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Kurzgeschichtensammlung

Short stories, Spontangeburten...
von

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Tanz der Dryaden

Alle zwanzig Jahre, erheben sich die Geister der Bäume aus ihrem wachen Schlaf. Dann tanzen sie ihre geheimnisvollen Tänze auf der mondbeschienenen Lichtung des Alten Waldes; und keinem Sterblichen soll es je vergönnt worden sein, ihnen dabei zuzusehen. Denn ihr grünes Antlitz und die knorrigen Körper sind nichts, das ein beschränkter menschlicher Verstand hätte ertragen können.

So lautete die Geschichte, wie sie mein Onkel mir immer zu erzählen pflegte und stets schenkte ich seinen Worten Glauben. Denn wer weiß schon, welche Geheimnisse noch zwischen den gewundenen Stämmen lauern mögen?

Als er dann mit eigenen Augen ihren verzauberten Bewegungen folgen wollte und seit diesem Tage nie wieder gesehen wurde, da war mir bewusst, was geschehen war.

Und trotzdem ich mir genau im Klaren darüber war, was sein Ende herbei geführt hatte, so erwartete ich doch ungeduldig jenen Tag, an dem sie wieder tanzen mochten, denn eine unstillbare Sehnsucht schien mich direkt in die Arme des Verderbens zu schicken. Gegen diese Sehnsucht war ich nicht imstande anzukommen und darum trieb es mich an jenem Tage, genau zwanzig Jahre nach dem Tode meines Onkels, ebenfalls in die unergründlichen Tiefen des Alten Waldes. Ein unwiderstehlicher Ruf pulste durch meine Adern und erfüllte mich mit dem brennenden Verlangen, ebenfalls die Wunder des Tanzes der geheimnisvollen Baumgeister zu erblicken.

Der Himmel war monderhellt, als ich mir meinen Weg durch die seltsam gekrümmten Äste bahnte. Vorbei an grinsenden Baumhöhlen, greinenden Blattgespenstern, die sich bei näherem Hinsehen doch nur als seltsam geformtes Laub erwiesen und über den Boden, dessen trockene Äste unheilvoll zu knacken und zu brechen schienen bei jedem Schritt, den ich mich tiefer in das Unterholz wagte.

Ein seltsame Stimmung lag über dem uralten Holz. Geheimnisse waberten durch die Luft und schienen mit zarten Fingern nach dem schwarzen Grün der Bäume zu greifen und mich mit ihren dünnen Schleiern zu umhüllen. Ich war wie in Trance; ein Gefangener jenes geheimnisvollen, immer stärker lockenden Rufes, der mich zu einem bestimmten Ziel zu treiben schien und dem ich ohne Sinn und Verstand Folge zu leisten gezwungen war, auch wenn sich ein Teil von mir danach sehnte, endlich selbst jenes Wunder zu erblicken, von dem ich sonst nur vage Berichte vernommen hatte.

Seit dem Verschwinden meines Onkels vor zwanzig Jahren hatte ich mich zunehmend mit den Geheimnissen der alten Welt beschäftigt. Auf der Suche nach den Spuren, die sie hinterlassen haben mochten, hatte ich Dinge gesehen, die normale Menschen nicht einmal in einem Traum erahnen mochten und Erzählungen gelauscht, deren Inhalt schon manchen in den Wahnsinn getrieben hatte. Ich hatte trotz meines jungen Alters von gerade einmal 36 Jahren schon auf den Berggipfeln mit den Sylphiden getanzt, mich mit den Ghoulen durch die verwesende Erde von Friedhöfen gewühlt. Ich hatte mit eigenen Augen das monströse Erwachen der Gargoylen geschaut und war mit den Nixen in die Tiefen des Meeres getaucht, in denen versunkene Städte von Algen bedeckt ihren ewigen Schlaf schliefen. Greif und Phoenix hatte ich gesehen, mit Elfen und Feen gesprochen und in den düsteren Steinkreisen des alten Irland namenlose Riten vollzogen, während die dunklen Gesänge der Druiden an den Felsen widerhallten. Und dennoch hatte ich nicht einmal in meinem bisherigen Leben die Ehre gehabt, den Baumseelen bei ihrem Tanz im Mondlicht zusehen zu dürfen. Bis heute.

Inzwischen rannte ich fast meinem Ziel entgegen. Mich packte die Angst, ob ich nicht stolpern könnte und damit meinen ungestümen Lauf ein für alle mal stoppen. Doch es war fast, als sichere dieselbe unsichtbare Macht, deren Ursprung der Ruf war, der mich erfüllte, auch mein eigenes unbeschadetes Fortkommen, denn bis auf ein paar durch die schlagenden Zweige verursachten Kratzer war mein Leib noch unversehrt, obwohl ich die Stämme neben mir schon kaum mehr richtig wahrnehmen konnte.

Endlich schwächte sich der wahnsinnige Lauf ein wenig ab, denn inmitten dieser grünschwarzen Ebene aus Blattwerk, Gesträuch und dem uralten Holz schien sich ein Hügel zu erheben, auf dessen Spitze es mich nun augenscheinlich rief. Um mich herum begannen nun Findlinge ihr steinernes Haupt gen Himmel zu strecken. Es waren große und kleine und sie erschwerten mein Fortkommen auf der Steigung noch zusätzlich.

Erst jetzt begann sich in meinem Kopf die Erkenntnis zu bilden, wie unheimlich still es bisher gewesen war. Außer den Geräuschen meiner eigenen hastigen Schritte hatte ich nichts vernommen, keinen Windhauch, der die Wipfel streichelte, kein einsamer Wolf, der seinen Kummer in die Nacht heulte oder sonst irgendein Lebewesen, das ein Geräusch verursacht hätte.

Nun aber hörte ich zum ersten Mal etwas anderes an mein Ohr dringen, etwas, das nicht durch meine Anwesenheit verursacht worden war. Dennoch waren es Geräusche von der Art, wie ich sie selbst erzeugte auf meinen rennenden Füßen - das Kollern kleiner Steine, das Brechen trockener Zweige, das Trappeln von Schritten und ein hastiges Atmen. Doch noch blieb mir kaum Zeit mich zu wundern, dass auch andere sterbliche Wesen ihren Weg hierher gefunden haben sollten, denn ich hatte den Gipfel erreicht.

Oben bot sich mir ein Anblick, der einem wahrhaft den Atem hätte nehmen können. Und sogar mich, der ich schon so viel mit eigenen Augen gesehen hatte, erfasste für einen Moment maßloses Erstaunen und Bewunderung ob der Einzigartigkeit dessen, was sich hier abspielte. Vor mir breitete sich eine flache, lediglich durch vereinzelte Steine unterbrochene Fläche aus, die von kurzem Gras bewachsen war und den ganzen Hügel einnahm - so, als wäre die Erhebung von Millionen Fußtritten abgeflacht und eingestampft worden. Dahinter erstreckte sich die unendlich scheinende Fläche des Alten Waldes. Eigentlich hätten von hier aus die ersten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation sichtbar sein müssen, doch die monotonen Grünschattierungen erstreckten sich ununterbrochen soweit meine Augen fähig waren zu blicken.

Aber nicht das war es, was meinen Blick gänzlich gefangen nahm. Es war ein ungeheuer alter Baum, der sich in der Mitte der Fläche erhob. Jedes seiner kleinen Blätter atmete förmlich die Zeit, jede kleine Biegung des knorrigen Stammes erzählte von Jahrhunderten. Seine Äste schienen, schon allein durch die unheimliche Größe bedingt, gleich der alten Weltenesche die gesamte Fülle des Lebens zu umfassen, ja den Ort zu bilden, an dem das Leben entspringt und wieder vergeht, die unendliche Quelle selbst.

Und um ihn herum...Es waren hunderte. Menschen und Baumgeister. Die langen, dünnen Astfinger gespreizt, und den seltsam, aber wunderbaren hölzernen Körper in sanften Wellen wiegend, erfüllten die Dryaden die ganze Ebene. Ihre fein geschnittenen Gesichter waren, obwohl kaum menschlich, auf eine Art und Weise schön, wie sie nur die reine Magie der Natur hervorbringen konnte. In ihren schmalen, schlitzförmigen Augen lohte das grüne Feuer der Alten Tage, als die Urkraft noch stark war.

Die Menschen zwischen ihnen wirkten so winzig und unbedeutend neben dieser Macht, als wären sich nichts mehr als kleine trockene Äste, die unter einem einzigen Tritt der verwurzelten Füße in tausend Stücke zerbarsten. So zerbrechlich...und doch mitten unter ihnen. Junge und Alte sah ich; Greise standen neben kleinen Buben, die nicht älter als zehn sein konnten. Ich sah Afrikaner, Indianer, Asiaten und hellhäutige Menschen, große und kleine, füllige und schmale. Und doch waren sie alle männlich, so wie die alten Geister der Bäume am ehesten als weiblich zu bezeichnen gewesen wären.

Es war absurd. Ich hatte gedacht, damals wäre mein Onkel der einzige gewesen und heute ich derjenige, denen dieses große Privileg zugekommen war, die heiligen Geister beobachten zu dürfen. Ein aberwitziges Gefühl der Enttäuschung überkam mich, die Regung, bitter betrogen worden zu sein in dem Versprechen der Einzigartigkeit. Jedoch, ich spürte, warum sie alle gekommen waren: alle hatten sie diesen Ruf gehört, dieses unwiderstehliche Verlangen, welches auch durch meinen Kopf gespukt war und mich während meines Weges hierher nicht ein einziges Mal hatte fehlgehen lassen. Aber auch diese Empfindung schwand und machte dem grenzenlosen Bedürfnis danach platz, sich ebenfalls unter die Menge zu begeben und Teil ihrer Magie zu werden.

Alle Wesen vermischten sich, Leiber drängten sich an Leiber, hartes Holz an weiche Haut, sanfte Blätter an harte Nägel, kratzendes Moos an weiche Haare. Eine einzige Bewegung lebendiger Masse; niemals stehend, niemals ruhend, ein pulsierender Block aus Leben. Auch ich ging in ihnen auf, bewegte mich wie in einem Rauschzustand mal hierhin, mal dorthin. Alle Individualität ging verloren, ich wurde zum Teil eines einzigen großen Ganzen. Die Nacht schien vorbei zu rasen und gleichzeitig still zu stehen, als wäre man selbst nur ein einziger Tropfen im Strom der Zeit, der einen schneller und schneller herum wirbelte. Es gab keine Musik, keine irgendwie gearteten Laute, welche die Nacht durchschnitten hätten - lediglich das leise Stapfen unzähliger Füße und Wurzeln auf diesem geheiligten Boden. Es machte keinen Unterschied mehr ob Dryade oder Sterblicher, alles wurde eins. Heilige Urkraft erfüllte mich und alle anderen mit einem Leben, welches mir sonst fremd geblieben wäre, einem Leben und einem Gefühl des absoluten Aufgehens in der Unendlichkeit.

Unmerklich jedoch verlangsamte sich der Fluss, flauten die weichen Bewegungen ab, wurden weniger und hörten schließlich ganz auf. Noch immer verhielt sich die Menge wie ein Lebewesen. Wie die winzigen Fische eines großen Schwarmes strebten einzelne auseinander, andere zusammen; so bildete sich schließlich ein Ring, dessen Zentrum der riesenhafte Weltenbaum war. Nichts bewegte sich nun noch, die ganze Szenerie wirkte wie erstarrt. Alle Blicke hatte sich in gespannter Erwartung auf diesen alten, den ersten aller Bäume gerichtet.

Endlich schien sich dort etwas zu regen. Scheinbar unendlich langsam begann die Rinde ihre Form zu ändern. Erst nur unmerkliche Verschiebungen in der dunkelgrauen Borke, dann das sekundenschnelle Bilden kleiner Äste und schließlich das beständige Herausformen einer Gestalt - der Prozess war faszinierend und einzigartig, als beobachte man, wie ein Kind geboren und in sekundenschnelle erwachsen wird.

Eine Aura von Macht umgab die Dryade des Alten Baumes, als sie sich endgültig von dem Stamm ihres Heimes löste. Sie musste uralt sein; ihr Körper war gekrümmt, die Äste leicht verdreht und von Moos und graugrünen Flechten überwachsen. Doch sie strahlte Stärke aus, und so wie das Funkeln in ihren Augen noch unverändert lohte, so zweifelte man keinen Augenblick daran, dass in ihr mehr Leben tobte als in den meisten von uns. Mit langsamen, gemessenen Schritten trat sie aus dem Holz heraus, vollkommen erhaben über die Geschehnisse dieser Welt und doch ein unabdinglicher Teil von ihnen. Ihre leuchtenden Augen glitten über die versammelte Menge. Dabei hatte dennoch jeder, so wie ich wohl das Gefühl, dass ihr Blick eine Sekunde lang ganz auf ihm allein verweilte.

Endlich hob sie ihre verknorpelten Arme und deutete mit dem Finger auf einen älteren Mann, nur ein paar Schritte von mir entfernt. Dieser setzte sich fast augenblicklich in Bewegung, als ziehe ihn ein unsichtbares Band zu der Gestalt vor dem Baum; und ebenso selbstverständlich wichen die Gestalten, deren Weg er kreuzte, beiseite, eine Gasse bildend, die sich ebenso schnell und lautlos wieder schloss wie sie sich zuvor geöffnet hatte. Gebannt beobachteten hunderte Augenpaare, wie der Mann sich der einzelnen Dryade nährte, in seiner Welt nur noch Platz für sie und ihn selbst habend.

Der alte Baumgeist schien seine knorrigen Lippen zu einem einladenden Lächeln zu verziehen. Sie umschlang ihren Auserwählten mit langen, knotigen Fingern und presste ihren dürren Leib aufreizend an seinen alten Körper. Ihre Augen schlossen sich, ihr Mund öffnete sich leicht, während sie offenbar den Kuss ihres Gegenübers erwartete. Dieser schien vollkommen von ihr fasziniert; und so wunderte es nicht, dass er ihre deutliche Einladung beinahe sofort annahm.

Aber noch während sie ihre Lippen aufeinander pressten und sich sein Gesicht in höchstem Entzücken verzerrte, änderte sich eine winzige Nuance der Stimmung, die um sie her in der Luft war. War sie zuvor noch friedlich und fast erfüllt von knisternder Spannung gewesen, so wandelte sie sich nunmehr, bis man ein stummes Gefühl der Gefahr fast mit den Fingern hätte erhaschen können. Doch die Glückseligkeit, die der Geküsste ausstrahlte, änderte sich nicht; er war nun vollkommen gefangen in einer fremden Welt aus Holz, Moos, Blättern und reiner Lust. Einer Welt, zu der wir noch keinen Zugang hatten...

Und als veränderte jene Welt ihn nun auch in dieser Gegenwart, so begann er nun selbst langsam, seine Gestalt zu ändern. Seine Kleider rissen auf und dünne braune Verästelungen durchzuckten die Falten auf seinem Gesicht, sein Haar begann zu schrumpfen und auszufallen. Der Körper wechselte seine Form, wurde gekrümmt und wandte sich in fast unmöglichen Biegungen immer näher der Dryade entgegen, bis es schien als würde er mit ihr verschmelzen.

Ein Seufzen, das erste Geräusch seit dieses seltsame Fest begonnen hatte, durchbrach die Stille, als wir sahen, wie sie tatsächlich zusammenwuchsen. Seine Gliedmaßen schienen sich nun ganz in Holz, altes knorriges Holz, verwandelt zu haben und umflossen die momentan Geliebte, bis sie sich an einigen Stellen wortwörtlich zu vereinigen begannen. Ihre Körper gingen ineinander über, wurden zu einem grotesken Gebilde zweier sich umschlingender Leiber. Eine Statue eines verrückten Holzschnitzers hätte vielleicht so aussehen können. Doch noch heute ist diese monströse Seltsamkeit mit nichts zu vergleichen, was ich je in meinem Leben gesehen hatte.

Dieser unglaubliche Prozess setzte sich jedoch noch weiter fort. Schon waren ihre Köpfe zu einem seltsamen Bastard aus Mensch und Geist verschmolzen, schon war sein Körper nahezu in ihr aufgegangen. Das letzte, was von ihm verschwand, waren seine Schultern, die für einen momentan fast zum Lachen reizend aus ihrem Oberkörper ragten; und doch blieb einem dieses Lachen im Halse stecken ob der Ungeheuerlichkeit, deren Zeugen wir gerade geworden waren. Nichts deutete mehr auf die Existenz hin, die in diesen wenigen Sekunden zuvor so unvergleichlich beendet worden war, nichts, außer seinen zerrissenen Kleidern, die nun den Boden und bedeckten und dem Gefühl leiser Zufriedenheit, das sich auf dem Gesicht der Dryade malte - als wäre sie nun vollkommen gesättigt.

Als hätte sie ein Zeichen gegeben, wandten sich nun alle Dryaden Männern in ihrer Nähe zu, forderten sie mit einem Blick und sanften, verführerischen Bewegungen auf, sich ihnen ebenfalls hinzugeben, so wie es zuvor geschehen war. Ohne Zweifel würde jeder einzelne ebenso enden wie der unglücklicher Liebhaber vor ein paar Momenten - jedoch schien es niemanden zu kümmern, was mit seinem Körper geschehen würde, solange sie nur einmal den Kuss einer Dryade genießen dürften.

Niemanden außer mir.

Mit einem Mal packte mich eine Welle von Ekel und Abscheu über diese Art von gestohlenem Leben, mit dem die Baumgeister sich durch ihren geheimnisvollen Tanz zu erfüllen pflegten und ich stolperte zurück - direkt in die Arme eines dieser mir jetzt nur noch grotesk und angsteinflößend erscheinenden Wesen. Ich schrie auf und mein Laut hallte von den hohen Zweigen dieses Baumes wieder, wurde zurück geworfen und in vielfachem Echo verstärkt, bis sich all meine Angst selbst in der Luft zu manifestieren schien.

Ich hatte blutige Rituale gesehen, bei denen man den Opfer bei lebendigem Leib die Haut abzog, hatte Ghoule geschaut, wie sie ihrem Leichschmaus frönten und doch war ich nicht ein einziges Mal so sehr abgestoßen gewesen wie bei diesem Anblick. Nun wusste ich, warum nie mehr als Gerüchte dieses Tanzes an die Außenwelt gedrungen waren - vielleicht durch solche wie mich, die das wahre Grauen in diesem Akt der menschlichen Selbstaufgabe erkannt hatten. Mit Schaudern dachte ich an meinen Onkel. Nun wusste ich, warum er niemals wieder gekehrt war nach jener Nacht.

Den Schrei noch auf den Lippen stolperte ich vorwärts, schlug blind und angsterfüllt um mich, um heraus zu kommen aus diesem Teufelskessel aus Holz und Fleisch. Ich traf auf abgestorbene Zellen, auf lebendes Gewebe und verstärkte nur noch mein Bemühen, endlich den Rand der Ebene zu erreichen, um dem wahnsinnigen Tanz zu entkommen. Niemand versuchte wirklich, mich aufzuhalten - sie waren alle in ihrem gegenseitigen Anblick gefangen.

Während meiner Flucht sah ich Paare in jedem Zustand der Vereinigung. Halb verwachsene Körper, Küssende, Ineinander Geflossene - es war wie auf einem Höllengemälde. In manchen dunklen Nächten schreckt mich dieses Bild noch aus dem Schlaf. Ich weiß nicht mehr, wie ich dieser furchtbaren Orgie entkam, denn ich befand mich erst wieder vollständig in dem Bewusstsein dessen, was ich tat, als ich am Fuße des verfluchten Hügels in den Alten Wald eintauchte und mir meinen Weg aus ihm heraus bahnte.

Zwanzig Jahre sind nun seid dieser Nacht vergangen und seitdem habe ich noch mehr gesehen, was das Gefühl von Abscheu in mir hervorrief. Ich bin jetzt ein Mann von durchaus stattlichem Alter und doch ist mir diese Nacht noch immer in ihrer Einzigartigkeit im Gedächtnis geblieben, denn auch ich war von der Magie einen Augenblick lang nicht unberührt und spürte für eine winzige Sekunde das unbedingte Bedürfnis, mich ganz den Baumgeistern hinzugeben und ihren Körper an meinem zu fühlen. In denen Momenten, in denen jene spezielle Erinnerung mich wieder überkommt, spüre ich fast Abscheu vor mir selbst.

Später, als ich an jenen Ort zurück kehren wollte, waren der Hügel und der Baum verschwunden, der Wald wieder normal und fast jegliche Magie erloschen. Und doch bin ich immer sicher, nicht geträumt zu haben.

Ich spüre den Ruf wieder in meinem Kopf erklingen, stärker als er je war. Ich weiß, dass ich ihm nicht entkommen kann und vielleicht will ein Teil von mir es nicht einmal. Darum werde ich, wenn ich diese Zeilen niedergeschrieben und meine Hand den Stift fortgelegt hat, dem unendlichen Verlangen in mir statt geben und tun, was es mir befiehlt.

Heute Nacht werde ich mich ein letztes Mal in jenen Wald auf den verwunschenen Hügel begeben um unter dem Alten Baum die Dryaden tanzen zu sehen.

Die Legende von Yanna und Darion - Geburtstagsgeschenk für Anne

Meine liebe Anne, diese kleine Legende ist für dich.

Ich habe die Textform einer Legende gewählt, weil hier selbst die dramatischsten Szenen erlaubt sind und funktionieren. Und was gäbe es besseres, als eine große Liebe zu beschreiben?
 


 

Die Legende von Yanna und Darion
 

Einst, als gerade die ersten Blüten des noch jungen Weltenbaumes das Licht erblickten, wandelten die mannigfaltigen Kreaturen der Magie unbehelligt durch die grünen Lande, deren Schoß die Geschöpfe menschlicher Gestalt erst vor wenigen Jahrzehnten hervor gebracht hatte. Damals waren die Geschlechter der Menschen, Vagabunden und anderer Stämme noch zu jung, um ihre dauerhaften Abdrücke in dem Sand der Weltgeschichte zu hinterlassen.

Zu jener Zeit entstand die erste derjenigen, die wir die freari, die Grünen Frauen nennen. Wenig ist darüber bekannt, wie sie ihren Weg in diese Welt fand, doch ist es gewiss, dass sie keines gewöhnlichen Menschen Kind war. Ihr war es gegeben, zu hören und zu verstehen, was die Welt ihr zuflüsterte, ob Tier oder Pflanze, ob voller Magie oder von einfacher Art, sie vermochte alles zu deuten, was ihr Ohr erreichte und in derselben Zunge zu antworten.

Zu aller Zeit gab es nur eine von ihnen auf der Welt. Eine einzige, die mit der Sprache des Lebens ausgestattet war, immer begleitet von zwei Wesen die ein Teil ihrer Seele waren. Welche Wesen die neue freari begleiten würden, konnte keiner wissen. Einzig bekannt war nur, dass sie eine ungleich verlängerte Lebensspanne gegenüber ihren natürlichen Artgenossen aufwiesen. Starb einer der drei, so gingen auch die beiden anderen schnell zu Grunde.

Viele Legenden gibt es um die Entstehung der Bewahrer der Magie in unserer alten Welt und diese hier ist eine davon:
 

"In diesen Zeitaltern, als die Welt noch jung war, besaßen die Wächter große Macht. Die Wächter wachten über die einzelnen Elemente, sorgten dafür, dass der Erde von ihnen nie zu reichhaltig und nie zu wenig gegeben wurde. Einer dieser Wächter, auch eloriae genannt, war Darion, der Wächter über Licht und Dunkelheit. Er zeigte sich verantwortlich für den Wechsel von Tag und Nacht, für das Aufgehen und Versinken der Sonne und für das Steigen und Untergehen des Mondes. Er sorgte dafür, dass alle Lebewesen eine Zeit hatten, in der sie am besten auf Erden wandeln konnten.

Darion liebte seine Aufgabe und sein tägliches Werk verrichtete er stets voller Hingabe. Es genügte seinem Stolz, die vollkommene Bahn des Mondes zu betrachten und jedes Mal, wenn die Sonne ihr Licht über das frühe, tauüberzogene Blattwerk perlen ließ so lachte er vor Freude. Er durchwandelte die Kreise der Welt, denn er wollte alle Wunder sehen, die seine Arbeit hervor brachte und mit gedeihen ließ.

Auf dieser Reise geschah es, dass er eine Nymphe, die Bewahrerin des Wassers, traf. Yanna war ihr Name und doch wurde sie von allen nur illara, das heißt die Lachende genannt, denn ihr Naturell war so unbändig und fröhlich wie das Glucksen und Springen der kleinen Quellen, an denen sie so gerne ihre Zeit verbrachte und mit den Sylphiden sprach. Oft badete sie ihre Füße in dem lebendigen Wasser während ihr Lachen die Ebene erfüllte und in dem vielfachen Klang der kleinen Wellen sein Echo fand.

Liebe erfüllte Darion, als er sie so das erste Mal erblickte, Liebe zu ihrem Gelächter, ihrer zarten Gestalt und dem langen blassblauen Haar, das ihre Schultern umwehte.

Zögernd trat er vor auf die verborgene Wiese, so dass Yanna erschrocken ihren Kopf wandte. Doch kaum hatte sie einen Blick in seinen dunklen, golden schimmernden Augen geworfen, so war sie rettungslos in ihnen gefangen und wusste, dass ihr Schicksal untrennbar mit dem seinen verwoben sein würde.

Sie wusste, dass er ein Wächter war, denn nur diese hatten einen Streifen von Farbe in ihrem dunklen Haar, jeder nach seinem Element, so dass die Sonne das Haar Darions immer aufleuchten ließ. Sie liebte dieses kurze, unbeständige Auffunkeln, sie liebte auch sein schmales Gesicht mit den vollen Lippen und der schlanken Nase und seinen Körper, der von den vielen Tagen und Nächten seiner Aufgabe erzählte.

Sanft war ihre Liebe zueinander und größer und tiefer wurde sie von Tag zu Tag, während derer sie von nun an gemeinsam die Wunder der Welt entdeckten.

An einem Abend, als der Wächter den Mond hatte steigen lassen, standen sie gemeinsam am Ufer eines Sees, der so tief war, dass noch keiner es je hatte messen können; doch jedes Mal, wenn die Sonne seine Oberfläche berührte, so strahlte und funkelte er in allen Schattierungen von Grün und Blau. Noch heute heißt man dieses Gewässer den See der Saphire. An seinen Ufern weilten Darion und Yanna und während ein sanfter Wind die Blüten der weißen Sternblumen um sie her beugte und die Luft mit einem zarten Raunen erfüllte, erschien es ihnen als wäre nie ein Tag in ihrem Dasein schöner gewesen als dieser. An diesem einen Abend gaben sie sich das Versprechen, einander immer treu zu sein und sich nie zu verlassen, selbst im größten Unglück nicht. Und als die Sterne über ihnen zu leuchten begannen, da tauschten sie innige Küsse und er glaubte sich glücklicher und gesegneter als sonst jemand zuvor.
 

Nur wenige Monate darauf begann sich die Frucht der Liebe in dem Leibe Yannas zu regen und Darion schien es als würde sie täglich schöner unter dem Rhythmus zweier pochender Herzen. Nie war ihm seine Existenz erfüllter vorgekommen als in diesem Tagen in denen sie beide das Wunder neuen Lebens erfahren durften.

Doch schon bald senkte sich ein Schatten auf das glückliche Paar. Acht Monate waren nun vergangen, in denen das Kind immer weiter gewachsen war. Yanna spürte, dass sie ein Mädchen gebären würde und voller Freude überlegten sie beide, welchen Namen sie ihr geben wollten, hätte sie erst einmal das Licht der Welt erblickt.

Manchmal jedoch flog ein Schatten über das Gesicht Yannas als erahne sie die Zukunft schon und fürchte, was geschehen würde. Doch sie leugnete die Dunkelheit, die langsam heran kroch und das Gleichgewicht wieder forderte, das durch zu viel Glückseligkeit zu sehr zu der Seite des Lichtes neigte.

So kam es, dass eine seltsame Krankheit Yanna befiel. Ihr Gesicht wurde grau und eingefallen, dass Haar spröde und ihre Augen trüb. Immer seltener war ihr Lachen in den Weiten der Welt zu hören, auch wenn sie versuchte, daran festzuhalten. Sie klammerte sich an ihr Leben und das ihrer Tochter, sie wollte nie aufgeben. Darion sah sie welken und ihr Schmerz ließ ihn fast wahnsinnig werden. Doch war er immer bei ihr und versuchte verzweifelt ein Mittel zu finden, das ihr Siechtum stoppen und das Kind retten könnte.

In einer sturmigen, kalten Nacht schließlich erblickte das kleine Mädchen das Licht der Welt. Lang und schmerzhaft war seine Geburt und die Qualen für Yanna beinahe unerträglich. Fast wäre sie selbst in das Dunkel des Tode hinübergeglitten und lediglich die Gestalt ihres Wächters, der immer an ihrer Seite weilte und ihr Kraft gab, hinderten sie daran, sich ganz in die Schwärze sinken zu lassen.

Ihr Kind jedoch hatte selbst er nicht retten können und noch bevor der Morgen des nächsten Tages graute, floh seine Seele hinüber in die dunkle Unendlichkeit.

Von da an schien es, als wäre Yanna ihrer sämtlichen Fröhlichkeit beraubt. Still und traurig schritt sie durch die Welt und statt ihres fröhlichen Lachens die Luft, so erfüllten nun die salzigen Tränen die Fluten des Wassers. Blass und verhärmt wurde sie und nicht einmal Darion gelang es, ihr wieder das Leben einzuflößen. Denn blickte sie nun in seine schimmernden Augen und das golddurchwirkte Haar, so sah sie keine Liebe mehr sondern nur das Gesicht ihrer kleinen Tochter vor sich, die sie mit denselben Augen traurig und vorwurfsvoll anzublicken schien.

Tiefer und tiefer grub sich der Schmerz in ihre Seele und sie wurde stumm und sprach nicht mehr. Die Welt war ihr gleichgültig geworden und der stille Ozean ihrer Seele war der einzige Ort auf Erden, der ihr nicht verhasst geworden war.

Voller Schmerz über den Tod seiner Tochter und die Zurückweisung seiner Frau bemerkte Darion, dass die Trauer und der Tod ihrer beider Leben und Liebe zerstören würde. Somit fasste er den Entschluss, die Seele ihre Tochter wieder an das Licht zu holen und somit das Lachen wieder zu Yanna zurück zu bringen. Für sie allein wollte er in das Totenreich gehen und dort nach ihrem Kinde suchen, nur damit er noch einmal ihr Lachen hören könne.

Aus dem schwarzen Holz des Nachtbaumes baute er sich sein Schiff um den Eisfluss hinaufzusegeln von dessen Quelle Legenden behaupten, dass dort der Eingang in das Totenreich verborgen liege. Er hoffte, dort Kainan zu treffen, der eloria über Leben und Tod, denn auch diese sind Elemente des ewigen Kreislaufes.

An der Quelle, an der er sie das erste Mal gesehen hatte, ließ er Yanna zurück, in der Hoffnung, die Erinnerung könne ihr die Sprache wiedergeben. Und so nahm er ihre kalten Hände in die seinen, blickte sie an und sprach:

"Illara, immer bist du das Licht meines Lebens gewesen. Auch wenn du mich vor Trauer nicht mehr siehst, so halte ich doch an unserer Liebe fest, denn einst schwor ich dir, dich nie zu verlassen, was auch geschehen möge. Ich werde nun hinabsteigen in die Unterwelt und suchen, was wir so früh verlieren mussten, um dein Lachen, deine Freude wieder zurückzubringen, auf dass diese Welt wieder heller werde und die alten Tage voller Schönheit wiederkehren."

Doch sie sagte kein Wort, sah ihn nicht an, stumm starrte sie nur auf das Kräuseln des Wassers zu ihren Füßen, gefangen in ihrer eigenen Trauer und taub gegenüber seinen Worten.

Darion strich über ihr brüchiges Haar und küsste sie zum Abschied auf die Stirn, dann begab er sich mit einem letzten Blick zurück zu dem Fluss, an dessen Ufer sein Boot lag und ruhig ihrer Reise harrte.
 

Viele Tage sollte er flussaufwärts fahren, weder durch das wechselnde Wetter noch andere Gefahren von seiner Reise abzuhalten. Seine Aufgabe erfüllte er, doch nun mehr ohne große Freude, denn diese war mit dem Lachen Yannas verschwunden.

Schon bald musste er sein Boot zurücklassen und seinen Weg zu Fuße weiter suchen, denn immer öfter wurde nun der Wasserlauf des Flusses wilder und stürzte vereinzelt in hohen Fällen tief hinab.

Doch Darion wankte nicht, denn in seinem Herzen sah und hörte er Illara. Die Hoffnung, vergangene Freunden wieder lebendig machen zu können, streichelte seine wunde Seele und beflügelte seinen Schritt, das Unmögliche zu wagen.

Endlich hatte er die Ebene erreicht, in der den Erzählungen nach für das kundige Auge der Eingang zur Unterwelt liegen sollte. Jedoch konnte er nichts entdecken und der Fluss, dessen Lauf er bis hier her gefolgt war, schien beinahe aus dem Nichts zu entspringen.

Tagelang irrte der Wächter über das karge Plateau, immer nach einem Eingang suchend, doch nie etwas anderes findend als graue Erdkrummen und verkümmerte Grashalme. Schließlich war die Verzweiflung in seinem Herzen so groß geworden, dass er sich auf die Erde niederkniete, seine Hände in die Erde grub und weinte.

"Ihr großen Götter, ich flehe euch an! Gewährt mir Einlass! Die Seele meiner Tochter habt ihr mir bereits genommen. Was für ein Unglücklicher bin ich, dass ihr mir auch die meines Weibes nehmen wollt? Was habe ich getan? Seht her, ich gebe euch alles, was mein ist, wenn ihr mir nur den Zutritt zur Unterwelt gewähren wollt!"

Und mit diesen Worten warf er alles fort außer dem, was er am Leibe trug und streckte die leeren Hände gen Himmel. Er wagte kaum zu hoffen, dass sein Appell gehört worden wäre, doch dann sah er eine Gestalt durch den Staub schreiten, der durch einen plötzlichen Windstoß aufgewirbelt worden war. Lange erkannte er sie nicht, doch als er den nachtschwarzen Streifen in ihrem Haar erblickte, sprang er auf und rief voller Freude: "Kainan!" Denn er hatte den Wächter des Todes gefunden.

Doch auf dessen Lippen spiegelte sich nur die schmale Andeutung eines Lächelns wieder, als er Darion sah. Seine Stimme war tief und obwohl leise, schien sie doch bis auf den Grund seiner Seele zu dringen, als er sagte:

"Du begehrst Eintritt in das Reich der Toten, Darion? Dann wisse, dass es niemandem, selbst den Göttern nicht, gestattet ist, über diese Grenze zu treten ohne einen Preis zu zahlen. Du musst das opfern, was anderen an dir am liebsten ist."

Der Wächter über Licht und Dunkelheit zögerte nicht, als er entgegnete:

"Wenn Yanna dafür ihr Lachen wiederfindet, so soll mir dies ein geringer Preis dafür sein. Nun sage aber, was begehrst du genau von mir?"

Und Kainan antwortete:

"Ich habe es in deinem Herzen und deinen Erinnerungen gesehen: Das Augenlicht ist es, was ihr am meisten bedeutet. Bist du wirklich bereit es zu opfern? Die in der Unterwelt leben nicht nur die, die gestorben sind, sondern auch andere, welche große Gefahr bedeuten können. Wie willst du ihnen ohne zu sehen entgegen treten?"

Noch immer wankte Darion nicht in seiner Antwort.

"Einst habe ich geschworen, alles für meine Liebe zu tun. Nun ist die Zeit gekommen, diesen Schwur zu erfüllen."

Der Wächter über Leben und Tod nickte bedächtig - und mit einem Mal blendete ein grelles weißes und schmerzendes Licht die Augen Darions. Mit einem gequälten Schrei auf den Lippen wich dieser zurück, schlug seine Hände vor das Gesicht und versuchte verzweifelt, etwas zu erkennen. Doch nichts sah er mehr, seine Welt blieb in Dunkelheit gehüllt.

Er war blind.

Eine durch Pein verzerrte Stimme erreichte sein Ohr. Mit letzter Willenskraft drängte er die drohende Ohnmacht und den Schmerz zurück, um ihr zu lauschen und erkannte die Stimme als die Kainans.

"Gib mir deine Hand, Wächter, und ich werde versuchen, dir zu erzählen, was du nun nicht mehr sehen kannst.

Diese Ebene auf der du standest und stehst, ist kaum das Tor zur Unterwelt, es IST das Reich der Toten. Hättest du die Fähigkeit zu sehen, du würdest hunderte Schemen vergangener Leben wahrnehmen können, die Spuren in der Luft hinterlassen wie es auch die Füße der Lebendigen im Sand tun. Manchmal wirst du einen Strom, einen kurzen Zug von Erinnerungen und flüchtigen Eindrucken verspüren - dann bist du mit einem von ihnen in Berührung gekommen. Da ich lediglich der Wächter über Leben und Tod und keineswegs ihr Herr bin, ist es meine Aufgabe, an diesem Tor zu wachen und die Seelen hindurch zu lassen - allerdings weiß ich weder, was mit ihnen geschieht, noch was hinter dieser Ebene liegt, welche Gefahren noch lauern mögen oder wie du die Seele, die du so dringend suchst, finden oder gar retten kannst. Darum musst du nun den Weg, der vor dir liegt, alleine beschreiten und dich ganz auf die Sinne verlassen, die dir geblieben sind. Es ist dir erlaubt, deine Waffen mitzuführen, jedoch können sie den Seelen kein Leid mehr zufügen, denn ihre Körper sind schon tot.

Geh nun, Darion, und möge das Licht der Liebe in deinem Inneren dir deinen Weg mehr erhellen als ich es vermag!"

Nach einem kurzen Dank machte sich der blinde Wächter auf den Weg. Er wusste noch nicht wohin, ließ sich einfach von seinem Gefühl leiten. Schwer genug war es, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne zu stolpern, schwer genug, wenn man nicht sah, wohin einen der Weg führte. Wie sollte er jemals die namenlose Seele seiner kleinen Tochter finden, wie sollte er sie erkennen? Es gab keine Erinnerungen, die sie besitzen konnte, denn ihr Leben hatte geendet, eigentlich noch bevor es begonnen hatte. Und wenn er sie dennoch finden sollte, wie konnte er sie mit fort nehmen in die wirkliche Welt, wie ihr einen Körper geben?

Fragen geisterten durch seinen Kopf und fanden keine Antwort, während er blind auf der Ebene herumirrte. Schließlich überwältigte ihn die Hoffnungslosigkeit und er sank zu Boden. Tränen liefen ihm aus den Augen, die nun weiß waren und nichts mehr sahen als Schwärze.

Eisiger Wind schien ihn zu umfahren, wirbelte Staub auf und drang mit seiner Kälte bis auf die Knochen Darions, der frierend versuchte, sich in seinen Umhang zu hüllen. Doch unter seinen ungeschickten, steifen Fingern flatterte das Kleidungsstück davon und da er keine Möglichkeit erkannte, es wieder zu finden, war er nur noch mehr dem Frost ausgesetzt, der jeden Winkel seine Körpers zu durchdringen schien und ihn zu Eis erstarren ließ.

Die flüchtigen Präsenzen, die er bisher trotz allem noch immer irgendwie hatte fühlen können, verschwanden mit einem Mal und ließen ihn alleine dem brennenden Sturm ausgesetzt. Er spürte, wie sich ihm etwas näherte, etwas, das seine ganze Umgebung mit einer Art bösen Ausstrahlung erfüllte.

Darion wusste es nicht, doch es war ein Eisdämon gewesen, der seine Hilflosigkeit gesehen und ihn zu seinem Opfer auserkoren hatte. Eisdämonen weiden sich an der Hilflosigkeit und Verzweiflung der Menschen; sie trinken sie wie andere das Wasser und leben davon.

So kam es, dass der Wächter über Tag und Nacht im Reich der Toten gefangen gehalten wurde.
 

Auf Erden fügten sich die Dinge nicht länger in ihre natürliche Ordnung nach seinem Verschwinden. Sonne und Mond waren nicht länger am Himmel zu sehen; es herrschte dunkle Schwärze und Tiere und Pflanzen welkten dahin, weil es ihnen an Licht fehlte.

Dies war die Zeit der großen Finsternis.

Viele Tage hatte Yanna regungslos am Ufer der kleinen Quelle verbracht, ungeachtet dessen, was um sie her geschah. Doch eines Tages merkte sie, wie ein kleiner Teil ihres gefrorenen Herzens zu schmerzen begann, als die Dunkelheit die Welt überzog. Endlich wurden ihr die letzten Worte Darions wieder bewusst und mit einem zitternden Schrei auf den Lippen sprang sie auf und rief seinen Namen.

Doch alles Rufen war vergebens, denn ihr Geliebter weilte noch immer einsam und gefangen in den öden Weiten des Totenreichs.

Als sie seinem Vorhaben gedachte, schlang sie zitternd ihre Arme um den Leib, denn es war ihr bewusst, dass er alleine ihretwegen dieses unmögliche Vorhaben durchzuführen gedachte. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie spürte, wie sie nicht nur ihr Kind verloren hatte, sondern vielleicht auch den einzigen Menschen in den Kreisen dieser Welt, der ihr jetzt noch etwas bedeuten mochte.

Erstmals seit dem Tode ihrer Tochter regte sich etwas anderes als Trauer in Yannas Herz. Sie gedachte des Abends am See der Saphire, dem ewigen Schwur der Treue, den sie einander damals gegeben hatten und erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen. Jedoch wuchs gleichzeitig etwas anderes in ihr: der unbedingte Wille, wenigstens dieses kleine Stück Glück ihres Lebens zu retten, noch bevor alles verloren wäre.
 

So machte auch sie sich nun auf, den Eisfluss hinauf das Reich der Toten zu suchen. Sie war eine Nymphe und darum war es ihr leichter, in und auf dem Fluss vorwärtszukommen. Doch sie war wärmere Gebiete gewohnt und schon bald ließ das eisige Wasser ihre blasse Haut bläulich schimmern.

Doch auch sie erreichte auf den Spuren Darions das karge Hochplateau. Und wie auch er flehte sie nach langer, vergeblicher Suche irgendeines Lebenszeichens die Götter um Hilfe an. Wie zuvor ihres Mannes, so erbarmte Kainan sich ihrer ebenfalls.

Mit leisem Rauschen erschien er vor ihren verzweifelten Augen, wieder keine Spur eines Lächelns auf den kalten Lippen, denn er wusste um die Prüfungen, die sie durchgemacht hatte und noch durchmachen würde.

„Du musst Yanna sein, die Frau Darions, des Wächters, der hier Eintritt begehrte um die Seele seiner Tochter zu suchen.“

„Ja!“ rief sie da,“Ja, ich bin Yanna, die, um derentwillen er vielleicht in sein Verderben rannte. Doch sagt mir Herr, wo ist er? Was ist mit Darion geschehen, dass meine Augen ihn hier nicht erblicken können?“

Kainan sah sie lange Zeit traurig an, dann erwiderte er:

„Er ist noch immer hier, im Reich der Toten. Wie alle, so musste auch er einen Preis bezahlen, dass er fähig war, die unsichtbare Pforte zu beschreiten, die zwischen beiden Welten liegt. Sein Preis war schrecklich, doch schrecklicher noch ist sein Schicksal, welches er nun erduldet.“

„Sagt es mir!“ Yannas Stimme zitterte, doch ihr Wille war fest. „Schont mich nicht, denn ich muss wissen was geschehen ist.“

„Nun, so erfahre denn, dass er sein Augenlicht dafür hergab, die andere Seite zu betreten. Da ich nur der Wächter bin, der dieses Pforte bewacht, dem es aber nicht erlaubt ist, weiter zu gehen, so weiß ich nicht, was ihm widerfahren sein mag. Doch es kann gut sein, dass einer der Dämonen, die hier oben hausen und sich vom Leid einzelner ernähren, ihn gefunden und in sein kaltes Gefängnis aus Hass verschleppt hat. Die Ketten, die einen dort halten, sind viel fester als sie es je aus Stahl oder Eisen geschmiedet sein könnten. Sie sind gemacht aus Angst, Einsamkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.“

Da wurde Yanna das Herz schwer, ihren Geliebten so einsam zu wissen. Und doch wankte sie nicht in ihrem Entschluss, ihm zu helfen. Und so fragte sie Kainan:

„Dann sagt mir, Wächter, was kann ich tun, um Darion von diesem Schicksal zu erlösen? Ich werde nicht zögern, jede Bedingung zu erfüllen, denn habe ich durch mein Handeln der letzten Zeit auch Schuld auf mich geladen, so liebe ich ihn doch noch immer und werde dafür Sorge tragen, dass das Unrecht, welches ich ihm angetan habe, wieder zum Guten gewendet werden wird.“

„Ich sehe die Stärke deines Willens, Yanna, und so zweifele ich nicht, dass du es schaffen kannst, ihn zu erlösen. Jedoch muss ich auch von dir einen Preis verlangen, so wie es meine Pflicht ist bei jedem, der als Lebendiger Einlass in dieses Reich verlangt. Ich werde dir das nehmen müssen, was anderen bei dir am meisten bedeutet und ich sehe, dass es dein Lachen ist, was Darion immer besondere Freude verlieh. Bist du bereit, diesen Preis zu zahlen?“

„Ja,“ wiederholte sie, „Ja, ich werde diesen Preis bezahlen. Doch bevor ihr mein Lachen nehmt, so sagt mir noch eines, Wächter: Wird es irgendwie möglich sein, die verlorene Seele unserer Tochter zu finden und ihr wieder neues Leben einzuhauchen?“

„Dies kann ich dir nicht sagen, Yanna. Denn alles, was über meine Pflicht als Wächter hier hinaus geht, übersteigt mein Wissen. Es ist Aufgabe der hohen Götter, euch diesen Wunsch zu erfüllen oder nicht. Ich vermag auch nicht zu sagen, wo du finden kannst, was dir so teuer ist, doch die Kraft der Liebe in deinem Inneren wird dich auf den rechten Weg leiten.“

Als Yanna nun nichts mehr erwiderte, nickte Kainan leicht und die Nymphe spürte, wie etwas in ihr für immer verschwand. Ihre Sprache war ihr noch geblieben, doch um ihre Freude auszudrücken, hatte sie nun nicht mehr zur Verfügung als ein Lächeln.

Dafür jedoch erblickten ihre Augen, was kaum einer zuvor hatte schauen dürfen. Der Wächter war verschwunden, doch um sie her war die Luft nun erfüllt von silbern schimmernden und immer wieder verschwimmenden Schemen. Berührte sie einer dieser verlorenen Geister, so fühlte sie mit einem Schaudern einen kurzen Eindruck unklarer Erinnerungen und Bilder durch sie hindurch strömen. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte auf der kargen Ebene, die nun vor ihr lag, doch tief in sich erahnte sie, auf welchen Weg sie ihre Schritte führen sollten. Nach

kurzem Zögern schritt Yanna in die Richtung davon, die in der normalen Welt entgegen gesetzt der Sonne zur Mittagszeit lag.
 

Darion hatte indessen jedes Gefühl für Zeit in seinem grausamen Gefängnis verloren. Kaum wusste er noch, wer er war, noch was ihn hierher geführt hatte. Das einzige, was er sich durch die ganze Qual der Einsamkeit bewahrt hatte, was ihm der Dämon noch nicht hatte nehmen können, war ein Wort tief in seinem Innersten verborgen: illara.

Ob Minuten, Jahre oder Stunden vergangen waren, wusste er nicht, doch auf einmal legte sich etwas anderes als die kalten Finger der Furcht an seine Wange und von ferne, wie durch einen Schleier hört er:

„Darion!“

Er kannte diese Stimme, das wusste er, doch noch vermochte er sich nicht zu erinnern, wem sie gehörte.

„Darion, so hör mich doch. Ich bin es, Yanna. Yanna, deren Stimme du so oft gelauscht hast und deren Lachen du einst so liebtest. Darion, bitte höre meine Worte! Wach auf!“

Da endlich glomm ein Licht der Erinnerung in seinem vereinsamten Herzen auf und er rief:

„Illara! Oh Licht meines Lebens, lache für mich! Lache für mich, auf dass ich den Weg aus dieser kalten Dunkelheit heraus finde!“

Doch statt eines Lachen pressten sich nur zwei weiche Lippen auf die seinen. Sie hielt seinen Kopf, streichelte die Wangen und versuchte kaum, die Tränen zu verbergen, die ihr nun über das Gesicht rannen.

„Oh Darion! Darion, ich kann nicht. Hast du denn vergessen, was der Wächter sagte? Ich musste als Preis für den Eintritt in das Totenreich mein Lachen entrichten, so wie du das Licht deiner goldenen Augen. Aber was, mein Geliebter, ist schon ein Lachen gegen die Wonne, noch einmal in dein Antlitz sehen zu dürfen? Geht unsere Liebe denn nicht über all das hinaus?

Sag mir, mein Wächter, kannst du mich nun noch lieben, nachdem ich dich so schmählich im Stich gelassen und darüber hinaus noch mein Lachen verloren habe?

Die Welt ist in Dunkel gefallen, weil du nicht mehr in ihr weilst; bringe das Licht wieder in sie und in unser beider Herzen zurück!“

Und wieder küsste sie seine Stirn, während ihre Tränen sein Antlitz netzten.

Darion jedoch tastete mit seinen Händen nach ihrem Gesicht und endlich, als er das salzige Nass auf ihrer weichen Haut berührte, spürte er, wie die Kälte zusammen mit dem Bann um ihn herum wich. Aber obwohl er nun befreit war aus dem kalten Gefängnis der Eisdämonen, konnte er sich kaum bewegen.

„Yanna, mein Licht, gerne würde ich tun, was du mir sagst. Denn was sollte ich dich verlassen wegen deines Lachens, das du aufgabst, nur um mich zu finden? Welch größeres Opfer hättest du bringen können als dieses? Aber ohne die Fähigkeit meiner Augen, zu sehen, irre ich schwach und hilflos umher. Was könntest du schon anfangen mit einem Mann, nicht mehr als ein Krüppel und Schatten seines früheren Selbst?“

„Wenn dies alles ist, was du fürchtest, Geliebter,“ sagte sie und küsste ihn liebevoll, „so lass meine Augen die deinen sein. Lass mich sehen, was du nicht zu erblicken vermagst und die Schatten für dich vertreiben!“

Da schwieg Darion und so nahm sie seine Hand in die ihre und hieß ihn aufstehen. Sie spürten beide, wie die Gemeinsamkeit ihrer Liebe ihnen wieder Kraft schenkte. Zu zweit brauchten sie sich ihrer nicht zu schämen, denn was dem einen fehlte, besaß der andere.
 

Doch wie sollten sie die Seele ihrer Tochter finden, die hier herumirrte zwischen Millionen anderer Lebensechos?

Eng schmiegten sie sich aneinander, als ihnen gewahr wurde, dass eine solche Suche ewig dauern und doch nie zum Ziel führen könnte. Und doch war ihre Verzweiflung nicht so groß wie zuvor, denn in all ihrer Hoffnungslosigkeit hatten sie immer noch einander, was ihnen eine größere Wärme gab als selbst das heißeste Feuer hätte hervorrufen können.

So klammerten sie sich aneinander, bis Yanna die Augen schloss und flüsterte:

„Darion, ich weiß, wie wir sie finden werden. Erinnerst du dich noch all der glücklichen Stunden da wir nach einem Namen für sie suchten? Sag mir, welchen Namen haben wir ihr gegeben?“

Darion sah in die Ferne, doch seine blinden Augen blickten in die Vergangenheit.

„Elianne. Weißt du nicht mehr? In jenem alten, von Magie durchdrungenen Wald...“ sagte er schließlich leise.

„Elianne.“

Yanna lächelte.

Dann, mit einem Mal, umklammerte sie seine Hand fester. Sie gedachte des Lebens, das sie neun Monate in sich wachsen gespürt hatte, des kleinen schlagenden Herzens, der ersten Bewegungen des Leibes in ihrem Leib. Sie gedachte der ganzen Liebe, die sie auf dieses Kind gerichtet hatte, die ganze Fürsorge, die sie beide ihrer Tochter hatten geben wollen. Sie spürte, wie Darion neben ihr genau dasselbe tat und schließlich riefen sie beide wie aus einem Mund den Namen derer, die so früh gegangen war:

„Elianne!“

Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch wirklich ihre gemeinsame, verbundene Kraft, aber beide spürten sie, wie eine weitere Seele durch sie hindurch glitt. Und als einzige Erinnerung sahen sie, verschwommen, aber doch unfehlbar eine stürmische Nacht, vor der sich ein schwarze Schemen mit golden aufleuchtendem Haar abzeichnete. Dann ein zweites Gesicht, blass und abgehärmt, aber doch voller Glück und gleichzeitig Sorge über das kleine Leben in ihren Armen.

In diesem Moment lehnte sich Yanna fest an Darions Schulter und Tränen der Freude flossen aus ihren Augen.

„Wir haben sie gefunden. Elianne, kleine Tochter, wir haben dich endlich gefunden! Oh Darion, jetzt wird bestimmt alles gut.“

Ihr Wächter jedoch erwiderte nichts, sondern strich ihr nur sanft durch das Haar, während sie beide spürten, wie die kleine Seele wieder und wieder durch sie hindurch glitt, als hoffe sie, etwas von der Lebenskraft ihrer Eltern zu bekommen. Ihm war bewusst, dass es nicht so einfach sein könnte, dass Leid niemals ohne Opfer zu Freude gewandelt werden konnte.

Doch ihm war ebenfalls klar, dass er auf einmal alles tun würde, um diesem kleinen Echo des Lebens wieder eigenen Klang zu verleihen. Und er wusste, dass es Yanna ebenso ging.
 

Plötzlich hörten sie beide eine Stimme von dem einförmig grauen Himmel zu sich herab klingen.

„Was würdet ihr geben, um diese Seele, die euch umschwebt, wieder in das Reich der Lebenden zu bringen?“

„Alles.“ Keiner der beiden zögerte, als sie gleichzeitig diese Antwort aussprachen.

Darion spürte es noch eher, als es Yanna sah: Eine Gestalt tauchte mit einem Mal vor ihnen auf, gekleidet ebenso einfach wie elegant. Weder in seinen Augen noch in seinem Gesicht lag die Spur eines Lächelns und seine Stimme war ungerührt, als er weiter sprach.

„Es ist ein ehernes Gesetz, dass das Gleichgewicht des Lebens in der Welt nicht verändert werden darf. Man kann keine Lebenskraft nehmen oder hinzufügen, wie es einem beliebt. Ist ihr Leben euer Wunsch, so muss einer von euch sterben. Und um ihrer Seele Gestalt zu geben, wird es viel Lebenskraft benötigen, nicht nur die eines gewöhnlichen Sterblichen.“

Darion spürte, wie sich die Gestalt Yannas an seiner Seite versteifte. Dennoch war ihre Stimme fest und zeigte kein Zittern, als sie erwiderte:

„Ich bin ein Nymphe, eine Bewahrerin des Wassers, mitnichten eine gewöhnliche Sterbliche. Wird mein Leben genügen, das ihre auszulösen?“

Noch bevor Darion etwas dazwischen rufen konnte, erscholl die Stimme des Mannes, der nun vor ihnen stand.

„Ja, euer Leben wird genügen, ihr Gestalt und Kraft wiederzugeben.“

„Aber wenn sie geht, werde ich mit ihr gehen. Ich habe versprochen, sie niemals im Stich zu lassen; und niemals, niemals werde ich dieses Wort brechen. Ohne sie wäre meinem Leben jegliche Freude genommen. Wer soll mein Herz wärmen, wenn sie fort ist? Wer für mich sehen und mir den Weg durch die Zeiten zeigen? Stirbt sie, so stirbt mein Herz mit ihr. Und lieber lebe ich diesen letzten gemeinsamen Sekunden mit Yanna zusammen, als alle Zeiten ohne sie zu sein. Eine Liebe wie die unsere besteht weiter nach dem Tode. Sie wird nicht einfach so vergehen.“

Und von Yanna kamen keine Widerworte, denn sie wusste, dass Darion aus dem tiefsten Grunde seiner Seele so sprach und nichts ihn umstimmen konnte.
 

Und so kam es, dass beide lieber gemeinsam ihr Leben hergaben, als ohne den anderen die Zeitalter der Welt zu durchstreifen.

Der Herrscher des Totenreiches, der zu ihnen gekommen war, herbei gelockt durch eine Verbindung, wie selbst er sie noch nie gesehen hatte, wusste wohl, was zweifache Lebenskraft bedeuten konnte. Einen Teil Darions verleibte er Sonne und Mond ein, auf dass auf der Erde wieder Tag und Nacht werde, der Rest aber gehörte Elianne.

Einen letzten Wunsch stellte er jedem von ihnen frei, was sie ihrer Tochter mit auf den Weg geben wollten. So gaben sie ihr die Liebe zu allem Lebendigen der Welt mit und gleichzeitig die Fähigkeit, die Sprache eines jeden Lebewesens zu verstehen.

So voll würde der Geist von Elianne sein und so gesegnet ihre Gaben, dass diese niemals ganz vergehen würden; nach ihrem Tode würden sie weitergegeben werden, von Seele zu Seele, immer eine Bewahrerin des Lebens auf Erden hervor bringend.

Man sagt, dass in jenem Moment, als Yanna und Darion vergingen, sie gefangen waren in einem innigen Kusse, nun für immer vereinigt in ihrer Liebe, die sogar den Tod überwunden hatte.

Und der erste Sonnenstrahl, der nach langer Dunkelheit wieder auf Erden fiel, erleuchtete ein kleines Kind, welches auf einer Lichtung lag und umgeben war von Tieren; ihm zur Seite aber saßen zwei Phönixe, die der ersten der Grünen Frauen ihr ganzes Leben lang nicht mehr von der Seite weichen würden.

Manche behaupten, in ihnen steckten die wiedergeborenen Seelen Yanna und Darions, die so Jahrhundert für Jahrhundert in dieser Welt verbrachten, von nun an immer vereint.

Nie wieder, so sagt man, hat die Welt eine Liebe wie die ihre gesehen, eine Liebe die so frei und stark war, dass sie alles überwinden konnte, selbst den Tod. Aber immer, wenn die Menschen die ersten Strahlen der Sonne den Himmel erhellen sehen, so gedenken sie ihrer und der Macht, die zwei vereinte Herzen haben können.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  CoraChan
2013-04-25T20:35:52+00:00 25.04.2013 22:35
Ein paar kleinere Fehler drin, aber wirklich schön^^
Von:  Akihma
2013-04-19T14:11:16+00:00 19.04.2013 16:11
Eine wirklich wundervolle Geschichte. Danke fürs schreiben und hier einstellen ;)
Antwort von:  Karen_Kasumi
19.04.2013 18:17
Vielen, vielen Dank für das Kommentar! =D Freut mich, dass sie immernoch gefällt :).
Von:  MorgainePendragon
2008-11-08T12:33:11+00:00 08.11.2008 13:33
Mein Herz.... Oh mein Gott... Was für eine wunderschöne, tief berührende Legende du da gewoben hast. Kennst du den Appendix von "Der Herr der Ringe"? Den, wo die Geschichte Arwen Undomiels verzeichnet ist? IHR Schicksal war es ja, nach Aragorns Tod allein die Welten zu durchstreifen. Aber DU schreibst genauso, wenn nicht sogar poetischer als Tolkien. Und das Schicksal von Darion und Yanna ist zwar auch sehr ergreifend, jedoch auch mutmachend und tröstlich. Denn hier steckt eine positive Auffassung dahinter. ALLES kann man schaffen, wenn man liebt. Das gibt einem Kraft, wo sie einem sonst fehlen würde.

Ich wünschte meine Liebe wäre so stark und zweifelsfrei wie die Yannas zu Darion. Leider gibt es immer noch Zweifel in mir, geboren aus der lapidaren Tatsache der räumlichen Entfernung, die Dirk und ich ja nun voneinander haben. Wenn ich ihn nur öfter sehen könnte, dann wären keine Zweifel in meiner Liebe zu ihm. So frage ich mich: Liebt er mich so, wie ich ihn liebe? Vermisst er mich so, wie ich ihn vermisse? Nur wenn er bei mir ist, ist all das nicht mehr wichtig.

Aber er hat mir mal ehrlich geschrieben, dass er nicht sagen kann, ob es eine gemeinsame Zukunft mir ihm, so wie ich sie mir vorstelle, geben wird. Er glaubt das nicht. So hat er es mal gesagt. Kein Wunder, dass ich zweifele.

Hingegen war ich mir Holgers Liebe immer bewusst. Er hat sie nicht so gezeigt. Alles war selbstverständlich geworden. Aber... ich weiß dass sie noch da war. Vielleicht noch da ist. Aber ich hab ihm sehr weh getan. Kann ich da überhaupt noch irgendetwas erwarten?

Ich habe deiner Geschichte viel Trost und Wärme entnommen. Dafür danke ich dir. Es sind verzauberte Worte. Du bist so eine Poetin, Kleines. Ich liebe deine Geschichten. Sie entführen die Gedanken in eine andere Welt, weg vom Alltag und dem Schmerz. Ein wenig Linderung, wo ich momentan so schwer welche finde. Tausend Dank, Süße.

Ich hoffe so sehr, dass Dirks und meine Liebe stark genug ist, das hier nun auch zu überstehen. So sehr. Ich will es so. Aber dieser nagende Zweifel... Hält er jetzt nur noch zu mir, weil ich monentan halt eben Hilfe brauche? Und danach? Wird er dann immer noch da sein? Er wird weggehen und irgendwo Arbeit finden. Es hört sich nicht so an, als wenn er sich groß kümmert, was dann aus mir wird... Vielleicht egoistisch von mir, weil er sich ja auch selbst erst finden muss. Aber wenn das Liebe ist, was uns verbindet.... Kann ich dan nicht erwarten, dass er sich wenigstens fragt, ob es MÖGLICH wäre? Eine Zukunft mit mir?

Ich hoffe so sehr, dass unsere Liebe jetzt wachsen kann. Ohne Heimlichkeiten.

Auf der anderen Seite würde ich Holger nur ungern als Freund verlieren. Es ttu so weh, wenn er nicht um mich ist. Erstaunlich dolle weh.

Alles ist unsicher...

Aber ich danke dir für dieses Geburtstagsgeschenk. Auch Yanna und Darion haben viel Leid erfahren. Aber letztenendes ist ihre Liebe dadurch nur stärker geworden. Und was gibt es denn schlimemres, als ein Kind zu verlieren? Was meckere ICH denn eigentlich? Es gibt so viel schlimmeres als eine Trennung... (SAGE ich und FÜHLE es anders...)

Ich hab dich lieb, Maus. So lieb. Gib mir Kraft. Bitte gib mir Kraft das zu schaffen.. Wie Yanna... Und wie Darion...

PS: Wann immer ich nun einen Sonnenaufgang sehe... und ich hoffe ich werde noch ein paar sehen dürfen. Wenn es geht, nicht allein. Dann werde ich ihn mit anderen Augen betrachten.

*leise wein*
Von: abgemeldet
2008-11-05T11:03:26+00:00 05.11.2008 12:03
Was für ein Epos!! Was für eine Magie und Fantasie.
Kurzgeschichten an sich fallen mir schon immer schwer und wenn ich dann soetwas lese... Kurz und doch so voller Geschehen und Aktion. Is mir ein Rätsel. *lach*
Ich kann nur voller Respekt meinen Hut ziehen. Du bist wirklich talentiert.
In sich geschlossen und logisch, mit so viel Gefühl und Liebe geschrieben. Und noch dazu eine Ausdrucksweise die mich zu einem stammelnden Analphabeten degradiert. xDD
Du liebst solche Erzählungen. Mit Liebe und Dramatik. Und du lebst sie, während du sie schreibst. Das mekrt man und das macht deine Kurzgeschichten aus.
Ich finde es immer schwer, dabei die Balance zu behalten, nicht zuuu sehr zu übertreiben mit all dem Schöngeist und dem Herz-Schmerz. Aber vor allem hier ist dir das sehr gut gelungen.

Ich hoffe wirklich, dass dein Studium dir zumindest im Rahmen noch den Raum lässt, weiterhi solche Werke zu erstellen. Es wäre eine Schande, wenn du damit aufhören würdest.
Für den Moment des Lesens verzauberst du den Leser und entführst ihn in eine andere Welt. Das muss man erst mal hinbekommen.

Nighty
Von: abgemeldet
2008-07-23T18:46:10+00:00 23.07.2008 20:46
Ich bin Schuld? o.O...O.o...O.O
Wow. Dann habe ich der Menschheit hiermit einen Gefallen getan - an Deinen Geschichten kann ich mich ohnehin nicht sattlesen *Q*

Aaalso, hier der versprochene Endlos-Kommentar für heute:

Den Einstieg finde ich gut - durch das Kursive und den 'Sprung' aus der erzählen Geschichte zum Jetzt wird schonmal Spannung aufgebaut. Vielleicht noch eine Leerzeile zwischen kursiv und normal, dann wäre der 'Bruch' klarer - aber das ist nur Formsache und daher für den Verlauf unerheblich. ^^ Und die Bezeichnung "wacher Schlaf" ist toll - sei es Paradoxon, Oxymoron oder was anderes, ich mag das. Klingt schön, als würde man einem Geschichtenerzähler zuhören. ^^

Die Bezeichnung 'Alter Wald' hat bei mir augenblicklich Assoziationen zu Tokliens 'Der kleine Hobbit' hervorgerufen - und damit zu lebendigen Bäumen, mit denen nicht zu scherzen ist. Und zu Gollum, aber das würde zu weit führen XD

>grinsenden Baumhöhlen, greinenden Blattgespenstern...<
Das ist toll gemacht - erst mal der Gegensatz grinsend-greinend, und dann auch noch alliterativ verpackt. Schönes Bild, Karen-chan.
Ich empfehle zur Untermalung Klaviermusik, bei mir läuft gerade Liszt querbeet, und die Gänsehaut wird immer schlimmer. Hat was von einem Film - von Sleepy Hollow, wie Nightstalker schon gesagt hat ^^.

Ai, dieser Erfahrungsbericht lässt meinen Lesezahn tropfen - kann man Dich rein zufällig dazu animieren, die Geschichten, auf die der Erzähler hier anspielt, auch noch zu Papier/Bildschirm zu bringen? Mich würden Dinge wie die Gholgrabungen oder das Gargylenerwachen brennend interessieren... da könnte man sicher eine schöne Reihe daraus machen... *unauffällige Suggestion Ende*


Deine Steigerung der Dichte gefällt mir ausnehmend gut - erst langsame Beschreibungen, die in aller Ruhe in den Walt führen, dann wird es immer schneller, bis der Erzähler rennt, und dann wird es steinig. Und mit den Findlingen bremst Du wieder ab, sodass der Leser hibbelig wird, weißt Du das? Und dann kommt der Wechsel von der reinen Aufnahme der Umgebung hin zur persönlichen Wahrnehmung - wenn der Leser sich biher eher auf das konzentriert hat, was im Unterholz lauern könnte, so lauscht er jetzt. Und das schon mit einer gewissen Unruhe. Wenn dann der Platz beschrieben wird, und die darauf befindlichen Wesen, dann weiß man schon, dass tewas passieren muss. Der leichte Unmut des Erzählers, weil so viele Andere anwesend sind, ist übrigens süß, weil er die Stimmung wieder ein wenig auflockert.

Die Dryade *Q* - dieses Sich-aus-dem-Baum-Lösen war so grandios geschildert, dass man es als Filmvorlage verwenden könnte, eine komplette Szene, als würde die Kamera auf den Baum schwenken und dann die Dryade auftreten. Der man deutlich anmerkt, dass sie etwas Raubtierhaftes an sich hat. Das, was dann folgt, hat etwas leicht Verstörendes, der Gedanke an Menschen, die voll und ganz dem Bann der Dryaden unterliegen. Wenn ich wollte, könnte ich das Bild des Dryadenkusses, der die Männer zu Holz macht für eine Metapher halten - und das ganze auf Aristoteles zurückführen, der für die goldene Mitte zwischen Überschwang und Askese plädiert. Hmja. Ich fange an zu interpretieren ^^°.

Mir fällt auf, dass >Mit einem Mal packte mich eine Welle von Ekel und Abscheu über diese Art von gestohlenem Leben,< einen Abschnitt einleitet, der sich vom vorangegangenen abhebt - ich hatte das Gefühl, dass ich die Stille des Augenblickes ein lauter Schrei eindringt, fast so, als würde sich der Erzähler zum Fremdkörper inmitten der (magisch-) harmonischen Situation machen. Mein Kopfkino zeigt mir derzeit ein fließendes Zoomen auf den Erzähler, bis man mit ihm auf Augenhöhe ist, und seinem Blick folgt, als er sich der Dryade gegenübersieht.

Das Ende war einfach schön. Rund und ein wenig offen und eine Klammer, die das Geschehene mit dem Anfang - also der vorigen Generation - verbindet und den Leser mit dem Bild eines erneuten Tanzes entlässt.

Sprachlich ist Dein Text natürlich erste Sahne - und inhaltlich war er faszinierend. Ich habe immer wieder von Dryaden gelesen, aber Du bist die Erste, die sie aus der Rolle der 'harmlosen' Naturgeister herausschreibt und zu gefährlichen, tödlichen Tänzerinnen macht. Ehrlich gesagt mag ich Deine Dryaden lieber als den Einheitsbaumgeist, der normalerweise und den gängigen Klischees entsprechend herzensgut und menschenfreunlich ist. Deine 'Damen' sind Jägerinnen, Fallenstellerinnen und sich dabei keiner Schuld bewusst, weil sie Teil eines uralten Ganzen sind. Schön, schön, schön, Karen-chan ^^b
Außerdem sehe ich auch eine Entwicklung des Charakters, aus dessen Perspektive Du die Geschichte aufrollst: Zuerst ist es Neugierde, dann Faszination, dann Angst, dann Ekel und zuletzt Sehnsucht. Wie eine sehr subtile Achterbahnfahrt, der Text - mit viel Fingerspitzengefühl und tollen Bildern umgesetzt.
Ich als Film-Fan könnte mir die Umsetzung als nur mit Musik unterlegten Szenen ohne Eigenton vorstellen, dazwischen die Erzählerstimme. Das wäre sicher was ^^~
Von: abgemeldet
2008-07-23T13:47:52+00:00 23.07.2008 15:47
Ahhhh, welch schaurig-schöne Erzählung!!! *gänsehaut hab*
Solche Geschichten sind doch was Feines. ^^ Voller Fantasie und Mystik. Und du kannst es wirklich sehr gut, dem Leser einer derartige Stimmung zu vermitteln. Und damit unterstützt du den Inhalt deiner Geschichten auf sehr erstaunliche Art und Weise.
Zu allererst hatte ich die Wälder vom Harz vor Augen. Dann den Baumk aus Sleepy Hollow. ^^ Alles wirkt so friedlich und schön...aber trotzdem vermittelst du auch schon auf der ersten Seite das Gefühl, als würde hier etwas an diesem Bild ganz und gar nicht stimmen.
Mir ein Rätsel, wie man sowas hinbekommt... o_o
Und spätestens, als die Dryade dann aus dem Baum kam... da war mir klar: Jetzt gehts los!
Toll wie du ihr Erscheinen beschrieben hast. Und noch viel besser deine BEschreinbung der Verschmelzung. Ich bin begeistert!!! Das ohne Hake und Ösen hinzubekommen, und ohne sich dabei albern zu machen, ist wahrlich nicht einfach. Aber DU kannst das. *lach*
Sehr gruslig.
Die Erzählungsweise aus Sicht dieses Mannes ist auch sehr gelungen. Und dadurch auch das unheilvolle Ende. Düster, wie im Grunde die ganze Geschichte.

Respekt! Wiedermal ein toller OneShot. Du Naturtalent!!! *neid* ^^


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