A Dreamless Carroll von Yu_B_Su ================================================================================ Kapitel 1: A Dreamless Carroll ------------------------------ A Dreamless Carroll „Ist hier noch frei?“, hörte ich eine unbekannte Stimme sagen. Sie klang fröhlich, vielleicht etwas flippig und kam vom anderen Ende des Tisches, an dem ich gerade saß und in der Cosmo vertieft meinen Kaffee trank. „Ja.“, antwortete ich gedankenverloren und hoffte, dass sich diese Person möglichst leise und unauffällig hinsetzte und mich weiter lesen lies. Doch dem war nicht so: „Wirklich?“, rief sie freudig. Ihre Stimme war so hoch, dass ich Angst hatte, meine Tasse würde auf der Stelle zerspringen, und so süßlich, dass ich den Geschmack von Griesbrei auf der Zunge fühlte und aufsehen musste. Da sie vor mir stand, blickte ich einmal von unten nach oben und die Kinnlade wäre mir wahrscheinlich schmerzhaft auf meine Füße gefallen, wenn sie nicht fest und sicher mit meinem Oberkiefer verankert wäre. WOW!, sagte ich und mir blieb für einen Moment die Luft weg. Ich nahm meine Brille ab, putzte die Gläser und setzte sie wieder auf. Und was ich sah, raubte mir immer noch jeden Atem: da stand sie nun, perfekt und schön, als hätte sie ein göttliches Wesen geschaffen. Sie trug hohe, goldene Schuhe, die ihre scheinbar endlos langen Beine noch länger aussehen ließen, und einen kur-zen Rock, der ein paar Zentimeter über dem Knie endete und durch seine blaue Farbe per-fekt mit den gülden lackierten Fußnägeln harmonierte. Der Atem stockte mir, doch ich be-trachtete sie weiter. Ihre schlanke Taille hatte sie mit einem roten Gürtel betont und das e-benso rote Shirt mit Wasserfallauschnitt und tiefem Rückendekolletee betonte ihre Oberweite vollkommen. An ihrem rechten Handgelenk baumelte ein buntes Perlenarmband, das mei-nen Blick weiter über die glänzend goldenen Ringe zu den ebenso gülden lackierten Finger-nägeln leitete. Um ihren Hals trug sie eine von Gold durchzogene Blumenranke aus Rubinen, Saphiren und anderen Edelsteinen, perfekt betont durch ihre natürlich-blonden, hochge-steckten Haare. Ihre blauen Augen waren mit schwarzem Kajal hervorgehoben und auf ihren Lippen schimmerte ein kräftiges, aber nicht zu knalliges Rot. Und das alles, ihre perfekten Kör-performen, 90-60-90, Cup 85B, 1,79 m groß, gekrönt von einem Lächeln, mit dem sie wahr-scheinlich alle Männer becircen und selbst den traurigsten Menschen glücklich machen wür-de. Da ich gerade einen Artikel über Amy Winehouse las, glaube ich sogar für einen Moment, sie könne diese auch von ihrer Drogensucht heilen. Und da stand sie nun, obwohl sie hätte jeden fragen können, ausgerechnet vor meinem Tisch. Ich war fasziniert und so in Gedanken, dass ich gar nicht merkte, wie sie sich mir gegenüber setzte. Erst nachdem sie mich erneut mit einem „Hallo!“ begrüßt hatte, erwachte ich aus meiner Lethargie und stotterte: „Äh .. ja … sicher können Sie sich setzen…“. Ich wurde rot wie eine Tomate und starrte krampfhaft auf meine Zeitung. So ein göttliches Wesen, das mir bei jedem Anblick den Atem raubte, saß vor mir – ich konnte sie nicht ansehen, sie war zu perfekt, zu schön, um ihr auch nur für einen Au-genblick in die Augen zu schauen. Ich spürte ihr Lächeln auf meinen Schultern, in meinem ganzen Körper, diese Erhabenheit und Sicherheit. Schließlich fragte ich schüchtern: „Äh .. entschuldigung, aber wer sind Sie? Ein Model, eine Schauspielerin, eine Moderatorin?“ Jede andere wäre mich wohl hysterisch angefallen, was mir denn einfalle, sie mitten in der Öffent-lichkeit anzusprechen, aber sie antwortete mit ihrer engelsklaren Stimme gütig: „Oh, ich bin vieles. Ich habe mit 15 mit dem Modeln angefangen und arbeite seitdem für Gutschi, Brada, Yves Saint Lorong, Dolche & Gabanen, Valentine. Du glaubst gar nicht, wie man dabei herum kommt: Ich war schon in New York, Los Angeles, San Francisco, Paris, Mos-kau, Mailand, Madrid, Lissabon, Prag und Tokio, ja Tokio, dort war es schön! Und meine Bilder erst, warte ich zeige sie dir!“, sie kramte in ihrer Gucci-Handtasche in Form eines Eifelturms und zog eine große Mappe heraus. Ich schaute mir die Bilder an und war erstaunt: sie war schon in jeder erdenklichen Pose, Kleidung, Atmosphäre fotografiert worden, mal als elegante Lady im Pelzmantel, mal mit unschuldigem Blick im Sommerkleidchen, mal sportlich in der Ein-kaufsmeile schlendernd, sogar fast nackt in schwarz –weiß, verletzlich, hatte man sie abge-lichtet. Allein die Frisuren, Make-ups, Kleidungsstücke, Hintergründe waren so vielfältig, dass man all das gar nicht in seinem ganzen Leben ausprobieren konnte. „Toll!“, sagte ich, „Wirk-lich toll!“, und warf einen flüchtigen Blick auf meine langen Zotteln, die ich nur mühselig mit einem Haargummi bändigen konnte. „Ja, ist es. Und neben dem Modeln bin ich auch Schau-spielerin. Ich habe schon in ganz vielen Filmen mitgespielt – Transformatoren, Shakespeare in Love, Indiana Johannes, Schiller, Goethe, Lessing, Flucht in die Karibik, Kick it like Bäckhäm, Moulin Rouge … Gerade bin ich mit den Dreharbeiten für Den Vorleser beschäftigt und da-nach geht es weiter zum vierten Teil von Speidermann, und ganz nebenbei spiele ich NOCH eine Hauptrolle in der Serie CSI-Dresden und – jetzt hör genau zu – ich spiele in der nächsten Staffel von Emergency Hall mit!!! Bald werde ich neben meinen großen Vorbildern vor der Kamera stehen – ist das nicht toll?!!!“, sie freute sich wie ein kleines Kind und ihr Lachen war so laut, dass man es im ganzen Café hören konnte. „Ja, wirklich!“, sagte ich und freute mich mit ihr. „Aber das ist noch nicht alles: ich moderiere nebenbei noch Saxonys Next Topmodel, Wer wird Euronär, Galiläio, Wissen macht Beh!, sowie DSDS mit meinem Kollegen BrandNew Pitt. „ „Mit BrandNew Pitt?!“, fragte ich begeistert und wenn meine Kinnlade nicht schon auf mei-nen .. naja .. nicht so toll gepflegten Füßen gelegen hätte, dann wäre sie sicher dorthin gefal-len, so erstaunt war ich. Doch sie war noch nicht fertig „Ja, du hast richtig gehört. Und ganz nebenbei schreibe ich noch für die Times, den Spiegel, den Focus, die Washington Post, die Cosmo, die Young, Bravo, Mädchen und die Cicero. Das ist manchmal echt anstrengend, man darf nie aufgeben und sich von nichts und niemandem einschüchtern lassen. Ich erinne-re mich noch gut an den Artikel über den Telefon-Skanal, das hast du sicherlich gelesen: ein Mann hat ein paar hohe Tiere mit geheimen Unterlagen über deren geheime Konten in Liechtenstein erpresst – das war eine Arbeit! Wir musste uns durch tausende Akten und Ge-sprächsprotokolle wühlen, sie auswerten, mit hunderten Leuten sprechen, immer wieder fal-sche Fährten entlarven, mal charmant, mal gnadenlos kalt, mal aggressiv, mal defensiv sein … aber am Ende hat es sich gelohnt: die Auflage der Zeitung schoss in die Höhe, wir haben sogar eine Sonderprämie und – jetzt hör genau zu – den Zeitungs-Oscar für den besten Artikel bekommen!!!“, sie freute sich noch mehr und für einen Augenblick hatte ich Angst, sie würde einen Freudentanz aufführen, aber selbst dieser hätte bei ihr noch unwiderstehlich ausgese-hen. „Wow“, sagte ich erneut und fügte hinzu „Du machst ja wirklich viel!“. „Ach, das ist noch gar nichts! Du solltest mal in mein neues Album reinhören, das ist sooo genial geworden! Es ist mein vierzehntes und ich habe alle Lieder, wie immer, selbst geschrieben! Es geht im Liebe und Hass und Arbeitslosigkeit und Liebe und Hass und Obdachlosigkeit und um Einkaufszent-ren und Typen, die mich verlassen haben, und fiese Freundinnen, es geht im Glück und Leid und Leute, die einen nur toll finden, weil man berühmt ist, es geht um Umweltskandale und Medien, Klimakiller und die Natur, meine Stadt und die Städte, die ich schon besucht habe, traurige Menschen, fröhliche Menschen, Autos, Straßenbahnen, Eisenbahnen, Schule, Uni, Beruf, Modeln, Schauspielern, alles eben. Es macht so viel Spaß, sich auszudrücken und damit auch noch Geld zu verdienen. Und jeden Abend auf eine andere Party zu gehen! Ich kom-me gerade von dem VMAs, das war vielleicht toll! Die ganzen Menschen, das ganze Glitzern, alle freuen sich, jeder ist nett zu einem, wir haben alle eine gute Zeit! Und danach feiern wir bis in die Morgenstunden, schlafen kurz und machen weiter! Kein Jetlag, nichts! Das ist so praktisch! …“ Ich war sprachlos. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Diese Frau sah nicht nur perfekt aus, sie hatte auch ein perfektes Leben. All diese vielen Dinge auf einmal erledigen, da war ich mit meinem täglichen Gang zur Schule und den gelegentlichen Mangaorgien geradezu unbedeutend. Nur eines hatte sie noch nicht erwähnt, obwohl ich mir sicher war, dass auch das meine Erwartungen haushoch übertreffen würde. Aber ich traute mich nicht direkt zu fragen, denn auch wenn ich das Gefühl hatte, sie alles, sie sogar nach ihrer Tampon-Größe fragen zu können – wobei sie vermutlich nicht unter diesem Problem litt, sondern ihren Zyklus je nach Lust, Laune und Zeitpunkt ein- und ausstellen konnte -, entschied ich mich für etwas weniger privates. Und just in diesem Moment machte sie eine Pause. „Äh … entschuldigung … äh … wenn du äh .. Sie täglich so lange wach sind, dann müssen Sie am nächsten Morgen ja …“ Schrecklich, grausam, wunderschön? … „etwas übernächtigt aussehen …“, stotterte ich. „Nein, nein, überhaupt nicht! Wenn ich morgens aufstehe sehe ich schon perfekt aus! Ich brauche gar nichts – kein Rouge, keinen Concealer, keinen Lippenstift, nicht mal Wimperntu-sche! Du hättest mich mal sehen sollen, als ich noch jünger war und dachte, ich müsste mich schminken! Ich meinte wirklich, ich bräuchte dieses ganze Zeug, bis mir mal jemand sagte, ich sähe aus wie ein Clown. Da kam die Wende. Ich habe ja auch das Glück, dass selbst meine Haare toll sind: nicht zu dick und nicht zu fein, robust und in jede Form stylebar, meine Nägel brechen nie ab, sind rillenfrei, glänzen auch ohne Nagellack und sehen immer gut aus! Mein Freund – Orländo Blume – findet das total praktisch, weil wir immer zusammen losgehen können!“ „Du … du bist m-m-mit ORLÄNDO BLUME zusammen?“, fragte ich schüchtern und gleichzeitig erstaunt. Mein Herz schlug bis zum Himmel und ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. „Ja, er ist sooo toll! Einfühlsam, verständnisvoll, lieb, nett, ruhig, abenteuerlustig, spontan, er hat eine starke Schulter zum Anlehnen, er hört zu, man kann mit ihm Shoppen gehen, er hat Persönlichkeit, Witz und Charme und sieht auch noch gut aus! Was will man mehr?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nicht einmal, ob ich etwas sagen sollte. Diese Frau konnte man nur mit einem Wort beschreiben: PERFEKT! Sie hatte all das, was ich nicht hatte, sie hatte vielmehr als das, was ich nicht hatte, und sie hatte wohl auch viel mehr, als all die Leute um uns herum hatten. Doch bevor ich in meinen Gedanken und ihr zerfließen konnte, klingelte plötzlich ihr Handy. Es hatte einen komischen Klingelton und erinnerte mich an einen Glockenschlag. „Tut mir leid, ich muss weiter!“, sagte sie gütig und stand auf, „Hat mich sehr gefreut dich kennenzulernen!“ Ich war wie gelähmt. Ich wollte noch etwas fragen, doch meine Stimmenbänder versagten. Erst, nachdem ich mich mehrere Male geräuspert hatte, klappte es endlich: „Beantworten Sie mir noch eine Frage: WER SIND SIE?“ Sie lächelte noch einmal so wie sie es am Anfang unserer Begegnung getan hatte und strahl-te dabei wie tausend Sonnen. Bevor sie ging bewegte sie ihre Lippen ein letztes Mal, so, als ob sie mir etwas sagen wollte. Doch ihre Worte kamen nicht bei mir an. Ich blickte wieder auf meine Cosmo und versuchte darin zu lesen. Aber aus irgendeinem Grund funktionierte es nicht. Die Buchstaben, Worte, Fakten rauschten durch meinen Kopf wie ein ICE auf guter Strecke. Ich schien über allem zu schweben. Und genau in diese Situati-on des undefinierbaren Fühlens hörte ich auf einmal eine Stimme. „Hallo, ist hier noch ein Platz frei?“, frage sie und ihre Stimme klang so hoch, so normal, bo-denständig, dass ich aufsehen musste. Sie hätte ein Spiegelbild von mir sein können, dachte ich, nur etwas trauriger. Das Mädchen trug einen braunen Cordrock und dunkle Stiefel sowie eine brombeerfarbene Bluse mit einem weißen Top darunter. Ihre Haare waren dunkelbraun und mittellang und hingen einfach nach unten. Ihre grünen Augen hatten einen grauen Schleier und ihr schmaler Mund war fast unscheinbar. Irgendwie tat sie mir leid, sodass ich so nett und freundlich wie in diesem Moment nur irgendwie möglich antwortete: „Klar, setz’ dich!“ Eine Weile schwiegen wir. Ich wollte sie nicht überrumpeln, nicht noch trauriger ma-chen. Aber irgendwann wurde die Situation - sie saß mit hängenden Schultern und dem Blick nach unten zusammengekauert da – unerträglich und ich fragte: „Ist alles in Ordnung?“ Sie blickte auf und lächelte mich kurz an, bevor sie mir antwortete: „Ja, es ist gut, wirklich!“, ihre monotone Stimme hatte einen depressiven Unterton, der mich sehr verwirrte, „Ich war mit 13 zum ersten Mal verliebt. Er ging mit mir in einer Klasse. Nach einem Kinobesuch hat es dann bei uns gefunkt und wir waren eine Woche zusammen. Mit 15 hatte ich meinen ersten Sex. Wir waren schon sechs Monate zusammen gewesen, als es passierte. Wir hatten vorher ausführ-lich über Verhütung gesprochen. Als der Abend kam, spürten wir beide, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. Dann passierte es.“ Ihre Art zu erzählen verwirrte mich sehr und ich fragte besorgt: „Warum bist du so traurig?“, doch sie antwortete mir nicht, sondern erzählte ruhig weiter als hätte ich nichts gesagt: „Ich war außerdem schon immer beliebt und wurde schon in der fünften Klasse zur Klassen-sprecherin gewählt. Später war ich Schülersprecherin und Chefredakteurin der Schülerzei-tung. Die Mädchen beneideten mich, die Jungs schrieben mir Liebesbriefe. Mit 16 trank ich zum ersten Mal Alkohol und rauchte meine erste Zigarette. Nach einem Blackout ein paar Jahre später und einer schweren Bronchitis habe ich damit aufgehört. Ich hatte viele Freun-dinnen und Freunde, aber nur wenige beste. Mit ihnen konnte ich alles teilen. Wir waren zu-sammen shoppen, sind auf Konzerte der RHCPs, April Lavigne, Britney Spears, Hannah Mon-tanana, Panik und vielen anderen gegangen. Wir haben viel Blödsinn gemacht, haben auch mal etwas geklaut, haben aber nie ernsthaften Schaden verursacht.“ Ich musste innerlich lachen, aber ihr trauriger Blick hinderte mich daran, es auch äußerlich zu tun. Stattdessen fragte ich erneut: „Aber warum bist du dann so traurig?“, doch sie antworte-te mir wieder nicht, sondern erzählte weiter: „Meine Eltern und ich kommen sehr gut mitein-ander aus. Sie haben sich vor 21 Jahren kennengelernt und sind sehr glücklich zusammen. Meine Verwandten wohnen in der Nähe, sodass ich auch mit ihnen gut klarkomme. Der schönste Moment meines Lebens war meine Wahl zur Abschlussballkönigin. Ich trug ein hell-blaues, bodenlanges Abendkleid, welches 500 Euro gekostet hatte. Meine Schulzeit war schön, meine Familie ist schön, ich habe ein schönes Leben.“ Langsam wurde ich wütend, und das nicht, weil sie mir bis jetzt noch nicht geantwortet, mich scheinbar überhört hatte, sondern weil sie dieses „schön“ so traurig aussprach. Ich konnte sie wirklich nicht verstehen. Sie hatte ein schönes Leben, sie war beliebt, sie hatte eine intakte Familie, sie war sogar zur Abschlussballkönigin gewählt worden, was sich jedes Mädchen wünschte, und jetzt tat sie so, als ob all das nichts wert wäre?! Wenn ihre Augen nicht so tief-traurig gewesen wären, hätte ich sie angebrüllt, aber so fragte ich mit mitfühlender und ver-ständnisvoller Stimme: „Warum bist du so traurig?“, doch sie antwortete mir wieder nicht. Jetzt platzte mir der Kra-gen! Wütend schrie ich sie an: „Was ist mit dir los? Warum begreifst du nicht, dass du genau das Leben hast, was sich jeder wünscht? Du hast Freunde, du bist beliebt, deine Familie liebt dich, alle lieben dich, wie kannst du das alles nur verachten? Weißt du was du für ein Glück hast? Nur wenige Menschen haben so ein schönes Leben wie du! Den meisten geht es schlecht, sehr schlecht, sie haben kein Geld, keine Freunde, keine Familie, nichts! Wie kannst du nur!? Was ist mir dir los?!“ Sie sah mich mit ihren großen traurigen Augen an und sagte nichts. Ich keuchte und realisier-te, dass ich aufgestanden sein musste. Meine Arme waren ausgebreitet, jederzeit bereit für die nächste Geste. Ich wurde rot. Anscheinend hatte ich sie richtig angebrüllt und dabei die Aufmerksamkeit des ganzen Cafés auf mich gezogen. Doch zu meiner Verwunderung be-achtete mich niemand. Aber das war egal. So wie sie mich ansah, hatte ich sie sicher noch mehr verletzt, was ich nicht wollte. Ich setzte mich und sagte: „Entschuldige, tut mir leid, ich wollte nicht über dich richten, ich weis ja gar nichts über dich.“ Und plötzlich lächelte sie mich an. Ich weis nicht, warum sie das auf einmal tat, aber ihr Lächeln war so warm, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. „Es ist schon okay!“, sagte sie lachend. „Wirklich?“, fragte ich. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Es hatte einen komischen Klingelton, der mich an einen Glockenschlag erinnerte. „Oh, ich muss gehen!“, sagte sie. Ich war verwirrt und wollte noch etwas sagen, doch meine Stimmenbänder versagten ihren Dienst. Erst nachdem ich einige Male gehustet hatte, klappte es, und ich fragte: „Bevor du gehst, beantworte mir noch eine Frage: WER BIST DU?“ Doch anstatt mir zu antworten lächelte sie mich noch einmal gütig an. Dann bewegte sie ihre Lippen. Aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Ihre Worte kamen nicht bei mir an. Dann ging sie. Ich saß noch eine Weile so da. Nachdenkend über das, was sie gesagt hatte. Sie war wirklich beneidenswert. Nicht so wie ich. Ich war nie Klassensprecherin. Ich war nie Abschlussballköni-gin. Ich habe kein Familienleben. Ich habe niemanden. Das Bild Galileis wie er durch sein Fernrohr in den Himmel blickte erschien in meinem Kopf. Ich war nicht einer der hellen Sterne, die er sah, ich war wohl eher er selbst: der stille Beobachter, der scheinbare aberwitzige Theo-rien aufstellte, die erst ein paar tausend Jahre später bewiesen werden könnten. Wahrschein-lich werde ich die Welt nicht von Grund auf verändern … Vielleicht bin ich eher ein Planet - Pluto! Genau. Ich bin der einsame Planet, der nirgendwo dazugehört und letztendlich sogar noch den Planetenstatus aberkannt bekommt. Schön. Aber darüber sollte ich nicht nach-denken, ich war hergekommen, um zu entspannen, um abzuschalten, und was mache ich – über Dinge nachdenken, die ich sowieso nicht ändern kann! Ich las wieder krampfhaft in meiner Cosmo, die mir irgendwie leidtat, weil ich sie nicht mit der Würde las, mit der man sie laut Meinung der netten Fernsehmoderatorin W. I. P. (Wir interessieren uns für Peinlichkeiten) lesen sollte, aber ich versuchte mein Bestes. Und als ich gerade halb bewusst, halb unbewusst einen Artikel über den Klimawandel las, hörte ich eine Stimme. Sie war tief und fragte: „Hallo, kann ich mich hierhin setzen? Es ist alles besetzt!“ Langsam wurde ich wütend. Das war schon die dritte Person an diesem Tag, die mich das fragte, und bis jetzt war mir das, was nach die-ser Frage kommen würde, im Nachhinein immer schrecklich auf die Seele gegangen. Des-halb nahm ich meine Cosmo, hielt sie mir vor mein Gesicht und grummelte aus meinem Ver-steck, das keines war, heraus: „Sind wir hier bei irgendeiner Talkshow? Wenn Sie jemanden volllabern wollen, dann probieren Sie es beim Barkeeper, der ist sicher an Leute wie Sie ge-wöhnt!“ Ich hoffte, dass ich den Fremden damit erfolgreich vertreiben könnte, doch dem war nicht so. Stattdessen antwortete er unschuldig: „Ich wollte dich nicht volllabern, ich suche nur einen Platz, an dem ich meinen Wallenstein lesen und nebenbei Kaffee trinken kann.“ Ich wusste nicht, ob ich ihm das glauben konnte. Vielleicht war es ja nur eine Ausrede. Doch dann kramte er ein kleines, gelbes Büchlein aus seiner Tasche, das ich nach einem neugierigen Blick über den Zeitungsrand sofort erkannte: Reclame, neben den HH DER Verlag für klassische Literatur im Taschenformat. Er wollte also tatsächlich nur lesen. Beruhigt legte ich meine Cosmo wieder auf den Tisch und versuchte zu lesen. Aber auch diesmal gelang es mir nicht. Dieser Typ sah einfach zu faszinierend aus: kur-ze, braune Haare, zartbitterschokobraune Augen, Drei-Tage-Bart, dunkle Lederjacke mit hel-lerem Shirt, blaue Jeans, elegante Turnschuhe. WOW! Ich konnte mich nicht konzentrieren und beobachtete ihn eine Weile. Er sah einfach toll aus – nicht zu überheblich, nicht zu schlaksig, das gesunde Mittelmaß Männlichkeit und Softieness. Und irgendwann fragte mich dieses ungewöhnliche Wesen, wenn auch mehr auf sein Buch konzentriert: „Ist irgendwas?“ „Äh… nein … es ist … gar nichts …“, stotterte ich. Irgendwas musste ich sagen, aber wie sollte ich ihm denn antworten? Hey, du bist total faszinierend? Warum liest du (wie kannst du nur?) den WALLENSTEIN in einem öffentlichen Café? Du siehst einfach toll aus? - Keine Alternativen. Während ich noch überlegte fragte er: „Sicher?“ und klang dabei ganz nett. So nett, dass ich spontan und ohne nachzudenken antwortete: „Naja, du hast was … ich weis auch nicht warum, vielleicht ist es nur, weil mir die beiden vor dir ihr ganzes Leben erzählt haben und du bist jetzt noch nichts …“ Na klasse! Dem nächst-besten Typen meine Seele entblößen, wie konnte ich nur? Bestimmt geht er gleich und dann. Was für eine Blamage! Was für ein Fiesko! Welch Drama! Ich rechnete mit allem, nur nicht damit: „Ich bin auch nicht zum reden hergekommen, sondern zum Lesen. Aber wenn du unbedingt etwas wissen willst, dann frag!“ Ich glaubte mich verhört zu haben. Er sagte das so nett, und schon was er sagte, war unerwartet, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ich senkte den Kopf um mich in meiner Cosmo zu verstecken, und zu überlegen, was ich jetzt tun sollte. Aber seine Ausstrahlung, wieder dieses warme Gefühl von Geborgenheit auf den Schultern, lies kein Nachdenken über das Ob, sondern nur über das Was zu. Schließlich fragte ich: „Wo wohnst du? Was machst du? Was hast du für Interessen?“ „Ich wohne in einer kleinen Mietwohnung am Rande der Stadt. Ist nicht groß, aber ich habe einen schönen Ausblick vom Balkon aus. Und ich habe sie so eingerichtet, wie ich es wollte. Ein Sessel aus den 70iger Jahren, ein alter Schrank von 1850, ein Glastisch, Blumentapeten, IKEARUS-Regale, sehr gemütlich, wenngleich nicht jedermanns Sache.“ „Und das hast du dir alles SELBST gekauft? So ein Sessel ist doch teuer!“, sagte ich erstaunt. „Naja, ich verdiene ganz gut. Und diesen ganzen Gourmet-Kram brauche ich auch nicht jeden Tag. Ich arbeite übrigens in einer Rechnungsabteilung einer Werbeagentur. Vor ein paar Wochen wollten sie mich zum Geschäftsführer ernennen, aber ich habe abgelehnt.“ „Zum GESCHÄFTSFÜHRER? Und du hast ABGELEHNT? Bist du verrückt? Jeder will so einen Pos-ten, jeder will Macht und Geld. Du hast die Chance auf viel Ruhm weggeworfen! Wie kannst du nur!“, rief ich empört. „Daran habe ich auch gedacht, aber letztendlich wollte ich nicht. Die Konsequenzen waren das viele Geld nicht wert: ich muss Leute herumkommandieren, ich bin für alles verantwort-lich, wenn irgendwas passiert, ich habe kaum Freizeit und am Ende werde ich noch überheb-lich und verliere den Bezug zu meinen Mitarbeitern. Nein, das wollte ich nicht. ICH zumindest nicht. Es gibt andere, die das besser können, die können das machen, aber ich bleibe lieber der kleine Abteilungsleiter.“ „Mmhh …. ist ein Argument … und was machst du sonst so?“, fragte ich weiter. „Lesen“, verwies er lächelnd auf das gelbe Büchlein in seiner Hand, „Kaffee trinken, Schreiben …“ „Was? Du schreibst? Einen Roman, eine Trilogie, etwas Großes?“, fragte ich interessiert. „Nein, ich werde kein Harry Potter, ich schreibe nur so nebenbei Gedichte. Irgendwann wer-de ich einen Gedichtband veröffentlichen. Ansonsten interessiere ich mich besonders für Na-turwissenschaften und erkläre beim örtlichen Radiosender regelmäßig, wie alltägliche Phä-nomene funktionieren.“ „Bist du nicht zu alt, um die Welt zu entdecken?“, meinte ich verwundert. „Wieso? Wie alt bin ich denn?“, fragte er charmant. „Mitte Zwanzig?“, tippte ich. „Falsch!“, sagte er lächelnd. „Anfang dreissig?“, schätzte ich ungläubig. „Wieder falsch!“, sagte er belustigt. „Aber sechszehn sicher auch nicht!“, riet ich weiter, auch wenn er sicher nicht sechzehn war. „Nein, keinesfalls!“, erwiderte er und sein Lachen war dabei so süß, dass mir kurzzeitig etwas übel wurde. „Also?“, fragte ich ungeduldig. „Unwichtig!“, sagte er unerwartet. „WAS? Zuerst spannst du mich auf die Folter und dann lässt du mich einfach im Regen stehn?“, rief ich wütend. Ich hatte große Lust, ihn anzubrüllen, aber seine Ausstrahlung lies keinen Widerspruch zu. „Du hast mich etwas gefragt, und ich habe dir immer noch nicht vollständig geantwortet. Nebenbei arbeite ich noch an einem Aufsatz über Schiller und schreibe in zahlreichen Com-munities. Außerdem reise ich gern herum. Ich war schon in Spanien, Frankreich, Italien, Polen, Tschechien, Russland, Japan und Amerika. Und ich spiele Xylophon in einer Band. Wir treten manchmal bei Stadtfesten auf. Ich habe einige Freunde und gehe mit ihnen auf Konzerte, zu Ausstellungen, oder hänge mit ihnen am Flüsschen ab. Wir haben sehr viel Spaß zusammen.“, erzählte er. „Und was ist mit einer Freundin?“, fragte ich und es war mir überhaupt nicht peinlich. „Falls das ein Angebot sein sollte, tut mir leid, ich bin vergeben. Ich habe viele Jahre gewartet und irgendwann bin ich ihr begegnet. Sie ist wirklich toll: jeder hat seine eigene Wohnung, sein eignes Leben, und trotzdem verstehen wir uns in jeder Beziehung. Wir können reden, die Welt erkunden, wir können stehen bleiben oder weitergehen, ohne uns zu misstrauen. Sie ist einfach jemand, der da ist, wenn ich nach Hause komme. Andererseits kann ich, wenn ich erschöpft von der Arbeit komme, ausspannen. Zwischen uns besteht ein Band, das nicht so dick wie ein Bungeeseil sein muss, aber niemals reißen wird. Bei uns ist einfach alles harmo-nisch, auf jeder erdenklichen Ebene.“ „Schön!“, sagte ich, und mir kullerte eine Träne aus dem Auge. Ich war einfach glücklich, nur, weil ich ihm zuhörte. Ich schien auf Wolken zu schweben, und gerade als mein Freudentau-mel am größten war, klingelte plötzlich sein Handy. Es hatte einen komischen Klingelton und erinnerte an einen Glockenschlag. „Ich muss gehen!“, sagte er lächelnd. „Schade.“, sagte ich traurig, obwohl mir klar war, was passieren würde, „Aber bevor du gehst, möchte ich dir noch eine Frage stellen: WER BIST DU?“ „Mach die Augen zu!“, sagte er grinsend. „Was?“, fragte ich und glaubte, mich verhört zu haben. Irgendetwas lief gerade anders. „Augen zu!“, wiederholte er charmant. Ich tat wie mir gesagt. Und plötzlich spürte ich seine Lippen auf meinen und seinen warmen Atem an meinem Ohr. Er flüsterte mir etwas zu, ich verstand nichts. Irgendetwas musste mit meinem Gehör nicht stimmen. Ich öffnete meine Augen wieder und sah ihn. Da stand er nun, erhellt vom Sonnenlicht. Seine Augen glitzerten, sein Lächeln überstrahlte alles. Er wirkte wie ein Gott. Dann lachte er ein letztes Mal und sagte: „Auf Wiedersehen!“, und ging. Ich war verblüfft, meine Lippen vibrierten. Obwohl es kein richtiger Kuss war, fühlte es sich ein-fach toll an, ich war verzaubert. Von seinem Aussehen, aber vor allem von dem, was er er-zählte. Es war nicht so glamourös, es war nicht so traurig, es war einfach da. Es war einfach. Es ist einfach. So ist es. Ich fühlte mich gut. Genüsslich trank ich meinen Kaffee aus und beo-bachtete die Leute im Café. Es war, als schwebte ich über allem. Ich war so leicht. Dann schlug ich meine Cosmo zu und zahlte. Nur eines beschäftigte mich: Wer waren all diese Menschen? Das war alles zu perfekt, zu konstruiert, um ein bloßer Zufall zu sein. Ich wusste nichts. Und das beunruhigte mich, auch wenn ich eigentlich total glücklich war. Die Antwort darauf war das fehlende Puzzelteil. Ich öffnete die Tür nach draußen und plötzlich kam ein Windstoss. Er war kalt, aber gleichzeitig sehr erfrischend. Und als hätte er mein Gehör freige-blasen fiel mir ein, was die drei gesagte hatten: Ich bin der Geist des unrealistischen Traumes. Ich bin der Geist des verlorenen Traumes. Ich bin der Geist des realistischen Traumes. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)