Die letzte Blume von abgemeldet (Eine WITCH-Shoujo-Ai frei nach der Serie) ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1: Clarification ----------------------------------- Eine Jacke bringt nicht viel gegen die Kälte. Das habe ich begriffen. Man kann sie noch so fest an sich kuscheln und wird trotzdem frieren, denn kein Stoff der Welt kann sie gänzlich fern halten. Ähnlich ist es mit der Hoffnung. Man kann versuchen, sich an sie zu klammern, an ihr die innere Kälte wie an einem Schutzwall zerschellen zu lassen, aber irgendwann zerbricht sie, wenn sie nicht von irgendetwas genährt wird. So ist es mir ergangen. So habe ich es gelernt. Du wirst es verstehen, denn schließlich hast du es mich gelehrt, Cornelia. Dennoch presse ich noch immer die Jacke ganz fest an meinen Körper, in der Hoffnung, den kalten Wind abzuhalten, der hier oben auf der Eisenbahnbrücke weht. Natürlich nützt es nichts: meine Hände und Füße, ganz bewusst nackt und schutzlos, laufen vor Kälte rot und blau an, und meine Augen, aufgequollen und tränenlos, trüben sich, erzeugen eine Blindheit, die wie eine Sturmflut über meinem Gehirn einschlägt. Selbstverständlich bin ich entschlossen! Ich habe es so gewählt. Mein Herz und mein Verstand sind sich einig, dass es das einzig Sinnvolle ist. Glaub mir, sie waren in letzter Zeit nur selten einer Meinung! Und nun, da sie beide endlich schweigen, bin ich da, wo ich immer schon hin wollte. Ich fühle nichts mehr. Nichts! Keine Freude! Keine Trauer! Keine Liebe! Mein Herz ist eiskalt und hart wie ein Diamant. Ebenso mein Kopf. Früher verlor er sich oft in einem Meer aus Zweifel und Selbsttäuschung. Nun ist er fast leer, und ich habe keine Zweifel mehr… keine Angst! Selbst Vernunft ist nicht mehr vorhanden. All das hat mich nur gestört, von meiner wahren Bestimmung abgehalten. Endlich bin ich so wie du. Stark. Entschlossen. Selbstsicher. Unantastbar. Aber eben nur in einer Entscheidung. Und die Entscheidung, an der ich nun so stark und entschlossen festhalte, ist leider die Einzige, zu der ich fähig bin. Ich weiß, dass du jetzt nickst… und falle mit ein. Ja, ich bin eine miserable Wächterin, ohne echte Kräfte, ohne Verantwortungsgefühl, ohne Verstand. Alles was ich kann, ist, das Herz von Kandrakar zu erheben. Ja, ich bin eine erbärmliche Anführerin. Weder kann ich euch in Zeiten der Not Mut zusprechen, noch treffe ich die richtigen Entscheidungen. Wäre nicht Caleb an unserer Seite, hättet ihr bereits so manche Schlacht gegen das Böse mit dem Leben bezahlt. Und ja, ich habe Elyon praktisch auf dem Silbertablett an Phobos ausgeliefert. Ich war untätig, als ich es nicht hätte sein sollen. Ich kann zur Verteidigung nur sagen, dass ich nicht an euch glaubte. An euch und eure Überredungskünste! Hätte ich es getan, so wäre Elyon noch bei uns, weder von Cedric verführt noch von Phobos geblendet! Ja, ich gestehe, dass dies alles meine alleinige Schuld ist. Darum verdiene ich es nicht, das Herz von Kandrakar zu tragen. Ich gebe es dem einzigen Menschen, dem es wirklich gebührt: dir! Nimm es mir nicht übel, aber ich habe es dir schon lange angesehen, dass du es haben wolltest! Wie sehr du danach giertest, diese Macht in deinen Händen zu halten, wie du die Kontrolle haben wolltest über etwas, das genauso stark ist wie du… Du brauchst es nicht lange zu suchen. Ich habe es auf dein Bett gelegt, nachdem ich jeden Hinweis auf meine Existenz ausgelöst habe. Was das bedeutet? Ganz einfach, meine Liebe! Ich weiß, es reicht dir nicht, das Herz zu besitzen. Du hast mir genau gesagt, was du willst. Ohne mich wäre alles viel besser gelaufen, hast du gesagt, und ich nehme dich beim Wort. Ich werde aufhören, zu existieren. Sowohl körperlich als auch im Geist. Ich lösche jede sichtbare Erinnerung, die ihr an mich habt, vollkommen aus. Nichts wird euch je daran erinnern, dass einmal Will Vandom, eine in Frösche vernarrte, rothaarige Versagerin über den Erdball wandelte. Und eure Gleichgültigkeit mir gegenüber wird das Übrige tun. Tut nicht so scheinheilig, ich weiß, was ihr wirklich über mich denkt! Wo sonst im Geiste noch eine Leere in Form meines Gesichts bleiben würde, wird absolut nichts mehr sein. Ihr werdet euch nicht mehr an mich erinnern, geschweige denn über mich nachdenken. Von den wenigen Spuren, die ich auf Erden hinterlassen habe, wird euch nur noch eine vor Augen sein: Elyons Flucht nach Meridian. Und ihr werdet mich dafür hassen! Kein Foto wird je wieder mein Gesicht zeigen. Keine Handynummernliste wird mehr meinen Namen enthalten. Sogar aus deinem Tagebuch bin ich für immer verschwunden. Ich habe mich selbst aus deinem Leben herausgeschrieben. Vielleicht bemerkst du ja die Tränenflecken auf dem Papier. Ja, ich habe es gelesen! Wieso auch nicht? Ich konnte die Ungewissheit nicht mehr ertragen. Ich musste wissen, wie du über mich denkst… deine wahren Gefühle, die du hinter vordergründiger Höflichkeit verbirgst. Du hasst mich! Du hasst mich von ganzem Herzen und aus tiefster Seele! Eine lächerliche kleine Wichtigtuerin, mehr bin ich für dich nicht: unreif, hässlich und dumm, nur fähig, mich in Problemen zu wälzen, die ich mir selbst eingebrockt habe. Du hast ja auch gutes Recht dazu: Meine Freundschaft mit Matt kommt nicht voran, die Beziehung zu meiner Mutter artet in ständigen Streit aus, und auch die Schule macht mir trotz aller Nachhilfe immer noch Schwierigkeiten. Und als wäre all das nicht genug, kommst auch du noch zu mir und machst mir das Leben schwer, indem du mir die bittere Wahrheit zeigst. Klar, zuerst hasste ich auch dich für das, was ich in jenem Moment für hinterhältigen Verrat hielt. Zuerst war mein Herz erfüllt von bitterer Enttäuschung und brennendem Schmerz. Ich war davon überzeugt, die Welt würde zusammenbrechen. All die wenigen freundlichen Worte, die ich aus deinem Mund hörte, schienen nur noch hohle Phrasen, geäußert, um der Welt ein falsches Gesicht zu zeigen. Doch dann, als die Tränen am sauersten schmeckten, als pure Verzweiflung mein ganzes Wesen beherrschte, sah ich den letzten Eintrag. Folgende Worte sprangen mir ins Auge: „Es ist aus. Ich kann sie nicht mehr ertragen. Wenn ich nicht bald offen herauskomme, werde ich noch verrückt. Bestimmt werden sich auch die Anderen besser fühlen, wenn es vorbei ist. Taranee drängt mich sowieso schon seit langem, es endlich zu tun, für unser aller Wohl. Und sie hat Recht. Ich muss Will endlich sagen, was ich von ihr halte. Danach kann unsere ganze Freundschaft meinetwegen zum Teufel gehen…“ Ich verstummte. Meine Tränen verdampften in der Hitze meiner Wangen, die immer röter und röter wurden. Ich begriff, wie sehr dich dieser Hass quälte. Nicht, weil du dich schämtest, nein, du littst unter der Freundlichkeit, die du mir zeigen musstest, weil wir doch beide Wächterinnen waren! Alles andere wäre dir egal gewesen, hättest du nur mein Gesicht nicht mehr länger ertragen müssen. Da offenbarte sich mir die Wirklichkeit. Ich sollte dich nicht hassen, sondern bemitleiden für den Schmerz, den du durchstehen musstest… die Verantwortung, über mein Wohlbefinden zu entscheiden, muss gewaltig gewesen sein. Die Anderen hatten dieses falsche Spiel von dir verlangt, gegen deinen Willen. Das Beste, was ich tun konnte, war, dich von deiner Bürde zu erlösen. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich nicht, wo ich jetzt bin, und dafür danke ich dir. Ohne dich stände ich wahrscheinlich nicht auf dieser alten Eisenbahnbrücke, fest entschlossen, euch allen meine Existenz nicht länger aufzudrängen. Wisst ihr noch, wie ihr einmal eine ebensolche Brücke vor der Zerstörung bewahrt habt? Wir hatten damals unsere Kräfte verloren. Eine fleischfressende Pflanze zerfraß die starken Holzbalken, als wären sie aus Butter, und der Zug raste mit alarmierender Geschwindigkeit auf die Brücke zu. In diesem Moment waren wir alle gleich hilflos. Ich hätte es genießen sollen, denn so etwas passierte danach niemals wieder. Es ging vorbei. Ihr bekamt eure Kräfte zurück und rettetet den Zug, während ich umherflog und überflüssige Kommandos rief. Dabei kamt ihr doch hervorragend ohne mich zurecht! Ich war nur das buchstäbliche fünfte Rad am Wagen. Und heute bin ich alleine hier. Ihr werdet mir nicht helfen können, selbst wenn ihr es wolltet. Langsam gehe ich die knarrenden Holzbohlen entlang, die du mit den Kräften der Erde repariertest. Insgeheim hoffe ich, dass sie unter meinen Füßen zerbrechen. Dann kann ich wenigstens nicht mehr davonlaufen. Denn ich habe Angst. Doch, unter meiner kalten, gefühllosen Schale schlummert doch immer noch die Angst! Was würde passieren, wenn ich überlebe? Würden sie mich in eine Heilanstalt verfrachten? Oh ja, das würden sie tun, und du würdest am Straßenrand stehen, wenn sie mich in eine Zwangsjacke stecken und in den luftdicht gepolsterten Frachtraum eines Krankenwagens schieben,… du würdest dastehen und einfach zuschauen, nicht mit Bedauern, nicht mit einem Lächeln, sondern mit grimmiger Genugtuung. Meine Hilfeschreie würdest du gar nicht wahrnehmen, schlimmstenfalls bestärken sie dich nur noch in deiner Verachtung für mich. Nein, besser ich gehe auf Nummer sicher! Mit meinem halb abgefrorenen rechten Fuß trete ich auf einem wurmstichig erscheinenden Brett herum. Ich bündele meine Angst, stoße immer wieder mit ganzer Kraft zu, wieder und wieder. Doch es klappt nicht. Ich versuche es erneut, diesmal mit meiner Faust. Geht auch nicht! Verdammt, wieso will es nicht brechen? Ich packe die zwei Schienenstränge mit meinen Händen, lege mein ganzes Gewicht in die Füße und springe mit angewinkelten Beinen auf und ab. Rührt sich nicht! Wackelt nicht mal! Dieses dreimal vermaledeite Holzteil!!! Noch einmal versuche ich es voller Verzweiflung, diesmal mit meinem Kopf. Soll er doch ruhig schmerzen! Soll er doch meinetwegen in Stücke zerspringen! Nein, warte! Ruhig bleiben! Ganz ruhig bleiben! Öffne die Augen und schau genauer hin: Das Brett ist gar nicht wurmstichig! Die Wurmlöcher sind nur Punkte, die vor meinen Augen flimmern! Ich warte, bis mein Kopf wieder etwas klarer ist, dann setze ich mich auf die Gleise und denke nach, so gut es mein umnebelter Verstand zulässt. Hör auf, dir selbst weh zu tun, Will, du Holzkopf! Deine Wut wird dich am Ende noch dazu bringen, aufzuspringen und nach Hause zu laufen! Und das möchtest du nicht, nein, das darfst du nicht! Es ist nicht viel, nur ein kleiner, zittriger Schritt in Richtung Unendlichkeit. Sogar eine ängstliche, kleine Trine wie du dürfte das schaffen! Vielleicht musst du den Schritt nicht einmal selbst tun. Eigentlich brauchst du dich nur hier auf den Schienen auszustrecken. Entweder, du erfrierst nach einer Weile… oder der Zug kommt und überquert die Brücke. Dann legst du den Kopf auf die Schiene und lässt es geschehen. Das Ergebnis ist dasselbe. Ja, genau das werde ich tun! Springen ist zu unsicher. Bestimmt zerschmettere ich mir dabei nur die Knochen. Dann bin ich noch hilfloser und schwächer als zuvor. Der Zug ist endgültig, und niemand kann ihn aufhalten, auch du nicht, Cornelia! Dann ist es endlich vorbei... Kapitel 2: Kapitel 2: Soreness ------------------------------ Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung? Als mich die Lehrerin der Klasse vorstellte, hatte ich dich zuerst gar nicht wahrgenommen, genauso wenig wie einen der anderen. Wenn man voller Nervosität dem ersten Schultag entgegenfiebert, ist alles andere um einen herum Nebensache. Und ich war nervös; hypernervös In den ersten Unterrichtsstunden hast du mich ignoriert, und ich tat meinerseits das Gleiche. Ich wollte niemanden ansehen: ich fühlte so oder so die abschätzigen Blicke in meinem Rücken. Alle schienen etwas Besonderes von mir zu erwarten: unglaubliche Intelligenz, großartiges Modebewusstsein, Aufsässigkeit… oder Konkurrenz. Da war ich für ein bisschen Ignoranz geradezu dankbar. Doch entgegen aller meiner Erwartungen blieb es nicht dabei: gleich beim Klingeln der Pausenglocke kam Hay Lin, ein Mädchen aus einem jüngeren Jahrgang an meinen Tisch und gab mir einen Zettel. Sie lud mich für diesen Abend zu sich nach Hause ein. Wenn das kein weiterer Grund ist, nervös zu werden… Ich meine, ich kannte sie vorher überhaupt nicht! Ich hatte sie nie zuvor gesehen, nicht mal auf dem Korridor. Damals fühlte ich mich so geschmeichelt. Ich fühle mich auch jetzt noch so, wenn ich daran denke. Aber hätte ich geahnt, was alles darauf folgen würde, was ich als Gegenleistung dazu zahlen musste… ich hätte bestimmt abgelehnt. Doch so ging ich nichtsahnend in die Sporthalle, wo gerade die wissenschaftlichen Projekte vorgestellt wurden. Dort fand ich Hay Lin und die Anderen, Irma und Taranee. Dich bemerkte ich eher beiläufig. Ich dachte mir lediglich, dass du ziemlich hübsch warst… bestimmt der Schwarm aller Jungs der Schule. Dann machte Irma diesen Witz über Uriah und löste den Knoten in meinem Herzen ein bisschen. Das erste Mal betrachtete ich meine Umgebung mit der gebührenden Aufmerksamkeit. Mein Blick blieb bei dir hängen, weil du in die Untersuchung einer Pflanze vertieft warst und gar keine Notiz von mir nahmst. In diesem Moment beugtest du dich weiter vor und berührtest eines der Blätter mit deinen schlanken Fingern. Es war keine große Geste… es drückte nicht mal besondere Liebe zu der Pflanze aus. Aber ich sah dein Haar wie einen Vorhang vor dein Gesicht fallen, und dazwischen lugte dein Auge hervor, dass offenkundige Verwunderung ausdrückte. Dieser Anblick stand dir besser als jedes Lächeln! Ohne dass ich es mir erklären konnte, wollte ich auf einmal dein Haar zurückstreichen und einen verführerischen Blick deiner Augen einfangen. Mein Magen hüpfte auf und ab, dafür setzte mein Herzschlag aus. Fast spürte ich das Kitzeln deiner Haarsträhnen in meiner Nase, fast schmeckte ich das süße Aroma deiner Lippen… alles das strömte gleichsam auf mich ein und verwirrte mich. Nie zuvor hatte ich etwas... etwas so Intensives erlebt! Da richtetest du dich plötzlich wieder auf und schautest zu mir herüber, als ich Hay Lin gerade für ihre Einladung dankte. Einen Moment lang hoffte ich auf ein Lächeln von dir, ein freundliches Entgegenkommen... doch es kam nur eine entsetzte Grimasse. Ausgerechnet ich sollte mit zu diesem Treffen kommen?! Die Neue?! Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich in diesem Augenblick nicht so durcheinander gewesen wäre. Ich hätte irgendetwas sagen sollen… irgendetwas Cooles… Stattdessen versuchte ich Idiot, dir einen Keks anzubieten! War ich wirklich dermaßen bescheuert? Wieso legte ich es darauf an, mich dermaßen vor dir zu blamieren? Damit stand es praktisch schon fest, dass du mich hassen würdest. Jeder der Vorwürfe und Demütigungen, die du mir an den Kopf warfst, war vorprogrammiert. Es war der erste Tag vom Ende meines Lebens. Die Versuche der Anderen, mit mir Freundschaft zu schließen, nahm ich zwar noch wahr... doch seit du mich so non chalant abgelehnt hattest, brachte ich nicht mehr den Enthusiasmus auf, darauf angemessen zu reagieren. Meine Hoffnungen entflammten noch einmal, als du an meinem Geburtstag eine geheime Party für mich vorbereitetest. Du hattest alles organisiert, die Leute dazu eingeladen, sogar gegen meinen ausdrücklichen Willen ... ich dachte, du hättest inzwischen deine Meinung über mich geändert oder wolltest dich mit mir aussöhnen. Eigentlich wollte ich ja gar keine große Party... oder zumindest keine, bei der du die Gastgeberin spieltest. Warum? Nun, wie sollte ich denn mit dir zusammen eine Party genießen, wenn du ständig irgendwo herumwuselst und mit Jungs flirtest? Als die Feier schon eine Stunde lang ging und du immer noch nicht zu sprechen warst, merkte ich es. Natürlich hatte sich überhaupt nichts verändert. Du wolltest nur endlich mal wieder eine Party schmeißen, und auch wenn du mich verabscheutest: ich war der einzige naheliegende Grund, eine zu organisieren. Was aus mir wurde, war dir egal, solange du nur deinen Spaß haben konntest! Ich lernte neue Menschen kennen, nette Jungs und gute Freundinnen von dir... aber du bliebst nach wie vor unerreichbar für mich. Dabei hattest du mir am Anfang noch angeboten, dich gleich dreizehnmal zu küssen, aus reiner Höflichkeit! Wenn ich nur damals nicht so hektisch abgelehnt hätte... Das wäre vielleicht meine einzige Chance gewesen, dir nahe zu sein, und ich verneinte sie aus lauter Scham. Aber... ich meine... ich hatte allen Grund dazu... was hätten schließlich die Anderen gesagt, wenn ich wie ein Blutegel an deinen Wangen geklebt hätte? Sie hätten mich als eine kleine, aufdringliche Lesbe erkannt und dich als ein Mädchen, dass sich so etwas gefallen ließ. Wir wären zum Gespött der ganzen Schule geworden. Und dann hättest du mich nur um so mehr gehasst! Deshalb weiß ich jetzt, dass es nur Schein gewesen sein konnte - aufgesetzte Freundlichkeit, zu der du als Gastgeberin verpflichtet warst! Ich weiß, dass klingt weit hergeholt... aber was hätte es anderes sein sollen? Zuneigung? Nein, das glaube ich nicht. Nicht mehr... Zu allem Überfluß lernte ich an diesem Abend auch noch Matt kennen. In dieser ganzen seltsamen Geschichte erwies er sich als eine Art Rettungsanker. Ich erkannte sein Interesse an mir und entwickelte einen Plan. Vielleicht hätte ich mit ihm meine absonderliche Neigung überwinden und endlich normal werden können… ein ganz normales Mädchen mit ganz normalem Freund! Endlich einmal hätte man mich beneidet. Endlich wäre ich das besondere Mädchen gewesen, das alle Welt von mir zu erwarten schien. Und so klammerte ich mich fest an der Hoffnung, ich wäre verliebt in ihn, und tat alles, um diese Illusion vor der ganzen Welt aufrecht zu erhalten. Seinetwegen ließ ich mich auf dieses Skirennen gegen Sondra, die angebliche Austauschschülerin aus Frankreich ein. Seinetwegen überredete ich Hay Lin, mich während des Rennens mit ihren Kräften der Luft auf den Beinen zu halten. Ich missbrauchte unsere Kräfte aus vollkommen egoistischen Gründen… und war mir dessen völlig bewusst. Wie du weißt, hat es nichts gebracht: Matt weigerte sich, auf der Rückfahrt im Bus neben mir zu sitzen. Er sagte, ich hätte Sondra absichtlich in Gefahr gebracht, indem ich sie auf eine unsichere Piste lockte... was in gewisser Weise auch stimmte, obwohl es nicht meine Absicht war. Als ich nach diesem elenden Skiausflug, zu dem zu allem Übel auch noch Lord Cedric aufgetaucht war, wieder zu Hause ankam, fiel ich erst einmal todmüde aufs Bett. Ich weinte nicht. Wie hätte ich weinen können? Er sollte ja nur eine Notlösung sein. Und doch… die Tatsache, dass ich meine Chance verspielt hatte, machte mich fertig. Ich musste wieder an dich denken! Auch wenn ich Matt nicht wirklich liebte… ich hatte doch niemand anderen. Nur wegen ihm hatte ich es geschafft, dich für kurze Zeit zu vergessen. Aber er war nicht der einzige Grund für meine Depression… Über meinen bescheuerten Plan hatte ich euch ganz vergessen. Ich ließ euch schutzlos auf dem Hang des Berges zurück, für jedermann angreifbar. Wäre ich nicht so egoistisch gewesen, hätte Lord Cedric Hay Lin und mich gar nicht angreifen können. Womöglich wären wir beide an diesem Tag für immer ausgelöscht worden… nur wegen meiner Verantwortungslosigkeit. Diese Schuld konnte ich nicht loswerden. Sie stellte alle meine Ansprüche in Frage: Konnte ich nach diesem Versagen überhaupt noch eure Anführerin sein? Ich entschied mich, noch einmal neu anzufangen und diesmal alles besser zu machen. Aber natürlich tat ich das nicht! Wieder benutzte ich irgendwelche faulen Ausreden, um unsere Kräfte für selbstsüchtige Zwecke einzusetzen. Wieder blieb ich untätig, wo ich hätte handeln sollen. Und wieder gab es eine Katastrophe. Elyon… sie war der Fels, an dem unsere Freundschaft zerschellen sollte. Du hattest Recht, wir hätten ihr alles erzählen sollen! Wir hätten sie überzeugen können, wenn nicht durch Worte, dann wenigstens durch die bloßen Tatsachen! Sie hätte uns vertraut, selbst dann noch, als wir ihr Vertrauen fast verspielt hatten. Doch ich tat nichts. Ich schob die Entscheidung vor mir her, bis es dann zu spät war. Sicher, auch Irma, Taranee und Hay Lin meinten, wir würden es nicht schaffen. Aber ich als die Anführerin hätte es besser wissen müssen, ich hätte sie überreden müssen. An dem Tag, als Cedric Elyon mit nach Meridian nahm, wurde mir das schlagartig bewusst. In jener Nacht lag ich noch viele Stunden wach in meinem Bett und dachte über unsere Situation nach. Die Schuld brannte in meinem Herzen und verschwand nicht, so heftig ich mich auch gegen sie wehrte. Sie zehrte an meiner Kraft und fegte das letzte bisschen Widerstand, das ich noch hatte, hinweg. Ich hatte alles kaputt gemacht. Wir hatten keine Chance mehr, den Kampf gegen Phobos jetzt noch zu gewinnen. Und wir konnten nichts mehr tun, um Elyon zurück zu holen. Nur deshalb ließ ich dich ziehen. Ich verstand, wie tief dich dieser Schock getroffen haben musste, udn wie sehr du mich dafür hasstest. Dein Wunsch, uns zu verlassen, war allzu berechtigt. In Wahrheit begriff ich deine tatsächliche Wut noch gar nicht, sonst hätte ich befürchtet, dass du deine Kräfte gegen mich verwendest; dass du mich von der Erde verschlucken oder von Schlingpflanzen genüsslich erwürgen lassen würdest. Ich kannte dich wirklich nicht besonders gut, sonst hätte ich gewusst, dass du dir nicht selbst die Finger schmutzig machst. Du brauchtest einfach nur zu warten, bis ich zu dir angekrochen kam, bis ich an deiner Wohnungstür klingelte und deine Mutter mich in dein Zimmer ließ. Dort lag dein Tagebuch, fast wie auf dem Präsentierteller. Es offenbarte mir erst das wirkliche Ausmass deines Hasses. Dutzende von Seiten, voller kleiner Freundschaftsverse, die Elyon dir geschenkt hatte… voller Erinnerungen an die guten alten Zeiten… und voller Schmähungen gegen mich, von kleinen Lästereien bis zu wahren Hasstiraden. Und dazwischen kein Wort der Zuneigung... nicht eines... Die ungeheuerliche Kälte um mich herum dringt nun auch in mein Herz ein. Wie ein sich windendes Blutegel nagt sie sich ihren Weg, kriecht immer weiter in meine Gefühle hinein. Doch urplötzlich, mitten im Nichts, stößt sie auf einen winzigen, warmen Funken an Gefühl, der noch immer leise vor sich hin glimmt… Bedauern. Eine Träne läuft über mein Gesicht. Was soll das? Bedauern ist das Letzte, was ich jetzt fühlen sollte. Ich dürfte überhaupt nichts mehr fühlen. Ich wollte doch sein wie du… so stark… so gefühllos… wie du… …du… du… du… …du Hexe! Das bist du! Keine stolze, unnahbare Schönheit; keine unschuldige, bildhübsche Jungfrau; keine mitfühlende Fee… nur eine kaltherzige, rachsüchtige Frau, deren Innerstes so schwarz ist wie die tiefste Dunkelheit unter der Erde! Du hast die ganze Zeit mit mir und meinen Gefühlen gespielt! Du hast mich verurteilt, ohne mich zu kennen, und warst nicht einmal weise genug, dein Urteil zu ändern! Im Gegenteil, mit jeder scheinbar netten Geste hast du nur darauf abgezielt, die Härte meiner Selbstverachtung noch zu steigern! Nur wegen deiner Grausamkeit liege ich hier oben und rücke mit jeder weiteren Minute dem Tod ein kleines Bisschen näher! Nur wegen dir! Dabei hätte alles anders verlaufen können. Du hättest deinen Hass überwinden, mir neuen Lebensmut geben können… du hättest mein Dasein so viel angenehmer machen können, wenn du nur gewollt hättest! Aber du wolltest nicht! Weil du deinen gottverdammten Stolz bewahren musstest! Sollten ruhig alle vor dir kriechen und von dir ihr Urteil empfangen, dich hätte es nicht weiter gestört! Es war dir sogar das Ende unserer Gruppe wert! Du hast uns einfach verlassen, ohne dich um unser Schicksal zu scheren. Und du wolltest, dass auch ich dies tue… damit die anderen mich ebenfalls hassen und dich in deinem Kampf unterstützen! Du wolltest tatsächlich noch Küsschen von mir, während du bereits plantest, mein Leben zur Hölle zu machen? Ich merke, wie ich aufstehe, und obwohl meine Gliedmaßen vor Kälte ganz taub sind, schaffe ich es, mich an das andere Ende der Schlucht zu schleppen, die die Brücke überspannt. Als ich wieder Gras unter meinen nackten Füßen spüre, steht mein neuer Entschluss fest: bevor ich allein sterbe, werde ich dich töten! Mit meinen eigenen Händen! Und natürlich werde ich dir alle Qualen, die ich deinetwegen hatte, Stück für Stück zurückzuzahlen! Ich werde mir alles nehmen, was ich je von dir wollte, notfalls mit Gewalt, und dich in einem kleinen Augenblick der Schwäche umbringen! Und dann, in der Minute meines einzigen Triumphes, werde ich mir ein Messer in den Leib bohren! Kein langsamer Todesschlaf, kein qualvolles Dahinsiechen… Oh ja, mein Tod wird eine wahre Erleichterung sein… im Gegensatz zu deinem… Kapitel 3: Kapitel 3: Enlightning --------------------------------- (Cornelias Point of View) Finstere Nacht in Heatherfield. Kein Mond... kaum Sterne... der ganze Himmel, überzogen mit Wolken, die vorübereilen, als wären sie Schafe, die von einem Wolf verfolgt werden. Aber was rede ich da? In Wirklichkeit ist es nur kalter Wind, viel zu kalt für diese Jahreszeit... jede poetische Umschreibung würde das nur verschleiern. Und irgendwo da draußen bist du, Will! Ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir anfangen soll... ich werde aus dir einfach nicht schlau. Du kommst hier vorbei, angeblich, um mit mir zu reden, und verschwindest dann, ohne etwas zu sagen, ohne überhaupt auf mich zu warten. Und meine Mutter muss sich jetzt Sorgen um dich machen, weil du mir nicht einmal eine Nachricht hinterlassen hast, wie: „Cornelia soll mich bitte anrufen,“ oder „Sagen sie ihr, dass ich sie morgen sprechen will!“ Nicht, dass es was bringen würde. Mein Entschluss steht fest. Ich habe dir, eigentlich euch allen nichts mehr zu sagen. Euch und Caleb. Ja, auch ihm. Ich bin es leid, gegen Monster und Riesenschnecken aus einer anderen Welt zu kämpfen, nur um ihm zu gefallen. Ich hasse es, von ihm herumkommandiert zu werden, wie ein Unteroffizier in seiner Rebellion. Wir haben ihm unzählige Male den Du-weißt-schon-was gerettet, und er behandelt uns trotzdem von oben herab, wie als wären wir dumme Schulmädchen! Oh je, ich weiß nicht, wie mich jemals in ihn verknallen konnte! Und dann noch dazu der Ärger in der Schule. Was bildet sich Mr. Grey eigentlich ein, mir eine Sechs anzudrohen, weil ich nicht beim Sezieren mitmachen möchte? Hat er etwa nie ein schwummriges Gefühl im Magen bekommen, wenn ein lebender Wurm vor ihm auf dem Tisch - ein Wurm, der sich jetzt eigentlich munter durch die Erde bohren sollte? Hatte er niemals Gewissensbisse, ein sich hilflos kringelndes Wesen aufzuschlitzen, nur um zu sehen, wo seine Ausscheidungsorgane liegen? Das ist nicht nur ekelhaft, widerlich und schleimig, sondern schlicht und einfach grausam. Es gibt sowieso nicht mehr viele Grünflächen in der Stadt... müssen wir da auch noch die letzten paar Würmer, die man hier findet, eigenhändig töten? Sollen sie doch in der Erde bleiben, wo sie hingehören! Verdammt, ich halte das langsam nicht mehr aus! Wütend gehe ich hinüber zum Spiegel und greife nach einer Bürste. Mit aller Kraft ziehe ich sie durch meine Haarmähne, und spüre, wie die Wut mit jedem Strich mehr aus mir heraus gebürstet wird. Das tut gut! Es war auch dringend nötig. Seit heute morgen habe ich mein Haar nicht mehr gekämmt. Gleich nach der Schule bin ich zu Alchemy gegangen, um mit ihr gemeinsam traurige Musik zu hören. Und von da an war ich kein einziges Mal draußen. Ich hatte Angst, dass der Wind mich an Elyons Lachen erinnern würde… oder dass er wie ein trauriges Seufzen klingt. Dein Seufzen… so wie es erklang, als ich meinen Ausstieg verkündete! Verdammt, wieso geht mir dieses Seufzen nicht aus dem Kopf? Ich meine, das hätte dich doch eigentlich nicht überraschen sollen! Ich wollte von Anfang an nichts mit dieser Wächterinnensache zu tun haben. Du hättest jederzeit mit meinem Ausstieg rechnen müssen… besonders nachdem du zugelassen hast, dass meine beste Freundin von den Mächten des Bösen vereinnahmt wurde! Und trotzdem bedauerst du es - du bedauerst es noch… Womit hab ich das nur verdient? Ich will nicht, dass du mich bedauerst. Das erinnert mich nur daran, wie scheußlich ich zu dir war. Von Anfang habe ich dir immer misstraut. Als du an diesem Abend bei Hay Lin als unsere Anführerin auserwählt wurdest, konnte ich nicht verstehen, was sich das Herz von Kandrakar dabei gedacht hatte. Doch schon bald musste ich begreifen, wie berechtigt seine Wahl gewesen war. Du warst eine großartige Anführerin… entscheidungsfreudig, aber vorsichtig; mutig, aber auch unheimlich schüchtern; klug, aber auch manchmal von erstaunlicher Naivität… Gerade du hättest merken müssen, wie eifersüchtig ich auf dich war. Ich hätte mein Leben dafür hingegeben, von allen so aufrichtig respektiert und geliebt zu werden, und du… du bemerktest nicht einmal, welches Glück du hattest. Keine von den Anderen zögerte, als es darum ging, dich aus den Kerkern von Meridian zu retten… und das, obwohl sie dich erst kurze Zeit kannten. Wer weiß, ob sie das auch für mich getan hätten? Vielleicht, wenn Elyon bei uns gewesen wäre... vielleicht wenn auch sie bei unserem Team hätte mitmachen können! Ich würde sie jederzeit für Irma eintauschen. Aber stattdessen musste ich sie vernachlässigen, musste sie mehr als einmal versetzen. Und du? Du konntest jederzeit bei den Menschen sein, die dich mochten - und schienst es nie so richtig zu genießen! Das war so unfair! Sind das alles keine Gründe, eifersüchtig auf dich zu sein? Nein… nein, sind es nicht. Es gibt keine vernünftige Rechtfertigung für Eifersucht... außer mein mangelndes Selbstvertrauen. Das hat Taranee auch gesagt. Sie erkannte als Einzige, wie neidisch ich dich immer ansah, und wie sehnsüchtig meine Blicke waren, wenn du wieder einmal das Herz von Kandrakar hervorholtest. Sie wusste, wie sehr mein Selbstbewusstsein darunter litt. Sie begriff, dass ich nicht das Herz von Kandrakar wollte, sondern alles das, was es mit dir teilte… Bevor du kamst, hatte ich immer den Eindruck, vollkommen zu sein… doch das war eine verdammte Illusion! Mein Hand hält mit dem Bürsten inne, und ein Seufzen entfährt meinen Lippen. Ich versinke schon wieder in Gedanken, und beginne, mir selbst etwas vor zu jammern. Das mache ich doch sowieso ständig … jammern, heulen, mich beklagen, immerzu, in einem Fort, über alles Mögliche! Ewig bin ich unzufrieden, und nie erkenne ich, was für ein Glück ich eigentlich habe. Selbst in meinem Tagebuch stehen nichts weiter als Klagen und Vorwürfe, und wie schlecht es mir die ganze Zeit geht. Ich höre mich schon an wie eine alte, verknöcherte Jungfer! Dabei sollte ich mir lieber über dich Gedanken machen, und warum überall in meinem Tagebuch dein Name weggekillert wurde. Ich lasse die Bürste zu Boden fallen und gehe hinüber zu meinem Bett, wo es aufgeschlagen daliegt. Fast, um mich zu vergewissern, dass es kein Traum ist, blättere ich noch einmal Seite für Seite durch und betrachte die leeren Stellen zwischen den Worten. Ich kann mir gut vorstellen, dass du das Tagebuch gelesen hast, als du hier warst, doch der Grund für diese Herausstreichungen ist mir ein Rätsel. Sollte ich stattdessen einen anderen Namen hineinschreiben? Ist das ein Zeichen, dass ich meine Einstellung ändern soll? Oder soll ich aufhören, mich an dich zu erinnern? Was würde das denn bringen? Du bist einer jener Menschen, die immer aus dem Rahmen fallen, egal was sie tun. Niemand könnte dich vergessen! Außerdem sehen wir uns doch spätestens am Montag in der Schule. Das ist doch wirklich kein vernünftiger Grund! … Und wenn es nun gar keinen vernünftigen Grund gibt... wenn deine Gründe so persönlich, impulsiv und flüchtig sind, dass ich sie gar nicht in Erwägung ziehen, geschweige denn nachvollziehen kann? … Könnte es sein, dass du nicht mehr rational denkst… weil du vor Verzweiflung gar nicht mehr klar denken kannst? … Und könnte es sein… dass du bereit bist, den letztmöglichen Schritt zu tun? Okay, manchmal, wenn ich die Eifersucht nicht mehr ertragen konnte, wünschte ich mir, du hättest nie existiert, und es tat mir hinterher nicht einmal leid. Aber ich würde doch nie im Leben… ich meine, du kannst nicht so verzweifelt sein… Ich höre ein leises Sirren, und ein schwaches Glühen erleuchtet die Finsternis meines Zimmers. Ich senke das Buch und entdecke ein halb von den Falten meiner Bettdecke umhülltes Ding, das offensichtlich unter dem Buch begraben lag. Eine lange, dünne Kette liegt zusammengerollt daneben. Ich traue meinen Augen nicht… ich nehme das Ding bei der Kette und hebe es hoch. Tatsächlich… es ist das Herz von Kandrakar! Du kannst es nie und nimmer verloren haben, du trägst es doch ständig um deinen Hals… es sei denn, du wolltest es da lassen! Ein grausamer Gedanke frisst sich in mein Hirn. Er ist so grauenvoll, dass ich sofort zum Handy greife (das die meiste Zeit über an ist) und deine Nummer in meiner Schnellwahlliste suche. Es wundert mich nicht, dass sie nicht mehr drin steht. Zum Glück habe ich ein Telefonbuch in meinem Zimmer. Ich führe ein kurzes Gespräch mit deiner Mutter. Ihre sorgenvolle Stimme bestätigt meinen Verdacht: du bist ohne ein Wort verschwunden und hast dich seit ein paar Stunden nicht mehr gemeldet! Außerdem liegt dein Handy, ohne dass du normalerweise niemals rausgehst, zu Hause… zusammen mit einem kleinen Zettel, auf dem du ihr für irgendetwas „Danke“ sagst. Auch Irma, Taranee und Hay Lin haben schon bei ihr angerufen. Bei ihnen ist etwas Ähnliches passiert. Es ist fast so, als wolltest du noch einmal deine Angelegenheiten regeln… bevor du stirbst. Ist dieser Gedanke so weit hergeholt? Ich jedenfalls möchte es nicht auf Versuch und Irrtum ankommen lassen. Leise flüstere ich dieses komplizierte Wort, das einen Astralzwilling erschafft, und weise ihn an, ins Bett zu gehen und dort zu bleiben, bis meine Mutter oder Schwester ihn aufweckt. Dann hebe ich das Herz in die Höhe und vollziehe die Verwandlung. Ein letztes Mal drehe ich mich zu meinem Bett um, und zu meinem Astralzwilling, der dort friedlich schläft. Ich wäre liebend gerne an seiner Stelle. Doch diese Sache ist zu wichtig, um sie jetzt ruhen zu lassen… Wenn du dich nur wegen mir und meiner Selbstsucht umbringen würdest, könnte ich mir das niemals verzeihen. Und ich weiß, dass die Anderen würden es auch nicht. Deshalb muss ich es allein durchziehen… ohne ihre Hilfe. Es wird Zeit für dich und mich... Zeit, dass wir uns der Wahrheit zu stellen. Kapitel 4: Kapitel 4: Vengeance ------------------------------- (Cornelias Point of View) Elf Uhr nachts. Der wolkige Nachthimmel über Heatherfield. Der eisige Wind nimmt fast Orkanstärke an. Nebel aus kondensiertem Dampf schweben zwischen den schwarzen Wolken wie silbrige Spinnfäden. Ein Sturm bahnt sich an. Vielleicht hätte ich den Wetterbericht lesen sollen, bevor ich mich auf die Suche nach Dir begebe. Aber andererseits… hätte es etwas genutzt? Auf das Wetter habe ich so oder so keinen Einfluss. Soll ich nur deswegen meine Mission abbrechen? Ich gebe zu, ich bin nahe daran, ‚ja’ zu sagen! Seit eineinhalb Stunden bin ich am Himmel über Heatherfield unterwegs und habe noch kein Lebenszei… kein Zeichen von dir entdeckt. Egal, wo ich war, ob an Brücken, Autobahnen oder Eisenbahnschienen … nirgends ist eine Spur von dir zu finden. Nun gut, das sind nur die offensichtlichsten Plätze für einen Selbstmord… theoretisch könntest du überall sein. Du brauchst nicht mehr als ein Messer, ein Seil oder ein Nervengift. Und da du anscheinend von allen vergessen werden willst, ist es sogar gleich, wo du es tust. Du kannst es in einer dunklen Gasse oder irgendwo im Stadtpark machen… überall, wo man dich nicht sofort entdecken wird. Nicht mal ein Abschiedsbrief wird zu finden sein Verdammt, du könntest dich sogar einfach im Parkteich ertränken! Wie soll ich dich da jemals finden? Warum mache ich das überhaupt? Glaube ich tatsächlich, dass du lebensmüde genug für einen Selbstmord bist? Sind das nicht einfach aufkeimende Schuldgefühle, die ich durch blindes Handeln zu kompensieren versuche? Lange halte ich diese Kälte jedenfalls nicht mehr aus. Hier, so hoch am Himmel, ist sie fast nicht zu ertragen. Meine Flügel… sie sind schon ganz blau vor Kälte… schön, sie sind immer blau… aber das… meinte ich… nicht… mein Kopf… Gott, fühlt der sich… schwer an… und meine Hände… sie kribbeln so fürchterlich… wie gern wäre ich jetzt zu Hause… bei meiner Mum… oder bei Lilian… und Dad… oder bei Dir… Verdammt, ich muss unbedingt zurück zur Erde! Diese Wächterinnen-Outfits mögen ja ganz kuschlig und warm sein, aber sie sind nicht für solche Temperaturen gemacht. Also halte ich langsam auf den Boden zu, die Flügel leicht angewinkelt, so dass ich mich vom Wind treiben lassen kann. Auf der dunklen Straße unter mir wird eine kleine Bank sichtbar, auf die ich nun zusteuere. Als ich genau über ihr schwebe, lasse ich mich nach unten sinken. Noch während des Sinkflugs erhebt sich das matt leuchtende Herz von Kandrakar von meiner Brust. Mitten in der Luft wandelt sich mein Aussehen, und ich kehre zu meiner wahren Gestalt zurück, bevor ich endgültig auf der Bank absetze. Gott sei Dank, geschafft! Endlich wieder festen Boden unter den Füßen! Das Fliegen konnte ich noch nie richtig ausstehen. Hier oben ist alles so unwirklich, so fern… ich bleibe lieber bei dem, was ich kenne. Aber natürlich wird das nicht immer so bleiben können. Ich beschließe, meine Suche an ein paar für uns bedeutsamen Orten fortzusetzen… vielleicht an unseren geheimen Übungsplätzen oder auf dem Dach der Schule… einfach einen Ort, mit dem du schlechte Erfahrungen verbindest. Auf einmal höre ich ein düsteres Donnern in meinem Rücken. Schwere Räder, die mit Höchstgeschwindigkeit auf rostigen Stahlschienen entlang gleiten. Ich drehe mich um und erblicke in nicht allzu weiter Ferne eine alte, nicht sehr stabile Brücke. Tatsächlich donnert gerade ein Zug in vollem Karacho darüber hinweg. Mein Gott, ob das… ist da nicht eben etwas runtergefallen? Und gerade diese Brücke habe ich vorher nicht untersucht! Sofort richte ich das Herz von Kandrakar in ihre Richtung. Es leuchtet hell auf! Es erkennt seine alte Trägerin. Leise flüstere ich das Stichwort: „Wächterinnen, seid vereint!“ Das ist die einzige Möglichkeit, dich vor dem Sturz zu retten… sofern du noch unversehrt bist. Wenn es nur nicht so schrecklich lange dauern würde… Nanu… was ist denn jetzt los? Wieso beginnt die Verwandlung nicht? Das Herz leuchtet doch… vorhin hat es doch auch geklappt! Was zum Teufel noch mal passiert hier? Ich komme nicht dazu, es herauszufinden, denn in diesem Moment legt mir jemand von hinten eine Hand auf den Mund und reißt mich zu Boden. (Will’s Point of View) Deine Gegenwehr ist stark, Cornelia. Stärker, als ich erwartet hatte. Ganz so verwöhnt wie ich dachte scheinst du doch nicht zu sein. Dein Körper mag zwar schlank und biegsam sein, aber er ist nicht schwach. Schön, Gegenwehr macht das Ganze noch reizvoller! Ich möchte sehen, wie dein Körper sich aufbäumt, wie sich deine ganze Qual darin erbricht… bis du schließlich geschwächt und kraftlos zusammensinkst. Und das, was ich mit dir vorhabe, wird eine Qual sein, das kannst du mir glauben! Das hast du dir selbst zuzuschreiben, meine Liebe: früher hätte mir vielleicht ein inniger Kuss genügt, doch je weiter du für mich in die Ferne rücktest, desto mehr wuchs mein Verlangen und meine Begierde, dir zu gehören. Ja, damals schrie jede Faser meines Körpers nach deiner Berührung. Keine Nacht verging, in der ich nicht davon träumte, deine elfenbeinweiße Haut zu streicheln und zu küssen. Was wir in diesen Träumen alles miteinander taten - Dinge, die ich Matt niemals erlaubt hätte, selbst wenn wir irgendwann zusammengekommen wären! Meine Jacke liegt vergessen im Rinnstein. Ich brauche sie nicht mehr. Bald werde ich sterben… aber vorher will ich deinen Körper noch so hautnah wie möglich spüren! Ich verstärke den Griff meiner Hand vor deinem Mund und führe die andere zu deinem Bauch. Ohne ihn zu berühren, gleiten meine kalten, steifen Finger nach oben unter den Saum deines Pullovers bis hoch zu deinen Brüsten. Gleichzeitig versenke ich mein Gesicht in der goldenen Haarflut, die über deinen Rücken fällt, und beiße mich in deinem Hals fest. Ja, genau: beißen. Es ist ein Kuss, ein ziemlich heißer sogar, aber ich lasse dich zugleich meine Zähne spüren. Gleichzeitig verkralle mich in dein Fleisch, reiße den lästigen BH beiseite und drücke deinen Körper mit aller Gewalt gegen meinen, damit sie eine Einheit bilden. Durch den dünnen Stoff meines Sweatshirts vollziehe ich jede deiner Bewegungen nach, wie du dich in meinen Armen windest und krümmst… und dabei immer wieder an meinem Schoß anstößt. Ohne es zu ahnen, ohne dir dessen bewusst zu sein, massierst du meinen Intimbereich und spendest mir Lust, während du nur Schmerz verspürst. Den Schmerz meiner Rache! Da plötzlich hälst du inne. Dein Körper liegt ruhig, entspannt sich fast. Was denn, willst du etwa jetzt schon aufhören? Nein bitte, mach weiter! Je länger ich meine Freude an dir habe, desto länger wirst du leben. Mach weiter, dann hast du vielleicht noch eine Chance, zu entkommen! Oder bist du zu müde? Schön, dann mache ich eben alleine weiter! Ich kann mich auch vergnügen, ohne dass du dich wehrst! Ich zieh mir schon mal die Hose aus. Warte mal, was machst du denn jetzt? Während ich am Knopf meiner Jeans herumfummele, hast du dich aufgerichtet und ringst nach Atem. Fast sieht es aus, als wolltest du wegkriechen... Oh nein, Schwester, ich bin noch nicht fertig mit dir. Voller Zorn werfe ich mich auf dich, presse dir wieder die Hand auf den Mund und taste mit meiner anderen unter dein Oberteil. Hungrig schiebe ich es weiter nach oben und lechze nach deiner offen darliegenden Brust. Du wehrst dich immer noch nicht?! Du... du weinst sogar! Hör auf! Das kannst du doch nicht machen! Du kannst dich nicht einfach in dein Schicksal fügen! Du würdest es doch nie zulassen, dass jemand anderes als du die Oberhand behält! Los! Komm und wehre dich! Früher hast du dich doch auch nicht zurückgehalten! Tritt nach mir! Beiß mir in die Hand! Mach irgendwas, nur gib mir die Möglichkeit, dich zu hassen! Wie soll ich dich denn erniedrigen, wenn du weinst? Wie soll ich dich dann töten? Dann sähe alles so aus, als wärest du das wehrlose Opfer, und ich... ich wäre ein... Wie soll ich… Wie... Aber… was ist… was machst du… wieso stößt deine Zunge da an meine Handfläche? Leckst du sie etwa ab? Bist du übergeschnappt? Du kannst doch nicht… du weißt doch ganz genau, wie demütigend das ist! Du benimmst dich ja wie ein kleines Schoßhündchen! Damit gibst du deine ganze Würde preis! Deine Würde war doch früher alles für dich! Und dennoch tust du es! Du leckst meine Handfläche mit verführerischer Leidenschaft ab, als gäbe es für dich nichts schöneres auf der Welt! Du fährst mit deiner Zunge die Linien meiner Hand entlang und weinst dabei. Damit hätte ich niemals gerechnet. Eine so liebevolle Geste hätte ich nach dem Elend der vergangenen Stunden am Allerwenigsten erwartet. Du wusstest es, du wusstest genau, dass mich das schwach und verwundbar machen würde, du Biest! Ich gebe auf! Nein wirklich, ich gebe auf! Ich habe keine Kraft mehr! Wie soll ich so etwas wie dich denn töten… so etwas derart Gemeines und Skrupeloses!? Entweder du bist genauso verzweifelt wie ich oder du benutzt einen hinterhältigen Trick, um noch einmal deine nackte Haut zu retten! Was es auch es ist… ob Mitleid oder Kränkung… es macht mich kraft- und willenlos. Ich ziehe meine Hand unter deinem Pullover hervor. Ich kann dich nicht mal mehr anfassen, ohne die leichten Schluchzer zu spüren, die deinen ganzen Leib durchzucken. Stattdessen fassen beide Hände dich an den Schultern und stoßen dich voller Verachtung in den Dreck unter der Bank. Bittere Tränen der Wut schießen aus meinen Augen, und während du mich noch ungläubig anstarrst, balle ich die klammen Fäuste in meinem Schoß. Sie ist wieder da… diese höllische Wut über mich selbst… der Zorn über meine eigene Unentschlossenheit... so gerne würde ich dich dafür windelweich prügeln, aber ich kann es nicht! Zum Teufel, ich liebe dich doch! Und egal, wie viel Leid du mir bescherst, ich werde dich immer lieben… und hassen… so wie ich mich selbst liebe und hasse. Und ich begreife jetzt, dass ich trotz allen düsteren Gedanken dich niemals hätte töten können. Ich will kein Mörder sein! Mach also mit mir, was du willst! Ich werde mich nicht wehren, genauso wenig wie du! Aber ich werde mich nicht erniedrigen und dich um Gnade anflehen. So tief werde ich nicht sinken! Niemals! Du brauchst mich gar nicht so anzusehen… mit dieser Mischung aus Mitleid, Entsetzen und Ungläubigkeit! Das kaufe ich dir nicht ab, ganz gleich, wie ernsthaft es auch wirkt! Ich will nicht mehr darauf hereinfallen! Ich möchte mich nicht wieder Illusionen hingeben, die dann noch nur zerbrechen. Daraus besteht mein Leben doch seit einiger Zeit: Hoffnung, Wut und Verzweiflung, und das alles in einem dicken Sud aus pechschwarzer Finsternis. Wozu ist denn Liebe gut, wenn sie doch nur weh tut? Freude kenne ich schon gar nicht mehr. Es ist, als hätte sich ein Schatten über mein ganzes Denken gelegt, als hätte ich jedes Vertrauen, jede Art von Vernunft verloren… als wäre alles Licht aus meinem Leben verschwunden. Wirklich alles Licht? Eine gewisse Zeit lang betrachtest du meine Weinkrämpfe mit wachsender Bestürzung, unfähig, ein liebes Wort zu sagen. Dann stehst du auf, tastest in der Dunkelheit unter der Bank herum und ziehst schließlich das Herz von Kandrakar an seiner Kette hervor. Wortlos, aber mit einem tiefen, forschenden Blick reichst du es mir. Als ich es überrascht ansehe, nickst du nur ernst. Halb versuche ich, es dir wieder zu zu schieben, doch du zeigst mit dem Finger auf dich selbst und schüttelst den Kopf. Heißt das etwa… du wolltest nie das Herz von Kandrakar? ... Aber... natürlich. Hätte ich nur eine Minute lang richtig nachgedacht, wäre alles klar gewesen! Ich hätte mich an die vielen Abenteuer erinnert, die wir zusammen gemeistert haben, an die vielen Kämpfe, die wir ausgefochten, die vielen kleinen Scherze, die wir auf deine Kosten gemacht haben. Und doch hatten wir immer unsere Freundschaft… richtige Freundschaft… an der ich aufgrund irgendwelcher Nichtigkeiten zweifelte. An all das werde ich nun erinnert. Durch das Licht des Herzens, strahlend, nicht grell, nicht heiß, aber auch nicht kalt. Ein Licht, das erleuchtet, anstatt zu blenden. Ein solches Licht in meinem Kopf hätte ich in letzter Zeit oft gebrauchen können. Es war so dunkel um mich... so dunkel... Aber es ist nicht die ganze Antwort auf meine Probleme, denn die meisten davon hatte ich auch, als ich das Herz noch bei mir trug. Es gibt selten eine eindeutige Antwort. Fast nie trägt nur einer allein die Schuld. Viel zu oft sind wir nicht Opfer äußerer Umstände, sondern unserer eigenen Engstirnigkeit, mit der wir nicht nur unsere Fehler, sondern auch unsere Stärken übersehen und uns ganz der Aggression hingeben, die in unserem Inneren schlummert. Diesen Fehler habe ich gemacht - sowohl zu deinem wie zu meinem Schaden. Dies erkennend, strecke ich die Hand nach dem Talisman aus und hänge ihn mir um den Hals. Dann nehme ich dir meine Jacke ab, die du inzwischen aus dem Rinnstein gezogen hast, und strecke dir zögernd meine Hand entgegen. Du nimmst sie… ohne zu lächeln. Es wäre so schön, wenn du jetzt noch lächeln würdest... Dann gehen wir gemeinsam die dunkle Straße entlang. Kapitel 5: Kapitel 5: Awakening ------------------------------- (Cornelia’s Point of View) Gemeinsam… und doch getrennt! So könnte man unser Nebeneinanderherwandern beschreiben. Es gefällt mir ganz und gar nicht, dieses Schweigen, das zwischen uns herrscht… Zwar fühle ich deinen Blick auf mir ruhen, zwar höre ich deine leisen Schluchzer, die alle um Vergebung zu bitten scheinen, doch irgendwie dringt nichts davon ganz zu mir durch. Zu sehr rasen meine Gedanken, als dass ich die Botschaften, die damit einhergehen, deuten könnte. Du hast versucht, mich zu vergewaltigen! Glaub ja nicht, ich hätte das nicht gespürt! Ich fühlte deine erregten Schauer, als du meinen Hintern an deinen Schambereich presstest, und ich hörte, wie dein Atem stoßweise ging, als du in mein Haar eintauchtest. Ich fühlte die Kälte deiner Hände auf meiner Brust… und den Schmerz, als du mich in den Nacken gebissen hast. Dir schien es Spaß zu machen, mir diese schrecklichen Dinge anzutun. Ich kann es mir nur mit Zorn erklären. Du empfandest Zorn auf mich… weil ich der Grund war, weshalb du dich umbringen wolltest. Zorn, der dich aufputschte und zu schrecklichen Taten trieb. Doch warum Vergewaltigung? Du hättest mich auch einfach umbringen oder zusammenschlagen können. Wieso diese Art von Folter? Was wolltest du mir damit zeigen? Sollte es Demütigung sein… oder sogar etwas noch Schlimmeres? Während ich noch nachdenke, fällt etwas auf meinen Kopf. Gleich darauf ein zweites und drittes Mal. Wassertropfen? Oh nein, das wäre ja auch zu schön gewesen! Es hagelt! Und so, wie der Himmel aussieht, wird es ein langer Hagelschauer werden. Da ist an Nachhausefliegen nicht mehr zu denken. Wir müssen uns irgendwo unterstellen. Links von der Straße, auf der wir gerade gehen, eingequetscht zwischen einer Kunstgalerie und einem Antiquariat, liegt eine kleine Kneipe mit Pension, die ganz im Stil eines englischen Pubs eingerichtet ist. Sie ist noch geöffnet, scheint aber selbst für diese Tageszeit nicht gerade gut besucht zu sein. Umso besser, dann brauchen wir nicht so viele neugierige Blicke zu ertragen! Außerdem können wir beide etwas Warmes zu trinken gebrauchen. Und eine gute Sitzgelegenheit wäre auch nicht schlecht. Die haben wir jedenfalls reichlich, denn als wir den Pub betreten, stellt sich heraus, dass kein einziger Gast da ist. Nur der Wirt steht mit gleichgültiger Miene hinter seinem Tresen und poliert zum wahrscheinlich hundertsten Mal seine Gläser. Er wirkt ziemlich erstaunt, dass so spät am Abend zwei junge Mädchen an seinen Tresen kommen und Kakao bestellen. Während der Wirt die Milch ansetzt, setzen wir uns an einen Tisch in der Ecke. Besser gesagt: ich setze mich. Du lässt dich fallen. Die Minuten ziehen sich hin. Die Kakaotassen stehen schon längst vor uns, doch wir rühren sie nicht an. Das Schweigen dauert fort. Ich weiß auch gar nicht, was ich dir sagen soll. Wenn ich dir wenigstens in die Augen blicken könnte, um zu ergründen, was dich bewegt… wenn ich den traurigen Blick erwidern könnte, den du mir schenkst… Doch es ist natürlich klar, dass ich das nicht kann. Ich würde es ja doch nicht verstehen... Auf einmal regst du dich. Du löst deine Arme, die du bisher vor der Brust verschränkt hattest, und starrst mich an. Ich schaue weg. Da greifst du in die Brusttasche deiner Sportjacke und ziehst ein Klappmesser hervor. Ohne ein Wort zu sagen, klappst du es aus und schmeißt du es vor mir auf den Tisch. Die Klinge ist lang und schmal, funkelt hinterlistig im fahlen Licht der alten Laternen. Dieses Funkeln erzählt seine ganze Geschichte. Du wolltest mich umbringen! Du konntest es nicht ertragen, alleine in den Tod zu gehen, deshalb wolltest du mich mitnehmen! Ich kann es nicht glauben. Ich hätte dich für vieles gehalten, aber nicht für eine Mörderin! Verdammt, was habe ich denn getan, dass du dermaßen zornig auf mich bist? Was habe ich getan, dass dich zum Selbstmord treibt? Warum machst du mich dafür verantwortlich? Jeder ist für sein Schicksal selber verantwortlich. Dass ich auf dich eifersüchtig war, ist noch lange kein Grund, mich zu töten, oder? Zum Teufel, sag doch etwas! Gib eine Erklärung ab, führe irgendein verzweifeltes Selbstgespräch, klage mich meinetwegen in aller Öffentlichkeit an, aber sag endlich etwas! Ich will endlich wissen, was da unter deinem süßen, roten Wuschelkopf vorgeht… Nun bin ich es, der dich ansieht, während du ins Leere starrst. Zwar wirfst du mir kurz einen Blick aus dem Augenwinkel zu, doch das Einzige, was du zu sehen bekommst, ist die Angst in meinem Gesicht. Wieder beginnst du zu weinen, wortlos und von Krämpfen geschüttelt. Verdammt, ich halte das nicht mehr aus! Mit einem mehr als nur miserablen Gefühl im Bauch stehe ich auf und renne zur Toilette, während mir der Wirt komisch hinterher schielt. Dort angekommen, beginne ich rastlos auf und ab zu tigern, fieberhaft über einer Lösung unseres Problems brütend. Ich habe keine Ahnung, wie ich dir helfen könnte... wie ich das, was ich deiner Meinung nach getan habe, wiedergutmachen soll! Ich bin mit dieser Situation vollkommen überfordert, denn ich weiß ja nicht einmal, was ich so Schreckliches getan habe! Los, Cornelia, streng deine grauen Zellen an! Irma sagt doch auch immer, dass da unter deiner blonden Haarflut irgendwo welche sein müssen. Versetz dich in Wills Lage! Sieh die Angelegenheit nur einen Moment lang aus ihrer Perspektive! Sie war die Neue in der Klasse. Auf ihr lasteten sowieso einige Erwartungen. Mädchen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, versuchten sich mit ihr anzufreunden… Mädchen, die zufälligerweise zu deiner Clique gehörten. Du mochtest es nicht, dass du plötzlich nicht mehr im Rampenlicht stehen konntest, also hast du sie abgelehnt… und sie spürte das. Sie wusste, dass sie, wenn sie zu dieser Clique gehören wollte, auch deine Erlaubnis dazu brauchte. Wie es bei deinem verdammten Stolz nicht anders zu erwarten war, scheiterte sie. Ist es da verwunderlich, dass sie deprimiert war? Dass sie alles Mögliche versuchte, um es dir recht zu machen, während von dir nicht das geringste Zeichen von Zuneigung zurückkam? Ich muss zugeben, dass ich eine Zeit lang fast geneigt war, dir das zu zeigen. Ich weiß, das wiegt nicht viel, aber manchmal, an meinen besseren Tagen, war ich froh darüber, deinen feuerroten Kopf im Gewühl der Schüler ausmachen zu können, dass ich sogar stolz darauf war, mit dir befreundet zu sein. Ich meine, wer hat schon alles eine Freundin, die gleichzeitig die Anführerin einer Gruppe Hexen ist, die die Welt vor dem Bösen beschützen? Sicher, ich war von dieser Sache nicht so begeistert wie die anderen, aber es gab Tage, an denen fühlte ich mich tatsächlich für dich verantwortlich… so wie eine Freundin es normalerweise sein sollte. Der Tag, an dem ich für dich diese Geburtstagfeier startete, war einer davon. Ich war ziemlich beleidigt, als du dich überhaupt nicht darüber zu freuen schienst. Und so nährte es nur mehr den Neid und die Enttäuschung, die tief in mir brodelten und die schon wenige Tage später wiederkehrten. Du bist lediglich meiner ewigen schlechten Laune zum Opfer gefallen… Aus der Gaststätte dringt plötzlich ein verdächtiges Poltern an mein Ohr. Sengend heiß schießt es mir durch den Kopf, dass du immer noch mit einem Messer dort draußen sitzt. Nichts hindert dich daran, hinaus zu rennen, um es dir doch noch in die Brust zu stoßen! Blitzartig verlasse ich die Toilette und steuere auf unseren Tisch zu... Doch du bist längst verschwunden! Ich feiges Arschloch habe dich wieder einmal allein sitzen lassen! Allmächtiger, trete mir dafür in meinen übergroßen Hintern! Da fällt mir auf einmal ein rechteckiger, schwarzer Kasten links von der Theke ins Auge… und du sitzt davor. Ein Klavier! Ein altes, kastenförmiges Klavier! Zu Unterhaltung der Gäste nehme ich an. Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals von Klavierspielen gesprochen hast. Obwohl man dein trauriges Herumklimpern auf den Tasten auch nicht unbedingt als Spielen bezeichnen kann. Es wirkt eher, als versuchtest du damit Gefühle auszudrücken, die sich mit Worten nicht annähernd beschreiben lassen. Vielleicht kann ich dir ja wenigstens dabei helfen… Ich schiebe deine Hand beiseite und setze mich selber zur Hälfte auf den Hocker. Das Stück, dessen Partitur du vor dir ausgebreitet hast, ist nicht gerade einfach, aber ich kenne es. Ich habe es selber einmal gelernt, damals, als meine Schwester noch nicht geboren war und ich Klavierunterricht hatte. Ich war kein Wunderkind, aber ich war gut genug, mir einige Lieder selbst beizubringen. Dann entdeckte ich das Schlittschuhlaufen für mich, und es entsprach mehr meinem Geschmack. Bald ging ich voll darin auf, der Unterricht fiel weg, und seitdem habe ich kein Klavier mehr angefasst. Eigentlich ziemlich schade! Papa und Mama waren immer so stolz, wenn ich ihnen etwas vorspielte, und es hat mir manchmal ziemlich großen Spaß gemacht, auch wenn es schwer fiel. Nun gleiten meine vor Kälte steifen Finger wieder über die Elfenbeintasten, fast krampfhaft nach den richtigen Tönen suchend. Die Erinnerung kehrt nur langsam wieder, und mein Verstand gleitet ständig woanders hin. Ich könnte mich wesentlich besser konzentrieren, wenn du nicht neben mir auf den Hocker gequetscht wärst. Ich weiß nicht warum, aber deine Nähe irritiert mich. Dein leiser Atem streift mir halb am Ohr vorbei und rührt mich auf eine Weise an, die ich nicht erklären kann… irgendwie… tröstet es mich. Dein feiner Atem, der mit der Musik wächst und fällt; deine rote Wange, die fast auf meiner Schulter liegt; deine Augen, die den Bewegungen meiner Finger folgen… du wirkst so viel ruhiger als vorhin. Etwa in der Mitte des Stückes legst du deine Hand an mein Handgelenk und streichelst es. Ich erschrecke leicht, und du zuckst zurück. Schon wieder treten kleine Tränen aus deinen Augen. Der Blick, den du mir dabei zuwirfst, brennt durch Mark und Bein. Er zeugt von Traurigkeit und Sehnsucht. Du seufzst, genau wie an jenem Tag, als ich beschloss, aus der Gruppe auszusteigen. Wahrscheinlich sprechen auch meine Augen Bände und zeigen die Angst, die ich empfinde. Alles an dir bittet mit Mitleid heischender Zärtlichkeit um Vergebung… und nur ich allein habe in der Hand, ob du dir selbst vergeben kannst. Nein, das geht nicht! Nenn mich ruhig feige und verantwortungslos, aber ich spüre, dass diese Abhängigkeit falsch ist! Du bist noch viel zu verwirrt, viel zu sehr von Schuld zerfressen! Wir wissen beide, dass ich genauso viel Schuld an unserer Lage habe. Und dennoch hängt dein Seelenfrieden davon ab, ob ich dir verzeihe… Fast, als wärst du verliebt in mich… Warte mal, habe ich das eben wirklich gedacht? Du - verliebt in mich? Natürlich! Trauer… Trauer um eine große Liebe… darum geht es auch in dieser Komposition, die du dir ausgesucht hast… Das war es also, was dich in den Selbstmord trieb. Nicht nur der Verlust deines Selbstvertrauens als Anführerin oder bloße Selbstvorwürfe; nein, unerwiderte Liebe! Und die Tatsache, dass ausgerechnet das Mädchen, dass du so innig liebtest, dich wie Dreck behandelte! Es ergibt alles einen Sinn! Endlich kann ich deine Gedanken nachvollziehen! Du musst Qualen gelitten haben... immer wieder in mein Gesicht zu sehen und darin ewig nur Gleichgültigkeit und Verachtung zu erblicken... ich schäme mich so... und trotzdem kann ich nicht anders, als erleichtert zu sein. Ist das nur Erleichterung, dass ich anscheinend den richtigen Grund für deine Depression gefunden habe? Sollte mich das nicht eher irritieren oder verängstigen? Du warst verliebt in mich, und du liebst mich noch immer! Das kann ich doch nicht einfach so gutheißen. Du weißt, das ich keine Lesbe bin… dass ich niemals eine war. Ich war immer so, wie man es von ihr erwartet hat. Ich habe für einen Jungen geschwärmt, den alle meine Freundinnen irgendwie süß fanden, und ich war mit Mädchen zusammen, für die man einfach nichts anderes als Freundschaft empfinden konnte. Doch nie zuvor habe ich ein Mädchen getroffen, das so seltsam ist wie du… so leidenschaftlich und unvorhersehbar. Ein Mädchen, dass in anderen das Beste zum Vorschein bringt, während es das bei sich selbst nicht sehen kann. Irma, Taranee, Hay Lin, Elyon… sie alle haben das so viel früher kapiert als ich! Und dennoch… Es ist nicht, dass ich Lesben verabscheue. Mich stört nicht mal, dass ich eigentlich für Caleb schwärme. Aber könnte ich mich selbst dazu zwingen, in dieser Art zu empfinden, nur um dich davon abzuhalten, wieder in deine Depressionen zu verfallen? Falls ich jetzt auf deine Liebe eingehe – und es gibt keine Garantie, dass ich das tue - und es später wieder bereue, würde dich das erneut aus dem Lot werfen. Du stündest erneut am Rand der Verzweiflung… und wärst dem Selbstmord genauso nahe wie vorher. Ich möchte nicht deinen Tod auf dem Gewissen haben… Ein Räuspern erweckt mich aus meinen Grübeleien. Der Wirt! Er bedeutet uns, dass bald Sperrstunde ist. Wenn wir länger bleiben möchten, müssten wir ein Zimmer für die Nacht mieten. Vielleicht wäre das wirklich das Beste: eine Nacht darüber schlafen. Zusammen. Fernab von allem. Bei diesem Hagel können wir sowieso nirgendwo anders hin. Kurz unterbreche ich das Klavierspiel, um das Zimmer für uns zu buchen und deine Mutter anzurufen. Ich sage ihr, dass es dir gut geht, du aber heute abend nicht mehr nach Hause kommst. Als ich das Gespräch gerade beenden will, signalisierst du mir, dass du auch noch mit ihr sprechen willst, und so reiche ich dir mein Handy. Wir tauschen einen kurzen, aber unheimlich intensiven Blick miteinander. Deine braunen Augen leuchten, und deine Lider blinzeln nervös. Deine Anspannung ist dir deutlich anzumerken, aber ebenso, dein Versuch, Mut zu fassen… Sicherheit in meinen Augen zu finden… Den genauen Wortlaut deines Gesprächs höre ich nicht mit an. Es klingt so, als bestürze dich deine Mutter mit tausend Fragen und du könntest ihnen nur mit Mühe antworten. Einige Sekunden lang ringst du mit einem Satz, den du ihr gegenüber schon lange loswerden wolltest. Schließlich gibst du zu, dass du homosexuell fühlst und dass du Hilfe brauchst, um mit all deinen Selbstzweifeln und Depressionen klar zu kommen. Der Rest deiner Worte ist so leise, dass du beim Sprechen kaum die Lippen bewegst, doch dein entspanntes Gesicht sagt alles Nötige. Deine Bewegungen werden sanfter, fließender, als ströme die Kraft mit jedem Wort in dich zurück. Ich wünschte, ich könnte das auch. In diesem Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher. Du hast wirklich eine gute Mutter, auch wenn du das selbst nicht erkennst! Du kommst mit gesenktem Kopf zu mir zurück, aber du wirkst wesentlich hoffnungsvoller. Du lächelst flüchtig, und das erste Mal an diesem Abend können wir einander ohne Angst ins Gesicht schauen. Zugegeben, ich habe mir schon oft gedacht, dass du hübsch bist, aber noch nie habe ich dich so aufmerksam betrachtet wie gerade jetzt. Immer wieder fallen mir neue Details an deinem Gesicht auf, die ich vorher nie für voll genommen habe. Ich weiß nicht, woher dieses plötzliche Interesse kommt, aber es berauscht mich wie ein Fruchtcocktail, diese kleinen Besonderheiten bei dir zu entdecken, und zu sehen, wie dich meine Aufmerksamkeit rot werden lässt. Ohne nachzudenken ergreife ich deine Hand und ziehe dich zurück zum Klavier. Noch einmal spiele ich das Klavierstück, unser Lied ohne Worte, und noch einmal sitzt du ergriffen neben mir und lauschst. Noch einmal ergreifst du mein Handgelenk, und diesmal reagiere ich angemessen darauf. Ich werde rot. Langsam lasse ich mein Handgelenk durch deine Finger zurück gleiten, um es dann so zu drehen, dass unsere Handflächen aufeinander liegen. Deine Augen weiten sich vor Staunen, dann lächelst du und streichst mit deinen Fingerspitzen über meine Handlinien. Ich erwidere es, und so verbringen wir scheinbar eine Ewigkeit mit diesem faszinierenden Spiel. Ich weiß selbst nicht, warum uns dieses einfache Handstreicheln dermaßen fesselt, aber es fühlt sich gut an… sehr gut. Und dann, ganz plötzlich, finden sich unsere Lippen dicht voreinander schweben wieder. Beide haben wir keine Ahnung, wie sie dort hingekommen sind. Du zögerst verständlicherweise, und auch ich bin mir nicht sicher, ob ich mit meinen Gefühlen schon so weit bin. Doch dann lege ich meine freie Hand an dein Kinn und ziehe dich zu mir heran. Ein ungeahntes Kribbeln durchfährt mich. Verwunderung, Erstaunen und Zufriedenheit machen sich gleichermaßen in meinem Körper breit, und trotz meiner Unsicherheit schließe ich meine Lippen noch einmal über deinen Mund und ziehe sie erst nach einer Minute wieder weg. Unsere halb niedergeschlagenen Augen öffnen sich, und wir blinzeln uns beide verblüfft an. Keiner von uns hat wahrscheinlich geglaubt, dass es so einfach sein würde. Dann endlich bemerken wir die Stille um uns herum. Der Wirt ist schon lange verschwunden. Die Uhr schlägt inzwischen Mitternacht. Wir trinken noch schnell unsere mittlerweile nicht mehr heiße Schokolade und steigen dann, Arm in Arm, die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Auch für uns wird es nun Zeit, ins Bett zu gehen. (Will’s Point of View) Allerdings hat niemand gesagt, dass es nur ein Bett sein würde. Ob der Wirt irgendetwas geahnt hat? Quatsch, wie sollte er denn? Nein, ich glaube, es gibt nur dieses eine Zimmer. Vielleicht benutzt er es für gewöhnlich als Ausnüchterungszelle. Dann ist es allerdings die gemütlichste Zelle, die ich je gesehen habe. Ein sauberes, mit dicken Federdecken versehenes Bett, bunte Bilder an den Wänden, geräumige Nachtschränkchen, eine Waschschüssel und sogar ein Teppich. Aber eben nur ein Bett. Aus dem Augenwinkel spähe ich zu dir hinüber. Du bist zwar leicht errötet, doch sonst scheinst du keine Probleme damit zu haben. Kann das wirklich wahr sein? Du willst mit mir das Bett teilen? Ich scheine mich tatsächlich gewaltig in dir geirrt zu haben. Nachdem erstmal der Knoten in uns geplatzt war, ging alles ganz schnell… und dennoch frage ich mich, ob es ohne meinen Selbstmordversuch anders gekommen wäre. Wer weiß das schon? Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn ich niemals solche Gefühle für sie entwickelt hätte? Vielleicht war es für uns beide eine Erleuchtung. Mehr als alles andere habe ich das Bedürfnis, zu erfahren, was du über mich denkst, und alle die Ängste, Sehnsüchte und geheimen Träume mit dir zu teilen, die ich auf der Eisenbahnbrücke hatte. Apropos, meine Füße sind immer noch ganz schön klamm, und neben vielen blauen Frostbeulen sind sie auch noch mit kleinen Pflanzenresten, Schmutzteilchen und Straßenschlick bedeckt. Während du freundlicherweise wegschaust, ziehe ich mich aus und wasche meinen Körper mit warmem Wasser aus der Schüssel. Wohlige Schauer befallen mich, als der heiße Waschlappen meine kalte, abgestumpfte Haut berührt. Überall, besonders auf meinem Rücken, bildet sich eine prickelnde Gänsehaut. Ob du das wohl genauso prickelnd findest? Ich weiß, ich weiß - es würde einem Wunder gleichen, wenn wir sofort nach unserem ersten Kuss miteinander schlafen würden. Die Gelegenheit wäre günstig: Ein weiterer Kuss, ein paar sanfte Zärtlichkeiten, eine zärtliche Massage meinerseits… und schon wäre es um uns geschehen. Trotzdem – ich warte lieber noch ein bisschen. Zuviel ist noch ungeklärt, und man soll sich bekanntlich mit dem ersten Mal ein bisschen Zeit lassen. Nachdem ich mit dem Waschen fertig bin und wieder in meine Unterwäsche geschlüpft bin, bist du an der Reihe. Auch ich schaue zur Seite, während du dich wäscht, obwohl ich liebend gerne einen Blick auf deinen nackten Rücken werfen würde… auf deinen Hintern… deine schmalen Schultern… Das Alles könnte jetzt mir gehören. Heißes Verlangen lodert in mir auf, und ich bin nahe dran, aufzustehen und meine Arme um dich zu werfen. Doch etwas hindert mich daran… ein Gefühl, dass ich im Zusammenhang mit dir noch nie gefühlt habe: Verständnis. Vielleicht habe ich das vorhin gefunden, als ich so lange in deine ernsten, mandelförmigen Augen blicken durfte. Plötzlich fängst du an zu reden, noch während du in deine Unterwäsche steigst. Du erzählst mir von deinen Gefühlen. (Cornelia’s Point of View) Caleb mag ja ganz süss sein, und natürlich ist er auch tapfer und heldenhaft und versteht es, für seine Überzeugungen zu kämpfen. Doch wenn der Kampf vorbei ist, was würde er dann machen? Würde er allein ein ganzes Königreich verwalten wollen? Könnte er ein normales Alltagsleben führen, sich Lehrern, Gesetzen oder Arbeitgebern unterordnen? Könnte er ein Mensch sein unter vielen? Niemals! Er würde daran zerbrechen, nicht mehr der todesmutige Streiter für Meridian sein zu können. Du hast genau dieselben Vorzüge wie er, doch du würdest nicht zerbrechen. Du kämpfst jeden Tag mit dem Leben und mit deinen inneren Dämonen, doch du tust es, um glücklich zu sein, nicht um des Kampfes selbst Willen. Du hast bis jetzt ein schweres Leben gehabt und wirst es auch weiterhin führen müssen. Die Welt ist, wie sie ist, und eine andere, bessere gibt es nicht. Doch du bist stark genug, um dich ihr zu stellen. Das musst du dir jeden Tag vor Augen halten. Du darfst niemals mehr vergessen, dass du das Wertvollste hast, was ein Mensch sich wünschen kann. Und ich ebenso. Solche und ähnliche Worte sprudeln mir plötzlich von den Lippen, schnell und ungestüm, mit einer Leidenschaft, die ich sonst nicht von mir kenne. Ich rede und rede, nur um das Lächeln auf deinem Gesicht zu erhalten, zuzusehen, wie es sich vergrößert. Und so, während draußen der Hagelsturm tobt, sitzen wir nebeneinander, Hand in Hand, reden, machen kleine Scherze und reden einfach, reden, als ginge es um unser Überleben. Man kann es förmlich an deinem Gesicht ablesen, wie sehr dein Vertrauen und deine Zuneigung zu mir mit jedem Satz wachsen und gedeihen wie eine Blume. Wie die erste Blume, die nach einem Brand wieder zu sprießen beginnt. (Will’s Point of View) Jetzt, wo du alles vor mir ausbreitest, mir deine eigene Dummheit vor Augen führst und erklärst, dass du es nie so weit wolltest kommen lassen, erkenne ich mehr und mehr, wie einseitig ich gedacht habe. Ich erkenne es, aber ich schäme mich nicht mehr dafür. Wer einmal wirkliche Depression erlebt hat, wird wissen, wie jeder zuversichtliche Gedanke, jede glückliche Erinnerung untergeht und einem nur die schlimmsten und scheußlichsten Erinnerungen bleiben… bis die eigene dunkle Seite hervorkommt und man sogar den Lebenswillen verliert. Doch es ist falsch, sich selbst und andere dafür zu bestrafen, oder sich an Hoffnungen zu klammern, die so weit entfernt liegen, dass man darüber die Freuden, die nahe liegen, nicht mehr wahrnimmt. Du hast recht: man muss sich jeden Tag vor Augen halten, dass das Leben, auch wenn es manchmal schrecklich, sinnlos und schwierig scheint, ein Geschenk ist... und das jede nette Geste, jeder gute Gedanke, der einem widerfährt, zählt. Meistens schafft man das nicht allein. Hätten wir früher mit einander gesprochen, wäre alles anders ausgegangen. Aber es bringt auch nichts, sich immer mit dem Hätte und Könnte zu befassen. Ich bin in dich verliebt, und ich habe es geschafft, dass du meine Gefühle vorsichtig erwiderst. Was sonst noch darauf folgen mag, wird der nächste Morgen bringen. Bis wir unser Gespräch beendet haben, hat der Sturm bereits aufgehört und der Mond ist aufgegangen. Ein Sternenhimmel, atemberaubend wie sonst nur in wenigen Nächten, steht über Heatherfield. Der Halbmond scheint zum Fenster herein und wirft sein silbernes Licht auf unsere Körper. Da beschließen wir, Schluß zu machen und endlich zu schlafen. Ich drehe mich noch einmal zum Fenster hin und schaue hinaus in die unendliche Schwärze, wo Milliarden von anderen Welten schweben, jede einzigartig, doch alle irgendwie ähnlich, die eine wie die andere. Und überall gibt es dieselben Fragen. Wie erreicht man, dass ein Mensch einen liebt? Wann erkennt man, dass man es erreicht hat? Und wie gibt man es zu? Solche einfachen Fragen kann kein Mensch beantworten, vor allem jene nicht, die es richtig machen. Manche Fragen können nie beantwortet werden. Manche Taten sind zu schlimm, als dass sie je wieder gut gemacht werden könnten. Und manche Liebe, so aufrichtig und sehnsüchtig sie auch sein mag, ist doch nur eine kleine Waffe gegen den Hass, der in uns lodert… Hass auf uns selbst und auf andere. Was kann es schon für eine Waffe geben gegen solch kollossalen Hass? Vielleicht gibt es keine; zumindest keine, die gegen jede Form von Hass wirkt. Einsichtigkeit war es in meinem, Sorge in deinem Fall. Und es mag noch viele andere geben. Aber es gibt immer eine… irgendwo jenseits der Finsternis. Kalte Zugluft zieht durch den Raum. Deine Nase ruht an meiner Wange, dein Mund an meinem Hals. Deine Arme liegen um meinen Unterleib. Beruhigendes Schnarchen dringt an mein Ohr. Das leise Pochen deines Herzens trägt mich mit seinem beruhigenden Klopfen hinüber in die Welt des Schlafes. Und so schlafe ich tatsächlich ein… mit einem Lächeln auf den Lippen. Soll der nächste Tag ruhig kommen... Kapitel 6: Epilog: The last flower ---------------------------------- A/N: Alle Leser, die den Caleb der TV-Serie mögen, sollten dieses Kapitel besser nicht bzw. mit größter Nachsichtigkeit lesen. --------------------------------------------------------------------------------- (Cornelia’s Point of View) Einige Tage später, auf dem Enzianplatz im Stadtgebiet von Heatherfield… Es ist 16:00 Uhr. Du müsstest doch schon längst fertig sein. Natürlich, so eine Therapie kann sich nicht genau nach der Uhr richten, aber du hast in der Schule gesagt, es würde nicht länger als bis um vier gehen. Dieses Versprechen hast du schon um 50 Sekunden überschritten - um 50 Sekunden! Verdammt, bin ich ein Erbsenzähler, oder bin ich es nicht?! Ich muss wirklich aufhören, immer so auf die Pünktlichkeit zu pochen, sonst mache ich mich irgendwann noch selbst verrückt. Du bist fertig, wenn du fertig bist. Punkt und Schluss! Schließlich geht es hier um deine Gesundheit! Und so warte ich... und warte... während ein bedrohliches Rauschen um mich herum erwächst. Wer kann es sich erlauben, in diesem Viertel so einen Lärm zu machen! Natürlich die Straßenreinigung, die mal wieder die Bürgersteige und Fußgängerzonen von Unkraut säubert! Und das natürlich nicht mit Sense oder Rasenmäher, sondern ganz modern per Flammenwerfer. Ist Fortschritt nicht was Herrliches?! Innerlich vor Kummer bebend beobachte ich, wie Löwenzahn, Wegwarte und Breitwegerich in Flammen aufgehen. Natürlich ist es nicht schön, wenn solche Pflanzen zwischen den Steinplatten hervorwachsen… aber es gibt noch sehr viel hässlichere Dinge. Zum Beispiel die Steinplatten selber. Wer weiß, wann hier das letzte Mal der Enzian blühte, der diesem Platz seinen Namen gab? Wahrscheinlich, bevor sie den Platz für den Autoverkehr freigaben. Das einzige Grün, das es jetzt noch hier gibt, ist das Unkraut und die paar vertrockneten Stiefmütterchen, die in drei Setzkästen in der Mitte des Platzes vertrocknen. Ich beuge mich zur Erde hinab und drücke meine Hand auf den Bürgersteig. Die Erde stöhnt unter dieser Last. Leise flüsternd konzentriere ich mich und richte meine Gedanken auf die Wegwarte nicht weit von mir. Der Wall der tosenden Flammen kommt ihr immer näher. Der Straßenarbeiter, der den Flammenwerfer führt, hält inne und sieht mich verständnislos an. „Suchst du etwas, Mädel?“ „Ja, meine Kontaktlinsen!“ Verdammt, kann der nicht mal kurz woanders hinschauen?! Das dauert doch nur eine halbe Minute, mehr brauche ich ja gar nicht. „Entschuldigung, Mister! Können sie mir sagen, wann der nächste Bus hier vorbei kommt?“ erklingt da auf einmal eine Stimme hinter dem Straßenarbeiter - deine Stimme. Dich schickt der Himmel! Während der Mann dir zugewandt brummig antwortet, vollende ich mein Werk. Die Wegwarte schießt aus dem Boden heraus wie der Körper einer Schlange und kriecht dann kurvenschlagend auf die Setzkästen zu, umringt und umschlingt sie mit einer Girlande blühender Stengel. Andere Pflanzen folgen seinem Beispiel und bilden zusammen ein Geflecht, das einer blühenden Hecke gleicht, in ihrer Mitte die Stiefmütterchen, die nun im Zeitraffer wieder erblühen und sich rasch vermehren. Um sie herum beginnen andere Blumen zu keimen, und viele von ihnen setzen schon die ersten Blütenknospen an. Sogar ein oder zwei Enzian wagen sich heraus, wahrscheinlich die letzten Samen, die noch in der Erde geruht haben. Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, einen ganzen Hügel aus der Erde hervorzuheben, doch dann lasse ich es lieber. Das würde zuviel Aufmerksamkeit erregen. Der Straßenarbeiter hat sich inzwischen wieder umgedreht und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er blickt ein paar Mal hin und her zwischen seinem Flammenwerfer, den Pflanzenranken und uns. Seine Finger spielen nervös mit dem Regler, sind manchmal schon im Begriff, ihn auf volle Pulle zu drehen. Dann endlich legt er ihn weg und entfernt sich murmelnd. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, er hat über seine alte Gießkanne nachgedacht, und über eine öffentliche Grünfläche, die er auf eigene Kosten anlegen will. Wie auch immer - wir beide indessen haben guten Grund, uns anzugrinsen. Ganz nebenbei fällt mir ein, dass ich gar kein Geschenk für dich habe. Nicht, dass du eins verlangt hättest, aber ich wollte dich gerne mit einem überraschen. Als ob ich es geplant hätte, greife ich mir eine Knospe vom Enzian, lasse sie wachsen und aufgehen und stecke sie dir dann ins Haar. Mit einer leichten Fingerdrehung lasse ich am Blütenkopf noch einige Blätter wachsen, die sich fest um deine Haare schlingen und die Blüte drin halten, ähnlich wie eine Haarklammer. Du lächelst schüchtern, wickelst dir nervös eine Haarsträhne um den Finger und beginnst dann, neben mir herzulaufen. Während wir dahinschlendern, erzählst du ein bisschen von deiner ersten Sitzung, wie schwer es ist, sich der vollkommen fremden Therapeutin anzuvertrauen, und wie weh es tut, die ganzen Erinnerungen an Scham und Schmerz wieder aufrufen zu müssen. Tatsächlich sieht es aus, als hättest du weinen müssen. Du bist ganz blass im Gesicht, mit Ausnahme deiner Augen, die rötlich glühen und etwas hervorquellen. Trotzdem scheint es dir jetzt besser zu gehen als vorher. Dein Lächeln wirkt befreiter, und auch dein Griff an meinem Arm ist nun ganz anders, mehr liebevoll als hilfesuchend. Es hat schon an jenem Morgen begonnen, als wir beide in der Dachkammer der Kneipe aufwachten - zusammen in einem Bett liegend, ineinander geschmiegt wie zwei Katzen. Kaum zwei Stunden später hatten wir unsere Freundinnen zusammengerufen, die unsere Geschichte mit einigem Erstaunen aufnahmen. Die meiste Aufmerksamkeit bekamst natürlich du, wie immer, aber diesmal hattest du sie verdient, und ich beneidete dich nicht darum. Es war bestimmt nicht einfach für dich... aber die anderen haben es bewundernswert gut aufgenommen, jede auf ihre Art: Hay Lin nannte das Ganze sogar romantisch. Irma dagegen machte ihre üblichen Witze und beklagte, dass du einen schlechten Geschmack hättest, was Frauen angeht... aber da ich ja noch Frau sei, wäre das halb so schlimm. Ich glaube, am meisten freute sich Taranee über unsere Versöhnung. Vielleicht hatte sie es schon von Anfang an geahnt, wusste aber nicht, wie sie mir diese Ahnung vermitteln konnte. Ich kann es ihr nicht verdenken. Noch immer kann ich nicht recht glauben, dass ich mich in dich verliebt habe. Es ist so… seltsam, so durch und durch unwahrscheinlich. Ich hatte niemals zuvor solche Gefühle für ein Mädchen, nicht mal für Elyon, und die war ja meine allerbeste Freundin. Und, nun gerade wo du es brauchen kannst, verliebe ich mich in dich! Ich weiß, Liebe ist jenseits jeder Vernunft, aber so unberechenbar ist sie doch auch nicht. Oder doch? Ach… wieso beschwere ich mich überhaupt? Egal, ob es nun erklärbar ist oder nicht, mein Herz gehört nun definitiv dir. Das merke ich von Tag zu Tag mehr. Und dabei fühle ich mich nicht schlechter als vorher, im Gegenteil. Dir habe ich es zu verdanken, dass ich nun all das Gute an meiner Situation wieder mehr zu schätzen weiß. Und dafür danke ich dir! Wo schaust du denn jetzt hin? Die Straße hinunter… wer kommt denn da gerannt? Oh nein, nicht gerade jetzt! Nicht Caleb! „Mädels, ich brauche eure Hilfe-“ schreit er uns schon von Weiten zu. „Ist das denn was Neues?“ fragst du genervt. Ich lächle, denn genau das wollte ich gerade sagen. Caleb jedoch scheint es nicht einmal gehört zu haben. „Es ist sehr ernst! Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ „Um was-“ - „Fragen müssen warten! Kommt mit!“ ruft Caleb ohne abzuwarten und zerrt dich mit sich fort. Du windest dich aus seinem Griff und schreist: „Wohin?“ Caleb bleibt stehen. Diese Frage hat er offenbar nicht erwartet. „Können wir das nicht später bereden?“ „Wenn du meinst, du könntest uns wieder irgendwohin schleifen und uns eine riesige Armee oder so was präsentieren, die wir für dich aus dem Weg räumen sollen, dann hast du dich getäuscht,“ erklärst du ihm in aller Deutlichkeit. Wir warten eine Weile, doch Caleb antwortet nicht, darum fährst du fort: „Hör mal, wir wollen ja den Bürgern von Meridian wirklich helfen, aber das bedeutet nicht, dass wir uns jederzeit dir oder deinen Plänen unterordnen! Wir haben ein Privatleben, und das können wir nicht einfach unterbrechen, wann und wie es dir beliebt! Du hast kein Recht, uns so herumzukommandieren, du ach so tapferer Held! Wir sind Wächterinnen des Netzes und nicht ein Sondereinsatzkommando deiner Rebellengruppe! Unsere Freundschaft ist nicht so selbstverständlich, wie du denkst, und wir fänden es sehr freundlich, wenn du uns in Zukunft dafür etwas mehr Respekt erweisen würdest!“ Während Caleb noch immer stumm dasteht und nichts sagt, greife ich deine Rede auf: „Genau! Und nebenbei: nur weil wir Mädchen sind, hast du noch lange kein Recht, uns für dumm zu erklären! In deiner Welt mögen Frauen ja demütig und still sein, aber wir hier auf der Erde sind es nicht! Wir sind sehr viel intelligenter, als du ahnst! Wir denken nämlich wenigstens nach, bevor wir uns auf irgendeine gefährliche Mission begeben, bei der wir auch eventuell in eine Falle geraten könnten, im Gegensatz zu dir! Weißt du eigentlich, wie oft du schon in Schwierigkeiten warst, in die du dich selbst gebracht hast? Und wie oft wir die Schule oder unsere Freizeit opfern mussten, um dir da heraus zu helfen? Du denkst ja nicht mal daran, uns dafür zu danken oder sonstwie Dankbarkeit zu zeigen. Du kommst immer nur zu uns, wenn es Probleme gibt, und nimmst nebenbei noch in Hay Lin’s Restaurant unerlaubt Essen mit. Ich weiß, unter Freunden macht das doch nichts, aber es ist einfach eine Frechheit, wie du uns ausnutzt! Sicher, du hast uns auch manchmal das Leben gerettet, und wir sind dir dafür dankbar, aber seltsamerweise kommt von dir niemals auch nur das Mindeste zurück! Und wenn du irgendwann einmal die Rebellion gewinnst und vor einer tobenden Menge die Straße herunterreitest, hast du bestimmt längst vergessen, wer dir dazu verholfen hat! Schön… aber erwarte bloß nicht, dass wir dann in der Menge stehen und dir zujubeln! Nur… damit du es… weißt!“ (Will's Point of View) Okay, Cornelia, damit bist du vielleicht ein wenig über das Ziel hinausgeschossen. So schlimm ist er nun auch nicht... nicht immer. Aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass diese Anklage mir nicht schmeichelt. Es gehört schon eine Menge Selbstvertrauen dazu, einem ehemaligen Schwarm solche Dinge an den Kopf zu werfen und dabei einigermaßen fair zu bleiben. Bin ich diese Mühe überhaupt wert? ...Ja! Der Enzian in meinem Haar beweist es. Noch immer steht Caleb mit verdutztem Blick vor uns. Er hat nicht einmal den Versuch unternommen, uns zu unterbrechen. Er scheint das Ganze sehr ernst zu nehmen. Der perfekte Moment, um Forderungen zu stellen... „Also merk dir vier Sachen," verkünde ich mit ernstem Gesicht. "Erstens erweist du uns in Zukunft gefälligst ein wenig Respekt und klagst nicht dauernd, wie ätzend wir Mädchen doch sind; zweitens entwickelst du deine Pläne nicht mehr insgeheim im Voraus, sondern sprichst sie mit uns ab; drittens gebe ich als Hüterin des Herzens als Einzige meinen Mädchen Befehle; und viertens… wenn du etwas selber machen kannst und uns nicht unbedingt brauchst, dann mach es gefälligst auch selber oder frage einen deiner Leute, ob er dich begleitet. Dafür hast du ja wohl genügend Männer. Und wenn du doch mal wirklich tief in der Patsche steckst, schick Blunk! Der weiß wenigstens, wie man uns ansprechen muss!“ „’Witziges Mädchen’ oder ‚hübsches Mädchen’?!“ kommt es aus Calebs halbgeschlossenen Lippen. „Ja, das würde für den Anfang reichen!“ kommt es von deinen. „Also, wir hören,“ fahre ich fort. „Was gibt es denn so Lebenswichtiges?“ Caleb stockt kurz, dann sagt er mit festerer Stimme, wieder in seine alte Hochmütigkeit zurückfallend: „Phobos hat meridianische Matschschnecken auf euch angesetzt! Sie waren schon an Irmas Haus, als sie gerade aus der Schule kam. Sie hat sie inzwischen weggelockt, aber ohne ihre vollen Kräfte kommt sie nicht gegen sie an!“ Wir schlucken. Durch unser Reden haben wir wertvolle Zeit verloren. „Wieso konntest du uns das nicht gleich sagen?“ rufe ich wutentbrannt. „Ihr habt mich ja nicht zu Wort kommen lassen!“ „Wir haben dich gefragt, was überhaupt los ist und du wolltest es uns nicht sagen!“ klagst du ihn an. „Du bist der Letzte, der sich beschweren sollte. Wo ist Irma jetzt?“ „Ich habe ihr Blunk mitgegeben, damit er das Portal findet, durch das die Matsch-Schnecken hergekommen sind. Es ist auf einem alten Baugelände, nicht weit von hier. Ich habe es im Vorbeigehen gesehen.“ (Cornelia's Point of View) Ich atme erleichtert auf. Das Baugelände kenne ich, ich habe dort Fahrradfahren gelernt. Es nur zwei Häuserblöcke von hier entfernt. Wir können die verlorene Zeit also wieder aufholen. Du holst das Herz von Kandrakar hervor und verwandelst uns in aller Eile. Dann wendest du dich mir zu: „Du musst sofort zur Baustelle und Irma helfen! Dort ist überall Erde, du wirst also keine Probleme haben. Caleb wird mit dir gehen. Ich hole in der Zwischenzeit Taranee und Hay Lin. Sie sind zusammen Eis essen gegangen. Ich komme, so schnell es geht!“ Du willst schon abheben, doch dann legst du noch einmal die Arme um meinen Hals und flüsterst in mein Ohr: „Pass auf dich auf! Und beeile dich!“ Ich antworte dir mit einem Kuss auf die Wange. Gleich darauf - ich weiß nicht, ob durch meinen Impuls oder durch deinen - schließen sich unsere Lippen umeinander und wir vereinen uns in einem neuen Kuss, noch leidenschaftlicher und süßer als der letzte vor ein paar Tagen. Meine Augen sind geschlossen, deshalb kann ich Calebs verblüfftes Gesicht nicht sehen… Gott sei Dank! Umso mehr spüre ich deine sanft pressenden Lippen, deinen Atem, wie er in meinen Mund strömt, und den Geschmack deines Lip-Gloss’… Apfel, glaube ich. Liebevoll wiegst du mein Gesicht in deinen Händen, streichst mir das Haar über die Schläfen und streichelst mit deinen Daumen meine Wangenknochen. Leider währt der Kuss nicht lang. Ich weiß, das sagt man von jedem schönen Kuss, doch diesmal ist eine Notwendigkeit: die Zeit drängt, und Irma ist in Gefahr. Also lösen wir uns voneinander und fliegen in verschiedene Richtungen davon. Während ich in der Luft bin, stören mich weniger als sonst der scharfe Gegenwind und die schneidende Kälte in meinen Augen. Ich muss einfach die ganze Zeit an unseren Kuss denken. Ich fühle mich, als könnte ich die Welt erobern. (Will's Point of View) Ist es da noch nötig, lang und breit von dem Kampf gegen die Matschschnecken und ihr frisch hinzugekommenes Muttertier zu erzählen? Sicher, manchen mag das wichtig erscheinen, aber im Prinzip verlief er ganz unspektakulär, nachdem wir erst einmal das Geheimnis der Schnecken erfahren hatten… durch Caleb, der sich wie üblich erst zu spät daran erinnerte. Der Großteil der Arbeit blieb natürlich an Cornelia hängen. Das Muttertier steckte in einem gewaltigen Erdloch fest, und es war eine Heidenarbeit, es mit den Kräften der Erde in die Luft zu heben und durch das weit geöffnete Portal schweben zu lassen. Die Schnecken, die für das Jagen ihrer Beute zuständig waren, folgten ihr, alle auf einmal. Mir blieb wieder mal nicht mehr zu tun, als das Portal mit dem Herz von Kandrakar zu verschließen. Doch die Denkarbeit, die mir das schnelle Schalten und Entscheidungen treffen abverlangt, ist wirklich Leistung genug. Auch das habe ich mit eurer Hilfe endlich begriffen. Nachdem sich das Portal mit einem lauten Zischen geschlossen hatte, war alles wieder ganz sauber. Nun ja… bis auf Blunk. Und Irma, die bereits teilweise von den Schnecken eingeschleimt worden war. Und Taranee, die das Muttertier mit einem seiner Mundwerkzeuge in den Schlamm geschleudert hatte. Und Caleb, den einige herumfliegende Schlammbrocken erwischt haben. Aber ansonsten war alles in Butter… besser gesagt: jetzt ist alles in Butter. Denn jetzt gerade stehe ich in meiner normalen Mädchengestalt auf dem Baugrundstück und du und ich liegen uns erleichtert in den Armen und küssen uns ein zweites Mal, während Caleb noch immer demonstrativ zum Himmel schaut und die anderen Mädchen wie bei einer Fernsehshow im Hintergrund theatralisch seufzen. Ich wette, sie beneiden uns. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)