt er voran, im Bann des fremdartigen Einflusses, fernab jeglicher Rationalität.

Jemand ruft mich, meinen Namen...

Sein schier willenloser Gehorsam glich einem inneren Zwang, er musste sich jenem Impuls fügen und dem Klang der Stimme, deren Resonanz so vertraut seine Seele berührte, folgen.

Formlos, gesichtslos, ohne konkrete Merkmale, und dennoch, das Gefühl, als kenne man ihren Ursprung bereits sein gesamtes Leben lang...

Ehrfurcht beseelte seine Bewegungen.

Alsbald hob sich in der Distanz, vor dem blassen Horizont, ein tiefroter Schemen ab, und je näher er diesem kam, je mehr die zunächst verschwommenen Konturen mit ihrem Hintergrund kontrastierten, desto intensiver erfuhr er die wellenförmigen Energien elementarsten Feuers.

Dann hielt er inne, die Quelle des kuriosen Spuks in Sichtweite.

Ein Feuerdrache.

Und was für ein gewaltiges Exemplar eines solchen!

Die wahre Gestalt des Feuerdrachen war mindestens doppelt so groß wie die eines gewöhnlichen, ausgewachsenen Artgenossen, der monströse Rumpf mit schwarz geränderten Schuppen gepanzert und mit Dornen gespickt.

Unlängst hatte ihn das Ungetüm bemerkt, beobachtete ihn aus violetten Iriden, nicht einmal bemüht aufzustehen, seine schlitzförmige Pupillen durch die Helligkeit starr und schmal.

Unbeirrt bettete es den Schädel wieder auf das kurze Ebenengras, streckte die Flügel von sich und frönte wieder seinem ausgiebigen Sonnenbad.

Offensichtlich klassifizierte es den kafteinn nicht als Bedrohung.

Logis Blick weilte auf dem Körper des Monstrums, und er wusste augenblicklich, woher die nahezu weiße Färbung seines Rückens rührte.

Narben.

„Wer bist du?“ donnerte der tiefe Bass des männlichen Feuerdrachen, scheinbar desinteressiert, durch seinen Verstand und der kafteinn schrak unvermittelt zusammen.

„Ich...“

Sprachlos, und es war nicht das erste Mal, dass ihm die Worte fehlten, dass er all den Gedankenfetzen und kurzfristigen Erkenntnissen in seinem Kopf verbal keinen Ausdruck verleihen konnte, was er als ausgenommen demütigend und frustrierend empfand.

„Niemand“, presste er letztendlich hervor, hilflos, und ihm war, als würde der Feuerdrache daraufhin das Maul zu einem wölfischen Grinsen verziehen.

Mokierte er sich über ihn?

Selbst wenn, es spielte keine Rolle.

Nicht für ihn, und was scherte Logi die spöttische Reaktion eines Unbekannten?

Bedeutungslos, eine Nichtigkeit.

Zudem vermittelte ihm das Wesen des Feuerdrachen simultan etwas gänzlich anderes: die mentalen Impressionen eines Zeugen vergangener Zeitalter, der die Jahrhunderte überdauerte, gezeichnet und gebrandmarkt, sein Leben war ihm auf den Leib geschrieben, erkannte der Soldat, und es handelte sich dabei nicht um eine schöne Geschichte.

Logi schluckte, überwältigt. Fasziniert.

Der unleugbare, der lebendige Beweis für die Ursprünge ihrer Rasse, einer der wenigen, die Helvítis Herrschaft, seinem Aufstieg und seinem Fall, beigewohnt hatten, sein Erfahrungsschatz unersetzlich, ein kostbares Relikt.
 

***
 


 

Grasmücken pfiffen in den niedrigen Dornenbüschen, das einzige Geräusch in der weiten, stillen Ebene.

Ruhe.

Angst und Hoffnungslosigkeit.

Betroffenes Schweigen herrschte unter den wenigen Männern und Frauen der kleinen Gruppe, Flüchtlinge, die hier, fernab von Straßen und Behausungen kampierten, vertrieben aus ihrer Heimat, den inneren Gebieten der Mongolei, und noch immer hing der Geruch von Kampf und Blut in der Luft.

Noch immer mussten sie die Häscher des selbst ernannten leiðtogi der Feuerdrachen fürchten, der grundlos über ihre mongolischen Brüder und Schwestern hergefallen war.

Ein Ereignis, das wohl keiner von ihnen bald vergessen würde.
 

Der jugendliche Feuerdrache, der bis dahin reglos etwas außerhalb des Lagers gesessen hatte, in Rüstung und bewaffnet, hob mit einem Mal den Kopf, die verschleierten Iriden unfokussiert, und der Blick in eine unwirkliche Ferne gerichtet.

„Da kommt jemand“, bemerkte er sachlich, woraufhin ihn eine seiner älteren Begleiterinnen besorgt musterte.

Seit ihrer schicksalhaften Begegnung mit den Soldaten aus dem Süden war das Kind nicht wiederzuerkennen, nicht unbedingt verstört, doch...

... verändert. Teilnahmslos.

„Was? Bist du sicher?“ meldete sich ein anderer Genosse zu Wort, ein ehemaliger Krieger der Streitmacht, der seine Skepsis freiweg demonstrierte.

„Ich kann sie hören“, ergänzte der Jugendliche mit leiser Stimme, und die Umstehenden tauschten verunsicherte Blicke untereinander; zu widersprechen traute sich nach dieser Aussage niemand von ihnen.
 

Der Pfeil, der um Haaresbreite den Kopf des Heilers verfehlte und lediglich seine Wange streifte, beendete dessen langatmige Anekdote über die Vorteile vegetarischen Alternativproviants auf dem Schlachtfeld, endlich, und Logi hätte erleichtert aufgeatmet, wäre ihm die Zeit dazu geblieben.

Anstatt dessen übernahm sein Kriegerinstinkt die Kontrolle, aus den mannigfaltigen Erfahrungen seines langjährigen Soldatentums heraus, und er reagierte, das überflüssige Nachdenken aus Gewohnheit vernachlässigend.

Und während er dem feindlichen Angriff durch einen gewagten Hechtsprung vom Pferd entrann, den abschüssigen Hang hinunter geschickt abrollte, rührte der naive Fuchs keinen Muskel, erstarrt wie ein verängstigtes Karnickel, ein unbewegliches, leichtes Ziel für ihre noch unerkannten Angreifer.

Besaß dieser Idiot von Refur denn nicht einen winzigen Funken Überlebenstrieb...?

Anscheinend nicht.

„Runter vom Pferd!“ befahl Logi barsch, doch Eldur schien dies nicht erreichen zu können.

Im anschwellenden Pfeilhagel saß er nicht ab, klammerte sich krampfhaft an sein nervös umher tänzelndes Reittier, und selbst, als es ihn in seiner Panik abwarf und davonstob, ging er nicht in Deckung.

Erst, als sich einer der dilettantisch abgeschossenen Pfeile durch seine linke Schulter bohrte, begriff er den Ernst der Lage und kam letztendlich zur Besinnung.

Behände sprang er auf, leistete nach kurzweiligem Zögern dem Wink des kafteinn Folge und stolperte ungraziös den sanft abfallenden Abhang hinunter, heraus aus der unmittelbaren Schusslinie der Amateurschützen.

Keuchend sank er neben Logi ins Gras, bebend und mit schockgeweiteten Augen, brachte seine zitternden Finger an die verletzte Schulter.

Blut benetzte seine Fingerkuppen, heiß und rot.

Als er den Pfeil dann mit einem beherzten Ruck entfernte, konnte er ein Wimmern nicht zurückhalten.

„Verdammter Dreck“, fluchte er atemlos, und der hölzerne Pfeilschaft entglitt seinem Griff.

Logi würdigte das Geschoss eines Seitenblickes, und dieser reichte vollkommen aus: ein mongolischer Pfeil, schmal und lang, mit hoher Durchschlagskraft, wenn er von einem ihrer berüchtigten Reiterbögen abgeschossen wurde.

Töten oder getötet werden.

Ein Angriff ohne Provokation, und der Soldat wunderte sich nicht darüber, wenn er bedachte, was mit der Zivilbevölkerung der mongolischen Feuerdrachen geschehen war; auf wessen Geheiß jenes Blutbad angerichtet wurde, wusste er nicht genau, aber er bezweifelte nicht, dass dieses morbide Werk dem neuen leiðtogi oder einer militärischen Führungspersönlichkeit eines der anderen Reiche anzulasten war.

Für Friedliebigkeit war der Clan der Feuerdrachen ohnehin nicht bekannt.

Ihr Wesen glich dem des Feuers.

Roh, aggressiv, zerstörerisch.
 

Eldur fiel immer weiter zurück.

Er schnaufte mittlerweile wie nach einem mehrstündigen Marathonlauf, Logi konnte das harsche Atemschöpfen hinter sich hören, er schwankte und lief Schlangenlinien als hätte er zu viel Reiswein intus.

Entnervt von so wenig Kondition und Durchhaltevermögen, so wenig Willen, verlangsamte der kafteinn seine Schritte.

Sie konnten sich mehr als glücklich schätzen, nicht verfolgt zu werden...

„Was ist?“ hakte er schroffer als beabsichtigt nach, und ihm schwante Übles, als der Heiler näher kam und beinahe vornüber kippte, der Soldat ihn – notgedrungen, und nicht frei von Vorbehalten – auffing, bevor er stürzte.

„Hey“, setzte der Soldat unbeholfen an, versucht, den schlaffen Körper in seinen Armen einigermaßen aufzurichten.

Dessen Blick ging geradewegs an ihm vorbei: „Lass los... ich-“

„Halt den Mund“, fuhr ihn Logi daraufhin an; der Feldheiler fieberte, bereits auf dem besten Weg ins Delirium, und dennoch wollte er seinen Zustand offenbar nicht wahrhaben.

Damit half er ihnen beiden nicht - eher im Gegenteil, er verkomplizierte die Angelegenheit maßgeblich.
 

Und sein Zustand verschlechterte sich rasch.

Wenig später lag der Feldheiler, gemartert von Fieberkrämpfen und Schüttelfrost, im Gras der Ebene und rang kläglich um jeden Atemzug, schweißgebadet, Tränen der Pein bildeten sich in seinen Augenwinkeln.

Alles in allem gab er ein erbärmliches Bild ab.

Ein Anblick, den der kafteinn kaum ertrug.

Logi erlebte sich abermals überfordert, unfähig, nur einen rationalen Gedanken zu fassen; er wusste nicht, was er tun sollte, scheiterte sogar an der Versorgung von Eldurs sekundärer Schulterverletzung.

Konfus und mit zitternden Händen kauerte er neben dem Heiler unter einem unscheinbaren Felsvorsprung und verstrickte sich immer mehr in seiner Verzweiflung und Machtlosigkeit, erinnert an sein Nichtstun während des nächtlichen Vorfalls an der Grenze, das allen seinen Kameraden, ausnahmslos, das Leben gekostet hatte.

Verantwortungslos.

Wenn er es recht bedachte, war er derjenige, der sich hier erbärmlich verhielt, und nicht der Fuchs, der gegen die Übermacht des Pfeilgiftes kämpfte. In Logis Augen von Anfang an vergebens, der Kampf, den er ausfocht, war aussichtlos, Todeskampf, und dem eher schmächtigen Eldursdreki schwanden unlängst die Kräfte dahin.

Lediglich eine Frage der Zeit.

„Wieso...“ flüsterte der Soldat tonlos, in die Dunkelheit hinein, die seinen Verstand, seinen Geist, umgarnte. Hoffnungslos, verloren.

Wieso traf es ihn?

Hatte er mit seinem blutigen Lebensstil sein Recht auf Fairness verwirkt? War das die Strafe für seine Frevel?

Er begriff nicht.

Er verstand nichts mehr.

Was sollte das?

Wieso gerade er?

Wann hatte ihn das letzte Quäntchen Glück verlassen, denn das, was ihm widerfuhr, konnte man doch mitnichten noch Zufall nennen - oder?

Verstört raufte er sich das Haar, schüttelte immer wieder den Kopf, um die penetranten Impressionen der jüngsten Vergangenheit zu verscheuchen, die Augen fest vor der Wirklichkeit verschlossen.

Logi konnte nicht mehr.

Der Himmel schien über ihm einzubrechen, die Ordnung des Systems kollabierte, und er stieß einen animalischen Schrei aus, ehe er schluchzend in sich zusammen sank und dem Maelstrom der tobenden Agonie in seinem Herzen freien Lauf ließ.

„Logi...“

Der Angesprochene spürte, wie Eldur seine Hand ergriff, die heiße, viel zu heiße Haut.
 

Apathisch beschrieb Logis Zustand am adäquatesten.

Seine stoische Ruhe war Fassade, und dahinter verbarg sich die reine Resignation. Er hatte sich nicht beruhigt, sondern gefügt, aufgegeben. Kapituliert.

Nicht mehr lange.

Unterdessen wurde Eldurs Atmung immer schwächer, versiegte allmählich.

Der kafteinn hielt seine Hand, hatte den Kopf des Heilers in seinen Schoß gebettet.

„Keilir war's.“

Seine Lüge, sein Verdrängen der Wahrheit hatte ihn nirgendwohin geführt.

Wieso er gelogen hatte?

Dafür hatte er keine befriedigende Erklärung.

Hatte er unterbewusst Keilir schützen wollen? Oder ausschließlich sich selbst, indem er die wahren Begebenheiten leugnete?

Gleichgültig.

Logi schwieg einen Moment, bevor er seine monotone Aussage murmelnd wieder aufgriff und erweiterte: „Er ist... war mein bester Freund, seit... schon immer.

Mit ihm im Rücken habe ich mich sicher gefühlt, und jetzt, trotz allem... gerade er. Ironisch, huh...?

Wegen dem dubiosen Versprechen eines Unbekannten über Ansehen und Geld und einen höheren Rang.“

Keilir und seine Kumpanen waren die Verräter, Kameradenschweine – nicht er.

Es tatsächlich auszusprechen schmerzte, die Worte kamen ihm schwerlich über die Lippen, und dennoch fühlte es sich endlich, endlich richtig an.

Jenes Gefühl der Befreiung, die Gewissheit, nun letztlich die Fakten zu erkennen, ohne Verwirrung und falsches Schuldbewusstsein.

„Ich bin so ein verdammter Idiot...“ gestand er kaum vernehmlich.
 


 

***
 


 

Im Nachhinein schalt er sich selbst für seine Kopflosigkeit.

Er hätte es eigentlich bemerken müssen.

Die Totlast, die er nunmehr auf seinem Rücken querfeldein durch die Einöde schleppte, und welche definitiv noch atmete, war der lebendige Beweis für sein persönliches Debakel.

Nicht genug, dass er sich gehörig blamiert hatte, nein, jetzt hatte dieser Stümper zu allem Überfluss etwas Konkretes gegen ihn in der Hand, etwas, womit er ihn durch einen verkehrten Ton mühelos aufs Schafott bringen konnte.

Sein Kopf würde eher über den Marktplatz rollen, als er Refur den Hals umdrehen und aus dem Land fliehen könnte...

Zu Unrecht.

Er hatte es nicht aus Bosheit getan. Wozu hätte er, wenn er sich dessen bewusst gewesen war, was ihm an Konsequenzen blühte?
 

Als ob es nicht hinlänglich anstrengend und Nerven zehrend war, ohne eine Karte oder einen Kompass, ohne Ausrüstung durch die karge Wildnis der Mongolei zu wandern; nach einer Weile musste er sich, nachdem Refur wieder zu Bewusstsein gekommen war und festgestellt hatte, dass er noch unter den Lebenden weilte, zusätzlich dessen Gejammer anhören. Sätze wie „Logi, meine Schulter tut weh.“, „Logi, ich hab Durst.“ oder „Logi, wann sind wir da? Mir ist langweilig.“...

Die Kopfschmerzen stellten sich von alleine ein.

Ganz zu schweigen davon, dass der Heiler wesentlich mehr wog, als der kafteinn anfänglich angenommen hatte.

Logi schluckte seinen Missmut hinunter, hütete sich davor, seine Beschwerde zu verlautbaren. Schlichthin nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas.
 

Eldur behielt Recht: so schnell würde er ihn nicht loswerden.

Selbst wenn er gewollt hätte.

„Logi... Du musst mich nicht tragen, ich kann...“ murmelte Eldur halblaut zwischen Wachen und Schlafen, und die Muskeln in seinen Armen entspannten sich rasch wieder.

„Du kannst was?“, grummelte der Soldat bissig, „Sei verdammt nochmal still.“

Widerspruch erhob der Heiler nicht, zu erschöpft, um sich auf ein sinnloses Wortgefecht mit dem missgelaunten kafteinn einzulassen, und gleichermaßen zu sehr einvernommen von der Wärme und der Sicherheit, die ihm eben dieser augenblicklich vermittelte.

Das Schweigen stellte sich wie selbstverständlich zwischen ihnen ein.
 

„Logi...?“

„Was.“

„Ich werd's nicht weiter erzählen. Ehrlich.“
 


 

***

Konklusion *** Morgenrot: Abgesang eines Verrats

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"

"herstjóri" bedeutet "General"

"leiðtogi" bedeutet "Anführer"

"ofursti" bedeutet "Oberst"

"refur" bedeutet "Fuchs" (negativ besetzt)

"herra" bedeutet "Herr" oder auch "Meister"
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Konklusion *** Morgenrot: Abgesang eines Verrats
 

Der Dämmerschein der Kerzen zeichnete die bläulichen Verfärbungen über seinem Rippenbogen dunkler, nahezu schwarz gegen die helle Haut, und das dumpfe Pochen, der Schmerz in seinem Brustkorb wurde unerträglich, als die Fingerkuppen der Heilerschwester mit etwas mehr Druck als notwendig über eine besonders empfindliche Partie des großflächigen Hämatoms tasteten.

„Urgh...Verdammter Mist...“ zischte der Feuerdrache zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und strafte die Schuldige mit einem anklagenden Blick, eine Missbilligung ihrer Tätigkeit, die sie nicht im Geringsten tangierte.

„Ich kapier das nicht“, sinnierte sie stattdessen undeutlich, auf ihre Arbeit konzentriert.

„Was?“ keuchte der Krieger, bevor er ihre Hand fasste und unwirsch von seiner Brust entfernte, wobei sein Augenmerk nicht auf ihr, sondern auf dem Kleinkind ruhte, das halbwegs auf seinem linken Oberschenkel liegend schlummerte, friedlich, unbekümmert.

In den letzten Wochen hatte er Neisti nicht allzu oft zu Gesicht bekommen; nun bereute er es.

Bis in die frühen Morgenstunden hatte er auf ihn gewartet...

„Gibt es Neuigkeiten von Aska und Eldsvoði?“

„Nein“, antwortete sie lapidar, funkelte ihn verärgert aus ihren grünen Katzenaugen an.

„Lenk nicht ab.

Du erledigst im Alleingang die vier Herrscher, und das, ohne eine Schramme davonzutragen, und jetzt lässt du dich von ein paar blaublütigen Hinterwäldlern aus der letzten Provinz so zurichten? Was ist los mit dir?“ entrüstete sie sich ungläubig und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.

Irgendetwas in seinem verkorksten Hirn lief gehörig falsch - zwar nicht permanent, doch das mochte sich noch ändern.

Dem ist nicht mehr zu helfen.

Hraunar zuckte kraftlos die Schultern.

Er spürte, wie seine Gedanken bereits wieder zu driften begannen, die Realität sich seinem Fassungsvermögen entzog, zu matt, um das Bewusstsein zu halten. Und ihm stand beileibe nicht der Sinn danach, in diesem Moment mit ihr über Belanglosigkeiten zu diskutieren.

Der weibliche Drache schüttelte betont den Kopf.

„Diverse gebrochene Rippen, Quetschungen, Stich- und Schnittwunden...“

Sie schweifte ab, als sie sich seiner verzehrenden Erschöpfung gewahr wurde und verstummte schließlich gänzlich.

Wenn sie nicht aufpasste, schlief er ihr gleich, hier und jetzt, im Sitzen ein.

„Hraunar, du kannst dich ruhig hinlegen“, sprach sie ihm behutsamer zu, berührte seinen unversehrten Unterarm, von der Befürchtung getrieben, dass er ihr ansonsten einfach umkippte und sich zusätzlich oder gar Neisti dabei verletzte.

Im nächsten Augenblick fuhr sie zusammen, und auch ihr wegdämmernder Patient wirkte kurzzeitig wieder hellwach, als sich im Flur des Hauses ein ohrenbetäubender Lärm einstellte, aufgebrachte Schritte und Stimmen, dazwischen jemand, der hysterisch sämtliche Quartiere zusammen schrie und die vergeblichen Versuche der Wachen, den temperamentvollen, ungebetenen Gast zu bändigen.
 


 

***
 


 

„Ich halte das für keine gute Idee“, merkte ihre Begleitung kritisch an, die Arme ineinander verschränkt und nicht unbedingt überzeugt dreinschauend, während er die mannshohen Palisaden aus seinem Versteck im Halbschatten abwägend beäugte.

„Und genau deshalb interessiert niemanden deine Meinung“, blaffte sie zurück und schob sich an ihm vorbei.

Rasch warf sie einen Blick umher, kontrollierte die Positionen der Wachposten und schwang sich anschließend mit einem eleganten Satz über die provisorische Umzäunung.

Ihre Präsenz verschmolz, ihrer geschmeidigen Bewegung entsprechend, mit dem Zwielicht der ausklingenden Nacht.

Unverbesserlich, dieses Weibsbild, dachte er mürrisch. Und was blieb ihm anderes übrig...?

Gezwungenermaßen schloss er sich ihr an und erklomm den Palisadenzaun, im Gegensatz zu ihr jedoch fehlte ihm ein guter Teil an natürlicher Gewandtheit: ein Zipfel seines Gewandes verfing sich an den spitz zulaufenden Holzenden und er strauchelte infolge des unerwarteten Widerstands, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte, ruderte hilflos mit den Armen bis er kopfüber zu Boden stürzte.

Ein dumpfer Aufschlag, gefolgt von einem gedämpften Fluch.

Staub wirbelte in die klare Morgenluft.

„Autsch...“

Die Mühe, sich wieder aufzurappeln, sparte er sich wohlweislich.

„Vollpfosten!“ fauchte seine Komplizin erbost, angewidert von so viel idiotischem Ungeschick, ehe sie sich instinktiv ins nächste Gebüsch warf, ungeachtet seines Verbleibs.

Denn es kam, wie es kommen musste.

Ein Domino-Effekt, logisch, vorhersehbar, und nicht mehr aufzuhalten, wenn man den ersten Stein umgestoßen hatte.

„Eindringlinge!“ gellte der Ruf über den Vorhof, die Alarmglocken schellten. Im Nu herrschte heller Aufruhr unter den Wachen, und ihre Chance auf einen Durchbruch, ob unbeobachtet oder nicht, das stand nunmehr außer Frage, schwand dahin.

„Zur Hölle“, knirschte die Jugendliche, entschloss sich kurzerhand, angesichts der Übermacht, die ihren Weg zu blockieren begann, zu einer rabiateren Vorgehensweise.

Alles oder nichts.

Die Zeit drängte.

Fix sprang sie auf und zerrte ihren Weggefährten auf die Beine, trieb ihn energisch vorwärts, geradeaus, querfeldein, schlug sich mit eiserner Entschlossenheit eine Bresche durch die heran eilenden Widersacher.

Zur Ostseite, bis dahin mussten sie es schaffen.
 

„Hraunar!“ schrie das Mädchen atemlos, im begriff, die hölzerne Schiebetür mitsamt dem davor postierten Soldaten niederzureißen, „Hraunar!!“

Sie brüllte sich die Seele aus dem Leib, bis ihre Stimme kippte, verfiel in Hysterie, und er wusste weder ein noch aus.

Sie alleine aufhalten zu wollen glich dem irrwitzigen Unterfangen, einen Tsunami oder ein Erdbeben durch Körpereinsatz in seine Schranken zu verweisen. Erfolgsaussichten gleich Null.

Jener ihr immanenter Fanatismus, der sich über Moral und Gesetze leichtfertig hinwegsetzte, barg ein stetes Risiko, eine Gefahr, die sie rückwirkend Leib und Leben kosten konnte – und das ohne Rechtfertigung, aus infantilen, nichtigen Gründen.

Die Gegenwehr, die sie hier erfuhr, goss Öl in das Feuer ihres irrationalen Zorns und der Aggression, die in ihr wüteten.

„Ach Aska...“

So viel Aufwand, so viel Lärm und Ärger um nichts; er hätte sich von ihr nicht überreden lassen dürfen.

Das hat doch alles keinen Sinn...

Seufzend hielt er inne, ergriff sein Kurzschwert und schleuderte es demonstrativ von sich, ergab sich mit erhobenen Händen.

Im Hintergrund lebten Askas Schimpftiraden gegen ihre Häscher von Neuem auf.
 


 

***
 


 

Die Augenlider des Jungen zuckten, das Gesicht von den flackernden Kerzenflämmchen mäßig erhellt.

Er ähnelte ihm ungemein.

Durch sein kindliches Antlitz schimmerte mit jedem Tag deutlicher das unleugbare Erbe seiner Ahnen hindurch, das ebenso durch seine Adern floss; seine Augen, der markante Kupferstich seines Schopfes, seine Züge, denen es lediglich noch an Definition mangelte.

So einfach, zu einfach.

Mit der Höllenklinge in der Hand und der nach Gerechtigkeit schreienden Stimme im Hinterkopf, sein Feldzug gegen die Willkür der vier Herrscher...

Warum?

Hatte er das Richtige getan?

Gute Absichten genügten nicht. Nie.

Resultierte ein Desaster daraus, schützten einen die wohlmeinenden Intentionen keineswegs vor dem Zorn des Mobs.

„Der Weg, der mir richtig und klar erschien...“

Der noch immer neben dem Kleinkind weilende Feuerdrache verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, und seine Geduld neigte sich allmählich ihrem Ende zu, als zu allem Überfluss der Tumult auf dem Flur in ungekannte Sphären emporstieg.

„Herrgott“, fluchte er und richtete sich ungelenk auf.

Offensichtlich hatten sie einen sehr speziellen Gast, der einen persönlichen Empfang von ihm erwartete. Und wer da so ungeniert die allgemeine Nachtruhe missachtete, das konnte er sich lebhaft vorstellen.

Grummelnd fuhr er sich durch das rote Haar, versucht, die wirren Strähnen etwas zu ordnen, ehe er die Schiebetür aufschob und auf den Gang hinaus trat.
 

Bingo, dachte Hraunar, sein Unmut über den Radau vergessen, als er sich des vollen Ausmaßes des Schauspiels auf dem Korridor gewahr wurde.

Aska.

Dieses eine Wort, dieser Name erklärte alles.

„Lasst sie los“, wies er gelinde amüsiert die vier Wachen an, die es gemeinsam nicht im Ansatz auf die Reihe gebracht hatten, die temperamentvolle Jugendliche im Nahkampf zu überwältigen.

Gegen das Mädchen war kein Kraut gewachsen, Kämpfernatur durch und durch.

„Tsk!“ macht eben dieses verdrossen, riss sich mit einer betonten Gestik los und stolzierte erhobenen Hauptes zu ihm herüber.

„Verzeiht bitte, leiðtogi“, entschuldigte sich der Hochrangigste unter den Wachposten und verneigte sich höflich.

Aska streckte ihm die Zunge heraus.

Unterdessen winkte Hraunar ab, an die Holzwand gelehnt, erteilte den Befehl zum Wegtreten: „Ihr dürft gehen.“

Dann wandte er sich zu seiner Schwester, hob fragend eine Augenbraue.

„Was?!“ konterte sie patzig, und ihre Haltung glitt abrupt ins Defensive ab. Argwöhnisch taxierte sie ihn mit einem abwehrenden Blick.

„Was soll das? Wolltet ihr mit eurem nächtlichen Überfall meine Sicherheitsvorkehrungen austesten? Oder hattet ihr vor, mir eure neuen Fähigkeiten auf diese Art zu demonstrieren?“ erkundigte sich der neue leiðtogi, das Lächeln, das seine Miene einvernahm, versöhnlich, ehrlich.

Hraunar wusste von Eldsvoði, hatte wohl ihre Präsenzen gespürt und gab sein Wissen ohne Zurückhaltung kund.

Kein Rückruf.

Sie verneinte betreten.

Irgendetwas an ihm war eigenartig, anders - es irritierte sie.

Für gewöhnlich strahlte Hraunar nichts als eiserne Entschlossenheit und eine unbegrenzte, zumeist destruktive Energie aus, Macht, eine unerschöpfliche Stärke, aber im Augenblick spürte sie eine für ihn absolut untypische Ruhe, eine latente Ambivalenz, wie sie sie derart wirklich selten bei ihm erlebt hatte.

Sein Blick wirkte heute trübe, von einer leeren Müdigkeit verschleiert.

Womöglich...

Jemand, der den eigenen Vater auf dem Gewissen hat, das Schwert besudelt mit dem Blut dessen, der ihn zeugte und aufzog.

Ob ihn seine Tat belastete?

Bereute er es...?

Aska begriff nicht.

Stumm studierte sie die Maserung der Dielen, unfähig, ihre Gedankengänge zu verlautbaren oder ihre aufkeimenden Zweifel zu zügeln. Sprachlos.

Jene Indifferenz bezüglich seiner Familie...

Wie sollte das enden?

Ein beschwingtes Pfeifen riss Aska aus ihrer aufwallenden Sinnkrise, und ihre Verwirrung war perfekt, als jemand ihr Wohlbekanntes um die vor ihnen befindliche Ecke bog.

„Eldsvoði!“

„Huh?“

Der Angesprochene blinzelte verdutzt, grüßte dann mit einer starren Verbeugung seine Geschwister, und Aska registrierte sofort die Veränderung in seinen Augen, das Aufblitzen von Distanz und Unverständnis.

„Wie zur Hölle bist du hier rein gekommen?“ schimpfte Aska, ihr Eifer mit seinem Auftauchen abermals entfacht.

„Ich habe mein Problem sachlich geschildert und um Einlass gebeten“, erläuterte der jugendliche Feuerdrache – übrigens unversehrt, bis auf seine verstaubte Garderobe - und zuckte die Schultern.

„Was auch immer“, murrte das Mädchen und schwieg.

Die Situation war grotesk, absurd, das beschrieb es adäquat.
 

„Alles in Ordnung?“ äußerte sich der Neuankömmling zuletzt plump und begutachtete dabei gründlich die weißen Bandagen, die auffällig unter dem unordentlich geschlossenen Gewand seines älteren Bruders hervorblitzten.

Weniger Besorgnis als Neugier, sein Ton misste jegliche Emphase.

Hraunar nickte dennoch, sich dessen unbewusst, und tat es mit einem lässigen „Halb so wild.“ ab, ignorierte das unangenehme Ziehen, das sich wie aufs Stichwort um seinen linken Wangenknochen herum meldete. Dass man ihm dermaßen dreist ins Gesicht schlagen würde, damit hatte er beileibe nicht gerechnet.

In Zukunft würde er vorsichtiger sein.

„Es ist wichtig“, platzte es plötzlich und unverhofft aus Aska heraus, und Eldsvoði staunte nicht schlecht, als sie ihn grob am Arm packte und hektisch um einen guten Teil seiner Oberbekleidung erleichterte.

Die Abschürfungen und blauen Flecken von vor zwei Tagen, die er aus dem Kampf mit dem Krieger der Erddrachen davongetragen hatte, verblichen bereits.

„Siehst du das? Siehst du das?! Er ist verletzt!

Dieses Schwein von einem Erddrachen hat uns hinterrücks angegriffen, ohne Grund, in unserem Territorium!

Ist das zu fassen, was die sich herausnehmen?

Und der Kerl hat uns verspottet, er hat sich über die Herrscherfamilie lustig gemacht, er hat uns eiskalt beleidigt, er-“

„Aska. Beruhig dich erstmal“, gebot Hraunar ihr Einhalt, ohne Schärfe, aber nachdrücklich, „Erstens: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo genau ihr euch herumgetrieben habt.

Zweitens: Die Hierarchie innerhalb des Clans der Erddrachen gleicht der unsrigen kein bisschen. Die Tat eines Einzelnen muss nicht dem Willen der Allgemeinheit entsprechen.

Und drittens: Soll ich wegen eines solchen Zwischenfalls riskieren, einen Krieg mit den Erddrachen vom Zaun zu brechen?

Unser Clan ist in alle Himmelsrichtungen zersplittert und zersprengt. Unsere Einheit hat Priorität.“

Wenn er es wahrlich gewollt hätte, hätte er euch an Ort und Stelle getötet.

„...“

So hatte sie sich ihre Rückkehr gewiss nicht vorgestellt.

„Es ist schön, euch wohlbehalten wiederzusehen.“

Keine Fragen.

Sinnlos.
 


 

***
 


 

Er musste zugeben, er hatte sich an die Nähe des kafteinns gewöhnt.

Und dieser hatte ihn restlos überzeugt: Logi hätte seine Kameraden aus freien Stücken niemals im Stich gelassen, und er hatte auch nicht erwartet, dass man ihm eiskalt in den Rücken fiel.

Sie hatten sein Vertrauen auf übelste Weise missbraucht.

Kameradenschweine.

Logis wahres Schicksal, das tragische Los der Welt, hatte ihn berührt und aufgewühlt, alte Wunden in seiner Seele wieder aufgerissen, die er vernarbt, verdrängt gedacht hatte. Doch nun drangen sie erneut, mit einer frischen, ungeahnten Intensität auf ihn ein, die ihm den Schlaf raubte und mit Alpträumen heimsuchte, die den Schmerz in seinem rechten Unterarm wie an jenem Tag entfachten.

Die Hoffnung auf Vergessen hatte er unlängst aufgegeben; diese Erinnerungen an seinen gotteslästerlichen Frevel hatten sich so tief in sein Gedächtnis eingeprägt wie das glühende Metall in sein Fleisch.

Gebrandmarkt bis ans Ende seines Lebens.
 

Von der Straße drangen die Rufe balgender Kinder hinauf.

Die untergehende Sonne verwandelte den Horizont in ein flammendes Inferno, und die schwindenden orangeroten Strahlen, die durch das Bambusgeflecht des Fensters schienen, malten befremdliche Silhouetten an die gegenüberliegende Wand des Quartiers.

Schwarze Gestalten, die die Hände nach ihm ausstreckten und ihn zu packen versuchten, doch da sich das Zimmer unaufhörlich zu drehen begonnen hatte, konnten sie ihn nicht erreichen. Nicht mehr.

Erst, seit er das Gefühl hatte zu fallen, immer immer weiter, tiefer, wohin auch immer, zerstreute sich seine Furcht, sie würden ihm folgen.

Wieso sollten sie?

Zu weit, viel zu weit unten. Wenn sie sprangen, würden sie sterben.

Im rotierenden Raum, unter der Obhut der Deckenmaserung, umgarnte ihn die Sicherheit, oder ein hübsches Fräulein mit sanften Händen, der Übergang erschien im fließend, eine Schönheit ohne Stimme, anmutig und grazil. Bloß die Schwere ihrer Schritte mochte nicht zu ihrem zierlichen Körperbau passen.

„Sie hat eben einen schweren Gang“, sagte er sich mehrmals, „einen schweren Gang. Das liegt an ihrer schwierigen Aufgabe...“

Ihn zu beschützen, das war unmöglich, und die Vergangenheit ändern zu wollen, entsprach dem Traum eines Wahnsinnigen.

Der Heiler lachte.

„Wahnsinnig.“

Nein, nein, noch nicht.

Zwar schüttelte die Mamsell Sicherheit vehement den Kopf und erhob den Zeigefinger, das Pochen des Spechtes jedoch gab ihm Recht. Darauf bestand er. Der Specht musste die Wahrheit klopfen.

„Zum Gruße“, nuschelte er, als sich der Vogel ihm näherte und aus anthrazitfarbenen Augen musterte.

„Eldur?“

Jemand schüttelte ihn, eine Hand auf seiner Schulter, aber es handelte sich dabei nicht um das sanftmütige stumme Mädchen, und das Gefieder des Spechts verflocht sich zu einem ihm bekannten Gesicht.

Er schnappte nach Luft, als hätte er zu lange unter der Oberfläche eines überfrorenen Sees ausgeharrt.

„Eldur!“

Schlagartig saß er kerzengerade auf seinem Bett und starrte den Soldaten an, zitternd, schweißnass vor Angst.

Logi schwieg, ließ sich lediglich neben ihm nieder und gewährte ihm die Zeit, die er dringend benötigte, um sich zu beruhigen. Sein Rausch war verflogen, von einer behutsamen Bö in alle Windrichtungen zerstoben.

„Hat's sich gelohnt?“ fragte der kafteinn nach einer Weile.

Nein.

Obgleich er die Antwort bitter auf der Zunge schmeckte, erwiderte er nichts.

Kraftlos sank er zurück in die feuchten Laken, wälzte sich auf die Seite, sodass er seinem Genossen den Rücken zukehrte. Mit geschlossenen Augen zählte er wortlos die Schläge seines rasenden Herzens.

„Ich halt's nicht aus“, gestand er etwas später, ruhigeren Atems, denn sie wussten beide, um was es ging.

Seine Flucht vor der Realität.

Opium.
 

Durch sein Geständnis hatte Logi ihm alles offenbart, alles und das bedingungslos. Er hatte ihm eine quälende Wahrheit anvertraut, deren Konsequenzen er fürchtete und die sich bis jetzt ungehindert durch sein Gewissen gefressen hatte.

Diese Ehrlichkeit hatte seine Seelenpein gelindert, seinen Verstand vor dem absoluten Ruin bewahrt.

War es das?

Die Ursache dafür, dass es für ihn selbst nicht endete...

Weil er es all die Jahre verschwiegen und vertuscht hatte?

Weil er davongelaufen war.

„Ich schaffe es nicht ohne...“ flüsterte er matt, die Finger seiner linken Hand fest um das rechte Handgelenk geschlossen, „Es tut weh...“

Eldur bewunderte den Soldaten für den Mut, seine Agonie ihm gegenüber auszudrücken und in Worte zu fassen, sich ihm preiszugeben – im Nachhinein noch mehr als zuvor, denn er musste wohl oder übel auf die Umsicht des Feldheilers vertrauen. Ausgeliefert.

Das daraus entstandene Ungleichgewicht zwischen ihnen behagte ihm nicht, und die einzige Chance, diese Courage zu honorieren und sich bei Logi zu revanchieren bedeutete für ihn, dass er gleichziehen und reinen Tisch machen musste.

„Es ist dasselbe“, hörte er sich monoton ansetzen, während er die Bandage von seinem rechten Unterarm löste.

Mit einem Ruck rollte er auf die andere Seite, in Richtung des kafteinns, und lagerte seinen unbedeckten Arm auf Logis Abdomen, über den Narben, die unter dem Stoff quer über seine Bauchdecke verliefen.

Was wie ein Kontrast wirken mochte, das dunkle Symbol auf heller Haut, der olivfarbene Grund, erkannte der Soldat alsbald als eine von Farben unabhängige Einheit.

„Wir sind beide bis in die Ewigkeit gezeichnet.“

Der umgekehrte, schwarze Lotos.

Das Stigma der Sünder und Frevler.

Erschöpft lehnte Eldur die Stirn an die Flanke seines Kameraden, seine Haare wie ein offener, roter Fächer.

„Fast dasselbe“, korrigierte er sich schwankenden Tones, „mit dem Unterschied, dass meine Schuld dabei erheblich ist. Es...“

Wo sollte er nur anfangen?

„Ich höre zu“, versicherte Logi.

„Weißt du, meine Eltern... ich und sie, wir sind keine Blutsverwandten. Sie fanden mich damals als Säugling, ausgesetzt vor einem Kloster, zufällig, und sie nahmen sich meiner an, trotz meines angeblichen Makels.“

Wahrscheinlich meinte er damit seine unterschiedlich gefärbten Iriden, was Äbte und Priester gerne als Teufelswerk abstempelten und die Betroffenen in bestialischen Ritualen exorzierten.

Nicht, dass sie jemals erfolgreich gewesen wären.

Abergläubisches Gesinde.

„Ich wuchs bei ihnen behütet und geliebt auf, es mangelte mir an nichts. Verwöhntes Gör trifft es gut.

Irgendwann erzählten mir meine Zieheltern schließlich von diesen Gegebenheiten, aber ich störte mich nicht weiter daran. Wozu?

Ich war glücklich, und als mein Vater meinem Wunsch Soldat zu werden nachgab, womit ich meine innere Unruhe zu versöhnen suchte...“

Zu diesem Zeitpunkt geriet das Rad des Schicksals in Bewegung.
 

Am Anfang steht der Wunsch eines naiven Jungen, der Traum, als Soldat die Schwachen zu schützen.
 

„Aus dem Weg!“

„Macht Platz!“

Hektische Stimmen mischten sich mit dem Geräusch von raschen Schritten.

„Auf die Seite, lasst ihm Raum zum Atmen.“

Zwei hagere Burschen, leichenblass und verunsichert von der Situation, begleiteten den stämmigen Soldaten, der den Jungen auf dem Arm trug.

Der rothaarige Knabe krümmte und wand sich sichtlich unter Schmerzen, und mittlerweile durchtränkte sein Blut auch die Kleidung seines Kommandanten, perlte von seinem Harnisch wie schwarzer Regen und tropfte auf den gefliesten Boden.

„Besuch? Zu so früher Stunde?“ erklang die sarkastische Nachfrage.

Das harsche Atemschöpfen der Krieger störte die heilige Ruhe des Klosters.

Vor dem Abbild eines tierköpfigen Gottes kniete die Äbtissin, in sich und von der Außenwelt abgekehrt, die Hände im Schoß gefaltet.

Doch der Dringlichkeit der Umstände und der Unhöflichkeit der vier Soldaten zum Trotz rührte sie keinen Muskel.

„Ihr stört unser Morgengebet“, entgegnete sie knapp.

„Der Junge stirbt, wenn ihr nichts tut!“ drängte der Kommandant ungeduldig, der Widerhall seiner Worte wie ein Donnerschlag in der Stille der Halle.

„Schläft euer überqualifizierter Heiler wieder seinen Rausch aus oder wieso bittet ihr uns so freundlich um Hilfe?“

„Brími ist tot“, hielt der Soldat dagegen, jedweder Funke von Kompromissbereitschaft seinem harten Ton gewichen: „Weil er versucht hat, bei der Befreiung eurer Stadt zu helfen.

Weil euer hübscher kleiner Morgengottesdienst mit Anwesenheitspflicht eine Konstante ist, die der Feind zu seinem Vorteil nutzt.“

Eine Weile geschah nichts.

„Ársól, geh mit ihnen“, befahl die in bunte Gewänder gehüllte Äbtissin hölzern, „und sieh zu, dass sie die Schweinerei aufwischen, die sie hier veranstalten.“
 

Ihre Begegnung ist reiner Zufall.
 

Als er die Augen öffnete, waren die Schmerzen vergangen, der Geruch von Blut verflogen.

Eine sanfte Brise streichelte seine Stirn, die Luft erfüllt von einem melodischen Summen, und als er den Kopf schwerfällig drehte, erhaschte er einen Blick auf das Profil und das lange Haar der Frau, die auf dem Sims zwischen den Säulen saß, mit Nadel und Faden hantierend.

Was für eine Schönheit.

Der Anblick ihrer Beine, unbedeckt bis zu den Oberschenkeln, ihre makellose Haut, trieb ihm das Blut in die Wangen, und eine ihm unbekannte Hitze breitete sich in seinem Körper aus.

„Wer...?“
 

Eine Frage, die unbeantwortet bleiben soll – zumindest von ihr.

Und während er seiner Begierde gehorcht und sie sich dem Reiz des Unbekannten hingibt, sehen die Augen eines Dritten mehr, als sie sollten.
 

Die innige Verbindung zwischen ihnen, ein unsichtbares Band des Einklangs, schien bereits vor ihrem Aufeinandertreffen geknüpft.

Mehr als Sympathie oder eine zaghafte Ahnung der Zuneigung, wesentlich mehr, etwas Besseres, Höheres.

Etwas, das er nie zuvor gespürt hatte, neu, vollkommen.

„Hey.“

Ársól lächelte verstohlen, sich seines auf ihr ruhenden Blickes wohl bewusst, wohingegen sich die Züge des Kommandanten, der im Rahmen des Durchgangsbogens lehnte, verhärteten.

Entnervt verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Ich habe Euch durchaus verstanden, herra“, antwortete sie höflich, die Lider niedergeschlagen, „Aber ich kann Euch heute nichts Anderes sagen als gestern: er erholt sich gut, doch braucht es seine Zeit, bis die Wunde ausgeheilt ist.“

„Aha“, machte er wenig überzeugt.

„Ich gebe mein Bestes“, schwor die junge Frau und musterte ihr Gegenüber eindringlich.

„Wenn Ihr wollt, könnt Ihr die Nacht gerne hier verbringen. Ihr seht müde aus.“

Mit einer abschätzigen Gestik entzog sich der Kommandant der Konversation und wandte sich zum Gehen.

„Was für ein Dickkopf!“ kommentierte Ársól das Verhalten des Soldaten mit einem Seufzen.
 

„Ich mag deine Augen“, hauchte sie dem Jungen sachte ins Ohr, strich durch sein Haar, das ihm offen über die Schultern fiel.

„Damit bist du die Erste und sicher auch Einzige. Normalerweise-“

„Shh“, unterbrach sie ihn und küsste ihn auf den Mund, ließ sich im Gegenzug von ihm hinunter auf das Lager ziehen...

Die alte Nonne, die dem unbeabsichtigt beiwohnte, wusste bei bestem Willen nicht, wie sie darauf reagieren sollte. In ihrem gesamten Leben war ihr ein einziges Mal ein Kind mit unterschiedlich gefärbten Iriden untergekommen, ein Säugling, der den Ruf des Klosters zu ruinieren drohte und deshalb verschwinden musste.
 

„Uns ist bekannt, dass es damals nicht deine Schuld war. Wir haben dich deswegen niemals behelligt.

Jetzt jedoch... eine solche Sünde in unserem Haus zu begehen...“

„Nicht nur das!“

„Ársól, der Junge ist dein eigen Fleisch und Blut!“

„Das ist nicht wahr. Ihr lügt.“

„Ich wünschte es.“
 

All sein Flehen und Betteln stieß auf taube Ohren, verklang in den Katakomben des Klosters.

Die Nonnen kannten keine Gnade.

Blut und Kälte.

Glühender Stahl und der Gestank von verbranntem Fleisch.

Sein rechter Unterarm schmerzte höllisch, seine Kehle war rau, und irgendwann, zu spät, wurde es finster um ihn herum.

Danach würde er sich nicht mehr daran erinnern, was wirklich geschehen war und wie lange es gedauert hatte.
 

Die Mutter verschwindet im Nichts.

Der Sohn überlebt dank seines Kommandanten, gebrochen und gebrandmarkt, und konzentriert sich fortan – scheinbar – auf seine militärische Karriere.
 

„Ich habe mit meiner eigenen Mutter geschlafen...“

Schweigen.
 


 

***
 


 

Von der Veranda aus konnte er das gesamte Gartenareal überblicken, einschließlich des Übergangs zum Hof, ein heimlicher Wächter auf seinem Posten vor der Höhle des Löwen.

Dabei verkam das Schärfen seines Schwertes flugs zur Nebenbeschäftigung, sein Blick fixiert auf die Reflektion des herforingi in der blanken Klinge, und er gestand sich ein, dass ihn die filigranen Bewegungen, das kalligraphische Talent, das in Fölskvi schlummerte, jedes Mal aufs Neue faszinierte.

Dass dem Schwertarm eines Kriegers so viel Feingefühl zu entspringen vermochte, und die Hand, die ansonsten den Griff einer Waffe sicher fasste, verhängnisvoll, tödlich, führte den Pinsel ohne Gewalt oder Zwang.

Doch ebenso fehlte seinem Tun jegliche Leidenschaft.

Keine Kunst, sondern lediglich ein Zeitvertreib aus Langeweile.

Er tat es nicht oft, und wenn, dann bloß, wenn er sich unbeobachtet fühlte; wahrscheinlich widerstrebte es ihm, jene Begabung zu offenbaren, weil er es für einen Soldaten als ungebührlich empfand.

Ob das nun stimmte oder nicht, war Ansichtssache.
 

In seinem abwesenden Ausdruck spiegelte sich vor allem Konzentration, doch Kopar erkannte hinter dieser Fassade eine ungemeine Erschöpfung. Fölskvi war blass und die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten von der Schlaflosigkeit und Anstrengung der vergangenen Tage und Nächte.

„Solltest dir eine Auszeit gönnen, Fölskvi“, stellte der Brigadier nachdenklich fest, sich wohlweislich hütend, einen belehrenden Ton anzuschlagen.

Der Angesprochene hielt abrupt inne, unangenehm überrascht, und seine Haltung verkrampfte sich augenblicklich bei den Worten des anderen Feuerdrachen.

„Ich bin beschäftigt“, gab er scharf zurück, und die finsteren Schatten, die seine Miene ergriffen hatten, vertieften sich, als Kopar sich zu ihm umdrehte und dessen ungerührt fortfuhr: „Glóra und Rjóð würden dich gerne wiedersehen.“

Fölskvis jugendliche Züge versteiften sich, während er die Brauen zusammenzog.

„Ich weiß“, erwiderte er betont, seinen Missmut nicht verbergend, „was in den Briefen deiner Gefährtin steht.“

„Wenn du's so sagst, klingt's, als würdest du nachts meine Post durchwühlen“, begegnete sein Gegenüber ihm belustigt, langsam aber sicher überzeugt, dass man dem sturen Offizier heute weder mit Charme noch Wohlwollen beikommen konnte.

Zwecklos.

Seufzend lehnte er den Hinterkopf gegen den Türrahmen.

Themenwechsel.

„Haben deine zwei Brieftauben dir was Neues gezwitschert?“

Nach einem Moment des Zögerns blickte Fölskvi auf, ein kühles Lächeln auf den Lippen: „Durchaus.

Hörvirs kleiner Ausflug ging schnurstracks in die Mongolei, wo er, sagen wir, ordentlich aufgeräumt hat.“

Ein groteskes Amüsement leuchtete in seinen Iriden, abgrundtief, verquer und unangebracht, dass Kopar schluckte.

Zuweilen fürchtete er sich vor dem, was in den seelischen Untiefen des Kompanieführers lauerte, eine eisige Boshaftigkeit, die ihm vollkommen unbegründet erschien.

„Ich find das nicht lustig“, mahnte er den jüngeren Drachen eindringlich, rügte ihn mit einem strengen Blick.

In dieser Hinsicht verstand er keinen Spaß.

„Ist es auch nicht“, pflichtete Fölskvi ihm ernst bei und deutete mit der Pinselspitze auf den Soldaten, „Aber es lässt auf etwas anderes rückschließen.

Hraunars Taktik ist so simpel wie effektiv: er legitimiert seine Herrschaft durch Gewalt. Wer nicht spurt-“

„-wird vernichtet“, beendete der Brigadier den Satz, von düsteren Vorahnungen beschlichen.

„Die Reaktion des Nordens ist exemplarisch. Sie stutzen, werden sich aber sicherlich nicht ergeben“, konkretisierte Fölskvi ungerührt, beinahe gelangweilt: „Auf Dauer klappt das trotzdem nicht.

Sein erfolgreicher Putsch und das Auslöschen der Opposition ist sozusagen Schritt eins. Abschreckung und Einschüchterung durch Brutalität funktionieren, unglücklicherweise, für ihn, nicht ewig, Unterdrückung provoziert früher oder später eine Revolution.“

Kopar schnaubte.

Das Joch der Machtlosigkeit...

„Und was ist dann Schritt zwei?“ fragte er grimmig nach, von der Vorstellung einer solch verheerenden Zukunft überaus enttäuscht und mindestens ebenso erzürnt.

Er konnte nichts dagegen unternehmen. Nichts.

„Allem Anschein nach wird er den Hass, den er bewusst schürt, auf jemand anderen projizieren...“

Hraunars Kalkül war eine bedenkliche Entwicklung, die man besser nicht unterschätzte.

In den Kirschbäumen schnatterten lautstark die Elstern.
 


 

***
 


 

Was für eine üble Gegend.

Rotlichtviertel.

Beschämt senkte Eldur den Kopf und beschleunigte seine Schritte.

Die koketten Blicke der Damen auf der Gasse, die definitiv aus dem anstößigen Gewerbe mit der Lust und den zahlreichen Etablissements in der unmittelbaren Nachbarschaft stammten, wurden ihm unangenehm, er fühlte sich, zu vollem Recht, beobachtet, verfolgt.

Kalte Augen, leblos, wie die von Puppen oder Toten, ihrer Seele, ihres Seins beraubt. Ihre Penetranz allerdings strafte ihre scheinbare Leblosigkeit Lügen.

Fröstelnd sah er zum pechschwarzen Nachthimmel auf.

Der abnehmende Mond, der dort thronte und die roten Lampions neben den Hauseingängen spendeten gerade so viel Licht, dass er das Pflaster unter seinen Füßen und die Umrisse der Gebäude ausmachen konnte.

Irgendwo hier...

„Aha!“

Das war es.

Nicht schön oder gar architektonisch wertvoll, eher... verlebt. Unscheinbar, alt, marginal verwahrlost.

Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

Absteige, heruntergekommene Spelunke waren die Begriffe, die ihm spontan dafür einfielen und noch eine Weile durch den Verstand spukten, als er die Kneipe in der dunklen Seitenstraße betrat.

„Wo treibst du dich nur rum...“ sann der Feldheiler leise, für sich nach, während er sich in Schlangenlinien einen Weg durch das dichte Gedränge von Soldaten, Prostituierten und anderem fragwürdigen Gesocks bahnte, überzeugt, dass er Logi auf diese Weise niemals finden würde.

Schwierig, sich überhaupt vorzustellen, dass der kafteinn sich an einen solchermaßen überfüllten Ort wagte.

Wenn er den Ausklang ihrer letzten gemeinsamen Mission sowie dessen Konsequenzen bedachte ...

Etwas zwischen ihnen hatte sich deutlich verändert, zum Positiven hin, obwohl er es nicht in Worte fassen, nicht benennen konnte; eine Mischung zwischen Vertrauen, Nähe und Ehrlichkeit, eine Emotion, die er bis dato nicht gekannt hatte.
 

Der Geräuschpegel schwoll ins Unerträgliche an, der Geruch von Alkohol durchtränkte die schale Luft der beengten Räumlichkeiten.

Eldur schwirrte der Kopf.

Irgendwo hinter dem Tresen hatte er im Vorbeigehen einen flüchtigen Seitenblick auf die fünfte Kompanie und Brigadier Kopar erhascht, die sich ausgelassen ihrer Freizeit erfreuten und am billigen Reiswein verlustierten, und ihr derzeitiger Vorgesetzter war nicht gerade schlecht dabei.

Apropos Vorbildfunktion.

Wenigstens, das musste er Kopar zugute halten, lehnte er die Angebote der aufreizenden Straßenmädchen, die an seinem Tisch ein schnelles Geschäft witterten, konsequent ab – direkt, aber immer freundlich.

Möglicherweise besaß er Familie, eine Gefährtin, Kinder...

Hastig schob er die Gedanken der Einsamkeit, die jener Überlegung zu folgen drohten, beiseite, entschied sich in seiner Ratlosigkeit, sich bei einer der weiblichen Bedienungen nach Logi zu erkundigen.

Das Mädchen, überfordert vom Andrang am Abend, zuckte die Achseln und huschte mit einer Entschuldigung auf den Lippen gleich darauf wieder von dannen.

So viel dazu.
 

Etwa eine halbe Stunde ergebnislosen Suchens später hatte Eldur jedwede Motivation verlassen, und er war drauf und dran aufzugeben, um seine Frustration in ein oder zwei Flaschen Wein zu ertränken, als ihn jemand anrempelte und er beinahe mit einem der Ecktische kollidierte.

In diesem misslichen Augenblick entdeckte er Logi, zufällig, im hintersten Winkel des Raumes, und er vergaß die rüde Beschwerde, die ihm noch eben, wie ein Stück einer reifen, süßen Frucht, auf der Zunge gelegen hatte.

„Ah.... Logi“, grüßte er unbeholfen, kaum drei Schrittlängen von dem Soldaten entfernt und nebenbei bemüht, sein Gleichgewicht nicht vollends zu verlieren.

Der kafteinn begegnete seinem Blick lethargisch, zu betrunken, vermutete Eldur, nickte ihm dann vage zu.
 

Man merkte Logi seine Trunkenheit nicht unbedingt an.

Er benahm sich unauffällig, lediglich der Ausdruck in seinen dunklen Augen wirkte abwesend, seine Reaktionen verzögert, er sprach nicht mehr oder weniger als sonst.

Eldur hingegen spürte alsbald, wie ihm der Alkohol zu Kopf stieg.
 

Kurz vor Mitternacht.

Die Avancen vom Nebentisch wurden stetig offensiver, und die Taktik des Heilers, Ignoranz, unterdessen Desinteresse, vorzuschützen, verlief unbeachtet im Sande.

Logi nahm es sicherlich zur Kenntnis, sagte aber nichts.

Wohlerwogen.

Denn als Eldur den Mund aufmachte und taktvoll, minimal nuschelnd, um etwas mehr Privatsphäre bat – oder glaubte, dies zu tun - löste er genau die metaphorische Lawine aus, die er zu verhindern versucht hatte: die drei angesäuselten Damen, Soldatinnen, fraglos, gesellten sich sogleich zu ihnen an den Tisch, ohne Scheu und Hemmungen.

Damenhafte Befangenheit...?

Fehlanzeige.

Eldurs Unbehagen wuchs, und das Bedürfnis, sich aus der unkoscheren Affäre zu ziehen, steigerte sich rasch in einen nicht mehr zu vernachlässigenden Drang, der den dichten Nebel, der seine Sinne umwob, für seinen Geschmack viel zu schnell klärte.

Walkürenschwadron.

Direkt neben ihm saß die Amazone des Dreigestirns, eine bedrohliche Erscheinung, größer als er, muskulös und mit einer autoritären Ausstrahlung gesegnet, vor der er sich am liebsten unter der niedrigen Tischplatte verkrochen hätte.

Es war zu viel.

Verunsichert blickte er zu Logi, formte mit den Lippen einen lautlosen Hilfeschrei, doch sein Gegenüber kümmerte das nicht im Geringsten. Der kafteinn ertrug die dreisten Annäherungen, die süßen Worte der Verführung und die wandernden Finger der beiden anderen mit stoischer Ruhe, während er auf schmalem Grat wandelte, eine Panikattacke zu erleiden, als sich die Hand der Walküre in seinem Haar verirrte.

Jetzt gab es nur noch einen Ausweg: Flucht.
 

Am Rande seiner Wahrnehmung bekam der Heiler während seines überstürzten Aufbruchs mit, Logi im Schlepptau, dass sich ein geringer Teil der fünften Kompanie im Stillen absetzte, eine Handvoll Personen, die allesamt keinen tieferen Eindruck bei ihm hinterlassen hatten. Ihre volltrunkenen Kameraden, samt sternhagelvollem Brigadier Kopar, überließen sie bedenkenlos den vergnüglichen Ausschweifungen ihres Rausches.
 

Nach Mitternacht. Irgendwann.

Der Fuchs schwebte im wonnigen Dunst der Ahnungslosigkeit, der Sinn für Zeit und seinen momentanen Aufenthaltsort war ihm längst abhanden gekommen, und es galt zu bezweifeln, ob er sich in seiner miserablen Verfassung auch bloß an seinen Namen erinnern konnte.

Maßlos.

Unmöglich.

Nachdem er ihren Kneipenbesuch jählings, wie ein Irrer, beendet hatte, war er orientierungslos durch die vertrackten Gassen getorkelt, und da Logi mutmaßte, dass Refur nicht zu dem Typ Mann gehörte, der am späten Vormittag in einem billigen Bordell, umgeben von einer Horde lüsterner Frauzimmer, aufwachen wollte, hatte er sich dazu durchgerungen, den Betrunkenen nach Hause zu i]geleiten. Sprich, ihn zu tragen.

Das Echo seiner Schritte hallte zwischen den Hauswänden wider, verklang in der Weitläufigkeit des Marktplatzes.

„Stehst nicht mehr auf Frauen?“ hakte der kafteinn belustigt nach, von Schadenfreude beflügelt.

Kein Nachteil, dass er sein Gesicht nicht sehen konnte.

Refur winkte in einer ausladenden Gestik ab: „Nah.

Ich steh einfach nich' so drauf, wenn mir 'ne Frau die Klamotten vom Leib reißt und mir vug... vulgäre Beleidigungen an den Kopf wirft.“

Lebhafte Fantasie – oder berichtete er aus Erfahrung?

„Außerdem“, fügte er glucksend hinzu, sein verruchtes Grinsen regelrecht hörbar, „Unter E-ro-tik versteh ich was Andres.“

Was er damit meinte, vor allem mit der wunderlichen Dehnung des zentralen Ausdrucks, mochte ihm nicht einleuchten

„Weichei“, kommentierte Logi nüchtern, woraufhin der Fuchs seine Klauen ausfuhr und ihm gnadenlos in die Schultern schlug, sich ruckartig so weit wie möglich zu ihm vor lehnte.

„Aha, hat da jemand eine masochistische Ader? Macht's dich an, wenn man dir Tiernamen gibt? Ja, Logi?!“ sprudelte es enthusiastisch aus dem Feldheiler heraus.

Logi beschwor seine Selbstbeherrschung.

„Schnauze.“
 

„Wohin des Weges, die Herren?“ säuselte eine sonore Frauenstimme zu ihrer Linken und Logi hielt inne.

Eldur brabbelte etwas Unverständliches.

Selbstverständlich war ihnen, oder eher dem Fuchs, das Glück hold, erkannte der Soldat, denn bei der Frau, die sich nun kess vor ihnen aufbaute und die Arme vor der üppigen Brust verschränkte, handelte es sich, wie konnte es auch anders sein, um die Amazone aus der Kneipe.

Ihre beiden Anhängsel drucksten passiv im Schutz der Halbschatten herum.

„Was habt ihr zwei Hübschen es so eilig? Die Zeche prellen und drei Damen sitzen lassen. Nicht gerade die feine Art“, zirpte sie gespielt verletzt, die Mädchen kicherten, und Refur hielt nicht den Mund.

„Das wüsstet ihr gern, ne?

Wir-“ begann er verheißungsvoll und bedachte Logi mit einem zweideutigen Blick, „-haben da noch was vor“, schloss er und klapste seinem vermeintlichen Objekt der Begierde kräftig auf den Hintern.

Einmalfehler.

Im nächsten Augenblick löste der kafteinn seinen Griff um die Oberschenkel des Fuchses, der infolgedessen wie ein nasser Sack auf das Straßenpflaster plumpste.

„Hey...“

Als sich die Welt um ihn nicht mehr drehte, waren Logi und die drei Kriegerinnen verschwunden.
 

Wasserplätschern. Kalter Stein.

Logis ruhiger Atem.

Wahrscheinlich waren sie am Marktbrunnen.

Eldur hatte Schluckauf.
 


 

***
 


 

„Mir ist kalt.“

Einsam.

Seine Worte waren zu bitter, zu verzweifelt, als dass er ihn hätte von sich stoßen können.

Die unterschiedlich gefärbten Iriden blank, verzweifelt, kalt, im krassen Gegensatz zu seinem heißen Atem, dem hitzigen Leib, der sich an seine Brust presste.

Diese Sehnsucht nach Wärme, und wenn sie auch nur körperlicher Natur sein mag...

„Ich hab nichts gegen Männer“, wisperte er heiser.
 


 

***
 


 

Versonnen betrachtete er die blanke Klinge seines Kurzschwertes, das Spiegelbild seiner eigenen, müden Augen, die ihm unverwandt entgegen blickten.

Nicht sein erstes.

Keines der Schwerter, die er jemals getragen hatte, war von ihm zu dessen ursprünglichen Zweck gebraucht worden, nicht einmal.

Ihm mochten unzählige Genossen und feindliche Soldaten unter den Händen weggestorben sein, in den Lazaretten stank es nach Blut und Tod und Schmerz, aber er hatte niemals, niemals in seiner gesamten Laufbahn als Feldheiler und Soldat jemanden getötet.

Er bereute es nicht – eine solche Tat hätte er nie und nimmer mit seinem Gewissen vereinbaren können. Das hatte ihm die Begegnung mit Logi, und die hohe Gewalttendenz des kafteinn erneut verdeutlicht.

Verweigerer.

Eldur seufzte, schob die Scheide über die Schwertklinge.

„Ich tauge wahrlich nicht zum Soldaten“, stimmte er herforingi Fölskvis Worten verspätet zu, ein Eingeständnis, und verbat sich ein weiteres Zaudern.

Die Verabschiedung eines naiven Kindheitstraumes.

Es wurde Zeit.
 

Auf sein zaghaftes Klopfen hin ertönte ein ziemlich unwirsches „Was?!“ aus dem Quartier des herforingi, und Eldur überlegte kurzzeitig, ob es nicht besser für ihn und seine Gesundheit wäre, umzukehren und später wiederzukommen, doch dem folgenden „Herein!“, einem Befehl, durfte er sich nicht widersetzen.

Gesenkten Hauptes trat er ein, in Erwartung einer ordentlichen Gardinenpredigt von einem übellaunigen Offizier-

„Brigadier Kopar?“ entfleuchte es ihm als er den Blick hob und das Zimmer leer vorfand, bis auf besagten Soldaten, übernächtigt und verkatert von seinem nächtlichen Gelage, der baren Torsos in der Mitte des Raumes stand und unselige Flüche murrte.

Seine Verstimmung prägte seine Haltung, seine Miene maßgeblich.

„Suchst herforingi Fölskvi, he?“ richtete er sich beiläufig an den Heiler, schenkte ihm einen finsteren Seitenblick: „Hat sich ohne Erlaubnis aus dem Staub gemacht, der gerissene Mistkerl.“

Wohin auch immer.

Der Anlass interessierte ihn gar nicht mehr.

„Ah, wie... ungelegen“, sagte Eldur langsam, kratzte sich am Hinterkopf, „Es ist so, ich... möchte den Dienst mit der Waffe quittieren.

Herforingi Fölkvi hatte Recht; mit dem Schwert in der Hand bin ich keinen Pfifferling wert, als Soldat auf dem Felde ein Klotz am Bein meiner Kameraden.

Ich will mich nicht der Militärpflicht entziehen, ich möchte die Position wechseln“, rechtfertigte sich Eldur mit einem milden Lächeln auf den Lippen: „Es liegt mir näher, Leben zu bewahren als sie zu beenden.“

Damit verbeugte er sich und schob sein Kurzschwert von sich.

„Gute Entscheidung“, bekundete Kopar knapp, jedoch vermochte Eldur in seinen herben Zügen keine Überzeugung zu lesen.

Nicht jedem von uns ist die Freiheit vergönnt, wählen zu können.

„Entschuldigt bitte meine Störung.“
 


 

***
 


 

Logi saß auf dem Bett des Fuchses und schnürte gerade seine Stiefel, der Absatz des linken auf dem Überzug, als er Schritte auf dem Flur vernahm.

Refur.

Nicht zu überhören.

Er war wach, seitdem sich sein Genosse vor Sonnenaufgang lautstark aus dem Bett gequält hatte, was auch immer er um diese Tageszeit zu erledigen hatte.

„Trampel“, brummte er, und in jenem Moment öffnete sich die Tür.

Der Heiler stoppte überrascht auf der Schwelle, musterte ihn gründlich mit gehobenen Brauen, obwohl er selbst ebenfalls nicht allzu frisch aussah.

Oder es störte ihn schlichtweg, dass Logi die Schuhe auf seinen mehr oder weniger sauberen Laken abstellte, um sie zuzubinden.

„Morgen“, grüßte er dann nonchalant, „Wohin geht's?“

Daraufhin wandte der kafteinn den Kopf, brach ihren Blickkontakt.

„Nach Hause“, antwortete er, die Indifferenz seiner Züge wahrend, und Eldur schämte sich umgehend seines entgleisten Blicks und für das „Aber-“, das er nicht zu unterdrücken wusste.

Der Ort, den du deine Heimat nanntest, existiert nicht mehr.

„Ich weiß“, Logis Stimme war ruhig, seine Komposition gefasst: „Ich will es selber sehen.

Der schmerzliche Ausdruck, der über das Antlitz des Fuchses flackerte, entging dem Soldaten nicht. Mitleid.

„Was ist mit dir...?“
 

Er besaß die Erlaubnis seit Wochen.

Während ihres neuerlichen Trips in den Osten, der sie dieses Mal allerdings durch unwegsames Gelände geradewegs in die Pampa führte, rätselte Eldur, von wem er dieses uneingeschränkte Einverständnis erhalten hatte. Und warum.

Was hatte die Heeresleitung oder sonst ein höherrangiger Soldat davon, wenn er Logis Heimkehr befürwortete und ihm erlaubte, die Verwüstung, die eine Gruppe unbekannter Rebellen dort angerichtet hatte, persönlich in Augenschein nahm?

Mitunter bedeutete es nichts.

Dennoch... er befand das als schwer zu glauben, zu einfach.

Er verdächtigte herforingi Fölskvi, und der hatte selten keine Hintergedanken.
 

Insgesamt verstrich ihre Reise ereignislos und schweigsam.

Logi wirkte in sich gekehrt, dabei jedoch nicht melancholisch, ja, beinahe zufrieden.

Etwa am dritten Tag begriff er es: Logi würde jenen Weg nie wieder beschreiten.

Er prägte sich die Landschaft ein, er genoss seine letzte Heimreise, so bitter sie auch ausfallen sollte.

Ein Abschied für die Ewigkeit.
 


 

***
 


 

Schwarze Erde.

Ausgezehrt, verbrannt.

Sie hatten nichts übrig gelassen - ausgenommen des Tores, welches wie eine makabere Höllenpforte, dekoriert mit versengten Totenschädeln, pervers, abschätzig, aus dem Ödland empor ragte.

Als Wahrzeichen ihrer Gräueltaten.

Der kalte Gebirgswind wirbelte grauen Staub auf.
 

Eldur fröstelte.

Logis Heimat war ein idyllisch gelegenes Fleckchen Boden, in der Ferne erkannte er Bergrücken und dicht bewaldete Hänge, das Dorf einst umringt von golden schimmernden Feldern und weitläufigen Wiesen.

Hierher verirrte man sich höchstens.

Missmutig presste er die Zähne aufeinander.

Aus Versehen oder im Zuge einer größeren militärischen Aktion geschah so etwas nicht, Soldaten löschten keine unbedeutenden Käffer im Nirgendwo der Provinz aus, auch nicht zu ihrem Vergnügen.

Nicht einmal die Kinder haben sie verschont.

Nein.

Das roch verdächtig nach einem privaten Rachefeldzug.
 

Der Heiler blieb zurück, auf respektvollem Abstand, und wartete bei den Pferden, als Logi absaß und geruhsam über das Aschefeld schritt, die Abdrücke seiner Stiefel wie Spuren im Neuschnee, ins Gegenteil verkehrt.

Die Stille war unerträglich, Totenstille.

Scheinbar ziellos wandelte der kafteinn umher, beschritt Bögen und Wendungen ohne erkennbaren Sinn - als wäre nichts gewesen, als hätte sich nichts geändert - bis er mit einem Mal inne hielt und halbseitig in die Knie ging.

Hier, genau hier. An dieser Stelle...

Logi schloss die Augen, atmete tief durch.

Auf diesem Grund hatte die Hütte gestanden, in der er seine Kindheit und seine Mutter all die Jahre alleine verbracht hatte, notgedrungen: der erste Sohn verschollen, der Gefährte gefallen und ihr zweiter Sohn im Dienste des verhassten Militärs.

Was für ein einsamer Tod.

Jemand, dem derart viel Leid im Leben widerfahren war, verdiente es nicht wie ein Hund zu sterben. Allein, verlassen, der Welt, die ihr alles genommen hatte, fremd.

Bedacht vergrub er die Finger seiner rechten Hand im weichen Boden, schloss Asche und Erde in seine Faust.

Alles, was blieb.

Nachdenklich hob er die Lider, ließ das sandige Gemenge wieder aus seiner Handfläche rinnen.

Wieso hatte er das getan?

Hatte er solch einen Groll gegen seine bescheidene Herkunft gehegt?

Keilir...
 

„Logi!“ schallte die Stimme des Fuchses nach einer Weile der absoluten Stille in beachtlicher Lautstärke über die Ebene hinweg, doch Logi bedeutete ihm mit einem Wink, dass er die Bewegung hinter sich durchaus wahrgenommen hatte und sie nicht als alarmierend einstufte.

Beherrscht richtete er sich auf.

„...“

„So alleine hier draußen, Logi...?“ entbot der vermeintliche Unbekannte ihm schwankenden Tones seinen Gruß. Er klang nicht verwundert darüber, ihn gesund und munter aufzufinden, nachdem er in der Mongolei sicher gestellt hatte, ihn sorgfältig tranchiert zu haben.

Ob er vermeinte, lediglich einem Geist gegenüber zu stehen?

Es spielte keine Rolle.

„Das ist nicht, was ich wollte... Ich...“ bekannte er resigniert, stockte, presste die Zähne in seine ohnehin zerschundene Unterlippe, eine nervöse Reaktion, die er schon als Kind gezeigt hatte, „Ich weiß, dass das nicht zu entschuldigen ist.“

Sie haben mich meiner Identität beraubt.

Sie haben mich erpresst.

Sie haben-

Nichts davon kam ihm über die Lippen, und das eiserne Schweigen des kafteinns, seine neutrale Körperhaltung drängten ihn in die endgültige Kapitulation.

„Es ist nicht so gelaufen, wie wir uns es vorgestellt hatten“, sprach der Neuankömmling dumpf weiter, seine Stimme ebenso kraftlos wie seine Präsenz: „Sínir ist tot... und wo Ákafi ist, das weiß ich nicht mal.“

Dass es Logi trotz dessen nahe ging, stand außer Frage. Seine Schultern versteiften sich und er ballte die Hände zu Fäusten, die Haut über seinen Knöcheln weiß, blutleer.

„Ich kenne dich nicht mehr“, konstatierte er fest.

Schuldbewusst senkte sein ehemaliger Genosse den Kopf.

„Ständig in deinem Schatten zu stehen, war hart, Logi“, wandte der andere Feuerdrache vorwurfsvoll ein, der Nachdruck dahinter ein lächerlicher Abklatsch von der Inbrunst, dem Feuer, das früher seine Worte beschwingt hatte, „Gegen dein Talent hatten wir keine Chance, nichts als Bauerntrampel vom Lande.

Es war nicht fair.

Wir wollten uns einen eigenen Namen machen... heh, das Angebot war viel zu gut als dass es hätte wahr sein können.“

Er musste pausieren, um seine Gedanken zu sammeln – die Situation zehrte an seinen Nerven, kostete ihn eine Unmenge an Mühe und Überwindung.

Und Logi machte es ihm unglaublich schwer.

„Was uns nicht davon abgehalten hat“, fügte er reumütig, ehrlich hinzu, und spätestens an diesem Punkt wollte sein Gegenüber sich nicht mehr ausmalen, was die drei nach ihrem Verrat unter dem Vollmond durchlebt hatten.

Um den Willen eines Drachen zu brechen...

„Du warst mir immer wie ein Bruder. Ich habe dir vertraut. Keilir.“ eröffnete der Soldat seinem Gesprächspartner tonlos, „Das alles... ist eine Lüge gewesen...“

Keilir brach in die Knie, in die Asche seiner Vergangenheit, haltlos, zerschlagen.

Was haben sie dir angetan?

„Töte mich“, forderte er den kafteinn auf.

„Was...?“

„Tu es! Bitte!“ verlangte er nun, energischer, „Ich ertrage das nicht.“

Überfordert fuhr sich der Soldat durch das halblange Haar, er zitterte vor unterdrückten Emotionen und rang verbissen um seine Fassung.

Er verstand überhaupt nichts mehr.

„Wieso bist du hier?“ stieß Logi harsch hervor und drehte sich letztlich, endlich zu ihm um, blickte ihm ins Gesicht.

Was er sah, schockierte ihn.

Was haben sie dir nur angetan, Keilir...?

„Ich möchte zu Hause sterben“, und damit zog er das Kurzschwert samt Scheide aus seinem Gürtel und schob es von sich.

Der letzte Wunsch eines Sterbenden...

Logis Schwerthand zuckte.

Vor ihm im Staub, um das Stichblatt des Schwertes gewickelt, lag eine silberne Identitätsplakette, und es war nicht die von Keilir.
 

„Niemand rührt sich von der Stelle.“

Auf der Anhöhe nahe des Tores erspähte Logi den Umriss eines dritten Pferdes samt Reiter und als er sich wieder auf seine Umgebung konzentrierte, spürte er auch die Gegenwart mehrerer anderer Feuerdrachen.

Soldaten.

Bogenschützen, die sich nunmehr im Halbkreis formierten und nicht ihn, sondern Keilir aufs Korn nahmen. Dieser fügte sich widerspruchslos in sein Schicksal, verschränkte die Hände im Nacken.

„Zielt nicht auf vitale Punkte“, wies der berittene Soldat seine Untergebenen an, mit den Fingern seiner rechten Hand umfasste er einen filigranen Rosenkranz, den er um den Hals trug.

Das Schmuckstück gehörte mit Sicherheit jemand anderem.

„Verstanden.“

Herforingi Fölskvi.

„Das war's dann wohl.“

Der Offizier schenkte ihnen ein kaltes Lächeln.

„Wir werden nachher noch ein hübsches, langes Gespräch miteinander führen...“
 


 

***
 


 

Am Horizont erschienen die ersten hellen Streifen der Morgendämmerung, kurz vor Sonnenaufgang, und die beiden Schattengestalten auf einem der gegenüberliegenden Hügel setzten sich langsam in Bewegung.

Der Atem ihrer Pferde kondensierte in der kühlen Luft.

„Was ist?“ erkundigte sich der weibliche Feuerdrache und zupfte die Kapuze seines Mantels zurecht.

Ihr Partner schwieg, sein Blick fixiert auf das Geschehen im Tal.

„Wir gehen.“

„Huh...?“

Obwohl sie höflich ein Nachhaken bezüglich seiner Beweggründe aussparte, erfasste er ihre Verwirrung sofort und begegnete dieser monoton: „Ich kenne ihn.“

Fölskvi.

Er hatte sich verändert.

Sie beide hatten sich verändert – und nicht zum Positiven hin.

Wenn du nicht aufpasst, wirst du dir hieran höllisch die Finger verbrennen...
 


 

***



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von: abgemeldet
2009-06-16T19:54:07+00:00 16.06.2009 21:54
Ein tolles Ende und dennoch hätte ich gerne mehr über die hauptsächlich handelnden Drachen erfahren. Logi, Eldur und Fölski sind einfach fesselnde Persönlichkeiten (ich mag sie am liebsten), aber auch die Nebendarsteller hast du so gestaltet, dass ich mir immer auch Gedanken über sie gemacht habe, wenn ich im Nachhinein über die Kapitel nachgedacht habe. Die Geschichte ist nicht so flach wie viele, die ich in letzter Zeit gelesen habe (und für die ich teilweise sogar Geld bezahlt habe, nur um das Buch dann am liebsten wegzuwerfen) und ich war mir nie sicher, was mich im nächsten Kapitel erwarten würde. Hätte ich nicht schon „Drachenseele“ gelesen, würde ich nach dem Endkapitel bangen, ob Logi seine Unterredung mit Fölski überleben würde.
Ich fand es auch überraschend, dass Logi am Ende doch endlich teils seine kalte Fassade ablegen konnte und sich um Eldur gekümmert hat.
Das die Lösung des Überfalls so "einfach" sein würde, hätte ich nicht gedacht.
Viele Fragen und Gedanken (die ich in den vorangehenden Kapiteln nicht verstanden habe) haben sich jetzt für mich geklärt, aber dafür sind auch neue aufgekommen.
Über den Drachen, der am Ende noch auftaucht, habe ich eine Vermutung, aber ich werde sie nicht schreiben und will eigentlich auch nicht wissen, ob ich damit richtig liegen würde.
Mich hat selten eine Geschichte so sehr beschäftigt und ich lese normalerweise Bücher sehr selten mehr als einmal, aber „Verbrannte Erde“ habe ich insgesamt mindestens dreimal gelesen.
Wahnsinn, einfach super geschrieben. Ich bin sehr traurig, dass es schon zu Ende ist, aber auch froh, dass es eine abgeschlossene Geschichte ist (es werden so viele tolle Geschichten mittendrin abgebrochen *seufz*).

Von:  stelkur
2009-06-09T20:05:28+00:00 09.06.2009 22:05
Interessant. Von der Ausdrucksweise wirklich bemerkenswert, soetwas lässt sich sonst nur in hochwertigen Fantasybüchern finden.
Jetzt muss ich aber doch ein gewisses Maß an Ignoranz und fehlendem Wissen preisgeben, sind das isländische Namen oder aus den alten Göttersagen? Also Kumpanen von Odin, Baldur, Loki...?

Ich werd mich wohl noch etwas durch die Geschichte durchgraben, aber es beginnt auf jedenfall sehr vielversprechend.

mfg stelkur

Von: abgemeldet
2009-05-15T22:16:11+00:00 16.05.2009 00:16
Wie fieß, jetzt hast du meine Neugierde bezüglich Logis Vergangenheit noch mehr geweckt und dabei sind nur noch zwei Kapitel übrig T___T.
Eldur ist wirklich furchtbar. Hinter jedem Rockzipfel her....oder zumindest kommt er so rüber.
Die Drachengeschwister sind aber auch gut *gg*. Wo die wohl letztendlich ankommen werden?!
Ich weiß gar nicht, was ich lesen soll, wenn die Geschichte abgeschlossen ist, nachdem ich mich schon durch deine restlichen Geschichten gelesen habe (ich werd dir auch noch Kommentare hinterlassen. Im Moment habe ich nur fast keine Zeit).
Eine Frage hätte ich: Warum nennt Logi Eldur "Refur"?
Von: abgemeldet
2009-04-28T16:12:03+00:00 28.04.2009 18:12
Hi.
Die Geschichte ist bisher eine Wucht. Habe selten so einen schönen Schreibstil lesen dürfen.
Die Charaktere und die Welt, die du um sie herum geschaffen hast, sind beeindruckend.
Das ist einfach eine Geschichte bei der ich nicht zu lesen aufhören kann und Kapitel auch mal öfter lese.
Ich bin schon sehr auf die weiteren Kapitel gespannt.
Von:  Carcajou
2009-03-31T23:05:45+00:00 01.04.2009 01:05
es scheint, man dürfe Logi nicht unterschätzen.
vorerst noch von Albträumen und Apathie geplagt, wird er wirklich zum Berserker, um Eldur rauszuhauen... Frage allerdings, was hat es mit dessen Brandmal auf sich?

die Stimmungswechsel haben mir gefallen: erst eher witzig, nasse, genervte Feuerdrachen, die notgedrungen in einer Menschenherberge Schutz suchen müssen, ein paar Anspielungen, die einen schmunzeln lassen und dann der abrupte wechsel zu Eldurs gefangennahme und Logis Befreiungsaktion.
Ich schätze, dieser orden gehörte zu den gruppierungen, die hraunar Schwierigkeiten bereiten?

und er sucht kontakt mit den mongolen?
Menschen?
hab ich da vom letzen kapitel was vergessen?

Und immer wider sehr schön zu lesen, wie du stimmungen und situationen beschreibst!^^

lg,
Carcajou
Von:  Carcajou
2009-03-23T20:05:16+00:00 23.03.2009 21:05
doch einen tag später als angekündigt das nächste Kapitel, entschuldigung.
Kurz und... geheimnisvoll?
Entweder steh ich grad völlig auf den Schlauch (was ich nicht ausschließen möchte)oder es ist nicht ganz klar, wer dieser vom Fernweh gepackte Junge ist.
Logi?
ein Blick in seine Vergangenheit?
*Kopf kratz*

Zumindest hat er wirklich sehr, sehr verständnisvolle Eltern- die Adoption eines Waisen ist in Feuerdrachenkreisen vielleicht nicht ganz so typisch, udn den geliebten angenommenen Sohn dann mehr oder weniger Widerstandslos in ein neues und ziemlich gefährliches Leben ziehen zu lassen, das ist beeindruckend.

wenn es Logi ist/war, dann hat sich sein Schicksal jedenfalls nicht zum besseren entwickelt.
und wahrscheinlich lieg ich hier völlig daneben...

lg,
der Marder
Von:  Carcajou
2009-03-20T23:29:19+00:00 21.03.2009 00:29
Ich mag es wirklich, wie du die Feuerdrachen beschreibst.
einerseits sind sie so "Menschlich", wenn ich das so sagen darf, und andererseits kommt dann doch wider dieses mythische, besondere zu Ausdruck- sie sind anders, Drachen eben, leben aber doch ganz selbstverständlich in dieser Welt.

Das zurückweichen der Mönche vor Logis Karma lässt einem irgendwie einen kalten Schauer den Rücken herunterlaufen, es wirkt sehr bedeutsam, fast ein wenig wie ein Omen.

Ich frage mich, was Hraunar damit bezweckt, Logi und ELDUR LOS ZU SCHICKEN.. denn da steckt ja wohl er dahinter? Dehradiert- der arme (ex) Kaftein...

Und Eldur könnte mit seiner lockeren Art wohl genau der richtige Sein, um Logi aus seiner Apathie zu wecken?

ich hab den eindruck, das hier nichts, aber auch keine Passage umsonst steht. Oder irre ich mich?

Ich bin zwar mörderisch gespannt, wie es denn nun weitergeht (nein, ich habe bis jetzt noch nicht gelesen, das wollte ich mir aufsparen, bis ich auch kommentieren kann), aber das heben ich mir dann für morgen auf.. ich muss jetzt ins bett.^^

liebe grüße,
der Marder
Von:  Carcajou
2009-02-18T20:06:23+00:00 18.02.2009 21:06
Supi.
erst schreiben sie ihn ab, dann kommt er wider erwarten doch noch zu sich und was sieht er?
das nenn ich mal einen "Willkommensgruß"!
dazu noch die nette Behandlung und Fürsorge, die Schmerzen... mein gott, ich kann verstehen, das man da einfach nur sterben möchte.
Und dann noch sein Fauxpas, das Kind anzufahren...und vor allem die Nachricht, die Neisti für ihn hatte.

und SIE reagiert so zickig, weil seine Flucherei anscheinend böse Erinnerungen wachgerufen hat?
wirklich ein bisschen SEHR empfindlich, oder? man weiß ja nicht, warum sie so reagiert- es sollte aber schon was schwerwiegendes dahinter stehen,wenn sei einen Schutzbefohlenen so.. nun ja, schon quält.
über seine Reaktion bei seinem erneuten Erwachen brauch sie sich eigentlich nicht wundern.

Neisti scheint da ja tiefer zu blicken.

Und diese zweite Frau scheint ja gezielt daran zu arbeiten, seinen lebenswillen zu wecken, ihm wieder ein Ziel im leben zu geben.
Der Vergleich mit Schach gefällt mir- nicht die Spielfiguren, sondern den Kopf dahinter zu schlagen.
da drängt sich mir spontan die frage auf: wer steht hinter ihr?
handelt sie aus eigenem Antrieb?
oder wurde sie geschickt?

der Titel des Kapitels passt.
Er ist irgedwie rundum ein Opfer.
ein Opfer des Attentats, ein Opfer der herrschenden Regeln, die ihn sich als einen nicht lebenswerten Versager sehen lassen und irgenwie auch ein Opfer der leute, die Informationen von ihm haben möchten udn ihn deswegen nicht gehen lassen wollen.
Geopfert und zum leben verurteilt, sozusagen.

ich bin gespannt, inwiefern er sich nun wider berappelt... und wohin sein Weg noch führen wird.

Armer, armer Kerl.

lg,
der Marder


Von:  Carcajou
2009-02-18T19:26:41+00:00 18.02.2009 20:26
WAH!
sag mir doch, das ich es verpennt habe, verdammt!
shame on me...><*
Kurz und trotzdem stimmungsvoll, wie immer. ich frag mich immer weider, wie du das schaffst^^

Die Beschreibung des Augenausdrucks des Vaters liest sich wie ein böses Omen- das ja dann auch gleich bestätigt wird.
das Ende der Kindheit..
wahrhaftig.

der verschämte Marder
Von:  Carcajou
2009-01-20T22:47:45+00:00 20.01.2009 23:47
Wie immer atmosphärisch sehr dicht und packend geschrieben, und auch sehr mysteriös.
Ein brutaler Putsch, der die komplette politische Welt der Feuerdrachen auf den Kopf stellt, ein Verräter in den eigenen Reihen, Mord und Totschlag, die Hinweise auf Intrigen und Verschwörungen...
es verspricht sehr spannend zu werden.

hraunar ist offensichtlich ziemlich skrupellos, obwohl seine Motivation ja nicht ausschließlich egoistisch ist. er scheint nicht nach Macht zu suchen, sondern den vorteil für die Allgemeinheit der Drachen. und auch den Toten erweist er noch ein Mindestmaß an Respekt.
allerdings ist seine Waffe ja nicht eine x-beliebige. es fragt sich, wohin es mit ihn noch kommt.

und was der Überlebende wohl gesagt hat?
Das gnze Kapitel macht jedenfalls Lust auf mehr!

gefreut hat mich auch die Länge des Kapitels^^

glg,
Carcajou





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