Cold Case von june-flower (Anthologie) ================================================================================ Herbst - Geburtstagswünsche --------------------------- Am Mittwochmorgen lag ein kleines, rechteckiges, über und über mit Papierschnipseln beklebtes Stück Pappkarton auf Lils Schreibtisch. Als die Ermittlerin das schreiend bunte Ding mit den schiefen Kanten sah, kaum, dass sie das Büro betreten hatte, hob sie eine Braue. „Wer hat sich denn da ausgetobt?“, fragte Scotty und warf ihr von der anderen Seite ihres großen Doppelschreibtisches einen skeptischen Blick hinüber. „Etwa Vera?“ „Basteln ist Kinder- und Weiberkram“, ertönte es prompt vom anderen Ende des Großraumbüros. Man musste kein Detective sein, um zu wissen, dass auch Nick Vera bereits das ominöse Kunstwerk bemerkt hatte. Achselzuckend stellte Lil ihre Tasche auf ihren Stuhl und schälte sich aus ihrem Mantel. „Morgen, Scotty.“ „Morgen,“ erwiderte ihr Partner mit einem Aufblitzen seines üblichen Grinsens. „Gute Fahrt gehabt?“ In Erinnerung an die verstopfte Autobahn, Tausende von schleichenden Autos und andauerndes Stop-and-Go an einem trüben Novembermorgen warf Lil ihm einen vernichtenden Blick zu. Scotty grinste nur und deutete aus dem Fenster. „Immerhin haben Sie es geschafft, bevor der Himmel seine Schleusen geöffnet hat.“ Tatsächlich begann es gerade zu regnen, als gäbe es kein Morgen mehr. Lil warf einen Blick hinaus – sie konnte kaum die Wände der Hochhäuser auf der anderen Straßenseite erkennen. „Na super“, murmelte sie wenig begeistert und stopfte ihren Schal in den Jackenärmel. „Ist der Boss schon da?“ „Morgen, Lil“, sagte eine Stimme hinter ihr und sie drehte sich um. „Wie gerufen, Boss. Was gibt es heute?“ John Stillman liess seinen Blick über das noch halbleere Büro streifen und sah dann seine Untergebenen an. „Izabel Blumenthal, 11 Jahre alt, 2004 als Vermisst gemeldet. Man hat gestern ihre Leiche bei Bauarbeiten in der Kanalisation gefunden.“ „In der Kanalisation?“ Nick durchquerte das Zimmer, um Mithören zu können, seinen Partner Will Jeffries im Schlepptau. Er pfiff durch die Zähne, obwohl er wusste, das Lil das überhaupt nicht hören konnte. Ihren Blick ignorierte er. „Das wird kein schöner Anblick gewesen sein.“ Zur Antwort öffnete der Boss den Aktenordner, den er in der Hand gehalten hatte. Beim Anblick der Leiche eines kleinen Mädchens wurden Lils Lippen zu einer einzigen, dünnen Linie. „Sie ist auf dem Weg nach Hause verschwunden, der Letzte, der sie sah, war ein Lehrer, als sie die Schule verliess. Sie kam nicht zu Hause an. Es wurde keine Lösegeldforderung gestellt. Man hat die Suche nach Monaten wieder eingestellt.“ „Gab es damals Verdächtige?“, fragte Scotty. „Niemanden. Izabel war eine Einzelgängerin. Sie litt am Asperger-Syndrom - Spielte am Liebsten zu Hause Klavier. Nur die Großmutter drang zu ihr durch. Freunde hatte sie keine.“ „Und Feinde?“ Will schnaubte. „Wenn man 11 ist, hat man keine Feinde, Nick.“ Der zuckte die Achseln. „Da gibt es andere Dinge, die gefährlich werden können.“ „Wir rollen den Fall neu auf“, erklärte der Boss. „Die Leiche wird gerade obduziert. Lil und Scotty, Sie fahren zu den Eltern. Will und Nick statten dem Lehrer einen Besuch ab – der, der sie zum letzten Mal gesehen hat. Und nehmen Sie Kat mit, wenn Sie auftaucht.“ „Wo ist sie eigentlich?“, fragte Nick stirnrunzelnd. „Normalerweise...“ „Normalerweise sind die Straßen Morgens nicht so voll wie an einem Tag, an dem vermutlich sämtliche Autobahnzufahrten wegen Bauarbeiten gesperrt sind“, ertönte eine spitze Stimme von der Tür her und die Kollegen drehten sich gerade rechtzeitig um, um Kat Miller durch die Tür spazieren zu sehen. Sie verdrehte die Augen. „Diese Stadt versinkt im Chaos. Warum müssen all diese „notwendigen Reparaturen“, die der Stadtrat vorschreibt, ausgerechnet in ein und derselben Woche stattfinden?“ Ihr Mantel flog auf einen Stuhl. „Sorry, Boss“, setzte sie hinzu. „Was steht an?“ „Lil wird Ihnen alles erklären“, sagte Stillman. „Entschuldigen Sie mich. Ich erwarte einen Anruf vom Staatsanwalt.“ Mit diesen Worten verschwand er in seinem Büro. Lil wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als Nick zu sprechen begann. Resigniert beugte sie ihren Kopf über ihren Schreibtisch und nahm das Stück Tonkarton in die Hand. „Was ist das?“, fragte Will, der sie beobachtet hatte. „Sieht aus wie etwas, das mein Neffe gebastelt hat“, sagte Scotty. „Sehr bunt und sehr schief...“ Lil drehte die Pappe und stellte fest, dass sie sich öffnen liess. „Moment mal. Das ist...“ „Das ist eine Geburtstagseinladung von Veronica für dich“, erklärte Kat mit einem kurzen Blick auf ihre Freundin und widmete sich dann wieder der Akte von Izabel Blumenthal. „Sie will unbedingt, dass du kommst. Sie feiert ihren Geburtstag nach, im Kino, dann ein Abendessen bei uns – du weißt schon?“ Entgeistert starrte Lil ihre Freundin an. „Ich?“ „Steht dein Name auf der Karte oder nicht?“, fragte Kat zurück, ohne den Blick von den Seiten zu nehmen. „Ja, du.“ „Und wir?“, fragte Nick verletzt. „Wir sind nicht eingeladen?“ Jetzt blickte Kat doch auf und warf ihm einen scharfen Blick zu. „Nachdem du das letzte Mal, dass Veronica dich gesehen hat, sämtliche Donuts aufgefuttert hast, bevor sie sich einen zweiten nehmen konnte, denke ich, dass du bei ihr unten durch bist.“ Überrascht klappte Nick den Mund zu und Will grinste. „Tja, Nick, nicht jeder ist bei Kindern beliebt.“ „Aber Rush, ja?“, brummte der. Lil beschloss, ihn zu überhören, ertappte aber Scotty dabei, wie er sie schamlos angrinste. „Was?“, fragte sie, ein wenig schärfer als beabsichtigt. „Nichts“, sagte er, während sein Grinsen noch wuchs. „Gehen Sie hin?“ „Komm bitte“, sagte auch Kat. „Veronica will dich so gern dabei haben.“ Braune Augen bohrten sich bittend in die ihren. „Und“, fügte die dunkelhaarige Frau nach einigen Sekunden des Nachdenkens hinzu, „Ich könnte beim Beaufsichtigen der Kinder noch etwas Hilfe gebrauchen.“ „Ich könnte schon“, sagte Lil langsam. „Aber...“ „Aber was?“ „Aber was soll ich ihr schenken?“ Da hellte sich Kats Miene auf. „Ach, das ist die Frage? Keine Sorge, ich glaube, ich weiß, was du mitbringen kannst... Veronika wird sich sehr freuen!“ ~*~ „Lilly! Lilly!“ Ein rot und blau gekleideter Derwisch rannte Lil beinahe über den Haufen, als sie am Samstag Mittag Kats kleine Wohnung betrat. Lil bückte sich lächelnd und umarmte das Mädchen. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Veronica!“ Die Arme noch immer um Lils Hals geschlungen, lehnte Veronika sich zurück und sah über Lils Schulter hinweg. „Hast du ihn mitgebracht?“ Lil warf Kat einen verzweifelten Blick zu. „Ja, natürlich. Aber ich weiß nicht, warum du dir ausgerechnet wünschst, dass...“ „Hey, Veronica!“, sagte Scotty, der hinter ihr auftauchte. Aufjauchzend liess das Mädchen Lil los und warf sich auf deren Partner, der sie auffing und durch die Luft wirbelte. Dann setzte er sie ab. „Uff! Du bist aber schwer geworden, Zwerg!“ „Bin kein Zwerg“, sagte sie beleidigt. Grinsend zerzauste er ihr das Haar und zauberte ein buntes Paket aus seinem Mantel. „Ich weiß. Zwerge bekommen auch keine Geschenke, oder?“ Mit einem Schrei der Freude riss sie ihm das Geschenk aus der Hand und rannte den Flur hinunter. „Sag Danke, Ron!“, rief Kat ihr hinterher, aber sie war längst in ihrem Kinderzimmer verschwunden. Hinter der Tür waren aufgeregte Stimmen zu hören. Mit einem Grinsen in Lils Richtung stand Scotty wieder auf und folgte ihr in die Wohnung. Lil verspürte das kurzzeitige, nicht unbekannte Gefühl, ihn erwürgen zu wollen. Sie unterdrückte es und sah sich um: Girlanden, Geschenkpapier, Kuchen – ein Chaos an Farben. Wie eine Schlafwandlerin folgte sie Kat und Scotty, die sich angeregt unterhielten, in die Küche und versuchte einen Ort zu finden, an dem sie nicht im Weg herumstand. Niemand schenkte ihr Beachtung. „Was jetzt?“, fragte sie, mehr als nur ein wenig hilflos. Warum Kat sie unbedingt dabei haben wollte? Sie hatte mit Kindern ungefähr so viel Erfahrung wie mit Giraffen. Kat hingegen kannte sich aus. Sie steckte den Kopf aus der Küchentür in den Flur und brüllte: „Alle Mann fertig machen zum Abmarsch!“ Aus dem Kinderzimmer ertönte ein kollektiver Aufschrei des Entzücken und aus der Tür quoll eine Vielzahl von Kindern, deren Zahl so groß erschien, weil sie niemals stillzustehen schienen. Anscheinend hatten mehr Personen in Veronicas kleines Kinderzimmer gepasst, als sie vermutet hatte... Kat schnappte sich einen Stapel Jacken und Mäntel von den Garderobehaken und warf ihn einer perplexen Lil zu. „Hier!“ Lil und Scotty tauschten einen wortlosen Blick aus, dann fingen sie an, den Kleidungsstücken die jeweiligen Kinder zuzuordnen. ~*~ Eine Stunde später (Für Lil eine halbe Ewigkeit) waren sämtliche Kinder mit Kinoticket, Popcorn und Softdrink versorgt und standen schwatzend vor den großen Flügeltüren des Kinosaals. Das gab Lil, Scotty und Kat schliesslich die Gelegenheit, kurz zu verschnaufen. „Also was sollte das jetzt?“, stellte Lil schließlich ihre Freundin die Frage, die ihr schon seit geraumer Zeit auf dem Herzen lag. „Warum sollte ich ausgerechnet Scotty mitbringen? Warum hat sie ihn nicht selbst eingeladen?“ Kat zuckte die Achseln und grinste. „Vielleicht ist sie in ihn verknallt und hat sich nur nicht getraut?“ „WAS?!“ Kats Grinsen wurde breiter. „Möglich wäre es. Aber vielleicht hat sie noch einen ganz anderen Grund.“ Irritiert verschränkte Lil die Arme. „Und der wäre?“ „Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich dir die Geheimnisse meiner Tochter verraten würde – selbst, wenn du meine beste Freundin bist?“ „Ron hat Geburtstag“, sagte Scotty begütigend. „Da darf sie sich wünschen, was sie möchte.“ „Aber dich?“, fragte Lil. „Warum nicht?“, gab er zurück. Sie schüttelte den Kopf. „Wäre es nicht besser wenn sie jetzt schon einmal die Erfahrung macht, dass man sich nicht immer darauf verlassen kann, dass man bekommt, was man sich wünscht?“ „Jetzt mach mal einen Punkt, Lil“, sagte Kat belustigt. „Sie ist ein Kind, und wenn ich ihr ihren Geburstagswunsch erfüllen kann, dann tue ich das auch. Und Scotty hat ja nichts dagegen, oder? Ich würde sogar sagen, im Gegenteil.“ „Was soll das wieder heißen?“, fragte Lil misstrauisch, aber sowohl Kat als auch Scotty grinsten sie nur unverschämt an. „Komm schon. Genieß einfach den Film.“ „Super“, brummte sie, sagte aber nichts mehr, und in dem Moment wurden die Saaltüren geöffnet. Veronica an der Spitze, stürmte die Kindermeute in den Vorführungssaal und zu ihren Sitzen. Das Geburtstagskind begann sofort, eine Sitzordnung zu erstellen. „Cam, du sitzt neben Dani. Daneben kommt Chelsea, dann ich, dann Tony- “ Kat zog die Brauen hoch. „- Dann David, dann Mum und dann Scotty und Lilly. Lilly – da drüben – Genau!“ „Ganz die Mutter“, flüsterte Scotty amüsiert und liess sich neben sie in den Polstersessel sinken. „Ihr Geburtstag – ihr Wunsch,“ formten Lils Lippen und Scotty lachte leise. „Ja, klar.“ Zufrieden mit sich, hatte Veronika es sich in ihrem Sessel bequem gemacht und tuschelte mit ihren Nachbarn, bis das Licht ausging. Aber bevor sie sich zurücklehnte, sprang sie schnell wieder auf und quetschte sich durch die Sitzreihe hindurch. „Was ist los?“, fragte Kat, als sie sich an ihr vorbeizwängte. „Ich will nur Lilly was sagen“, flüsterte Kat und drückte sich weiter, bis sie bei Lil stand. Sie beugte sich vor. „Wenn du Angst hast, kannst du Scottys Hand nehmen“, sagte sie im Flüsterton. „Ma sagt, das hilft. Ich werd Tonys nehmen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schlängelte sie sich zu ihrem Platz zurück und liess Lil wie gelähmt hinter sich auf ihrem Stuhl zurück. Schließlich begann sie lautlos zu lachen. Scotty warf ihr einen Blick zu, während die Werbung ihren Anfang nahm und sich ihre Schultern noch immer in lautlosem Gelächter hoben und senkten. „Was hat sie gesagt?“, fragte er leise. Lil seufzte. „Nichts.“ Kleines Mädchen – kleines, dummes Mädchen. Hatte sie gerade tatsächlich versucht, die Kupplerin zu spielen? Mit 9 Jahren? Das musste sie von ihrer Mutter haben, jede Wette... Der Film lief an. Lil rutschte in ihrem Sessel herum, bis sie einen Platz gefunden hatte, der irgendwie bequem war, dann lenkte sie ihre Konzentration auf die Leinwand vor ihr. Doch plötzlich hörte und spürte sie Scotty so dicht an ihrem Ohr, dass sie beinahe erschrocken zurückgefahren wäre. Wie erstarrt blieb sie sitzen, rührte sich keinen Zentimeter, als sein Atem über ihre Wange strich. „Ich hoffe ja, der Film wird gruselig, damit du ihrem Rat folgen kannst“, sagte Scotty mit einem breiten Grinsen in der Stimme. „Ich habe durchaus nichts dagegen, wenn schöne Frauen sich in ihrer Angst an mich drücken.“ Sprachlos starrte Lil ihn an – das war einer der chauvinistischsten Sprüche, die sie jemals von ihm gehört hatte. Er grinste mit glitzernden Augen zurück. „Idiot“, flüsterte sie und bohrte ihren Ellenbogen in seine Seite. Aufkeuchend sank er zurück und sie lehnte sich weg von ihm, erleichtert, dass es dunkel war im Saal und dass er nicht sehen konnte, dass sie blutrot angelaufen war. Die Hitze in ihren Wangen war so verräterisch, dass sie fürchtete, sie würde im Dunkeln leuchten. Scotty lachte leise und lehnte sich auch zurück. Er machte Scherze. Er spielte mit ihr. Das war ihr klar. Aber wenn sie es doch wusste – warum schlug ihr Herz trotzdem so heftig? 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