A Dreamless Carroll von Yu_B_Su ================================================================================ Kapitel 7: Fotograf ------------------- Hier eine Story, die eher zufällig entstanden ist... es geht wieder um die Kunst. Leider habe ich keine Ahnung von Profi-Fotografen, Anregungen sind willkomen... Ich liebe Betrand Lumiere... wie die Kerze aus Beauty and the Biest :-D Lest fröhlich! „Och, Hasi, du bist ja soooo süß“, quietzscht sie, während sie mit der einen Hand seine fest umklammert und ihm mit der anderen liebevoll die Wange tätzschelt. „Und du riechst so gut!“, fügt sie raunend hinzu und wirkt dabei wie ein kleines Kind, das seine in der Midlifecrisis befindliche Mutter nachäfft. Er seinerseits hält ihre Hand und guckt sie mit strahlenden Augen an. Doch sein Strahlen hat einen schwarzen Fleck, vermutlich ist es ihm peinlich, von seiner Freundin vor anderen wie ein Teddybär behandelt zu werden. Einer Meinung, der ich nur zustimmen kann. Die ganze Situation ist total peinlich. Ich – Single – soll ein superverliebtes Pärchen – bald verheiratet – ablichten. Und das ist mir absolut zuwider. Ich fotografiere gerne Bewerber, auch Kinder, die ihren Eltern etwas schönes schenken sollen, Familienfotos, von mir aus auch Frauen, die ihre Männer mit erotischen Fotos überraschen wollen. Alles kein Problem für mich. Nur verliebte Pärchen gehen mir total auf den Geist. Es gibt Kollegen, die sie lieben. Sie lieben den Esprit, der von ihnen ausgeht, die Frische, das Strahlen von Glück, die Unberechenbarkeit. Für mich sind sie einfach nur nervig. Dauernd befummeln sie sich, schauen sich verliebt an, sie haben ein Gefühl für die vermeintlichen Bedürfnisse des anderen, aber nicht einen Hauch Ahnung von einem guten Foto. Ihr verliebter Blick mag verliebt sein, aber wenn sie ihr Gesicht im Schatten hat oder er die Beine unglücklich stellt, dann ist das nicht schön! Und Sabrina weiß das! Sie weiß, verdammt noch mal, dass ich keine verliebten Pärchen vor meiner Linse haben will! Und dann das! Warum musste sie ihrer besten Freundin auch versprechen, dass sie sie fotografieren würde, ein paar Fotos um „den Moment für immer festzuhalten“ – und zu hoffen, dass es für immer so toll blieben wird, dass ausgerechnet sie von den drei berüchtigten Beziehungskillern Untreue, Langeweile und Auseinanderleben verschont bleiben würden! Alle drei hatten sich ja sooo gefreut – und dann wurde Sabrina von der Grippe außer Gefecht gesetzt. Und anstatt den Termin abzusagen, wie man es sonst macht, schlug sie vor, dass ich das übernehmen würde, ich sei der beste Fotograf der Stadt – und nebenbei könnte ich ihren Freund „abchecken“! Ich, der schon seit Jahren Single und von den Männern nur verarscht worden war, sollte also den Zukünftigen der Freundin meiner Kollegin beobachten und darüber Bericht erstatten. Schließlich bekam sie von ihrer Freundin natürlich nur Positives zu hören und auch bei Google konnte sie keinen Fleck auf seiner weißen Weste entdecken. Ein Gespräch von Mann zu Mann sollte Klarheit schaffen! „Ach Hasi, ist es nicht schön hier!“, seufzt sie pathetisch. Auch wenn ich nicht weiß, was an einer weißen Wand so schön ist – nur Kunstkritiker finden weiße Wände gut, nicht mal die Künstler selbst! Ihr Freund scheint das erkannt zu haben, denn er legt zärtlich seine Hand auf ihre Hüfte und raunt: „Ja, aber das Schönste in diesem Raum bist immer noch du!“ Bevor sie weiterreden und am Ende noch übereinander her fallen können, trete ich aus dem Schatten meiner Kamera und gehe ein paar Schritte auf sie zu: „Hallo, ich bin Bert, die Vertretung für Sabrina!“, ich halte ihnen meine Hand hin. „Bert? Wie „Cindy & Bert“?“, fragt er belustigt und erwidert meinen Gruß. Ich nehme ihm das nicht übel. Auch meine Eltern mögen „Cindy & Bert“ und sogar für mich ist dieses Heile-Welt-Gesinge ganz beruhigend. Nur der Spruch seiner Freundin verschlägt mir die Sprache, auch wenn ich damit rechnen müsste: „Bert? Sag mal, bist du schwul?“ Ich hasse Frauen. Nicht alle Frauen. Ich hasse sie nicht dafür, dass sie sofort erkennen, wenn ihr Gegenüber vom anderen Ufer ist. Aber ich hasse verliebte Frauen, weil sie nur wegen einem Typen einfach alle Anstandsregeln über Bord werfen. Ich schlucke kurz und antworte dann mit einem gequälten Lächeln: „Nein, Bert wie Bertrand, Bertrand Lumière!“, ich ziehe eine Visitenkarte aus der Hosentasche und drücke sie ihm in die Hand; vermutlich würde sie anhand der Schriftgröße und der Farbe gleich mein Horoskop für die nächsten drei Jahre erstellen, „Und wer seid ihr? Sabrina hat mir schon erzählt, dass ihr ein paar schöne Fotos machen wollt!“ „Ad…“, setzt er an, doch sie unterbricht ihn: „Ich bin Michelle, und das ist mein Verlobter Adriano. Ist er nicht süß?“ Nein, ist er nicht. Er ist nicht süß, dafür sind seine Gesichtszüge zu kantig, seine Augenbrauen zu buschig, sein Haarschnitt zu buissnessmäßig und sein ganzer Klamottenstil zu trendy. Andere würden ihn vielleicht attraktiv finden, aber keiner außer einer Frau würde ihn als „süß“ bezeichnen. „Ja, also…“, setzt er noch mal an, doch er zieht schon wieder den Kürzeren: „Wir wollten ein paar hübsche Schnappschüsse, nur wir zwei, ganz intim“ – völlig intim, nur die beiden und ich – „Und ein paar für Facebook. Und wenn sie gut werden, können wir sie ja auch für die Einladungskarten für die Verlobungsfeier nehmen! Was meinst du Hasi?“ „Ja Schatz… das ist eine gute Idee!“, nur aus dem Zucken seiner Augenwinkel kann ich erkennen, dass er das für keine gute Idee hält. „Schön, dann würde ich sagen, dass ihr euch auf das rote Sofa setzt“, ich zeige auf den roten Fleck ein paar Meter weiter rechts, „Und dann reden wir ein bisschen, damit ihr locker werdet! Möchtet ihr Tee, Kaffee, Wasser?“, fast hätte ich es vergessen – wäre kein großer Verlust gewesen. Sie nehmen übereinstimmend einen Mate-Tee. Während ich in die Küche gehe, um den Wasserkocher anzuschmeißen und zu fluchen, weil wir keine Kopfschmerztablette im Haus haben, hoffe ich, dass es sich die beiden nicht „zu“ gemütlich machen. „Dann erzählt doch mal, wie das alles angefangen hat!“, bitte ich und wie das bei verliebten Pärchen so ist, plaudern sie munter drauf los und ergänzen dabei Satzfetzen oder ganze Passagen, die der eine anfängt, sodass man am Ende gar nicht mehr weiß, dass zwei Leute geredet haben. Bei Adriano und Michelle fing alles – auch wenn es noch so einzigartig scheint – auf der simplen Gartenparty der Freundin einer Freundin an. Michelle hatte sich anfangs sehr, sehr unwohl gefühlt, weil sie niemanden, gar niemanden, wirklich niemanden kannte, und, und sie fühlte sich so… so allein und sie aß und versuchte mit irgendjemandem zu reden, was ihr normalerweise leicht fiel, aber da sie hier niemanden kannte dann doch nicht, und so ging sie irgendwann zum Grill, um sich ein paar Würstchen zu holen. Und Adriano, der mit einer schneeweißen Kochmütze, einer schneeweißen Schürze über seinem babyblauen Hemd und der dunkelblauen Jeans und den hellbraunen Lederschuhen dastand, hatte nicht etwa gefragt, wie viele, oder ob sie auch sein Würstchen haben wollte. Nein, er hatte tatsächlich, wirklich, echt, gefragt, ob sie ein Tofuwürstchen haben wollte! Ein Tofuwürstchen, so was kannten Männer nicht, Männer wussten nichtmal, dass man auch ohne Fleisch überleben konnte, Männer hielten „vegetarisch“ für eine besondere Sexstellung – ist das nicht süß! Er dagegen hatte sie schon den ganzen, langen Abend beobachtet, wie sie mit Top und Rock dasaß und versuchte, mit Leuten zu reden, und er hatte gehofft, dass sie irgendwann Hunger bekam und sich etwas zu essen holte. Und dann hatten sie sich unterhalten und die Handynummern ausgetauscht, aber als sie anrief, war seine Schwester rangegangen, von der sie nichts wusste, und so war sie sauer auf ihn gewesen, aber trotz des Missverständnisses waren sie zusammengekommen und nun schon seit zwei Monaten glücklich. Ich würde gerne reihern, so zuckersüß und langweilig ist ihre Geschichte, aber mein Equipment ist zu teuer. Und außerdem muss ich fleißig Fotos schießen, nur um schon beim groben Durchgucken festzustellen, dass sie total unfotogen ist. Dauernd wedelt eine Hand vor ihrem oder vor seinem Gesicht oder sie zieht Grimassen oder sie versteckt sich halb im Sofa! Um nicht völlig auszuflippen, widme ich mich ihrem Freund, der erstaunlich gut mit seinem Körper umgehen kann; während sie wild umhergestikuliert, ist er immer beherrscht, er sieht auf jedem Foto gut aus; nicht süß, nicht attraktiv, er tut irgendwie immer das Richtige und wirkt dabei trotzdem sehr locker. Solche Menschen trifft man selten; die meisten haben anfangs Hemmungen, und wenn man diese nach ein paar Minuten oder Stunden aufgelöst hat, agieren sie frei und unbeschwert, aber man muss sie immer wieder korrigieren. Bei Adriano dagegen passt alles. Und das macht ihn interessant. Ich würde zu gerne wissen, wie weit man mit ihm gehen kann. Wäre nebenbei auch eine gute Möglichkeit, um ihn „abzuchecken“ Aber erst muss ich seine Freundin loswerden. Nachdem die beiden aufgelockert genug sind, stelle ich sie vor die weiße Wand und lasse sie weitererzählen. Von irgendwelchen Kleinigkeiten. Ich lasse sie auf einer imaginären Wiese im Sommer springen, sich über den ersten gemeinsamen Urlaub freuen, von ihrem zweiten und ihrem dritten Date erzählen, von ihrem ersten Kuss und dem Morgen nach der ersten Nacht. Es fasziniert mich immer wieder, dass manche Menschen mit Händen, Füßen und allen anderen Körperteilen gleichzeitig agieren können, während sie auf einem Stuhl wirken, als hätte man das Unterteil festgekettet. Michelle ist so ein Mensch. So schlimm ihr Herumfuchteln auf dem Sofa war, so hilfreich ist es jetzt. Die Anzahl guter Fotos wird diesmal wahrscheinlich höher sein. Zum Schluss folgt der wirklich intime Teil: das Bett. Es ist nicht nur gut, um nach einer langen Session nicht nach Hause fahren zu müssen oder schreiende Babies zu beruhigen, sondern es vermittelt den Menschen trotz der Fremde etwas persönliches, ein eigener Raum, in den sie sich einschließen können. Sabrina hatte mir den Tipp mit der pastellfarbenen Blümchenbettwäsche gegeben; Frauen lieben Blümchen und da Michelle nichts gemustertes trägt, passt das sogar. Ich frage sie, ob sie die Schuhe ausziehen möchte und schlage Adriano vor, seine festgezurrten Gürtel zu lockern und das Hemd heraushängen zu lassen. Um die Stimmung noch „kuscheliger“ zu machen, dimme ich das Licht und suche im Internet nach ihrem Lieblingssong (wieder übereinstimmend: Norah Jones, „Don’t know why’ – gute Wahl) Einen Kaffee später schleiche ich mich unauffällig zu meiner Kamera und beginne, die beiden zu fotografieren. Sie sind am Knuddeln und Kuscheln und Busseln, was in mir trotz aller Abneigung ein paar Sehnsüchte auf den Plan ruft, die ich gekonnt überspiele. Sie sind überrascht, als ich plötzlich routiniert rufe, sie mögen doch bitte mehr zur Kamera gucken. Ein bisschen muss ich an Michelles schulterlangem Haar korrigieren, aber ansonsten werden sie immer besser. Nach zwei Stunden ist es Zeit für eine Pause. Ich wecke in Michelle die Erinnerung an einen superleckeren Bäcker mit hyperleckeren Cupcakes und megaleckerem Kuchen und so hüpfelt sie locker von dannen, nicht, ohne sich küssend, hintern-streichelnd, anderweitig-befummelnd und wieder küssend von ihrem Liebsten zu verabschieden. Zeit für mich. Sie muss ja nicht abgecheckt werden, sie ist ja nicht meine Freundin! Nachdem Adriano seiner Freundin genug hinterhergewunken hat, werde ich etwas entspannter. „Kaffee?“, frage ich lachend. Die meisten Menschen – und seien sie noch so verliebt – verhalten sich ohne ihren Partner doch etwas anders. Er überlegt eine Weile, wahrscheinlich denkt er darüber nach, ob Michelle sauer sein wird, aber schließlich stimmt der zu: „Schwarz“ Ich gehe in die Küche und schmeiße die Kaffeemaschine an. „Du hast eine tolle Freundin!“, beginne ich, um meine wahren Absichten nicht gleich zu offenbaren. „Ja, sie ist echt super!“, antwortet er und steht auf einmal neben mir, „Ihr Humor ist einfach klasse! Sie bringt mich zum Lachen, sie steht auf eigenen Füßen und ihr Körper ist … der Hammer! Du verstehst das wahrscheinlich nicht, aber sie ist einfach die perfekte Frau für mich!“ „Doch, das tue ich. Das ideale Gesamtpaket. Scheinbar.“, ich sollte meine Liebe-ist-scheiße-Meinung lieber für mich behalten, sonst ist das Gespräch schnell beendet, „Was macht ihr eigentlich beruflich?“, lenke ich ab. „Mediengestalterin, sie arbeitet bei einer großen Werbeagentur. Und ich, ich bin in der Finanzbranche tätig.“, erzählt er. „Aktienhändler?“, frage ich. „Nein, Kundenberater!“ „Oh! Daher die geschickte Mimik“, murmle ich in mich hinein, doch er hat es gehört: „Welche Mimik?“ „Du bewegst dich ziemlich gut, sehr fotogen.“, erkläre ich sachlich. „Das sagen meine Freunde auch immer!“, lacht er, „Kommt wahrscheinlich vom Turnen, da lernt man, seinen Körper zu beherrschen!“ „Tatsächlich…“, für einen Moment löst sich sein Hemd auf und legt seinen beeindruckenden Körper frei. Für einen Turner könnte ich die buschigen Augenbrauen übersehen. Um meine unkontrollierbaren Zuckungen zu überspielen, leere ich den Kaffeefilter, säubere die Kaffeemaschine kurz mit einem Lappen und gieße das heiße Getränk in zwei Tassen. „Und, was machst du so?“, die Frage irritiert mich. „Ich bin Fotograf“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ja, aber wie ist es so… andere zu fotografieren?“, ist er Günter Jauch? „Besser als davor zu stehen, oder?“, ich muss lächeln bei dem Gedanken, dass ich sehr, sehr selten fotografiert werde, „Es ist toll, mit verschiedenen Menschen zu arbeiten, ihre Persönlichkeit zu erkunden und das Beste aus ihnen herauszuholen. Man muss sich immer wieder auf andere Bedürfnisse einstellen; bei einem Werbefoto steht das Produkt im Vordergrund, bei einem Modell oder Familienfoto die Personen selbst, und bei solchen Fotos wie ihr sie wollt, die Emotion. Und am Ende muss es einfach gut aussehen. Keine einfach Aufgabe!“ „Das kann ich mir gut vorstellen. Bei mir sind die Kunden teilweise ziemlich krass… Und warum wolltest du Fotograf werden?“, langsam habe ich die Nase voll – ich wollte IHN ausfragen, nicht er mich, und außerdem muss ich mir von einem „süßen“, superverliebten Typen doch nicht in die Seele gucken lassen! Um ihn abzulenken, holte ich die Kamera und fange an, ihn beim Kaffeetrinken zu knipsen. „Ich liebe Menschen und ich wollte ihnen helfen, dass sie nicht nur von innen, sondern auch von außen schön sind. In unserer heutigen Welt sind alle Augen auf ein perfektes Äußeres gerichtet, niemand möchte den Menschen sehen, der sich hinter dieser Maske verbirgt. Dagegen möchte ich etwas tun! Und ich liebe die Kunst, ich liebe es, mit Farben und Formen zu spielen.“, ich nehme einen Schluck Kaffee, „Und du, was hat dich bewogen, bei einer Bank zu arbeiten?“ Er überlegt eine Weile, und dieses Überlegen einfangen zu können, ist wundervoll. Die Falten auf seiner Stirn reichen bis zum Boden, sein Blick ist so leer, er versucht gerade zu stehen, doch alles sackt nach unten. „Naja… Banker werden immer gesucht; es ist ein Beruf mit Zukunft, jeder hat schließlich Träume, die finanziert werden müssen. Falls du also mal einen Kredit brauchst…“, sagt er schließlich monoton. „Das klingt ja nicht sehr begeistert.“, stelle ich fest. Wieder so ein Spießer! „Naja, du musst dich eben entscheiden: wählst du Sicherheit oder Risiko. Ich habe mich für die Sicherheit entschieden.“, erklärt er. Ich hasse Spießer! „Und wenn du morgen tot bist?“, frage ich. „Und wenn ich morgen noch lebe?“, fragt er zurück. Gleichstand. „Dann hast du das Gefühl, nicht richtig gelebt zu haben!“ „Dann stehst du mit 60 noch auf der Straße und musst dir das Geld für deine Rente verdienen.“ Ich halte fest: er steht auf Mimikry. „Dafür, dass du dir deiner Sache so sicher bist, überlegst du aber erstaunlich lange!“, schlage ich zurück. „Dafür, dass du soooo auf Freiheiten stehst, bist du aber ziemlich spießig. Sabrina hat Michelle von deinem Wunsch nach einer festen Beziehung erzählt. Willst du mit 60 deinem Freund auf der Tasche liegen?“, warum dreht er mir das Wort im Mund um? „Es geht hier nicht um mich, es geht um dich! Ich habe nie behauptet, dass ich ein Freiheitsfanatiker bin und mein Privatleben geht dich nichts an!“, fauche ich. Obwohl es mich wundert, dass er das Wort „Freund“ so neutral ausgesprochen hat. „Aber uns darfst du ausfragen?“, schießt er zurück. „Das ist rein beruflicher Natur. Außerdem habe ich euch nicht gebeten, von eurer ersten Nacht zu erzählen!“, diesem Pantoffelhelden muss mal einer den Kopf waschen! Der denkt wohl, nur weil seine Freundin nicht da ist, kann er Chef spielen? „DU musstest mich doch ausfragen! Wenn du ein Problem hast, dann sag es doch einfach!“ „Ich habe kein Problem!“, raunt er trotzig. Die typische Antwort eines Menschen, der einen ganzen Berg von Problemen hat und dessen größtes er selbst ist. Ich weiß nicht warum, aber mir fällt plötzlich ein Satz ein, den Psychologen gerne anwenden: „Hey, wir sind hier ganz allein, nur ich und du, niemand sonst! Wenn du also heulen oder schreien möchtest, dann tu das – aber stell dich vor die weiße Wand!“, selbst wenn er sich aufregt, ist er noch total fotogen – und die Küche als Hintergrund wird langsam langweilig. „Du hast mich fotografiert?!“ Erstaunen – logisch. Er geht mit dem Kaffee zur weißen Wand und lächelt mich an – unlogisch. Absolut unlogisch. „Mach schon!“, fordert er mich auf. Wahnsinnig. Geisteskrank. Oder beides. Ich brauche eine Weile, um zu realisieren, dass er gerade das tut, was am Anfang nur eine Spinnerei in meinem Kopf war. Jetzt bin ich derjenige, der gehemmt ist. Ich schieße ein paar normale Fotos, bis ich ihn bitte, etwas verrücktes mit der Tasse zu machen und dabei die Mimik zu verändern. Er ist erstaunlich kreativ, balanciert die Tasse auf den Händen, dem Knie, sogar auf dem Kopf, er leckt sich genüsslich den Kaffee von den Lippen und sieht aus, als wollte er den Kaffee verkaufen. Ich kämme ihn mit Hilfe des braunen Wundermittelchens die Haare ins Gesicht, färbe seinen Teint, definierte Augenbrauen und Wimpern, ich probiere verschiedene Objektive und Farbeinstellungen, einfach so. Dann wird es Zeit, die Hilfsmittelchen wegzulassen und nur noch ihn zu inszenieren. „Stell die Kaffeetasse weg und sei du selbst!“, rufe ich ihm zu. Zuerst ist er verwirrt, doch als ich ihm den Tipp gebe, einfach von sich zu erzählen, wird er locker. Er erzählt von seiner Familie, seiner Kindheit, seinen Freundinnen, seinem Beruf und ich muss ihm nicht sagen, was er machen soll, er macht es einfach; manchmal ist es nötig, ihn zu korrigieren, aber nur für die künstlerischen Effekte. Ansonsten sieht er einfach gut aus. Seine Blicke wechseln von freudig zu wütend zu melancholisch zu verliebt zu verlassen zu nachdenklich zu entschieden zu unentschlossen und es fällt mir immer schwerer, zwischen Objekt und Mensch zu unterscheiden. Zuerst bekomme ich nicht mit, wie er auf einmal ohne Hemd dasteht, ich registriere es und reagiere darauf, mehr automatisch, aber als er mich plötzlich bittet ihn völlig nackt zu fotografieren, bin ich völlig perplex. „Das kann ich nicht. Ich bin dafür nicht qualifiziert!“, wende ich ein. Obwohl ich schon einige Lover mit der Kamera abgelichtet habe. Aber es ist nicht mein Metier. „Hast du Angst über mich herzufallen?“, fragt er lachend. Ich finde das nicht zum Lachen. „Das nicht. Es geht mir um dich: wenn man sich nackt vor jemandem zeigt, dann muss man das absolute Vertrauen zum Fotografen haben – hast du das?“, harke ich nach. „Ich habe dir alles über mich erzählt, ich vertraue dir!“, erklärt er. Ich kann das nicht. Sabrina hatte mir aufgetragen, den Freund ihrer besten Freundin zu prüfen, ich wollte dieses verliebte Pärchen nur schnell abharken und jetzt bittet mich ihr Freund, ihn völlig nackt abzulichten? Das hatten wir nicht vereinbahrt! „Hör zu Adriano, das geht nicht. Ihr seid hierher gekommen, um EUCH zu inszenieren, es geht um dich und Michelle. Dich SO zu fotografieren, das geht zu weit!“, wende ich erneut ein. „Willst du jetzt kneifen? Es geht schon seit einer Stunde nicht mehr um Michelle! Und außerdem hat sie auch etwas von den Fotos…“, die Feststellung ist berechtigt, und sie beruhigt den Menschen in mir. Der Künstler hätte seinem Wunsch vorbehaltlos zugestimmt. Apropos, wo bleibt eigentlich Michelle? Der Bäcker ist höchstens 10 min von hier entfernt und selbst wenn sie sich ewig nicht entscheiden kann, müsste sie schon längst wieder da sein. Die Antwort folgt prompt in Form eines Mozart-Klingeltons: Sie hat auf dem Weg eine alte, sehr alte, Schulfreundin getroffen, die nur noch bis morgen in der Stadt ist, Essen steht im Kühlschrank und er soll sich einen schönen Abend machen. Und sie vermisst ihn jetzt schon fürchterlich! Jetzt mischt sich auch noch Wut in meinen Gefühlsbrei. Wie kann sie nur! Angeblich sooooo verliebt, aber ihre Freundin ist ihr in Zeiten von E-Mail, Handy und Internet wichtiger! Eines steht fest: Adriano ist vermutlich ganz passable, aber Sabrina sollte sich eine neue Freundin suchen! Ich koche uns beiden noch einen Kaffee und als ich mit den beiden Tassen zurück komme, steht er da. Nackt. Völlig nackt. Man sieht alles. Wirklich alles. Ich weiß nicht, ob es Naivität, Mut oder einfach Dummheit ist, sich so vor jemanden zu stellen – das Kissen mit dem Blümchen ist ja so weit weg! Ich versuche die Fassung zu wahren und mache das, was ein Künstler zuerst macht, wenn er sein Objekt inszenieren möchte: analysieren. Ich stelle mich aus verschiedenen Entfernungen vor ihn und betrachte ihn. Die leichten Muskeln an den Armen und Beinen zeigen, das er das Turnen nur noch als Hobby betreibt, seine Bauchmuskeln sind trotzdem noch ziemlich deutlich, die wirren Härchen auf seiner Brust findet seine Freundin wohl toll, diesen animalischen Touch haben nur noch wenige Männer. Das Haar um seine Kronjuwelen ist fast schon zu kurz, um ein Pendant zum Kopfhaar zu bilden, aber es reicht. Seine Füße sind dank seiner Freundin modelltauglich pedikürt. Einzig auf seinem Knie befindet sich eine lange Narbe, die von einem komplizierten Bänderriss übrig geblieben ist. „Was guckst du so?“, fragt er mich plötzlich. Natürlich, ich hatte ihn vorher nicht aufgeklärt. „Ich überlege, wie ich dich am besten in Szene setze!“, antworte ich nachdenklich. Und während ich noch am Grübeln bin, geht er zur weißen Wand und stellt sich davor, sein Kopf blickt zur Seite, die Augen nachdenklich. Die Pose ist genial. Entweder ist er ein Genie oder er lernt schnell. Die Verletzlichkeit der Nacktheit, kombiniert mit dem nachdenklichen, fast traurigen Blick, das ist einfach fantastisch. Ich stelle den Schweinwerfer so, dass sein Kopf durch den Schatten verlängert wird und so noch eindringlicher wirkt. Und dann schieße ich. Ich schieße viele Fotos. Nur von dieser einen Pose. Als ob ich sie dadurch festhalten könnte. Später probieren wir noch anderes, wir wechseln die Seite, er kniet, liegt hockt, er lächelt, guckt neutral, verführerisch, und alle sind schön, aber keine ist so vollkommen wie die erste. Zum Schluss schlägt er eine liegende Pose auf dem roten Sofa vor. Die typische Titanic-Pose – Kate Winslet liegt seitlich da, das Gesicht zum Maler, mit einem Glitzern in den Augen und der Frage, ob das denn nicht erotisch sei, doch Jack ist viel zu sehr Künstler, um sie danach zu verführen. Er legt sich hin und ich versuche, die Gemütlichkeit, das Entspannte und gleichzeitig das Selbstbewusstsein einzufangen. Doch es fällt mir immer schwerer. Und das nicht nur, weil diese Pose geradezu zu einem Schäferstündchen einlädt und nicht jeder von uns Jack Dawson ist, sondern, weil ihm die Verletzlichkeit wesentlich besser steht als die erzwungene Autorität. Um wenigstens noch Etwas zu erschaffen, konzentriere ich mich auf das Spiel zwischen dem Stoff des Sofas und seiner Haut. Der Kontrast toll. Auch wenn es so aussieht, als ob ich ihn von oben bis unten besteige, kommen dabei echt schöne Bilder heraus. Perfekt für Facebook. „So, wir sind fertig!“, sage ich schließlich, „Gut gemacht!“ „Danke, du warst ein toller Fotograf!“, erwidert er lächelnd, doch ich verneine: „Das sehen wir erst, wenn die Bilder entwickelt sind; auf Papier sehen sie doch wieder ganz anders aus!“ Ich will gerade aufstehen, als er mich zurückhält – und seine Lippen auf meine presst! Hat er sie noch alle? Seine Lippen sind zwar weicher, als ich vermutet hatte, aber er ist immer noch der Freund der Freundin meiner Kollegin! Bevor ich in Versuchung komme, meine Zunge einzusetzen, löse ich unsere Verbindung: „Geht es dir gut? Was sollte das?“, rufe ich aufgebracht. „Ich wollte nur wissen, wie es ist, einen Mann zu küssen!“, antwortet er unschuldig. „Schön, das hast du ja jetzt getan! Aber aus der Experimentierphase bin ich raus – also such dir jemand anderen aus!“ Wie oft musste ich mich mit Typen rumschlagen, die nur mal wissen wollten, wie es mit einem Mann ist und dann doch wieder das Ufer wechselten? „Bitte Bertrand, schlaf mit mir!“ Ich glaube mich verhört zu haben. Spreche ich chinesisch, japanisch oder französisch mit britischem Akzent? „Nein!“, sage ich entschlossen. Doch er lässt nicht locker. Immer wieder flüstert er mir die drei Worte ins Ohr, bis sich meine Zweifel in Lust auflösen – er ist ja nicht mein Freund, sollen Michelle und Sabrina denken was sie wollen, ich habe ja nicht angefangen! Außerdem habe ich heute Abend sowieso nichts vor. Und wie Adriano das seiner Liebsten erklärt, kann mir auch egal sein. Eines ist jedenfalls klar: er mag zwar ein Pantoffelheld sein, aber wie man jemanden verführt, das weiß er. Daher darf er auch alles machen; ich sehe nicht ein, warum ich auch noch Lehrer spielen soll; nur wenn er mal völlig falsch liegt, gebe ich ihm einen Hinweis. Die letzte Tat, die ich noch mit vollem Verstand tue, ist, dass ich unser Beisammensein vom Sofa auf das Bett verlege; denn die Bettwäsche kann man danach mit allen Regeln der Waschkunst behandeln und im Notfall wegschmeißen, beim Sofa wäre es schwieriger, weil man den Bezug nicht abziehen kann; Sabrinas Mutter hat stundenlang an den Flecken geschrubbt, die ein kotzendes Baby verursacht hatte. Zumindest im Bett weiß Adriano, was er tut. Ich bin danach jedenfalls vollkommen zufrieden. Zum Schluss gönne ich mir noch den Spaß, ihn erschöpft und halbwach abzulichten. Auch dieses Bild ist total genial geworden. Wenn er am nächsten Morgen aufwacht, wird er sich, während ich ihn aus dem Bett schmeiße, eine Ausrede für seine Freundin überlegen müssen. Und ich werde Sabrina Bericht erstatten: dass der Freund ihrer Freundin absolut noch nicht reif für eine Beziehung ist, dass er noch etwas rumexperimentieren muss und ihre Freundin selber schuld daran ist. Die Fotos dagegen werde ich in mein Zimmer hängen und nur daran denken, dass das Modell einfach fantastisch ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)