A Dreamless Carroll von Yu_B_Su ================================================================================ Kapitel 12: An meine Sehnsucht ------------------------------ „Hau ab! Verschwinde endlich!“, brülle ich die Gestalt vor mir an. Ihre graue Kleidung hängt in Fetzen an ihrem Körper, sie ist schmutzig, dreckig, als wäre sie schon weit gegangen. Trotz der schwarzen Leere in ihren Augen wirkt sie stolz. Unglaublich stolz. Nicht bereit, auch nur einen Centimeter von hier zu weichen. Mit dem Ziel, mich ins Unglück zu treiben. „Was machst du hier?“, schreie ich weiter, „Ich hab dir beim letzten Mal schon gesagt, dass du nicht wiederkommen sollst! Ich brauche dich nicht mehr! Also geh! Geh endlich!“ Ein hämisches Grinsen. Ein Lachen, das in meiner ganzen Welt wie ein quälendes Echo wiederkehrt, schallend, wallend, wissend. Mein Besucher muss sich nicht bewegen, er muss nicht einmal die Augen verdrehen, allein die Bewegung seines Mundes reicht aus, um seine ganze Verachtung auszudrücken. „Nein. Du hast mich gerufen, und ich komme.“, erwidert die Gestalt kalt. „Das ist eine Lüge!“, wehre ich mich, „Ich habe dich nicht gerufen, ganz im Gegenteil, ich habe dir klargemacht, dass ich dich nie, nie wieder sehen will!“ „Dein Verstand hat mich abgewiesen, aber deine Seele hat mich geradezu angefleht wieder zu kommen.“ Seine Selbstsicherheit geht mir auf die Nerven. Was erlaubt sich dieser Haufen Lumpen eigentlich? Das ist meine Welt. Ganz allein meine. Und da hat er nichts verloren. Nicht mehr. „Warum sollte ich dich wiederhaben wollen? Ich habe dich lange genug ertragen! Ich habe unter deinen Klagen, deinen Schelten, deinen Suggestivfragen genug gelitten! Tagelang hast du dagegessen und zugeguckt, wie ich meine Welt aufgebaut habe! Wie ich die graue Wüste begrünt, die Felsenbrocken weggeräumt, die Erde mit den Hände aufgelockert und schließlich Samen gesät habe! Wie ich den Regen aufgefangen und damit meine Felder bewirtschaftet habe. Wie ich den Lehm angerührt und mir daraus ein Haus gebaut habe! Was hast du gemacht? Nichts! Sieh an, was aus mir geworden ist? Sicher, Blumen sprießen noch nicht, aber der Rasen wächst und gedeiht, und langsam kommen auch die Tiere zurück! Siehst du, wie schön, wie hell meine Welt ist, seit du nicht mehr da bist?!“ „Du hast mich gerufen.“, beharrt mein Gegenüber fest. „Warum sollte ich dich wollen? Du mit deiner Zerstörung! Guck dich doch mal um! Du hinterlässt eine Spur der Verwüstung, die Erde, auf die du trittst, wird zu Asche, die Pflanzen verdorren, selbst die massivsten Gebäude verweht der Wind als wären sie aus Staub! Du bist tot, alles um dich herum ist tot. Kein Mensch braucht dich!“, schreie ich. Ich frage mich, wie ich dieses Wesen jemals in meinem Garten lassen konnte. Aber es ist damals einfach gekommen. Und ich hatte nicht die Kraft es abzuweisen. Monatelang hockte es in meiner Welt und vergiftete den Boden. Aber wie durch ein Wunder wuchsen die Pflanzen trotzdem. Und irgendwann ging das Wesen. Es kam zwar noch so manches Mal, aber meine Welt erholte sich immer gut von seinen Besuchen. Doch vor ein paar Tagen hatte es mir gereicht und ich wies es endgültig ab. Doch es kam wieder. „Du irrst.“, zwei Worte, mehr brauchte es nicht, um mich zu paralysieren und meine Wut kurz darauf in ungeahnten Höhen schießen zu lassen. „Was soll das heißen? Willst du mir erklären, dass du noch etwas anderes bringst außer Trauer und Zerstörung? Das ist lächerlich!“, fauche ich. „Ja.“, sagt mein Besucher und ich weiß nicht, was er damit meint. Hoffentlich klärt er mich endlich mal auf! Mir geht diese Einsilbigkeit auf den Geist. Ich habe ihn nie verstanden. Ich habe nie verstanden, warum er mir immer nur Fragen stellt, die keinen Sinn machen. Warum er mir nie antwortet, und wenn, dann nur mit ein oder zwei Worten. Selbst als er damals in meinem Garten war, hat er meistens nur gelächelt. Das war das schlimmste. Nicht seine Worte, sondern sein Schweigen. Er redete und redete immer über Dinge, die ich nicht begreifen konnte – und dann hörte er plötzlich auf. Alles war gesagt. Elender Rechthaber! „Ich bin Tod und Leben in einem, das weißt du, sonst hättest du mich nicht gerufen.“, führt mein Gegenüber leicht vorwurfsvoll aus, „Im Moment bin ich für dich die Zerstörung, aber für viele Menschen bin ich die Keimzelle neuen Lebens. Und auch du hast mich am Anfang geradezu angebetet. Siehst du die Rose dort drüben?“, er weist mit seiner knochigen Hand auf eine rote Blume, die gerade aufblüht. Vorhin hat sie noch nicht geblüht, bis gerade eben hat noch gar keine Blume geblüht – was hat er gemacht?, „Bevor ich kam, als deine Welt noch in Ordnung war, wuchsen hier nur Gänseblümchen, Klee und Butterblumen. Wunderschön, aber auch ziemlich eintönig. Und jetzt, sieh dir die Rose an! Die Kraft, die Stärke, die sie ausstrahlt. Ohne mich hättest du diese Schönheit nie erschaffen können.“ Ich fange an zu grübeln. Damals… damals hat er an meiner Tür geklopft und um Einlass gebeten. Er sah so anders aus, statt in Lumpen war er in ein gülden-wallendes Gewand gekleidet, wie eine Elfe schwebte er über dem Boden und seine Augen strahlten wie tausend Sonnen. Um ihn herum pulsierte das Leben und ich gewährte ihm nur zu gern einzutreten. Doch nach ein paar Tagen ging er. Mein Garten, der unter ihm geradezu aufgeblüht war, fing an zu verdorren. Die Blumen verwelkten, die schöne Villa, die ich mir erbaut hatte, zerbröckelte, mein See trocknete aus. Ich konnte nicht begreifen, was passiert war, ich war süchtig nach diesem Wesen geworden und konnte mich nur langsam von ihm lösen. Irgendwann fing ich wieder an zu leben. Doch dann kam er wieder, dunkel, schwarz, voller Häme, als hätte ihn jemand auf die dunkle Seite der Macht gezogen. Ich will das nicht. Ich würde am liebsten alle Keime, die er unsichtbar in meinen Boden gesetzt hat, einfach auslöschen, ausgraben, verbrennen, vernichten. Aber wie immer hat er recht – es geht einfach nicht. Die Dinge, die ich in seiner Anwesenheit gelernt habe, werde ich nicht wieder los. Zu tief sind die Erkenntnisse verbuddelt und strahlen nach außen. Selbst wenn ich sie suchte, ich würde sie nicht finden. Ich würde niemals herausfinden, warum er gekommen, gegangen, was er hinterlassen hätte. Ich würde niemals herausfinden, wie ich es geschafft habe, mir meinen Garten aufzubauen, trotz seiner Anwesenheit. Ich werde niemals erfahren, ob es anders nicht besser, einfacher gewesen wäre. Aber er hat mir viel gegeben – viel Schlechtes, aber leider auch viel Gutes. „Und genau deswegen habe ich dich gerufen, oder?“, frage ich geschlagen. „Genau deswegen hast du mich gerufen.“, wiederholt mein Gegenüber, „Du weißt, dass dein Garten ohne mich nicht so schön wäre, wie er gerade ist. Du siehst es noch nicht, aber wenn erst einmal Frühling ist, werden all deine Pflanzen erstrahlen, schöner und üppiger als zuvor.“ „Du bist nicht nur Tod. Auch für mich nicht. Mein Verstand sieht in dir das Verderben, doch für meine Seele bist du der Schöpfer. Aber sieh dir deine Spuren an – du vergiftest meine Garten immer noch!“, ich ringe mit mir. Die wahre Erkenntnis, dass meine Wut nichts als Fassade war, zehrt an mir. Sich einzugestehen, dass das Böse auch eine gute Seite hat, bedeutet, dass sich neue Türen öffnen, es bedeutet, wieder viele Entscheidungen treffen zu müssen, neue Risiken einzugehen. Es bedeutet, die Augen zu verschließen und zu hoffen, dass alles irgendwie gut wird. „Ich werde deinen Garten immer vergiften, aber es wird auch eine heilende Wirkung haben. Und irgendwann brauchst du mich nicht mehr. Irgendwann werde ich nicht mehr in dieser Gestalt kommen, sondern als das Leuchten, dass du kanntest. Aber bis dahin komme ich gerne, und ich komme in Frieden. Es ist in Ordnung, wenn du mich rufst, wenn du mich brauchst, dann brauchst du mich. Es bedeutet, dass du nichts vergisst. Ich bin ein Mahnmal." „Deine Schritte, deine Worte, deine Taten werden immer schneiden. Aber sie werden auch heilen. Sie werden auch heilen.“, resümiere ich. Er hat recht. Ich brauche ihn. Ich brauche ihn, weil mein Garten sonst öde wäre, auch wenn er mir wehtut, brauche ich ihn einfach. Und es ist in Ordnung. Niemand stört mich in meinem Garten, ich kann machen, was ich will. Ich habe mir sovieles wieder erkämpft, dass ich jeden seiner Besuche überstehe. Ich würde ihn nicht rufen, wenn ich nicht wüsste, dass er keinen Schaden anrichten würde. Ich habe zwar immer Angst, dass er mich besiegt. Aber vielleicht rufe ich ihn, weil ich ihn besiegen will. Ich will sehen, dass ich noch lebe, dass ich etwas anderes außer gärtnern kann. „Also gut, dann bleib“, sage ich schließlich. „Möchtest du Tee oder Kaffee?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)