Blutstränen von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Der Tag war so grau wie mein Gemüt. Wolken zogen über den bleiernen Himmel und drückten schwer auf mein Herz. Seufzend legte ich meine Hand darauf. Es fühlte sich kalt an. Wie der Rest von mir. Auf dem Weg hoch zum Unterricht begegneten mir viele fröhliche Gesichter. Siebt- und Achtklässler alberten herum oder gröhlten durch den Gang. An jedem anderen Tag hätte ich die Nase darüber gerümpft und wäre leicht und scherzend mit meinen Freundinnen ins Klassenzimmer gegangen. Heute nicht. Heute glitt mein versteinerter Blick über die bunten Wände in sattem Gelb und nahm keine Notiz von anderen Schülern. Nur einen Moment lang bemerkte ich zwei Mädchen, die vor mir aus der Toilettentür kamen. Sie machten fröhliche Mienen und und schienen sich über irgendetwas sehr zu freuen. Ich verstand kein Wort von dem was sie sagten und es interessierte mich auch in keinster Weise. Was mich reizte, war dieses nervige Giggeln, das noch hinter mir ertönte. Zugleich war es für mich verwirrend und unverständlich. Warum freuten die sich eigentlich so? Worüber lachten und alberten sie, während ich mich gleichzeitig so unglücklich und wehmütig fühlte? "Jamie", flüsterte ich leise, ohne dass Erie und Alexa etwas davon hörten; Karina winkte eben und ging zu Physik, während wir in unseren Biologie-Unterricht zurückkehrten. An unserem Dreier-Tisch angekommen in der vorletzten Reihe angekommen ließ ich meine Tasche zu Boden fallen und mich auf meinen Stuhl sinken, legte den Kopf auf meine Handflächen und folgte Frau Wenders Ausführungen und Erklärungen nur mit halbem Ohr. Jamies Gesicht tauchte immer wieder vor meinem geistigen Auge auf. Sie lächelte und warf ihre langen braunen Haare mit dem dünnen geflochtenen Züpf zurück, während sie über japanische Mangas und Vampire philosophierte und sich mit mir und Karina über laufende Rollenspiele auf unserer Anime-Webside unterhielt. Mir Anekdoten aus ihrem Leben und von ihrer zum Teil aus England stammenden Familie erzählte. Mich fragte, ob ich ihr beim Lernen helfen konnte. Damals konnte ich es und versuchte mein Bestes. Nun konnte ihr niemand mehr helfen. Es gab auch nichts mehr, weswegen man ihr hätte helfen können. Jamie war tot. Unwiderruflich. Und alles war nur meine Schuld. Meine Gedanken glitten zurück zu den vergangenen Wochen, in denen wir, also Erie, Alexa, Karina und ich uns auf die bevorstehenden Sommerferien freuten. Jamie hingegen zitterte vor der Bekanntgabe ihrer Abiturprüfungsergebnisse. Auch wenn das Herz der 19-jährigen hauptsächlich für Japan und dessen Kultur schlug, hatte sich Jamie in den Monaten vor Beginn der Prüfungen so tief in den Stoff versenkt, dass sämtliche ihrer eigenen Rollenspiele im Internet fast zum Stillstand kamen - ein Zustand, den sie trotz fehlenden Internetanschlusses in ihrer kleinen Wohnung nie zugelassen hätte. Natürlich halfen wir Jamie so gut wir konnten in Mathematik und Biologie, ihren schriftlichen Prüfungsfächern; auch wenn Alexa oft die Nase rümpfte und meinte, die Freundin hätte viel früher anfangen müssen, zu lernen. Für Mathe übte sie mit Karina und Erie, für Biologie jedoch fast ausschließlich mit mir, trotzdessen die anderen Freundinnen dieses Fach ebenso belegten. Doch Jamie bestand darauf, dass einzig ich zu ihr kam und mit ihr lernte. Obwohl ich den Lehrstoff nicht kannte, fiel es mir nicht schwer, ihr fehlende Zusammenhänge zu erklären. Danach fragte ich meine Freundin so lange ab, bis ich sicher war, dass sie es nicht nur behalten, sondern auch wirklich verstanden hatte. Später gönnten wir uns oftmals eine kreative Pause bei leckerem Blutorangeneis und einem schönen Märchenfilm, bevor ich wieder nach Hause fuhr. Jedes Mal hatte ich mich mit einem Glücksgefühl der Zufriedenheit am frühen Abend auf mein Fahrrad geschwungen, fröhliche Musik in den Ohren, weil ich glaubte, Jamie würde mit Leichtigkeit durch die Prüfungen kommen. Tatsächlich war sie am Tag ihrer ersten schriftlichen Abiturprüfung so nervös und aufgeregt, dass sie nur still in einer Ecke saß und noch nicht einmal über ihren Lieblingsmanga reden wollte. Die anderen und ich wünschten ihr alles Glück dieser Welt, bevor sie in die Biologieprüfung ging und das Gleiche taten wir nur wenige Tage später, zur Prüfung in Mathematik. Jamie ging jedes Mal am Morgen schwitzend und zitternd in den Prüfungsraum, um am Nachmittag, ihren schwarzen Mantel über dem Arm, erleichtert und lächelnd auf uns zuzukommen, die wir alle gespannt und fast ebenso nervös auf die Freundin warteten. Es war ihr deutlich anzusehen, dass eine seit endlosen Wochen zentnerschwere Last von ihren Schultern endlich abgefallen war. Aber auch, wenn wir uns alle mit Jamie freuten, dass sie den weitaus beschwerlicheren schriftlichen Teil ihrer Prüfungen nun hinter sich hatte, blieb mir ein leicht flaues Gefühl im Magen zurück, da Jamie auf Fragen zu den Arbeiten, ob sie nun sehr schwer oder leichter gewesen waren, keine zufriedenstellenden Antworten gab. "Ich weiß nicht. Mal sehen...", war das Einzige, was sie auf unsere Fragen erwiderte. Dennoch machte ich mir keine, wie ich fand, unnötigen Sorgen, genauso wenig wie alle anderen. Wir alle waren der Meinung, dass wir, wie Jamie, unser Bestes getan hatten und die Ergebnisse mit Sicherheit zufriedenstellend sein würden. Bei Bekanntgabe der Prüfungsnoten in den einzelnen Fächern waren wir mit Jamie auch dabei, obwohl wir wussten, dass man ihre Ergebnisse nicht laut vor allen Versammelten, zu denen nicht nur die Freunde, sondern mitunter auch die Eltern zählten, vorlesen würde. Ich verstand meine Freundin nur zu gut, dass sie ihre Noten lieber allein im Büro des Schulleiters erfahren wollte. Die größtenteils guten und befriedigenden Leistungen ermutigten uns und flüsternd beriet ich mich mit Erie und Karina über Jamies Noten. "Eine Zwei oder zumindest eine Drei kann sie doch locker schaffen, oder?", fragte ich an Karina gewandt, die eifrig nickte. "Das Thema lag ihr gut", antwortete diese und strahlte. "Wenn ihr nicht wieder solche haarsträubenden Schusselfehler unterlaufen sind, so wie in der Übungsklausur", gab Erie zu bedenken und fummelte an ihren Ohrringen herum. Ich warf Jamie einen Seitenblick zu und schauderte innerlich; an das Ergebnis ihrer Prüfungsvorbereitung, sowohl in Mathe als auch in Biologie, wollte ich gar nicht denken. Zumindest nicht jetzt... Gut gelaunt und von den guten Ergebnissen der Prüfungen beruhigt, besuchten wir an diesem Abend noch unseren Besten, aber leider auch einzigen Asiaten in Schwahnsfeld und taten uns gütlich an gebratener Ente oder Huhn mit Reis und Nudeln, sowie Sushi. Jamie, die "Totes Tier", wie sie es nannte, verabscheute, begnügte sich stattdessen mit einer gewaltigen Portion Nudelpfanne mit Zwiebeln und Bambussprossen und einem großen Glas Kirschsaft. Sie trank gerne rote Säfte, zum Einen, weil sie ihr schmeckten und zum Anderen, weil sie Jamies romantischer Vorstellung von Blut entsprachen. Ich musste schmunzeln, als wir alle unsere Getränke, fast ausnahmslos Stilles Wasser und Sprite, erhoben um auf das Ende des Prüfungsstresses anzustoßen und Jamie daraufhin ihr Glas in einem Zug fast leer trank, so, als hätte sie seit sehr langem nichts mehr getrunken. An diesem Abend erzählten, scherzten und lachten wir glücklich und ausgelassen. Doch es sollte unser letzter gemeinsamer Abend werden. In den Tagen darauf versuchte ich mehrmals vergeblich, Jamie zu erreichen, doch ihr Festnetztelephon klingelte ständig ununterbrochen und auf ihrem Handy meldete sich nur die verdammte Mailbox. Nach einer knappen Woche beschloss ich, zu ihr zu fahren, da ich mir langsam Sorgen machte. Es war daher taktisch günstig, dass meine Eltern für zwei Wochen verreist waren und ich unser großes Haus für mich allein hatte. Vielleicht mochte Jamie ja ein paar Tage hierher kommen. So packte ich meine wichtigten Utensilien wie Schlüssel, Personalausweis, Handy und Geld in meine Handtasche und wollte mich auf den Weg machen, doch gerade, als ich mir die Jeansjacke übergezogen und die Haustür geschlossen hatte, ertönte eine mir nur zu bekannte Stimme nach dem Geräusch eines altmodischen Telephons: "Brücke an Käpt`n, es kommt eine Nachricht herein!" Als nächstes hörte ich einen Ausschnitt aus der Neuauflage eines Oldies aus den 60ern, bis eine Piepsstimme mich darüber informierte: "Die Post ist da!" Überrascht griff ich in meine Handtasche und zog mein Handy heraus. Auf dem Display stand: "Nachricht von Jamie". Verwundert drückte ich einen Knopf auf meinem Telephon, um sie zu lesen. Nun stand dort: "Kannst du schnell zu mir kommen? Es ist dringend!" Verwirrt staarte ich einen Moment lang auf mein Telephon, dann stürmte ich in den Schuppen, zerrte in windeseile mein Fahrrad heraus, schloss unser altes Gartentor auf und wieder zu und trat so heftig in die Pedale, dass ich fast meine Kette verlor, bevor ich die erste Straßenkreuzung erreicht hatte. Ungeduldig wartete ich, verfluchte unseren Bürgermeister dafür, dass hier keine Ampel stand und fuhr in meiner Eile fast einen kleinen Dackel und seinen empörten Besitzer über den Haufen. Er rief mir irgendetwas hinterher, doch ich hatte andere Sachen im Kopf. Was war geschehen? Warum hatte Jamie meine Anrufe und Nachrichten fast eine Woche komplett ignoriert, um mir jetzt eine SMS zu schicken, die einem Hilferuf nahekam? Warum hatte sie sich nicht früher gemeldet? Alles, was ich sah, war der Weg vor mir. Ich achtete nicht auf Busse, Autos oder Motorradfahrer, die gerade in eine Seitenstraße fahren wollten und wegen mir eine Vollbremsung machen mussten und auch nicht auf leuchtend rote Ampeln, über die ich einfach hinwegfuhr. Normalerweise brauchte ich für den Weg von mir bis zu Jamies Wohnung mit dem Fahrrad ca. 30 Minuten, heute legte ich ihn in weniger als einer Viertelstunde zurück. Als ich ausgelaugt und laut schnaufend den Knopf zu ihrer Wohnungssprechanlage drückte, öffnete sich mir ohne Frage und Antwort sofort die Eingangstür. Keuchend lehnte ich mein Fahrrad an das breite Treppengeländer und stürtzte die Altbaustockwerke hinauf in die dritte Etage. Jamie stand schon in der Tür als ich mich die Treppe hochkämpfte. Auf den letzten Treppenstufen lächelte sie mich verträumt an. "O-nee-chan", nannte sie mich leise und wollte mich umarmen, doch ich drückte Jamie noch immer schnaufend von mir weg und sah sie vorwurfsvoll an. "Was ist los, Jamie? Warum hast du mir nicht geantwortet und schickst mir pötzlich aus heiterem Himmel so eine SMS?" Ich war so dermaßen außer Puste, dass ich fast schreien musste, damit mein Gegenüber überhaupt etwas verstand. Mir zitterten vor Erschöpfung die Beine und mit einem stillen Kopfnicken wies Jamie mich hinein. Als ich den schmalen Flur auf dem Weg ins Wohnzimmer durchquerte, fielen mir in der kleinen Küche unzählige beschriftete Bögen karierten Papiers auf dem Küchentisch auf. Gerade, als ich mich auf ihre schwarze Ledercoach sinken lassen wollte, bedeutete sie mir, ihr in die Küche zu folgen. Stirnrunzelnd erhob ich mich, zwängte mich durch die kleine Lücke zwischen der Tür und dem wuchtigen Kühlschrank und setzte mich auf einen ihrer Küchenstühle, während Jamie das Durcheinander auf dem Tisch zu einem Haufen zusammenschob und sich auf einen zweiten Stuhl setzte. Weil sie nicht von sich aus etwas sagte, bohrte ich nach. "Jamie, was ist passiert?", fragte ich noch einmal, viel ruhiger als vorher, weil ich jetzt ein paar Mal tief Luft holen konnte. Meine Freundin sah mich an und ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ich besah mir das Papier genauer und erkannte ihre große weite Handschrift darauf. Ich runzelte die Stirn. "Sind das deine Prüfungen?" Noch während ich fragte fuhr meine Hand automatisch zu den Blättern, doch Jamie schlug die ihre flach auf sie und drückte meine Hand anschließend. "Du musst mir helfen, Kati." Ich stutzte; nur selten nannte sie mich bei meinem Vornamen, meistens hieß ich für die Freundin nur `O-nee-chan´. Zögernd erwiderte ich den Druck ihrer Hand. Etwas Schlimmes schien zu kommen, denn nie war sie in meiner Gegenwart so ernst wie jetzt. Deshalb sagte ich auch nichts als Jamie fortfuhr. Ihre eisblauen Augen bannten mich förmlich als ich ihr wie versteinert zuhörte. "Hör zu, das ist wirklich wichtig. Ich kann mich in dieser Situation außer dir niemandem anvertrauen, weil du die Einzige bist, die mich ehrlich versteht und mich immer unterstützt hat-" An dieser Stelle musste ich sie unterbrechen: "Das stimmt nicht Jamie, Karina und Erie und Alexa haben dir bis jetzt immer geholfen und würden es nun sicher auch tun." Doch Jamie schüttelte den Kopf. "Das könnten sie nicht, alle würden versuchen, mich davon abzuhalten." Bevor ich fragen konnte, was denn `davon´ sein sollte, fügte sie hinzu: "Du bist anders, Kati. Bevor wir uns getroffen haben, bin ich noch keinem Menschen begegnet, mit dem ich mich so verbunden gefühlt hab." Lächelnd sah sie mich an, Ich dagegen fühlte mich peinlich berührt, bemühte mich aber, es nicht zu sehr zu zeigen. Wenn Jamie glaubte, dass es so war, wollte ich nicht streiten. Und endlich öffnete meine Freundin den Mund und begann zu erzählen. "Ich werde ab jetzt in Japan wohnen, das Appartment ist schon gemietet. Dort werde ich in Tokyo eine Kunsthochschule besuchen und das Fach `Graphik-Design´ studieren. Allerdings habe ich dort keinen Telephon- oder Internetanschluss. Ihr werdet mich nicht erreichen können, also werde ich dort ein neues Leben aufbauen." Vor lauter Erstaunen wurden meine Augen immer größer, als ich das hörte und am liebsten wäre ich von meinem Stuhl aufgesprungen und hätte einen kleinen Freudentanz aufgeführt. Doch als sie weitersprach, änderte sich das schlagartig. "Dann am 10.7.2009 werde ich von einem Bus überfahren werden und noch am Unfallort sterben. Die Polizei wird bei der Räumung meines Apartments nur einen Zettel mit deiner Handynummer finden und dich davon in Kenntnis setzen. Danach wirst du um 19.20 Uhr meine Mutter anrufen und ihr von dem tödlichen Unglück erzählen. Alexa, Erie und Karina werden es am nächsten Tag von dir in der Schule erfahren. Die Wohnung habe ich auf deinen Namen ausgeschrieben, also kannst du dann in Tokyo nach einem Studienplatz für Chemielaboranten suchen. Davon gibt es in ganz Japan eine Menge." Als sie fertig war, sah ich sie wie vom Donner gerührt an. "Aber ... was erzählst du da, von wegen Unfall ... ?" Schnell, bevor ich noch weiterfragen konnte, ergriff Jamie nun auch meine zweite Hand und drückte sie so fest, dass ich Angst hatte, sie würde sie mir brechen. "Du musst mir erst versprechen- ,nein schwören, dass du alles verstanden hast und alles das für mich tun wirst, was ich gerade zu dir gesagt habe Kati. Verstehst du?" Beinahe flehend und verzweifelt sah sie mich an und erwartete meine Antwort. Und schließlich nickte ich stumm. Mein Unterbewusstsein schien zu wissen, was die Wahrheit hinter alledem war und stritt nun heftig mit meinem Herzen, das diese Wahrheit nicht akzeptieren wollte. Ihr Plan war absolut wasserdicht und ohne jedes Ausfluchtsloch so perfekt durchdacht, dass ich gestaunt hätte, wären meine Augen nicht vor Entsetzen und Grauen weit aufgerissen gewesen. "Du ... du willst ... ?" Sie wollte sich umbringen, dämmerte es mir nun entgültig. Und plötzlich riss ich meine Hände aus ihrem Griff und wühlte blitzschnell durch den Stapel karierter Blätter auf dem Tisch. Bevor Jamie etwas sagen oder tun konnte, hielt ich die Noten ihrer beiden schriftlichen Abiturprüfungen vor Augen. Mich traf der Schlag. Unter ihrer Biologiearbeit, die mindestens zehn doppeltbeschriebene Seiten umfasste, prangte eine kleine Zahl, die so unbedeutend und nichtig wirkte, jedoch über Jamies berufliche Zukunft entscheiden würde. Ich fühlte mich merkwürdig hohl, als diese kleine Zahl endlich über unzählige Nervenbahnen in mein Gehirn gelangte und dort in ihrer Bedeutung für mein Denken entschlüsselt wurde. 3 Punkte! Drei Punkte, die Jamies Arbeit, nein, ihre Leistung insgesamt zusammenfassten. Das bedeutete, sie war in der Prüfung mit einer 5+ bewertet worden. Wie konnte das sein? Warum nur hatte sie so schlecht abgeschnitten? Unter der kleinen Zahl erkannte ich Frau Wenders unverwechselbare, enge Signatur. Obwohl sie auch unsere Klasse sehr streng bewertete, fand ich das nicht fair; wochenlang hatte Jamie sich mühselig auf die Prüfungen vorbereitet. Dann ging mir auf, dass es sich hierbei nicht um einen simplen Test, sondern um eine Abiturprüfung handelte, die nur auf einem Weg, ohne Kompromisse bewertet werden konnte. Und trotz ihrer Strenge war Frau Wenders immer fair und gleich gegenüber all ihren Schülern gewesen ... Als ich das Ergebnis ihrer Matheprüfung wie versteinert betrachtete, machte Jamie keine Anstalten mehr, irgendetwas dagegen zu tun und schwieg. Als ich das Blatt mit ihrer Note sinken ließ, war der Ausdruck ihrer Augen eine bestimmte und ernste Antwort auf meine zweifelhafte, unvollständige Frage von vorhin. Sie hatte sowohl die Biologie- als auch ihre Matheprüfung nicht mit der Mindestanzahl von fünf Punkten bestanden, die erforderlich gewesen wäre. Doch war das Grund genug für einen Selbstmord? "Jamie", sagte ich leise und langsam; meine Hände fingen an zu zittern und so legte ich Blatt und Hände auf dem kleinen Tisch ab. "Das ... das ist alles ... du darfst deswegen nicht ... du kannst doch alle deine Prüfungen nachschreiben." Nun begann auch meine Stimme zu zittern, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Jamies Gesicht, aus dem ich sonst immer irgendetwas lesen konnte, war nun völlig leer und ausdruckslos als sie antwortete. "Was soll das nützen? Nur eine andere Arbeit, ein neues Thema, eine fremde Aufgabenstellung, auf die ich nicht vorbereit bin und ein ebenso schlechtes Ergebnis." "Aber du könntest es wenigstens versuchen, sie zu bestehen, Jamie!" Ich wusste, dass meine Angst und meine Verzweiflung genau die falschen Mittel waren, um sie von irgendetwas zu überzeugen, denn Jamie war gefühlskalt für zu viele Emotionen und ließ zu starke Gefühle einfach an sich abprallen, wie Licht an Katzenaugen. "Du hast selbst zu mir gesagt, man soll die Dinge nicht zweimal tun, sondern durchziehen." Ihre Augen waren jetzt so kalt wie ihre Farbe, unangenehm und stechend. "Aber da ging es darum, dass du die 12. Klasse bestehen musstest, und nicht um deine Prüfungen. Und überhaupt GEHT ES HIER UM DICH IN KEINSTER WEISE UM MICH!" Und nun schrie ich tatsächlich. Jamie zuckte nicht einmal mit der Wimper und setzte erneut ihre ausdruckslose Maske auf. "Jedenfalls wird mich mit diesem Zeugnis keine Kunsthochschule nehmen und nach Japan werde ich auf nicht fahren können." Mit jedem Wort bröckelte ihre Maske ein wenig mehr. "Niemals werde ich malen können ..." Und jetzt weinte sie. Schluchzte und schniefte, während unzählige Tränen über ihre schmalen Wangen rannen. "Was hätte ich den ohne meine Dojinshis ..." Etwas in mir bäumte sich rasend vor Zorn auf und wollte es ihre ins Gesicht schlagen, ein anderer Teil wurde so kalt und abweisend, wie Jamie selbst eben noch gewesen war. Er gewann. "Du hättest uns, Jamie. Menschen, die dich lieben und unterstützen und dir immer zur Seite stehen, egal, wie aussichtslos es sein mag. Wir können dir helfen, aber du bist diejenige, die kämpfen muss." Jamies tränennasses Gesicht wandte sich mir zu. "Ich will nicht mehr kämpfen, Kati." Ihre Stimme war weder zittrig noch schluchzte sie. Dafür sah sie mich mit beinahe warmem Blick an und begann plötzlich zu lächeln und es kam mir so vor, als stünden wir auf dem Schulhof und nahmen mit einer Umarmung voneinander Abschied, so wie wir es sonst auch immer taten, bevor wir uns am nächsten Morgen ganz früh wiedersahen. Nur mit dem Unterschied, dass dieser Abschied für immer sein würde. "Machs gut, O-nee-chan." Und dann, sehr schnell und gänzlich von mir unerwartet, machte Jamie einige Schritte rückwärts, griff sich zwei der achtlos auf der Arbeitsplatte liegenden scharfen Steakmesser, die so intensiv im Sonnenlicht, das durch ihr Küchenfenster fiel, blitzten, als würden sie nur hinterhältig auf ihren Einsatz warten und verschwand im Flur. Viel zu spät setzte ich mich in Bewegung und verfluchte für einen knappen Moment meine nichtsnutzig schwache Reaktionsaufnahme, als ich hörte, wie schräg rechts vor mir eine Tür ins Schloss fiel und der Schlüssel darin gedreht wurde. Obwohl ich wusste, dass es sinnlos war, rannte ich zu der Tür und rüttelte und zerrte wie verrückt an der Türklinke. "Jamie!", schrie ich laut und zog nach Leibeskräften an der Klinke,"Jamie, MACH DIE TÜR AUF!" Doch ich hätte auch die Türklinke anbrüllen können, die sich stur weigerte, mir Eintritt zu verschaffen, denn meine Freundin antwortete nicht. Hatte sie vielleicht schon -? "Jamie! MACH SOFORT DIESE VERDAMMTE TÜR AUF!" Als nächstes versuchte ich erfolglos die Tür aufzustemmen und mich dagegen zu werfen, damit sie aufsprang und ich noch den Hauch einer Chance hatte, den Notarzt zu rufen und alles Scharfe und Spitze von ihr fernzuhalten ... Von der anderen Seite der Tür hörte ich ein unterdrücktes, leises Stöhnen, dann entfuhr Jamie ein Schmerzensschrei, offenbar durch zusammmengepresste Kiefer. Gleich darauf fiel etwas Kleines mit einem merkwürdigen Klirren zu Boden, wie in auf den gefließten Boden verschütteten Sirup. Entstetzt, verzweifelt und in Panik wollte ich sie weiter anschreien, sie solle doch endlich die Tür öffnen, so als würde dadurch alles wieder gut werden, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr und meine Stimme versagte. Sie brachte nichts weiter als ein Wimmern zustande, während ich hörte, wie auf der anderen Seite der Tür nach einem zweiten Aufstöhnen meiner Freundin das zweite Messer zu Boden in eine Blutlache fiel. Ich versuchte ein weiteres Mal ihren Namen, doch dann sprach Jamie mit schwerer Stimme und keuchte mehrmals auf. "Kati?" Seltsam gedämpft klang ihre Stimme von der anderen Seite der Tür her. "Das, was ich vorhin zu dir gesagt habe ... du ... du hast ... mir versprochen ... dass du ... alles andere ... machen wirst für ... für mich." Und endlich gab ich den aussichtslosen Kampf gegen die verschlossene Badezimertür auf und ließ mich an ihrem Holz herunter auf den schwarzen Teppich sinken. Seltsamerweise weinte ich nicht und schrie auch nicht hysterisch, so wie Filmstars es in einer Hollywoodproduktion getan hätten. Ich schluckte nur und hörte mich dann schwach "Ja" sagen. Als Jamie erneut etwas sagte, schniefte sie und klang, als hätte sie einen Schluckauf. "Es ... t-tut mir l-leid", würgte sie hervor und etwas Großes fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. "B-bitte ... Kati ... verzeih- ..." Dann war es still. Ich wusste nicht, wie lange ich dort wie in Trance auf dem Boden neben der Tür saß und auf etwas wartete, was nie geschehen würde. Aber auf was wartete ich genau? Darauf, dass Jamie von sich aus mit letzter Kraft die Tür entriegeln würde, damit ich ihr doch noch helfen konnte? Oder vielleicht sogar darauf, dass mich mein Funkwecker mit einem schrillen Piepen aus meinem Albtraum riss? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich ausgelaugt und müde fühlte und nicht aufstehen wollte oder konnte. Schließlich schleppte ich mich zu meiner Handtasche und warf alles heraus, bis ich mein Handy in der Hand hielt. Dies war inzwischen fast so etwas wie eine Instinkthandlung, wenn ich Sorgen hatte, nach dem Handy zu greifen. Doch wen sollte ich anrufen? Niemand, den ich kannte, würde den Ernst der Situation verstehen und meine Versprechen nachvollziehen können. Niemand durfte davon erfahren, eine öffentliche Beerdigung durfte es nicht geben. Es durfte überhaupt keine Beerdigung geben, zu der Familie und Freunde kamen. Ich würde sie allein irgendwo beerdigen und still für mich um Jamie trauern müssen. Natürlich sprach alle Vernunft und mein gesunder Menschenverstand dagegen, es niemandem zu erzählen, doch der Teil in mir, der sich an Jamie und ihr Leben geklammert hatte, sträubte sich empört gegen alles andere. Er wollte die Versprechen, die ich meiner Freundin gegeben hatte, um jeden Preis erfüllen. Und dann wusste ich, was ich tun wollte und erhob mich langsam. In der Wohnung war es langsam schummrig geworden. Als ich in die kleine Küche trat, sah ich wie sich der Himmel dunkelrot färbte. Doch die Ironie kümmerte mich nicht. Ich hatte Jamie auch früher schon oft besucht, daher fand ich auf Anhieb und ohne Licht anmachen zu müssen, gleich die richtige Schublade und auch das, was ich suchte. Wozu Jamie einen Korkenzieher besessen hatte, war mir bisher schleierhaft gewesen, da sie selten Alkohol und nie Wein trank. Doch heute Abend passte er außerordentlich gut ins Bild; Jamie konnte nicht riskieren, gestört zu werden, musste aber gleichzeitig dafür sorgen, dass ich die Tür ohne fremde Hilfe selbst öffnen konnte. Mit meinem improvisierten Türöffner in der Hand kehrte ich zur Badezimmertür zurück. Nach einigen erfolglosen Versuchen im Halbdunkel brauchte ich Licht. Im Vergleich zu vorhin war ich erstaunlich ruhig und wenige Minuten später klickte es leise. Angespannt drückte ich die Türklinke herunter und machte ganz langsam die Tür auf. Im ersten Moment sah ich außer Blut gar nichts - es war überall: auf dem gefließten Fußboden, in der Duschkabine, am Waschbecken. Mein Magen wurde mulmig als ich die Tür weiter aufschob und dabei Jamies braune Haarmähne und schließlich auch ihr Gesicht erkennen konnte. Es hatte sich mir zugewandt und schaute mich aus leeren, toten Augen an. Sie hatte den Mund halb geöffnet, so als versuchte sie eben noch, den vor Stunden angebrochenen Satz zu vollenden. Die Tür stieß gegen ihre Schulter und mit leisem Grauen vor dem, was ich gleich sehen würde, drängte ich mich durch den Spalt, um die Freundin ganz sehen zu können. Ein leises Platschen ertönte als ich einen Fuß in den Raum setzte und unwillkürlich stieß ich rücklings gegen den kleinen Schrank aus Holz, vor dem Bild, das sich mir bot. Jamie lag ausgestreckt auf dem Boden, Kleidung und Haare blutverschmiert. Einen Arm hatte sie angewinkelt, der andere war zur Seite ausgestreckt. Deutlich sah ich die Wunden, tiefe Schnitte längs unter ihren Handgelenken, blutige Ratschen, die ihre Pulsadern zerfetzt hatten und noch schwach glitzerten. Der Anblick war gleichzeitig so schokierend und abscheulich, dass ich mit Erbrechen und Weinen kämpfte. Mein Gehirn entschied sich für Letzteres und so stieg mir allmählich das Wasser in die Augen und floss in Sturzbächen meine Wangen hinunter. So ähnlich musste Jamies Blut geflossen sein als sie sich die Arme aufschnitt. Und als hätten sie nur seit Stunden darauf gewartet, liefen mir die Tränen über die Wangen und wollten nicht mehr aufhören zu fließen als dieser Anblick meiner Freundin unwillkürlich bunte, fröhliche Bilder in mir aufsteigen ließ, die ich nicht verdrängen konnte. Bilder, in denen sie lachte, scherzte, lästerte, glücklich war. Sie ist tot. Bilder, in denen Jamie mit uns über Mangas diskutierte und uns stolz ihre neuesten Zeichnungen präsentierte. Sie ist tot. Tot. Bilder, in denen ich Jamie zum ersten Mal begegnete ... Irgendwann verließ ich das Bad und begann, noch immer schluchzend und weinend mit einem großen, nassen Handtuch zurückkehrend, das ganze Blut aufzuwischen. Ich hatte keinen Blick für das Ziffernblatt der runden kleinen Uhr im Badezimmer und es war mir auch egal, ob der alte Tag schon vorbei war oder ein neuer angefangen hatte. Jamie füllte meine ganzen Gedanken aus. Nach einer halben Ewigkeit strahlte und blitzte das Badezimmer wie funkelnagelneu, so dass ich an jedem anderen Tag, von meiner Mutter mit Lob überhäuft, vor stolz fast geplatzt wäre. Heute nicht. Heute fühlte ich mich eher so als hätte jemand das Ventil geöffnet, so dass ich mir nur hohl und leer und verlassen vorkam. Als ich Jamie die blutbefleckten Sachen auszog, kam mir etwas ganz anderes in den Sinn. Was sollte ich mit ihrer Leiche machen? Sie hatte mir vor endlosen Wochen erzählt, dass ihr Körper verbrannt und die Asche von irgendeiner japanischen Klippe aus ins Meer gesträut werden sollte, sollte sie sterben. Doch das konnte ich allein und unbehelligt niemals anstellen, ohne bereits am Flughafen in Deutschland bei der Untersuchung meiner Koffer Ärger mit der Polizei zu bekommen. Jamie hatte mir dafür keinen Auftrag erteilt oder irgendetwas gesagt. Dummerweise stiegen mir nun neue Tränen in die Augen, weil ich ihr, was die Beerdigung anbelangte, diesen Wunsch nicht erfüllen konnte, wobei ich schon alles andere vermasselt hatte. `Aber weshalb denn?´, fragte irgendwo ganz hinten un meinem Kopf eine Stimme, `Was hättest du denn tun können, Kati?´ "Ich hätte schneller sein müssen, dann wäre es mir vielleicht noch gelungen, die Türklinke zu packen, bevor sie abschließen konnte. Wenn ich nur schneller gewesen wäre, dann wäre Jamie jetzt nicht tot!" Doch die Stimme in meinem Hinterkopf war beharrlich: `Sie wusste genau, dass deine Reaktion nicht die schnellste und beste ist und das hat sie für sich ausgenutzt´, gab sie nüchtern zurück, doch auch sie half mir nicht über das elende Gefühl hinweg, das einen befällt, wenn man sich für etwas sehr verantwortlich fühlt. Es nagt unaufhörlich an einem und ist sehr schwer zu betäuben und fast unmöglich zu verdrängen. Es verging eine weitere Weile, in der ich die zwei Messer, sowie Jamies Handgelenke wusch, verband und ihr etwas anderes anzog, ihre Haare wusch und kämmte, bis sie wie braune Seide glänzten. Danach suchte ich im Schlafzimmer nach ihrem großen Schrankkoffer und fand ihn schließlich. Mit einem Schnappen sprang der Deckel auf und ich legte Jamie vorsichtig hinein. Augen und Mund waren von mir geschlossen worden, so dass sie jetzt wirkte als würde sie nur friedlich einen traumlosen, unendlichen Schlummer schlafen. Ein weiteres Mal lief ich in ihr Schlafzimmer, holte aus einer Schublade einen weißen Bogen Papier, einen vorbildlich angespitzten Bleistift mittlerer Härte, sowie einen Radiergummi heraus. Danach griff ich in das gewaltige Regal voller Mangas und zog einen über Vampire hervor. Auf dem Nachttisch fand ich das dünne, schwarze Lederband, an das ein kleiner silberner Anhänger gebunden war, der das japanische Tierkreiszeichen ihres Geburtsjahres trug. Die kleine Kette nahm ich ebenfalls mit. Als ich wieder bei dem riesengroßen Koffer im Flur war, legte ich Papier, Stift und Radierer in ihre Hände und den Manga an ihre Seite in den Koffer. "Damit du dich da drüben nicht langweilst", murmelte ich und begann wieder zu weinen, allerdings mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und dem Anflug eines Schmunzelns. Wie dumm war das denn von mir? Doch ausnahmsweise hörte ich nicht auf die Stimme in meinem Kopf, die mich tadelte, wie einfältig und naiv ich denn war, einer Toten etwas zum Zeichnen und zum Lesen mit ins Grab zu legen. Doch die Kette mit dem japanischen Anhänger war wichtig. Ohne ihn war Jamie noch nirgendwo hingegangen und das sollte auch so bleiben. Ich band ihr die Kette um den Hals, strich ein letztes Mal über ihre Stirn und durch ihre Haare und drückte ihre Hand. Leb wohl, Kleine Schwester, sagte ich mir im Stillen, bevor ich ihre Hand losließ und sie umarmte, so wie an jedem gewöhnlichen Schultag. Der Vergleich machte es mir einfacher, so dass ich aufhörte zu weinen und der Gedanke daran, die Freundin irgendwann wiederzusehen, wie Filmstars in dramatischen Sterbeszenen immer versprachen, bekräftigte mich. Früher hatte ich solche Sätze, wie: "Wir werden uns wiedersehen", "Ich werde für immer bei dir sein" und "Halte deine Augen auf den Horizont gerichtet" als albern und sinnlos abgetan, weil man sich nicht mehr treffen würde, wenn einer tot war. Doch jetzt machten sie mir Mut und spendeten Trost auf merkwürdige Art und Weise. Wir werden uns wiedersehen, fügte ich im Stillen hinzu, berührte den Anhänger ihres Lederbandes, strich ihr einzelne Haare aus dem Gesicht und seufzte. "Sayonara, Imoto", sagte ich leise und schloss den Koffer. Ein lautes Klingeln brachte meine Gedanken zu einem abrupten Ende und wie auf Kommando sprangen alle um mich herum von ihren Stühlen und begannen, Hefter und Bücher in ihre Taschen zu stopfen. Noch etwas benommen fing auch ich damit an, meine Hefter und Bücher wieder zu verstauen und sah aus den Augenwinkeln, wie Alexa, die noch ein weitere Stunde Chemie in diesem Raum hatte, ihre Tasche nahm und einen Tisch nach vorne ging. Erie stand inzwischen ungeduldig neben meinem Platz und wartete darauf, dass ich andlich mit ihr den Raum verließ. Innerlich von unendlicher Wehmut erfüllt, erhob ich mich von meinem Stuhl und unterhielt mich ca. 15 Minuten später scheinbar brennend interessiert mit Erie und Karina in deren Wohnung über Hochschulen, Studiengänge und Work- und Traveljahre im Ausland um meinen derzeitigen Gefühlszustand vor den beiden zu verbergen. Als Karina nebenbei den Namen irgendeiner japanischen Hochschule, die Graphic-Design als Studienfach anbot, erwähnte, zuckte ich heftig zusammen, doch Erie, die neben mir saß, schob es glücklicherweise darauf, dass ihr die Federtasche auf den Teppichboden gefallen war. "Apropos Japan", begann sie dann zu mir gewandt, "Was machtJamie eigentlich, jetzt, wo sie mit der Schule fertig ist? Die Prüfungen hat sie ja gottseidank gut überstanden." Ich schlickte leise; das war Teil 1 meiner lebenslangen Lüge gewesen. Natürlich hatte ich meinen Freunden gleich am nächsten Tag in der Schule erzählt, dass Jamie in beiden Prüfungen jeweils eine knappe 2 geschrieben hatte und auch, dass sie bis zu Beginn der Ferien zu ihren Eltern gefahren und nicht erreichbar sein würde. Ich zögerte, bevor ich antwortete. "Jamie geht ab Oktober in Tokyo auf eine Kunsthochschule. Sie hat kurzfristig die Zusage auf einen Studienplatz im Fach "Graphik-Design" bekommen und fängt im neuen Schuljahr dort ihr Studium an." Die Reaktionen meiner beiden Freundinnen waren vorhersehbar gewesen. Während Karina vor Überraschung und Erstaunen den Mund nicht mehr zubekam, jubelte Erie laut auf und klatschte in die Hände. "Das ist ja ... Wahnsinn!", sagte sie erfreut und strahlte mich an, "Das ist ja für Jamie der Sechser im Lotto!" Ich quälte mich zu einem Lächeln, während die beiden anderen sich darüber freuten und wäre am Liebsten laut heulend in Tränen ausgebrochen. Jamie fehlte mir schrecklich und der Gedanke an ihrer statt nach Japan zu gehen, das was sie sich immer gewünscht hatte, lösten in mir nur Grauen und Trauer aus. Obendrein fühlte ich mich schlecht, weil ich mir vorkam, wie jemand, der seine Freundin von ihrem Herzenswunsch verdrängte. Dass das natürlich Unsinn war, weil mich niemand für ihren Tod veratwortlich machen konnte, tröstete mich nicht über meine ungeheuren Schuldgefühle hinweg, die ich trotz allem nicht ablegen konnte. So sehr ich mich auch bemühte. Irgendwann verließen wir Karinas Wohnung um zur nächsten Unterrichtsstunde, Französisch, nicht zu spät zu kommen. Obwohl Frau Mühel versuchte, mit dem Unterricht fortzufahren, waren sämtliche meiner Mitschüler bereits auf Ferien eingestellt. Demzufolge herrschte ein derartiger Geräuschpegel in der Klasse, dass sie es nach einer Weile resignierend aufgab und mit Boris und dessen Sitznachbar Klaus über irgendwelche Themen diskutierte. Ich bekritzelte inzwischen die Innenseiten meines Französischhefters. Dass solch eine Unruhe in der Klasse war, bedeutete für mich einen Vorteil, da niemand groß darauf achtete, was ich tat. Auf der anderen Seite hatte ich keine Beschäftigung, nichts was mich so sehr ablenken konnte, dass ich nicht gezwungen war, mein letztes Treffen mit Jamie erneut zu durchleben. So ließ ich die Gespräche der anderen an mich abtröpfeln, während nach kurzer Zeit unzählige schwarze Kreuze und Tränen meinen Hefter zierten. Da Französisch unsere letzte Stunde für heute und die Schulwoche damit insgesamt gelaufen war, trafen wir uns alle noch einmal draußen auf dem Schulhof um uns voneinander zu verabschieden, so wie jeden Freitag. Danach verließen Alexa, Erie und Karina gemeinsam den Hof und trennten sich am Schultor: Karina, die gleich um die Ecke wohnte, ging nach rechts, Alexa und Erie, die zum Bahnhof ging, um mit der S-Bahn weiter nach Klausenthal zu fahren, bogen nach links ab. Ich holte indessen noch mein Fahrrad vom Radständer hinter der Schule und machte mich ebenfalls auf den Weg nach Hause. Heute jedoch fuhr ich einen kleinen Umweg zu Jamies alter Wohnung. Vor dem Bauklotz, dessen Wucht und unfreundlich graue Eintönigkeit mir damals vor knapp 3 Wochen gar nicht aufgefallen war, lehnte ich mein Fahrrad etwas nachlässig gegen die Betonwände, holte Jamies Schlüssel aus einem Fach meiner Schultasche hervor und schloss die Eingangstür auf. Sehr warscheinlich hatte Jamie die Wohnung zu diesem Zeitpunkt gekündigt, denn das kleine Schild neben dem Klingelknöpfchen, in dem sonst "Gieler" gestanden hatte, war nun leer. Seufzend durchquerte ich den Eingangsflur und öffnete die Tür zum Hinterhof. Ein wenig abseits der Tür hatte Jamie direkt nach ihrem Einzug ihrem Faible für Japan besonderen Ausdruck verleihen wollen, indem sie einen kleinen, japanischen Kirschbaum unter ihrem Schlafzimmerfenster, das zum Hinterhof hinausging, pflanzte. Hier, wie auch in seinem Heimatland sollte er rosa blühen. Doch das kleine Bäumchen hatte nur kurze Zeit kläglich geblüht und danach für 2 Jahre gar keine Blüten mehr getragen. Umso erstaunter war ich als ich nun einige, zarte Knospen an den dünnen Zweiglein erkannte, während am ganz obersten Zweig bereits eine einzelne Blüte aufgebrochen war. Ein kurzer, heftiger Windstoß ließ eines der Blütenblätter zur Erde schweben. Im ersten Moment wusste ich gar keine Antwort darauf, bis ich eine merkwürdige und seltsame Eingebung hatte. Vielleicht würde es für andere verrückt klingen, dachte ich schmunzelnd und besah das Bäumchen. Heute, in den vereinzelten Sonnenstrahlen, die das Grau der Wolken durchbrachen, wirkte er, trotz seiner geringen Größe, elastisch und stark und schien endlich aus seinem langen Winterschlaf erwacht zu sein. Das kräftig rosa gefärbte Blütenblatt war einige Schritte weit von der Wurzel entfernt zu Boden geweht worden, ungefähr dort, wo der Brustkorb und das Herz meiner Freundin im Koffer sein musste. Aus einer reinen Intuition heraus hatte ich den großen Koffer mit Jamie in der Nacht unbeobachtet unter ihrem Kirschbaum vergraben. Dass der Baum nun nach so langer Zeit endlich wieder Blüten tragen und vielleicht zu einer stattlichen Größe heranwachsen würde, tröstete mich und bedeutete warscheinlich die letzte Botschaft meiner Freundin; dass, solange wie dieser Baum während seines langen Lebens Blüten auf seinen Ästen sprießen würden, deren Bläter vom Wind verbreitet werden konnten, solange würde Jamie, wo ich auch war und blieb, immer bei mir sein. (Für Imoto^^ Ich werde dich nie vergessen.) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)