Denken nie gedacht zu haben
Tick, Tack.
Tick, Tack.
Der alte Wecker. Er stand unberührt und unversehrt auf dem Nachttischchen und tickte sein Lied; unaufhörlich schnitt sein Ticken durch die Ruhe und machte deutlich, wie schnell das Leben doch vergeht.
Tick, Tack.
Tick, Tack.
Wie ein Metronom so durchschnitt das Geräusch der Uhr die Nacht und klaute sich mehr und mehr Stücke des Lebens. Der Junge saß auf dem Boden, seinen Freund im Arm.
Tick, Tack.
Tick, Tack.
“ Atme….bitte….bitte.”, flüsterte er leise, den Körper an sich gedrückt. Wenn er sich fest konzentrierte schien sein Herz noch zu schlagen, sein Körper noch warm zu sein. Doch das war er nicht. Nur weil er die Nacht nicht hier verbracht hatte. Jos Eltern waren nicht da, sie würden erst heute wiederkommen. Er wollte sich einen schönen Tag machen, sie waren doch am Abend zuvor noch im Kino gewesen. Jo hatte Scott gefragt ob er noch über Nacht bleiben wollte, schließlich waren sie allein, doch er hatte abgelehnt. Pfeifend war er die zwei Straßen nach Hause gelaufen, mit noch einem Grinsen auf dem Gesicht. Er war einfach glücklich mit Jonathan...egal was die Anderen sagten. Doch ihn nahm das ganz schön mit; er würde morgen mit ihm noch mal darüber reden. Scott hatte sich keine Sorgen gemacht, als er nach Hause kam, nicht als er sich wusch, nicht als er sich anzog, nicht als er zu Bett ging, nicht als er schlief. Nur am Morgen war er mit einem marterndem Schmerz im Kopf aufgewacht, doch noch nicht mal da hatte er sich Sorgen gemacht. Auch nicht, als sich sein Freund nicht wie angekündigt meldete, sondern das Telefon stumm blieb. Erst als er ihn besuchte, als die Türen unabgeschlossen waren, erst als er seine offene Zimmertür entdeckt und diesen unangenehm süßlich-metallischen Geruch gerochen hatte, machte er sich Sorgen.
Tick, Tack.
Tick, Tack.
Er lag auf dem Bett. Als würde er nur schlafen, lag er da, friedlich, doch etwas stimmte nicht. Erst als er genauer hinsah, merkte er was seinen Freund so verändert hatte; er war ernst. Die Züge, die sonst immer von kleinen Lachfältchen gekräuselt waren, die sonst immer freundlich und einladen aussahen, schienen jetzt aus Eis zu sein, abweisend und ernst lag er da, das Gesicht nicht verzogen. Der Junge lag auf der Seite, seine Haare waren über die Stirn gefallen, mit der Hand, die unter dem Kopf lag, umklammerte er fest ein Skalpell. Eine Weile stand er nur da und betrachtete ihn. Wäre da nicht das auseinanderklaffende Fleisch und die verfärbten Laken gewesen, hätte man denken können Jonathan schliefe nur. Langsam sickerte eine Information in sein Gehirn...Da stimmte irgendetwas nicht, Jonathan war nicht....er, er war, es war nicht richtig. Es stimmte nicht. Panisch hob er den zierlichen Jungenkörper vom Bett, rutschte aus und fiel auf den Boden.
Tick, Tack.
Tick, Tack.
„Bitte....bitte lass mich hier nicht alleine, Jonathan...bleib bei mir.“, flüsterte er in das schwarze Haar des Kopfes den er an sich drückte. „Sie...sie haben kein Recht dir das anzutun. Sie haben kein Recht...Hör mir doch zu. Atme...bitte...bitte atme.“ Doch er hörte nicht auf ihn. Kalt und schlaff wie eine Puppe lag er in seinen Armen, hatte seinen letzten Atemzug schon lange hinter sich gebracht. Tränen liefen leise über sein Gesicht, tropften in die Haare seines Freundes. „Wir wollten...wir wollten doch noch weg...heute. Wir wollten abhauen, zusammen. Vereint...auf ewig. Weißt du noch?“, schniefte er. „Für immer. Es sollte anders sein...weißt du noch?“, er vergrub sich an der Brust des Jungen, versuchte immer wieder seine Tränen zu unterdrücken, doch es ging nicht. Kaskaden von Salzwasser schien aus seinen Augen zu fließen, tropften über seine Wangen in den Stoff Jonathans Oberteil.
Tick, Tack.
Tick, Tack.
Er hörte nicht wie die Tür aufging, hörte nicht Jonathans Mutter die beim Anblick ihres Sohnes anfing zu schreien, als ginge es um ihr Leben. Er hörte nicht, dass auch Jonathans Vater hineinkam, erstarrte und sofort Polizei und Krankenwagen rief. Er hörte nicht das Geheule der Blaulichtsirene, als die Wagen der eben angeforderten Helfer ankamen, mit quietschenden Reifen hielten. Er hörte auch nicht, dass jemand die Treppe hochgepoltert kam. Er spürte nur, das jemand versuchte ihn von seinem Freund wegzuzerren. Ein Mann im mittleren Alter, mit Doppelkinn und Schmerbauch redete auf ihn ein, doch er hörte nicht was er sagte. Er umklammerte den kalten Körper noch fester, immer fester. „Weißt du noch, das du einmal sagtest wir würden immer vereint sein?“, fragte er leise. Doch wieder bekam er keine Antwort. Langsam gelang es der Geräuschkulisse sich schmerzend ein Weg in seine Ohren zu bohren, in sein Gehirn zu bohren.
„Hören sie...Scott, sie müssen ihn loslassen, Sie können ihm nicht mehr helfen. Er ist tot. Lassen Sie ihn los, Scott.“, wiederholte der Mann mit dem Doppelkinn immer und immer wieder. Freundlich klang seine Stimme im Gegensatz zu all den anderen Geräuschen in seinen Ohren; Zurufen, das Heulen der Mutter, das Einreden des Vaters von Jo, die heulenden Blaulichter. Der Mann fasste ihn an den Schultern, zerrte ihn weg von Jo.
„Andrew, wir brauchen eine Beruhigungsspritze für den jungen Mann hier.“, rief derselbige zu einem Mann in leuchtendoranger Kleidung. Zu spät begriff er die Worte, die unglaublich lange brauchten um von seinem Gehirn verarbeitet zu werden, da spürte er schon wie man ihm eine Spritze in den Oberarm gab. „Lassen Sie ihn los Scott, sie können nichts mehr tun. Lassen sie los.“, hörte er es noch mal. Sanft wurden diese Worte ausgesprochen, genauso wie der Druck der sich auf seine Schultern legte. Es war schwer, aber er löste die Finger und gab Jonathan frei. Man stellte ihn auf, gab ihm eine Decke, doch er bekam es nicht mit. Er versank in einen Nebel, in eine Starre, stand einfach so da und beobachtete, als wäre er nicht mehr in seinem Körper von oben die Sache. Der tote Körper seines Freundes wurde auf eine Bahre gelegt, ein Plasiksack geschlossen und er abtransportiert. Wie hypnotisiert starrte er noch Minuten später den Rettungsassistenten hinterher.
Tick, Tack.
Tick, Tack.
Das Ticken des Weckers war das erste Geräusch was in seine Ohren drang. Wut stieg in ihm auf, setzte schwemmte flüssiges Feuer durch seine Adern. Schnellen Schrittes und ohne auf die Menschen zu achten die er anrempelte ging er durch den Raum auf den Wecker zu, umschloss das Metall mit den Fingern und warf es mit aller Wucht gegen die gegenüberliegende Wand. Die Menschen um ihn erstarrten in ihrer Bewegung und sahen zu ihm hin, Angst spiegelte sich in ihren Augen. Er beachtete sie dennoch nicht, hatte nur Augen für das zersplitterte Metallgehäuse, das auf dem Boden lag. Er drehte das Uhrenblatt herum; es war noch vollkommen unversehrt. Er hob es auf, wobei er sich die scharfen Kanten ins Fleisch drückte. Kein Ticken mehr, es war vorbei.
Ein Arzt kam auf ihn zu, legte den Arm auf seinen Rücken und bugsierte ihn mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer. Er lies es geschehen und lächelte. Die Finger schloss er fest um das Ziffernblatt. Kein Ticken mehr. Die Zeit war stehen geblieben, doch hatte sie ihm das Liebste genommen.
Das Leben ist grausam.
Erinnern tut weh
„Kommst du? Wir müssen jetzt gehen“, fragte das Mädchen leise.
Er schüttelte leicht den Kopf: „Warte noch...bitte.“
Der Raum war leer. Bis auf die blauen langen Vorhänge war nichts mehr in diesem Raum außer einer nackten Glühbirne die von der Decke baumelte.
Dann sah er zur gegenüberliegenden Wand.
Sah das Loch in der Wand.
Der Raum hatte keine Geschichte mehr. Sie war ausgelöscht worden, bis auf das Loch.
„Komm jetzt.“, meinte das Mädchen und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.
„Fass mich nicht an!“, donnerte er und ging einen Schritt nach vorne.
Der Junge stand jetzt am Fenster; sah hinaus.
Der Himmel war grau, es würde bald regnen.
„Du vermisst ihn, oder?“, fragte sie leise.
Er lachte. „Nein...Warum sollte ich ihn auch vermissen? War ja nur mein Freund.“, meinte er sarkastisch. „Natürlich vermisse ich ihn, mein Gott! Er ist tot verdammt! Und er kommt nicht mehr wieder. Wir haben ihn beerdigt vor sechs Monaten. Er ist tot und ich kann nichts mehr tun. Ich kann ihn nicht beschützen und ich kann ihn nicht zurückholen. Es ist vorbei, es ist rum, er ist einfach nicht mehr da!“, schrie er. Schmerz war in seiner Stimme zu hören.
Er war wütend. Verdammt wütend.
Er war Schuld das Jonathan tot war.
Keine Träne hatte er mehr vergossen, hatte alles sauber verdrängt, hatte gelernt damit zu leben. Und jetzt kam es wieder hoch.
Warum waren sie auch bloß wieder hierher zurückgekehrt? Das Haus wurde heute neu bezogen, die Besitzer würden das Loch in der Wand wohl zuspachteln.
Er erinnerte sich wieder ganz genau, sah die Männer in orange, die ihn von seinem Freund weggezehrt hatten. Er erinnerte sich an die stundenlangen Sitzungen mit dem Psychologen, die er über sich ergehen lassen hatte.
Sie hatten nichts gebracht. Er hatte Schlafmittel bekommen, damit die Träume nicht wiederkehren. Immer wieder hatte er seinen Freund im Bett voller Blut entdeckt, immer wieder hatte er nichts machen können. Er war so verdammt hilflos.
Das Blut hatten sie aus dem Teppich herausbekommen, man sah keinen Fleck mehr. Der Teppich war rot gewesen, jetzt war er wieder weiß.
Nur das Loch in der Wand erinnerte noch daran, dass hier irgendwas passiert war.
Er war Schuld das Jonathan tot war.
Wieder hörte er das eintönige Ticken des Weckers. Es war in seinem Kopf. Eingebrannt wie eine tiefe Narbe.
Er war Schuld das Jonathan tot war.
Das Ticken hatte ihm das Liebste in seinem Leben geklaut. Und jetzt war es so als wäre nichts passiert. Seine Eltern zogen aus der Stadt, suchten neue Käufer für das Haus. Sie waren nie zurück gekehrt zum Grab ihres Sohnes.
Er war jeden Tag dort. Erzählte ihm was passiert war. Er wusste, dass er ihn nicht hören konnte, das es nichts brachte jeden Tag auf der kalten Bank zu sitzen und mit einem leblosen Stück Marmor zu reden.
„Er kommt nicht mehr zurück.“, flüsterte er leise.
„Ja...Er kommt nicht mehr zurück. Aber er hätte bestimmt nicht gewollt, dass du dich so fertig machst!“, meinte das Mädchen und ging auf ihn zu.
„Hör mir doch auf mit deinem elenden ‚er hätte es nicht gewollt’. Einen Scheißdreck weißt du was er gewollt hätte und was er nicht gewollt hätte. Er ist tot verdammt und wir haben nun mal keine Ahnung was er wollte. Wir haben ja auch alle gedacht, es geht ihm gut. Oder hast du etwa erwartet ihn eines morgens tot in seinem Bett zu finden? Der Dreckskerl hat ja noch nicht einmal einen Abschiedsbrief geschrieben.“, das er brüllte merkte er nicht. Er merkte auch nicht, dass er weinte, bis ihm eine Träne auf den Handrücken tropfte.
„Scheiße...“, fluchte er.
Er war an dem Abend einfach gegangen. Er hatte ihn allein gelassen. Er hatte gedacht es wäre alles in Ordnung.
Er hörte wie sich die Schlüssel in der Tür herumdrehten.
„Wir müssen jetzt gehen.“, meinte das Mädchen wieder.
„Ja...ja wir müssen gehen“, sagte auch er.
Der Junge drehte sich nicht noch einmal um.