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Mein Tischnachbar ist ein Idiot!

von

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Tobi hätte seinen Lehrer am liebsten aus dem Fenster geworfen. Wie kam der Mann darauf, ihn nach den Herbstferien einfach umzusetzen? Und dann auch noch neben Johannes, mit dem er seit der 5. Klasse höchstens drei Worte gewechselt und nicht das Verlangen auf mehr hatte?

Johannes erging es ähnlich: Warum durfte er nun Tischnachbar eines launischen und gewalttätigen Kleinkindes sein? Das gab bestimmt bald Ärger, immerhin zog Tobi Ärger magisch an. Außerdem konnte er sich nicht daran gewöhnen, dass Tobi so unglaublich weiblich aussah und er deshalb immer das Gefühl hatte, es mit einem durchgeknallten Mädchen zu tun zu haben. Man konnte Tobi schon durch einen herunterfallenden Bleistift provozieren.

„Ich will nicht neben dem Streberfreak sitzen“, maulte Tobi auch schon lautstark herum und machte sich natürlich dadurch sehr beliebt bei Johannes, aber auch bei ihrem Lehrer Herr Köhler. „Da wird man ja dumm von so viel Langweile.“

„Besser als neben jemandem zu sitzen, bei dem man nicht weiß, ob er männlich oder weiblich ist“, konterte Johannes und kassierte dafür einen brutalen Rippenstoß.

„Halts Maul!... Und wehr dich wenigstens!“

„Vergiss es, ich schlag keine Mädchen.“

„Fick dich, du Arschloch!“

Herr Köhler konnte Tobi gerade noch davon abhalten, Johannes krankenhausreif zu prügeln.

„Tobias, nimm dich ein wenig zusammen! Und Johannes, provozier ihn nicht noch absichtlich.“

„Sie können uns auch einen Gefallen tun und wieder auseinandersetzen“, schlug Johannes vor, doch sein logischer Vorschlag wurde freundlicherweise abgelehnt. Typisch Lehrer, hielten sich für die Schlaueren. Spätestens, wenn Tobi in gekillt hätte, würde Herr Köhler es vielleicht einsehen.

Genervt murmelte Johannes etwas von „Ich werde sie wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen“ und krakelte viele Kreuze auf seinen Schulblock. Wie lange konnte er es wohl neben Tobi aushalten?

Dieser funkelte ihn immer noch böse an und packte sein Englischheft aus. Herr Köhler hatte man eindeutig das Hirn geklaut. Warum konnte sein Tischnachbar nicht jemand normales sein? Aber nein, ausgerechnet einen sarkastischen, dauergelangweilten Streber bekam er als Sitznachbar. Wie scheiße durfte das Leben sein?

„Ich warn dich vor“, knurrte Tobi unfreundlich, „bezeichne mich nie wieder als Mädchen, mach keine dummen Sprüche in meiner Gegenwart und lass mich immer schön in Ruhe, okay?“

Johannes tat so, als hätte er Tobi nicht gehört und malte weiter, was den anderen wieder unglaublich aufregte.

„Du arroganter Idiot, hör mir gefälligst zu!“ Aufgebracht schlug Tobi mit einer Hand auf den Tisch und erweckte dadurch sofort Herr Köhlers Aufmerksamkeit.

„Tobias, hör endlich auf, den Unterricht zu stören, sonst muss ich dir leider eine Strafarbeit geben.“

„Neben ihm“, er deutete auf den desinteressierten Johannes, „zu sitzen ist schon Strafe genug.“

Einige Klassenkameraden begannen über Tobis übertriebenes Verhalten zu kichern und Herr Köhler setzte seine Drohung in die Tat um.

Der Rest des Unterricht verlief in etwa genauso, die Klasse hatte ihren Spaß an Tobi und Johannes musste öfters ein schadenfrohes Grinsen unterdrücken. Der Junge stellte sich aber auch dämlich an. Manchmal fragte er sich wirklich, ob Tobi tatsächlich drei Monate älter war als er, denn so benahm er sich nicht. Und so sah er erst Recht nicht aus mit den feminine Gesichtszügen, den blauen Augen und den fast schulterlangen dunkelbraunen Haaren. Man hätte ihn beinahe als niedlich einstufen können, wenn nicht diese katastrophalen Charaktereigenschaften gewesen wären. Noch ein größerer Gegensatz ging kaum.

Während sich Johannes über Tobi wunderte, regte sich dieser über Johannes auf. Wie konnte man ein Streber und gleichzeitig so unglaublich durchschnittlich sein?

Johannes öffnete nur den Mund für dumme unpassende Bemerkungen, fühlte sich von allem gelangweilt und interessierte sich nicht unbedingt für seine Umwelt.

Sein Aussehen war auch nicht außergewöhnlich: kurzes hellbraunes Haar, grüngraue Augen, die er meistens hinter seiner Brille versteckte und ein gutes Stück größer als Tobi selbst. Noch etwas, was total ankotzte. Wieso war der Arsch ein Vierteljahr jünger als er und trotzdem zehn Zentimeter größer? Da stimmte doch was nicht, eindeutig Betrug oder so.

Das Klingeln der Glocke erlöste die beiden von ihren negativen Gedanken über den jeweils anderen und schnell verließen beide den Saal.

„Warum guckst du schon wieder so genervt, Jo?“, fragte Johannes große Schwester Vera und sein Bruder Kevin fügte hinzu: „Ist das nicht sein normaler Gesichtsausdruck?“

„Sehr witzig.“ Seine Geschwister mussten ihn gleich nach der Schule aufziehen, wunderbare Begrüßung. „Ich hab wenigstens einen Grund dazu.“

„Und welchen? Hast du nur eine 1- bekommen oder was?“, fragte Kevin spöttisch und erntete nur einen noch genervteren Blick von Johannes.

„Nein, hab ich nicht. Ihr kennt doch Tobi aus meiner Klasse, oder?“

„Dieser berühmt berüchtigte Schlägertyp, der aussieht wie seine eigene Schwester?“ Natürlich kannten Vera und Kevin ihn, das tat fast die ganze Schule.

„Ja, genau der. Das ist ab heute mein Tischnachbar“, seufzte Johannes.

„Herzliches Beileid, hat er dich schon geschlagen?“ Schadenfroh piekte Kevin seinem jüngeren Bruder in die Seite.

„Aua... ja, genau da. Dabei hab ich nur die Wahrheit gesagt, aber das verträgt das launische Vieh ja nicht.“

„Wenn er zu schlimm wird, erzählst du es unseren Eltern und die reden dann mit deinem Lehrer“, schlug Vera vor. „Ich will dich nämlich nicht irgendwann wegen diesem Typen im Krankennhaus besuchen müssen.“

Nach dem Gespräch mit seinen Geschwister machte Johannes seine Hausaufgaben und ließ sich Veras Angebot durch den Kopf gehen. Noch ein paar Tage und er konnte sicher als riesiger blauer Fleck durch die Gegend laufen, wenn Tobi sich nicht anders ausdrücken wollte. Der erste blaue Fleck prangte schon auf seinem Oberkörper. Vielleicht sollte er Tobi ein Antiaggressionstraining zum Geburtstag schenken – obwohl er dann noch ein Vierteljahr weiter wüten würde – denn gleich mit seinen Eltern anzurücken klang einfach nur peinlich und gehörte in die Schublade Kindergarten, aber nicht zu jemanden, der theoretisch schon fast erwachsen war. Was man von Tobi ja leider nicht sagen konnte oder sogar durfte.

Während des Abendessens erzählten Johannes Geschwister ihren Eltern groß und breit, neben was für einem gemeingefährlichen Irren ihr jüngster Sohn saß. Natürlich übertrieben sie dabei maßlos, aber entweder wollten sie ihrem Bruder wirklich helfen oder ihre Eltern traumatisieren, in diesem Punkt war Johannes sich nicht sicher.

„Wenn er wirklich so gefährlich ist, müssen wir mit deinem Lehrer sprechen“, begann seine Muter und Johannes verdrehte genervt die Augen. Jetzt durfte er sich stundenlang die bekannten mütterlichen Mitleidsturen und zu allem Überfluss und die väterlichen Ratschläge anhören. An beiden hatte er kein Interesse.

„Das habt ihr echt toll hinbekommen“, zischte er Vera und Kevin zu, die seinen ironischen Unterton gekonnt überhörten und wie verrückt vor sich hingrinsten. Seine Familie, wie sie leibt und lebte, Katastrophenalarm vorprogrammiert.

Nachdem er erfolgreich vom Küchetisch fliehen konnte, setzte sich Johannes auf sein Bett, schnappte sich wahllos ein herumliegendes Buch und begann darin zu lesen, bis er entsetzt feststellte, dass es eins dieser widerlichen Kitschromane war, die seine Schwester überall in der Wohnung liegen ließ, und von denen ihm regelmäßig schlecht wurde. Zuviel Geschnulze, Geflenne und Dummheit in einem kleinen Buch, das hielt doch kein normaler Junge aus.

Mit deutlichem Sicherheitsabstand transportierte er das Buch bis vor Veras Zimmertür, warf es aus Versehen auf den Boden und verschwand wieder in seinen eigenen vier Wänden. Das Buch hatte nichts besseres verdient, außerdem hatte es hier nichts zu suchen. Nun musste neue Lektüre her, doch leider fand er nichts Ansprechendes mehr. Also ließ er die Bücher Bücher sein und hockte sich vor seinen PC. Im Internet fand man immer etwas, mit dem man die Zeit totschlagen konnte, egal wie sinnlos es war. Schon nach kurzer Zeit trat dieser Fall ein und Johannes verbracht die nächsten Stunden damit, weltbewegende Rezensionen über klischeehafte Fantasybücher und unterirdische Filme zu lesen.

Am Morgen wäre Johannes gerne im Bett geblieben, aber nur wegen einer gewissen Person wollte er sich nicht sofort den Tag verderben lassen. Vielleicht hatte er ausnahmsweise gute Laune, obwohl das höchstens einmal im Jahr vorkam.

„Man sieht dir richtig an, wie sehr du dich auf Tobi freust“, neckte ihn Kevin am Frühstückstisch, worauf dieser nur ein genuscheltes „Klappe.“ erhielt. Musste ihn jeder daran erinnern?

Auf dem Weg zur Schule verdrängte Johannes so gut wie möglich das Unvermeidbare und ließ sich lieber mit einer Ladung undefinierbarer Musik aus seinem MP3-Player beschallen. Schadete zwar den Ohren, doch Tobi schadete dem gesamten Rest.

Nach einer Viertelstunde Laufen ohne Nachzudenken – Wer kannte seinen Schulweg nicht auswendig? – erreichte er den Ort des Grauens vieler Schüler. Er selbst hegte keine Aggressionen gegen die Schule; er ging hin, lernte und fertig wars. Große Beschwerden nützten nichts, was wollte er schon dagegen unternehmen? Demonstrieren oder wie? Erstens affig und zweitens nicht sein Ding, er nahm die Dinge meistens so hin, wie sie waren.

Auf dem Schulhof standen die üblichen Bekannten herum: Kleine Fünfklässler, die laut schreiend merkwürdige Hüpfspiele ausprobierten und verschlafene Mittelstufengänger, die schnell die Hausaufgaben ihrer besten Freunde abschrieben. Nichts neues und weltbewegendes.

„Man, Basti, hör auf mich ständig zu nerven, Kapier es endlich, okay?“ Diese aufgebrachte Stimme hörte sich verdächtig nach Tobi an, wer sonst meckerte morgens um Viertel vor acht über den halben Schulhof?

„Du bist ne kleine Schlampe, damit du es weißt.“ Sein Gesprächspartner war ebenfalls nicht besonders leise.

„Na und, kann dir egal sein. Ich bin jetzt mit Nadja zusammen, du hast nichts mehr zu melden. Lass mich einfach in Ruhe.“ Wenn Tobi nun schon dermaßen gereizt war, konnte sich Johannes wieder auf ein paar neue Exemplare Schläge freuen.

„Du bist echt ein Arschloch, wie alle sagen.“

„Früh gemerkt und ich bin stolz drauf! Wenns dich stört, hau ab.“ Wütend stapfte Tobi an einem leicht verwunderten Johannes vorbei und verschwand in ihrem Klassensaal. Sein Tischnachbar folgte ihm mit deutlichen Sicherheitsabstand und fragte sich, mit wem sich Tobi gerade diese Schreiaktion geliefert hatte. Den Typ kannte er zwar flüchtig, aber was er mit Tobi am Hut hatte, konnte er sich nicht vorstellen.

„Wer war denn das eben?“, fragte Johannes, als sich auf seinen Stuhl gesetzt und sein Mäppchen ausgepackt hatte.

„Mein Exfreund“, grummelte der Gefragte ungnädig und zerstach mit seinem spitzen Bleistift einen Radierer. Nun erinnerte sich Johannes auch, dass Tobi sehr offen zugab, auf Mädchen und Jungs zu stehen, denn niemand würde es wagen, ihn deshalb dumm anzumachen. Außer, er wollte sich umbringen lassen.

„Dieser Idiot geht mir jetzt regelmäßig auf den Geist, weil ich eine neue Freundin habe.“

„Und was meinte er mit dem netten „Schlampe“?“ Eigentlich ging es ihn nichts an, aber Tobi schien gerade in Plauderstimmung zu sein und das nutzte Johannes aus, bevor es sich ändern würde.

„Basti denkt, sobald man mehr als einen Freund oder eine Freundin hat, ist man ne Schlampe. Soll er doch, wenn er nichts Besseres zu erzählen hat.“

Das wurde heute ja wirklich noch interessant. Nur etwas wollte Johannes natürlich erfahren: „Wie viele Exfreunde hattest du denn schon?“ Bei Tobis Auftreten bestimmt nicht allzu viele, schließlich schreckte sein Verhalten jeden vernünftigen Menschen ab.

„Hm, Yann, Valerie, Paula, Frank, Julia, Tanja, Niklas, Jessica, Dennis, Heiko... und noch ein paar, ich zähl da nicht mit.“

Dieses Geständnis verschlug Johannes die Sprache, darauf hatte er sich nicht vorbereitet. Entweder verarschte Tobi ihn gründlich oder diese Leute von der Liste hatten kleinere Geschmacksverirrungen, die nicht mehr zu beheben waren.

„Wenn du so weiter machst, hat dein Exfreund nicht ganz unrecht.“ Eigentlich war es ihm unbewusst herausgerutscht, aber dummerweise nicht mehr rückgängig zu machen.

„Du denkst also auch, ich hüpf mit jedem in die Kiste oder was?“, brauste Tobi auch schon auf und Johannes hatte gar nicht die Zeit, sich zu verteidigen, da packte sein Gegenüber ein auf dem Nachbartisch herumliegendes Physikbuch von gefühlten zwanzig Kilo und donnerte es Johannes dreimal heftigst auf den Kopf. Dabei beschimpfte er ihn noch, aber Johannes bekam das gar nicht mehr mit, so sehr schmerzte sein Kopf und alles schien sich wie verrückt zu drehen. Kraftlos sank er auf den Boden und hielt sich die Hände vors Gesicht, aus Angst, dass Tobis ausbrechende Aggressionen ihn noch härter treffen könnten.

Ein Schrei ertönte; Tanja hatte die brutale Attacke beobachtet, rannte zu dem Täter, riss ihm die Tatwaffe aus der Hand und machte ihn nach allen Regeln zur Schnecke.

„Bist du wahnsinnig? Weißt du, was du getan hast? Schalte einmal dein winziges Hirn an! Wenn Johannes irgendetwas passiert ist, kann er dich anzeigen wegen Körperverletzung, ist dir das klar? Du bist so idiotisch!“ Sie warf ihm das Physikbuch vor die Füße und beugte sich zu Johannes, der weiterhin benommen herumlag.

„Johannes, hörst du mich?“ Sie rüttelte ihn an der Schulter und erhielt dafür nur ein gequältes Stöhnen. „Verdammt, Tobi, wie konntest du nur?“

„Schrei bitte nicht“, murmelte Johannes und drückte die Hände auf die Ohren. „Das tut weh.“

„Entschuldigung, aber ich bin gerade ein wenig wütend.“ Sie feuerte einige Todesblicke in Richtung Tobi und wandte sich wieder an das Opfer des Tages.

In diesem Augenblick betrat Herr Köhler die Klasse und wurde sofort von zehn Schülern bestürmt und mit Fakten überschüttet. Er schickte Tanja mit Johannes ins Krankenzimmer, gab dem Rest der Klasse Aufgaben und führte auf dem Flur ein ernsthaftes Gespräch mit Tobi.

„Hoffentlich hast du keine Gehirnerschütterung.“ Besorgt betrachtete Tanja ihren beschädigten Klassenkameraden und begann wieder über Tobi und seine Dummheit zu wettern. Sie hatte ja schon immer gemerkt, dass er gestört war, aber dass er bald ein kleiner Psychopath wurde, hatte sie nicht erwartet. Johannes hörte ihr stumm zu, er kannte Tanja und wusste, dass sie sich erst zufrieden gab, wenn sie sich genug über etwas aufgeregt hatte. Es gehörte einfach zu ihr dazu und es störte ihn nicht, besser sich aufregen als Mitmenschen niederzuschlagen.

„Wahrscheinlich findet er es auch noch toll, was er angestellt hat. Dem trau ich alles zu, der würde die Schule abfackeln oder seine Mutter bei Ebay verkaufen.“ Nun wurde es unrealistisch, aber auch das war Johannes gewöhnt. Wenigstens konnte man darüber schmunzeln.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach Tanjas Fantasien und gleich darauf stand Tobi im Raum mit einem alles andere als glücklichen Gesichtsausdruck.

„Was willst du hier?“, herrschte Tanja in an. „Geh raus, bevor du wieder unüberlegt handelst.“

„Nein, ich will kurz mit Johannes reden. Kannst du vielleicht rausgehen?“

„Wenn es unbedingt sein muss... und wehe, du stellst wieder was an, dann kannst du was erleben.“ Mit einem lauten Knall schloss sie die Tür hinter sich, stellte sich an ein Fenster im Flur und schaute die nicht vorhandene Landschaft an.

„Man, so wie sie sich benimmt, kann man glauben, dass sie auf dich steht.“

„Schön, dass du das denkst. Warum bist du hier?“ Eigentlich hatte Johannes keine Lust mit Tobi eine Unterhaltung zu führen, zum Schluss täte ihm bestimmt wieder etwas weh. Deshalb rutschte er auf der Liege – Bett durfte man das gar nicht nennen – so weit wie möglich an die Wand, um aus Tobis Reichweite zu kommen.

„Ich... wollte mich entschuldigen.“

„Und ich bin der Osterhase. Das glaubst du doch selbst nicht.“ Wenn es etwas gab, was Tobi nicht konnte, was es seine Fehler einzugestehen und sich entschuldigt hatte er sich in den vergangenen 16 Jahren bestimmt kein einziges Mal bei irgendeinem Menschen auf diesem Planeten. „Gibs zu, Herr Köhler hat dich dazu gezwungen.“

Ertappt trat Tobi von einem Fuß auf den anderen und Johannes seufzte auf. Womit hatte er das nur verdient? Schlimmer als im Kindergarten, wo die Erzieherinnen die kleinen Kinder auch immer zu Waffenstillstand zwangen, meistens mit ausbleibendem Erfolg.

„Bekommst du eigentlich Ärger?“ Johannes musste zugeben, dass er es ein klitzekleines bisschen hoffte, sozusagen als Rache für die erlittenen Schmerzen.

„Natürlich, die wollen mich doch eh alle loswerden?“ Sollte Johannes jetzt Mitleid haben? Konnte Tobi vergessen. „Nach der Schule muss ich zum Direktor und wenn ich wirklich Pech hab, flieg ich von der Schule.“

„Geschieht dir recht. Und bevor du mich dafür wieder schlägst: Draußen steht Tanja, die kann auch ziemlich fest zuschlagen, wenn sie will.“

Wortlos setzte sich Tobi auf den Stuhl neben der mickrigen Liege und sah Johannes einfach nur böse an, bis dieser ihm genervt den Rücken zudrehte und so tat, als schliefe er. Auf dumm guckende Möchtegernstalker hatte er wirklich keine Lust.

„Dann geh ich halt.“ Wütend durch das eindeutige Ignorieren stand Tobi auf und verließ den Raum, nicht ohne noch ein nettes „Wichser“ als Abschiedsgruß zu hinterlassen. Fast hätte Johannes gelacht über so viel kindisches Gehabe, aber das tat seinem Kopf dann doch zu weh.

Keine halbe Minute später fegte Tanja in den Raum und befragte den Patienten erst, ob er noch weitere Verletzungen erlitten hätte, was Johannes glücklicherweise verneinen konnte. „Ich habe gerade deine Eltern angerufen, dass sie dich abholen“, berichtete Tanja, als sie schon in der Tür stand, um sich in den gewohnten Schulalltag zu stürzen. „Sie kommen in ungefähr zehn Minuten.“

Wenn seine Eltern das mitbekamen, wäre Tobi mehr als tot, seine Mutter kannte da keine Gnade, falls jemand ihren Kindern etwas tat. Wahrscheinlich konnte er sich morgen an einem Einzeltisch erfreuen.

„Johannes, was ist passiert?“ Wenn man vom Teufel sprach, sie stand in der Tür mit dem typischen Blick besorgter Mütter als hätte sich ihr Kind schwer verletzt. Allerdings war Johannes weder schwer verletzt – höchsten leicht eingedellt – noch sieben Jahre alt. Wie war das mit den zehn Minuten gewesen?

„Tobi hat mich mit dem Physikbuch niedergeschlagen.“ Vielleicht hätte er keine allzu dramatisch wirkende Formulierung wählen sollen, denn nun behandelte ihn seine Mutter wie einen fünfjährigen. Noch schlimmer.

Hastig versicherte Johannes seiner Mutter, dass er inzwischen auch ohne Hilfe laufen konnte und musste sich auf dem ganzen Weg zum Auto ihr Gejammer über gewalttätige Jungendliche und andere Sachen anhören.

Das nächste Mal ließ er sich besser gleich bewusstlos schlagen, da musste er den Terz danach nicht miterleben.

Zu Hause angelangt legte sich Johannes sofort ins Bett und tat so, als ob er schliefe, damit er Ruhe vor seiner überbesorgten Mutter hatte. Zwar war es langweilig, im Bett zu liegen und nichts zu tun, aber besser als Tobi zu ertragen allemal. Von daher könnte man es auch so sehen, dass Tobi ihm – allerdings unfreiwillig – einen Gefallen getan hatte. Seltsame Vorstellung, als wäre Tobi zu so etwas im Stande.

Okay, vielleicht sollte er vorerst aufhören, Tobi immer als eine Art verkleinerte Kampfmaschine zu sehen sondern als normalen Menschen, egal wie schwer das fiel. Immerhin war es Tobi, von dem man nur gewöhnt war, dass er sich daneben benahm, aber bestimmt hatte Tobi auch seine guten Seiten.

Und er hatte selbst hatte gerade im wahrsten Sinne einen Dachschaden, dass er sich über diesen Typen Gedanken machte, lag ganz sicher am Physikbuch. Oder er war schlimmer getroffen worden als befürchtet.

Ziemlich genervt von diesem Haufen bekloppter Gedanken gab Johannes seinen Pseudoschlaf auf, schlurfte in die Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Zufällig fiel sein Blick auf die Küchen Uhr und er musste mit Schadenfreude feststellen, dass seine Klassenkameraden soeben erst die erste Stunde überlebt hatten.

„Johannes, leg dich bitte wieder ins Bett.“

Mussten Mütter immer so unerwartet auftauchen und ihre Kinder erschrecken? Wahrscheinlich hatte sie das jahrelang geprobt, so gut wie sie es konnte.

„Ja Mama.“ Man, kam er sich dumm vor, wie ein Grundschulkind, dabei war er vor einigen Wochen 16 geworden. „Mach ich.“

Der Tag drohte langweilig zu werden, wenn er sich nicht frei im Haus bewegen konnte, aber daran ließ sich nichts ändern, außerdem kam seine Muter sonst auf die schlaue Idee, ihn vielleicht gleich wieder in die Schule zu fahren, und das musste er nicht provozieren. Nur weil er Schule nicht hasste, liebte er sie nicht automatisch, so war das nicht.

Aus Eigenschutz blieb er den restlichen Vormittag in seinem Zimmer, hörte leise Radiogedudel und vermied alle Gedanken, die sich um Tobi drehten. sie waren einfach zu zwiespältig.

Gegen halb drei kam Tanja vorbei, brachte ihm die Hausaufgaben mit und erzählte ein paar belanglose Neuigkeiten aus der Schule.

„Ich habe versucht, Herrn Köhler zu überreden, dass er dich umsetzt, aber er will es nicht. Er denkt bestimmt, durch die Verwarnung wird unser lieber kleiner Tobi nie wieder gemeingefährliche Attacken auf seine Mitschüler starten. Wers glaubt wird selig.“

„Trotzdem danke, dass du es versucht hast.“ Eins musste man Tanja wirklich lassen: Sie half wo sie konnte, was nicht immer so selbstverständlich war.

„Weshalb hat er dich eigentlich geschlagen?“ Tanja schien nicht den Grund für die Tat mitbekommen zu haben, was nicht verwunderlich war, schließlich saß sie eigentlich auf der andere Seite des Klassensaals.

„Ich hab was gesagt, was ihm nicht gepasst hat.“ Er selbst hätte es auch nicht toll gefunden, wenn ihn jemand als Schlampe bezeichnen würde, aber so zu reagieren gehörte in den Kindergarten oder in andere ähnliche Einrichtungen, nicht in die 10. Klasse.

„War ja eigentlich klar.“ Tanja seufzte. „Ich muss dann auch wieder los, sonst macht meine Mutter Terror Wenn du morgen immer noch zuhause bleibst, bring ich dir auch die Hausaufgaben vorbei.“ Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und ließ Johannes mit einem Berg Hausaufgaben zurück.

Das war der größte Witz am Kranksein: Zuerst hatte man von allem seine Ruhe und plötzlich kam alles auf einmal und wollte erledigt werden. Da ging man doch besser in die Schule.

Gewissenhaft machte Johannes alles, was Tanja als Hausaufgabe auf einen Zettel geschrieben hatte und stellte dabei fest, dass die Lehrer wieder Spaß am Aufgabenaufgeben gehabt hatten.

„Johannes, hier lag etwas für dich im Briefkasten.“ Seine Mutter drückte ihm ein Stück Papier in die Hand. Wer schrieb denn heutzutage noch Briefe? Und vor allem ohne Umschlag? Irgendwie kam ihm das komisch vor, vor allem, weil die Schrift nach einem jüngeren Kind aussah.

Schrieben jetzt schon kleine Kinder Drohbriefe?

Die genaue Inspektion des Möchtegernbriefs ergab, dass er wahrscheinlich von jemandem persönlich in den Briefkasten gelegt worden war, denn es fehlten Anschrift, Umschlag und Briefmarke. Für umsonst machte die Post schließlich auch nichts.

Der Inhalt verwirrte Johannes allerdings. Erstens konnte er nicht alles gut lesen, weil derjenige ziemlich mit seinem Füller geschmiert hatte und zweitens klang es merkwürdig.

Denn irgendjemand hatte eine Art Entschuldigung für Tobi geschrieben. Was sollte das werden? Hatte dieser das Schreiben neu gelernt? Oder einfach keinen Bock gehabt es selbst zu schreiben? Interessante Fragen, die Johannes gerne beantwortet hätte, aber wie?

Bei Tobi anrufen? Geldverschwendung.

Zu Tobi gehen und nachfragen? Zeitverschwendung.

Also würde er ihn morgen in der Schule danach fragen, falls seine Mutter ihn gehen ließe, was aber kein Problem werden würde, da er sich relativ wiederhergestellt fühlte.

Außer das Rätsel klärte sich innerhalb es Nachmittags, dann hatte Johannes keinen Grund mehr Tobi damit auf die Nerven zu gehen und sich zu wundern.
 

Aus diesem Gedanke wurde nichts, da sich Herr Schlägertyp im Laufe der nächsten Stunden weder blicken oder hören ließ. Auch nicht schlimm.

Trotz einiger Restbedenken schickte Johannes’ Mutter ihren Sohn am nächsten Tag in die Schule, erklärte aber zuvor stundenlang, dass er sich bei einem erneuten „Tobiausraster“ wehren musste, egal wie. Mechanisch nickte Johannes – eigentlich hörte er nicht einmal zu – und verabschiedete sich um sich auf den weg zu machen. Seine Mutter sollte wirklich einen Orden im Teenagernerven erhalten und zwar sofort.

„Was sollte das gestern sein?“, fragte Johannes, als er sich neben seinen noch halbschlafenden Tischnachbarn hockte und ihm das inzwischen zerknüllte Zettelchen unter die Nase hielt. „Kannst du dich nicht auf normalem Weg mit mir unterhalten?“

„Was ist dein Problem?“, grummelte Tobi und riss ihm das Papier aus der Hand. „Ich hab gar nichts gemacht.“

Für gar nichts sah der verkorkste Brief allerdings höchst real aus, mysteriös.

„Das kannst du deiner Oma erzählen und diese komische Entschuldigung erst Recht.“ Wollte Tobi ihn schon am frühen Morgen reinlegen, sozusagen als kleine Rache für den Ärger gestern? Das lief aber nicht besonders glaubwürdig ab.

Nach mehrmaligem Lesens des Zettels verfinsterte sich ohne Vorwarnung Tobis Blick und Johannes rutschte rein provisorisch von ihm weg. „Dieses dumme kleine Kind, was denkt die sich eigentlich?“

„Wer denkt sich was?“, fragte der Überbringer der anscheinend sehr aufschlussreichen Nachricht überrascht. „Das hast du doch geschrieben, gibs zu. Auch wenns ziemlich unleserlich aussieht.“

„Nein, hab ich nicht“, fauchte Tobi, sprang plötzlich auf und stapfte mit einer furchteinflössenden Aura aus dem Saal.

„Was ist denn mit dem los?“ Wie aus dem Nichts stand Tanja hinter Johannes, der vor Schreck zusammenzuckte. „Hast ihn ihm wieder geärgert, unser kleines sensibles Nervobjekt? Das kannst du doch nicht einfach machen!“

„Eigentlich nicht, ich hab ihm nur eine Nachricht gezeigt“, verteidigte sich Johannes gleich, „ die gestern in unserem Briefkasten lag und eigentlich von ihm sein müsste. Aber sie ist es gar nicht.“

„Naja, wahrscheinlich lässt er seine Aggressionen deshalb jetzt an jemand anderem aus statt an dir“, meinte Tanja grinsend. „Freu dich also.“

Wieso sollte er sich freuen? Nur weil er im Moment verschont wurde, hieß das nicht gleich für immer.

Kurz nach Anfang des Unterrichts kehrte Tobi zurück – er sah noch genauso wütend wie vorher aus – und erhielt dafür eine Ermahnung, was ihm sichtlich am Arsch vorbeiging. Aus Selbstschutzgründen fragte Johannes ihn auch nicht nach dem Grund, er vermutete ohnehin etwas.

Der Tag verlief harmlos, obwohl man Tobi ansah, dass seine Laune irgendwo im unteren Bereich der imaginären Skala herumpendelte, aber er riss sich zusammen, ein unglaublicher Fortschritt.

Wahrscheinlich reichte ihm ein Klassenbucheintrag am Tag.

Zuhause aß Johannes zu Mittag, verrichtete eher schlecht als Recht seine Hausaufgaben – er hatte heute seltsamerweise noch weniger Lust als sonst dazu – und hockte sich schließlich zu seinem Bruder auf die Couch im Wohnzimmer, um sich eine nicht besonders geistreiche Sendung über die Probleme unterschiedlich unsympathischer Menschen anzusehen. Als reichte nicht das eigene Leben, nun musste man schon in der Privatsphäre andere Leute herumstöbern, um sich zu freuen, dass man nicht ganz so viele Schwierigkeiten wie diese besaß. Arme Gesellschaft. Und dazu gehörte er selbst, weil er sich den Blödsinn freiwillig antat, höchst peinlich.

„Na, lebst du noch, alles heil an dir?“, scherzte Kevin und piekte ihm spielerisch in die Seite, worauf er nur ein Brummen erhielt. Johannes konnte auf Dauer diese nervigen Anspielungen auf Herr – oder Frau, wie man es nahm – Schlägerkind nicht mehr anhören. Zwar war Tobis Verhalten auf keinen Fall akzeptabel, doch diese ständigen Bemerkungen seiner Mitmenschen störten Johannes; er kam sich dadurch wie ein hilfloses Grundschulkind vor, das sich nicht gegen einen Vollidioten oberster Kategorie wehren konnte. So wollte er auf keinen Fall enden, zum Schluss hätte Tobi vielleicht noch etwas, worüber er lachen konnte und das ließ sich Johannes nicht bieten.

„Hallo, redest du mal mit mir?“ Eingeschnappt beendete Kevin seinen fehlgeschlagenen Konversationsversuch und wendete sich wieder dem Fernseher zu, in dem sich gerade eine blonde stark überschminkte Frau und ein Mann gegenseitig zur Schnecke machten. Niveau pur, der Sender durfte stolz auf sich sein.

Nach einer Viertelstunde hielt Johannes diese Intelligenz auf dem Bildschirm nicht länger aus und ließ sich auf sein Bett fallen, um sich eine andere sinnvolle Beschäftigung für den Tag zu suchen. Der Fernseher fiel eindeutig aus, auf Computerspiele hatte er keine Lust, zum Lesen fehlte ihm das entsprechende Buch, Malen konnte er vergessen – selbst Kindergartenkinder waren begabter, vielleicht sogar die Nachbarskatze – sich mit jemanden zu treffen lohnte sich nicht... die Liste ließ sich unendlich lang fortsetzen. Für jeden Vorschlag fand er ein mehr oder weniger plausibles Gegenargument und ließ es dabei bleiben. Er sollte sich einfach eingestehen, dass er gerade seine faule Phase hatte und den halben Tag auf dem Bett dösen würde. Ende der vergeudeten Überlegungen.

Ein Klingeln an der Haustür überhörte er, war sicher nicht für ihn und falls doch, gab es vier weitere Menschen, die sie öffnen konnten.

„Johannes, Besuch für dich.“ Die Stimme seiner Mutter klang merkwürdig, sehr angespannt, was nicht zu ihr passte, vor allem nicht, wenn Gäste kamen. Wer konnte das denn sein, dass seine Mutter dieser Person am liebsten die Tür vor der Nase zugeknallt hätte?

Jemand rannte die Treppe hinauf und klopfte zaghaft an seine Zimmertür.

„Ja, was ist?“, fragte Johannes genervt und setzte sich auf, damit er nicht allzu unhöflich herüberkam. Wer oder was auch immer ihn besuchen wollte, hatte die falsche Zeit gewählt, er traf sich normalerweise höchstens am Wochenende mit anderen, weil man da deutlich mehr unternehmen konnte.

„Hallo.“ Ein junges Mädchen trat schüchtern in seinen Raum ein und Johannes fragte sich, ob er an Gedächtnisverlust litt oder warum er sie nicht kannte.

„Wer bist du?“ Eine peinliche Frage, aber besser als so tun, als wüsste man, mit wem man es zu tun hatte.

„Meine Schwester Sarah.“ Die zweite Person, die nun hinter dem Mädchen stand, hätte Johannes gerne per Gedächtnisverlust vergessen, jedoch gelang ihm das nicht. Schlecht gemacht, aber echt.

„Was machst du hier, Tobi?“ Deshalb hatte seine Mutter alles andere als freundlich geklungen, bei diesem Menschen kein Wunder. „Willst du mich schon in meinem eigenen Zuhause verprügeln und brauchst dafür Hilfe von deinen Geschwistern?“

„Nein, du Flasche, ich wollte dir beweisen, dass diese Fakeentschuldigung nicht von mir ist sondern von ihr. Mir tut das alles nämlich kein bisschen leid, damit dir das klar ist.“

„Was erzählst du denn, Tobi?“, mischte sich plötzlich Sarah ein. „Natürlich tut es dir Leid.“

„Halt die Klappe!“, fuhr er sich an und Johannes schüttelte schockiert den Kopf. Sogar vor kleinen Mädchen machte Tobis Unverschämheit nicht halt. Der Junge brauchte mal erzieherische Maßnahmen, wie wäre es mit der Supernanny, das könnte er selbst dann sogar schön im Fernseh mitverfolgen und sich darüber lustig machen.

Sarah ignorierte gekonnt die Unfreundlichkeit ihres Bruders – sicher jahrelanges Training – und sah sich ein wenig in Johannes’ Zimmer um. Der Anblick schien ihr zu gefallen. „Schön hast du es hier“, meinte sie und Johannes nickte mechanisch. Noch nie hatte sich irgendjemand sein Zimmer genau angesehen, aber Mädchen verhielten sich in solchen Dingen anders als Jungs.

„Sarah, hör auf, meinen Klassenkameraden zu belästigen“, knurrte Tobi überraschenderweise und erntete dadurch von den beiden belustigte Blicke.

„Bist du eifersüchtig oder so?“, stichelte Johannes und wich einem fliegenden Taschenbuch aus, das direkt auf ihn zugesteuert kam.

„Sicher nicht, ich finde es nur peinlich, wie sie sich wieder an ältere Jungs ranschmeißen muss“, behauptete Tobi und warf Sarah giftige Blicke zu, die diese mit einem Kichern quittierte. Nette Familie, hoffentlich hatten die Eltern keine weiteren Kinder.

„Weshalb seid ihr denn genau hier?“, versuchte Johannes das Thema auf das Wesentliche zurückzulenken und schien damit erfolgreich, denn die zwei Lohrgeschwister beendeten ihren kindischen Kleinkrieg und Tobi widmete seine Aufmerksamkeit dem Jungen vor sich auf dem Bett.

„Wir geben dir eine Schriftprobe ab, damit es keine Zweifel für meine Unschuld gibt“, verkündete er, nahm sich ungefragt einen Zettel und einen Kugelschreiber vom Schreibtisch und kleisterte in seiner schönsten Krakelschrift einen Satz auf das Papier.

Du kannst mich mal.

„Tut mir Leid, aber das Angebot muss ich ablehnen“, erklärte ihm Johannes und seufzte innerlich lautstark auf. Dieser Junge besaß soviel Taktgefühl wie ein Lebkuchenhaus mit Zuckerguss.

„Jetzt bin ich“, rief Sarah freudig, riss ihrem Bruder den Stift aus der Hand und schrieb fein säuberlich 'Tobi ist doof’ unter den ersten Satz. Das Mädchen wurde Johannes sympathisch.

Er musste zugeben, ihre Schrift ähnelte sehr stark der auf dem Brief. So viel zum Gedanken, dass Tobi möglicherweise doch Schuldgefühle besaß. Nichts gabs.

„So, fertig, wir können gehen.“ Tobi wandte sich in Richtung Ausgang, doch Sarah hielt nichts davon; stattdessen hockte sie sich neben Johannes auf das Bett und begann ihn über irgendwelche Dinge auszufragen.

„Wann hast du Geburtstag?“

„Ähm, im Oktober“, stotterte Johannes verwirrt und fragte sich, was sie damit bewirken wollte. „Wieso?“

„Nur so“, strahlte sie und Tobi bekam hinter ihr einen extremen Hustenanfall, um sein Missfallen über das Verhalten auszudrücken.

„Sarah, mach dich an Leute in deinem Alter ran, niemand steht auf neunjährige.“

„Ich bin fast zwölf, du Blödmann“, beschwerte sie sich und verschränkte beleidigt die Arme. „Kannst ja schon mal gehen, ich habe noch was zu tun.“

„Mach doch, was du willst. Und Johannes: Finger weg von meiner Schwester, verstanden?“

Was erwartete Tobi von ihm? Der Typ sollte sich gefälligst um seine eigenen privaten Liebesprobleme kümmern, wer hatte denn schon mit zwanzig Leuten eine Beziehung geführt – oder es zumindest versucht?

Nachdem der Giftzwerg unter lauten Gepolter die Treppe hinuntergestapft war, seufzte Sarah theatralisch und zupfte sich einen Fussel aus dem Haar. „Mein Bruder kann manchmal echt hohl sein, aber sonst ist er ganz in Ordnung.“

Sprachen sie gerade von derselben Person? Tobi und ganz in Ordnung? Höchstens wenn er schlief.

„Dafür schlägt er aber hart zu“, meinte Johannes und rieb sich demonstrativ die Seite, die fast an Gewalt gewöhnt war.

„Er ist halt... etwas schwierig, aber eigentlich findet er dich gar nicht so doof wie er immer behauptete“, erzählte Sarah grinsend und Johannes vermutete stark, dass irgendjemand sie für diese Aussage bestochen hatte. Tobi war ein Idiot. Nettigkeit stand nicht in seinem Verhaltenscodex, wahrscheinlich besaß er keinen.

„Wieso bringt er mich dann fast mit einem Physikbuch um, wenn er mich so toll findet? Macht er das bei seiner Freundin auch?“

„Basti hat er auch erst wochenlang niedergemacht, bis er entdeckt hat, dass er ihn doch nicht so schrecklich findet.“

Was war schlimmer? Ein brutaler Tobi oder ein Tobi, der möglicherweise in ihn verknallt sein könnte? Eher letzteres, es passte nämlich nicht zu ihm.

„Ich muss dann auch mal los, sonst nervt Mama wieder“, verabschiedete sich Sarah und drückte ihm schnell einen gefalteten Zettel in sie Hand. „Tobis Handynummer, falls du mal anrufen willst“, lächelte sie und Johannes überkam das Gefühl, von einem kleinen Mädchen mit deren Bruder verkuppelt zu werden. Wie frühreif sich jüngere Kinder heute benahmen, als er in ihrem Alter gewesen war, kannte er den Begriff „schwul“ noch nicht mal wirklich und sie fand es scheinbar sogar toll.

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Ein wenig länger als sonst, sozusagen als Entschädigung für die längere Wartezeit. ^.~

Kaum entschwanden die zwei Mitglieder der Familie Lohr aus dem Haus, stürmte seine Mutter hektisch in sein Zimmer, ohne ans Anklopfen und die Nerven ihres Sohns zu denken. Eigentlich wie immer.

„Was wollten die denn hier? Kevin hat behauptet, das wären dieser schlimme Tobias und seine Schwester gewesen. Stimmt das?“ Sie klang, als wären die beiden Kleinkriminelle oder die Erfinder der Spammails, möglicherweise auch beides gleichzeitig.

„Ja, Mama, aber sie haben nichts angerührt, mach dir keine Sorgen.“ Eher sollte er sich Sorgen machen; mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit Sarahs merkwürdiger Aussage.

„Ich hoffe es doch, sonst rufe ich bei denen zuhause an.“ Und würde es damit schaffen, ihren Sohn völlig lächerlich zu machen. Das Gegenteil von gut gemeint war nun mal immer noch gut gemacht.

„Brauchst du nicht.“ Zumindest noch nicht, wer wusste, was als nächstes in Tobis krankem Hirn vorging?

„Das werden wir ja sehen.“ Drohte sie damit Tobi oder ihrem eigenen Sohn? Das wusste letztgenannter nicht eindeutig, seine Mutter führte sich in solchen Angelegenheiten manchmal unberechenbar auf, sogar Vera als weitere Vertreterin des weiblichen Geschlechts durchschaute diese Taktik nicht komplett.

Als er wieder allein in seinem Zimmer war und sich einigermaßen gesammelt hatte, rief er Tanja an, um ihr die unerwartete Wendung zu berichten. Sonst tat er so was nicht – war er ein Mädchen? -, aber die momentane Situation schrie nach Ausnahmen.

„Kufenberg, guten Tag?“, meldete sich Tanjas Mutter am Telefon.

„Hallo, hier ist Johannes Sander.“ Hoffentlich erinnerte sie sich noch an ihn, er hatte schon lange nicht mehr dort angerufen.

Telefonieren gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken und er tat es eher ungern, aber dass er den Text vorher auf einen Zettel schrieb, war wirklich nicht nötig. So schlimm stand es noch nicht um ihn, obwohl er bei eher fremden Leuten immer befangen am Hörer hing und wünschte, dass alles so ablief, wie er es sich überlegt hatte.

„Ah hallo!“ Anscheinend erkannte Frau Kufenberg ihn noch, da musste er sich nicht stundenlang vorstellen. „Wie geht es dir und deiner Familie?“

Nun begann das wieder. Man tat, als wäre alles in Ordnung, selbst wenn das Haus um einen herum gerade abbrannte und stellte Fragen, die einem normalerweise am Hutschnürchen vorbeigingen.

„Eigentlich gut“, vermied Johannes eine konkrete Antwort. Lieber wage bleiben als möglicherweise Fehlinformationen liefern. „Ist Tanja da?“ Hoffentlich, sonst hatte sich dieses Affentheater kein Stück gelohnt.

„Sie müsste eigentlich da sein, ich hole sie schnell.“

Während Tanjas Mutter durch das ganze Haus nach ihrer Tochter rief, überlegte Johannes vorsorglich, wie er am Besten beginnen sollte. Es kamen ja nicht jeden Tag traumatische Tatsachen ans Licht.

„Hallo?“

„Tanja, rate mal, wer gerade bei mir war.“

Er hörte förmlich , wie sie auf der anderen Seite der Telefonleitung nachdachte.

„Keine Ahnung, muss ich denjenigen kenne?“

„Er fängt mit 'T’ an und hört mit 'obi’ auf.“

„Nee, oder?“ Tanjas verdatterte Stimme verriet deutlich ihre Überraschung, damit hatte sie also nicht gerechnet. „Und du hast ihn einfach so reingelassen?“

„Nicht ich, meine Mutter wars. Aber er hat nichts getan, sondern seine Schwester, die hat er mitgeschleppt.“

„Und, steht euer Haus noch?“

„Klar, aber Sarah hat mir gerade mitgeteilt, dass ihr Bruder gerne Leute verprügelt, auf die er steht. Krank, oder?“

„Die verarschen dich sicher“, behauptete Tanja schockiert. „Außerdem hat er doch eine Freundin, diese Nadja. Man, ich fass es nicht.“

Da konnten sie einen Klub eröffnen, Johannes fand es ebenfalls völlig abwegig.

„Sarah hat mir noch Tobis Handynummer in die Hand gedrückt. Soll ich mir jetzt billig vorkommen?“ Zumindest fühlte er sich dadurch nicht besonders geehrt.

„Die Familie hat doch einen an der Klatsche“, beschwerte sich Tanja und lief aufgeregt durch ihr Zimmer, was Johannes an den unverkennbaren Geräuschen im Hintergrund erkannte. Außerdem konnte Tanja beim Telefonieren nie still sitzen.

„Naja, sie haben versucht sich zivilisiert zu benehmen.“

„Alles Tarnung, zähl mal lieber dein Geld und den Schmuck deiner Mutter nach.“

„Jetzt übertreibst du aber“, wies Johannes sie leicht entsetzt zurecht; Tobi leistete sich zwar viel, doch ihm Diebstahl zu unterstellen, nur weil er sich unverschämt benahm, fand er ein wenig zu hart. Zum Schluss gab es Gerüchte, an denen er selbst mitgewirkt hatte und das fand er nicht erstrebenswert.

„Ja, okay, tut mir leid.“ Nun nahmen sie schon Tobi in Schutz, der Tag wurde immer besser. „Aber der verhält sich ja auch seltsam.“ Sie hielt kurz inne und schien zu lauschen. „Meine Mutter ruft mich zum Abendessen, bis morgen dann.“

„Ja, bis morgen.“ Immer noch nicht ganz beruhigt legte Johannes den Hörer auf und holte einmal tief Luft.

Eine kurze Zusammenfassung für sein überanstrengtes Denken: Tobi fühlte sich nicht schuldig, würde ihn jeder Zeit wieder bedrohen und war zugleich – nach Sarahs Ansicht – in ihn Johannes verliebt. Absolut logisch.

„Die bringen mich noch um“, murmelte Johannes leise vor sich hin und warf sich auf sein Bett. „Alles geplant, eine riesige Verschwörung gegen mich.“

„Und, was hast du gestern Tolles mit meiner Schwester gemacht? Muss ja echt unglaublich gewesen sein, so wie sie gegrinst hat, als sie wieder gekommen ist.“

Mit solch einer zweideutigen Begrüßung hatte Johannes nicht gerechnet und blieb zehn Sekunden wie versteinert vor seinem Tisch stehen.

„Bei dir hackt es wohl ein bisschen. Deine Schwester scheint von Natur aus ein fröhlicher Mensch zu sein.“ Dass sie sich somit sehr von ihrem Bruder unterschied, ließ er vorsichtshalber weg. „Wahrscheinlich freut sie sich nur, weil sie auf dem besten Weg ist, deine Freundin gegen jemanden anderen zu ersetzen.“ Zumindest hatte es für ihn so geklungen, aber vielleicht war alles nur ein schlechter Scherz.

„Was soll das schon wieder bedeuten?“, knurrte Tobi böse, als ob er für die merkwürdigen Pläne seiner Schwester verantwortlich wäre. Konnte er nicht mal jemand anderen zur Schnecke machen? Langsam aber sicher nervte es Johannes, bei jedem Wort dumm angemacht zu werden.

„Sie denkt, du stehst auf mich.“ Ein kleiner Schock am Morgen vertrug auch ein Tobi.

„Was? Tickt die noch ganz richtig? Nicht auf so einen Vollidioten wie dich.“ Sofort drehten sich alle Klassenkameraden zu ihnen um, falls es wieder eine kleinere Schlägerei zur allgemeinen Unterhaltung gab, doch Tobi machte ihnen nicht diesen Gefallen und tobte stattdessen munter auf seinem Stuhl herum, was gefährlich und dämlich zugleich aussah.

„Dann haben wir endlich mal ähnliche Gedanken“, nuschelte Johannes undeutlich und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Musste die anderen sie so ansehen, als kämen sie geradewegs vom Mars? Man kam sich beobachteter vor als ein Eisbär im Schwimmbad. Oder so ähnlich.

„Könnt ihr mal wen anderes dumm anglotzen?“, fauchte Tobi in seinem Lieblingstonfall drei Jungs neben uns an und hörte nicht eher auf, bis ihre Mathelehrerin ihn mit ihrem Erscheinen die Arbeit abnahm.
 

„Was habt ihr denn wieder beredet?“, wollte Tanja in der ersten großen Pause unbedingt von Johannes erfahren. Wenn es um Tobi ging konnte sie manchmal richtig neugierig werden, vor allem wenn sie sich danach über ihn aufregen konnte.

„Ich hab ihm nur erzählt, was mir seine Schwester gestern gesagt hat.“

„Bist du doof? Du kannst froh sein, dass er nicht zum fünftausendsten mal ausgerastet ist.“ Tanja biss in ihr Nutellabrötchen und ließ den Blick über die Masse an schwätzenden Schüler schweifen.

„Irgendwann hätte sie es ihm sowieso gesagt, also ist es egal. Und außerdem ist ja nichts passiert.“

„Glaubst du“, meinte Tanja plötzlich und zog Johannes quer über den Schulhof hinter sich her, bis sie in der Nähe zweier Personen anhielten, die angeregt miteinander kommunizierten. Oder eher stritten.

„Man, Nadja, beruhig dich mal.“

„Nein, Tobi, werde ich nicht.“ Seine Freundin strich sich eine Strähne hinters Ohr und gestikulierte ärgerlich weiter vor Tobis Gesicht herum. „Was soll da zwischen dir und diesem Johannes sein?“

„Nichts, man.“ Genervt verdrehte er die Augen. „Glaub nicht jedem Müll, den deine Lästerfreundinnen irgendwo aufgeschnappt haben. Wenn die mal genauer zugehört hätten, wüssten sie vielleicht, dass das krankhaftes Wunschdenken meiner frühreifen Schwester und nicht die Wahrheit ist.“

„Irgendwas Wahres wird schon dran sein, sonst gäbe es solche Gerüchte gar nicht.“

„Hörst du mir nicht zu?“ Tobi war wie immer kurz vorm Explodieren. Kein Wunder, dass seine Freunde sich die Klinke in die Hand gaben. Johannes musste unfreiwillig leicht grinsen, obwohl die Szene für Tobis Freundin alles andere als lustig war, immerhin befürchtete sie betrogen zu werden. Keine angenehme Situation.

„Natürlich hör ich dir zu, aber mit dir kann man im Moment überhaupt nicht reden.“

„Dann geh doch, wenn du es nicht kannst.“ Nun zickte Tobi herum, das konnte er fast besser als alle Mädchen, die Johannes kannte. Vielleicht stellte sich eines Tages heraus, zu welchem Geschlecht Tobi tatsächlich gehörte – 100% weiblich –, dann wären viele seiner Überlegungen berechtigt gewesen und er durfte stolz damit angeben.

„So viel zum Thema 'nichts passiert’, jetzt gibt es Ehekrach bei Tobi und Nadja. Und du bist dran schuld!“ Gespielt schockiert hüpfte Tanja um ihn herum und zog damit die Aufmerksamkeit des halben Schulhofs auf sich.

„Soll ich jetzt weinen?“, brummte Johannes desinteressiert und atmete erleichtert auf, als die Pause vorüber war. Wie auffällig durfte man sich benehmen?

Den restlichen Unterricht hockte Tobi schlecht gelaunt neben ihm, kritzelte tote Johannese auf seinen Block und strafte ihn mit eisigem Schweigen, was das Opfer nicht im geringsten bedauerte.

Der Freitag blieb unspektakulär und das Wochenende trug wunderbarerweise ein riesiges 'Tobi-freie-Zone‘ Schild, eine nette Abwechslung für Johannes und seine Nerven.

Am Samstag ging er mit Tanja ins Kino, was er ihr schon vor Monaten versprochen hatte, und musste sich zusammenreißen, um nicht einzuschlafen. Die Handlung des Films war langweilig, die Dialoge ebenso und die Hauptperson ein dummer kleiner ignoranter Junge ohne Freunde und Hirn. Das konnte er sich auch in der Realität antun, indem er einfach auf die Straße ging, doch Tanja schien es zu gefallen, wahrscheinlich nur, weil der Typ relativ gut ausgesehen hatte. Andererseits war eins der Mädchen, die öfter mal durchs Bild geturnt waren, auch nicht so ohne.

Nein, das hatte er jetzt nicht gedacht.

„Und, wie hat dir der Film gefallen?“, fragte ihn Tanja, als sie kaum den Kinosaal verlassen hatten und sich auf den Weg zu ihr nach Hause machten.

„Ja, ganz in Ordnung“, behauptete Johannes, doch Tanja wusste genau, dass er damit eigentlich 'schrecklich bis zum geht nicht mehr’ meinte und schmollte dementsprechend. Immerhin hatte sie sich schon lange auf diesen Kinobesuch gefreut.

„Das nächste Mal gehen wir in irgendeinen kitschigen Romantikfilm“, drohte sie, obwohl Johannes genau wusste, das sie das nie tun würden, weil sie beide danach sicher unter einem psychischen Schock leiden würden. So war es schon bei 'Liebe braucht keine Ferien’ gewesen.

Nach knapp fünfzehn Minuten später standen sie vor Tanjas Haustür und warteten geduldig, dass jemand öffnete, nur tat sich nach dreimal Klingeln immer noch nichts.

„Wehe, die sind einkaufen“, fluchte Tanja und kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, bis ihr einfiel, dass dieser im Chaos ihres Mäppchens verschollen war. Dort lag er gut.

„Entweder wir bleiben hier und frieren uns alles ab oder wir gehen zu dir“, zählte sie Johannes die Möglichkeiten auf, der sich ohne zu zögern für Nummer zwei entschied. Sein Zimmer gefiel ihm wesentlich besser als der schwach bepflanzte Vorgarten der Kufenbergs.

Der Weg dauerte nicht lange und erfreulicherweise war jemand zu Hause, der ihnen die Tür aufmachte, nämlich Kevin.

„Hast du eigentlich keine Freunde?“, begrüßte Johannes ihn, als er schon im Flur den Ton des Fernsehers vernahm. „Außer die Flimmerkiste dahinten?“

„Doch, aber die haben Angst vor meinem kleinen Bruder und kommen deswegen nicht her“, konterte er und schlurfte zurück auf das Sofa. Im Gegensatz zu Vera, die ständig bei ihren Freundinnen herumhing und fast dort wohnte, verbrachte er seine Freizeit nun mal lieber vor dem Fernseher, das war wesentlich spannender als das Dummgeschwätz mit tausend anderen Leuten.

„So ein Suchti“, meinte Tanja und folgte Johannes in sein Zimmer, wo sie sofort seinen Schreibtischstuhl belagerte. „Hängt der wirklich immer vor der Glotze?“

„Ja, außer wenn er schlief, in der Schule ist oder aufs Klo geht.“ Johannes hatte sich schon an das Verhalten seines Bruders gewöhnt, aber für Menschen außerhalb seiner Familie musste es wirklich merkwürdig erscheinen.

„Kein Wunder, dass er noch nie eine Freundin hatte.“

„Ich glaube, das will er auch nicht, könnte ihm ja vom fernsehen abhalten“, seufzte Johannes und begann sein Bett zu machen, um sich darauf zu legen. „Lass über was anderes reden, Kevin ist halt so.“

„Hast du etwas vom Problemkind des Jahres gehört?“, fragte Tanja interessiert und spielte mit einem Bleistift herum, der schon nach kurzer Zeit auf dem Boden landete.

„Sicher nicht, ich bin froh, wenn er mich in Ruhe lässt. Und seine Schwester hat sich auch nicht mehr gemeldet, wahrscheinlich hat Tobi es ihr aus einen seiner 'logischen‘ Gründe verboten. Dabei ist sie die sympathischere von beiden.“

„Anders wäre es ja schlimm.“ Tanja hob den Stift auf und warf ihn aus Langweile einmal gegen die Fensterscheibe. „Sieht sie ihm eigentlich ähnlich?“

„Weiß nicht, hab darauf nicht geachtet.“ Es gab Dinge, die nahm er erst auf den fünften Blick wahr.

„Typisch Männer, haben nie Ahnung von etwas, das man wissen will.“

„Ich habe halt Besseres zu tun als Tobi wie ein Depp anzugucken, vielleicht fühlt er sich dadurch auch gleich belästigt.“

„Naja, ist jetzt auch egal.“ Tanja überlegte einen Moment. „Hast du schon für Latein gelernt?“

„Hm, wieso denn?“ Er konnte sich nicht erinnern, dass ihr Lehrer vorhatte, irgendeine Arbeit zu schreiben. „Gibt’s einen Vokabeltest?“

„Nein, Herr Blitzmerker, einen Grammatiktest über nette Dinge wie die verschiedenen Bedeutungen eines nervigen kleinen Konjunktivs. Oder hast du auch vergessen, was das ist?“

„Echt? Seit wann steht das fest?“ Wieso wusste er davon nichts? Normalerwiese schlief er nur gezielt bei wirklich unwichtigen Themen im Unterricht.

„Seit Montag... oh, da warst du ja schwer verletzt im Krankenzimmer.“

„Danke, dass ich immer so früh informiert werde“, brummte Johannes, kruschelte in seinem Ranzen herum und zog ein lädiertes Lateinheft heraus. „Wenn uns eh langweilig ist, können wir auch zusammen lernen, oder?“

„Wenns sein muss.“

Wenigstens hatten sie nun eine sinnvolle Beschäftigung für die nächsten zwei Stunden, denn Tanja stand mit dem Thema eindeutig auf Kriegsfuß – aber Johannes mochte es auch nicht besonders.

Den Sonntag verbrachte er mit weiterem Lernen – nicht sehr intensiv, aber man musste zumindest so tun als ob –, Kevin vom Fernseher wegscheuchen, um selbst mal eine Gerichtsshow anzusehen und sich darüber zu beschweren, und hoffen, dass sich der Montag viel Zeit ließ, aus den bekannten Gründen. Latein ging ihm inzwischen völlig auf den Geist und seine blauen Flecke waren im Moment dabei, langsam aber sicher zu verschwinden, da brauchte er keine neuen.

Beim Abendessen erzählte Vera freudestrahlend, dass sie endlich wieder einen festen Freund hatte – Johannes gähnte dazu desinteressiert und erhielt einen Tritt von seiner Schwester gegen das Schienbein – und versuchte ihren beiden Brüdern zu vermitteln, wie schön es wäre, wenn sie sich in nächster Zeit ebenfalls auf Partnersuchen machen würden, damit sie nicht als Singles stürben.

„Mann Kevin, außerhalb des Bildschirms laufen doch so nette Mädchen herum“, versuchte sie ihren Bruder zu animieren, „die warten nur alle, dass du dem Elektroding die Freundschaft kündigst und wieder am realen Leben teilnimmst.“

„Bist du eine Verkupplungsargentur oder was?“ Kein Stück begeistert angelte sich Kevin ein Brötchen aus dem Korb. „Fang mal bei Johannes an, der hat es nötiger.“

„Stimmt, du und Tanja, ihr passt doch total gut zusammen.“ Vera strahlte ihn an und Johannes tat so, als hielt er sich die Hand vors Gesicht, um nicht geblendet zu werden.

„Genauso gut wie du und deine beste Freundin Maya.“ Auf was für peinlich doofe Ideen größere Geschwister manchmal kamen, nicht mehr normal.

„Das ist was ganz anderes“, wandte sie ein. „Du bist ein Junge und Tanja ein Mädchen.“

„Wer hätte es gedacht?“ Sie hatte schön in Biologie aufgepasst, bemerkenswert. „Kümmer dich mal lieber um deine Angelegenheiten, bevor du irgendwas für mich entscheiden willst.“ Nur weil er der Jüngste war, hieß das nicht, dass er unselbstständig war.

Ein wenig beleidigt stoppte Vera ihre gutgemeinten Hinweise und Johannes atmete erleichtert auf, so ertrug er das Essen wirklich besser. Auch Kevin schien es so zu gehen, weshalb Vera nach kurzer Zeit ihre Brüder allein ließ und sich am Telefon mit Maya über die Ignoranz der Männer austauschte.

Johannes und Kevin konnten darüber nur lachen.

Am Montag kam Johannes in den Klassensaal und wunderte sich, dass ihm bisher nicht die gewisse Person über den Weg gelaufen war, aber auch an ihrem Zweiertisch saß niemand, der ihn augenblicklich den Tag vermiesen wollte. Mysteriös.

Entweder schwänzte Tobi oder war krank. Lief beides auf dasselbe hinaus, jedenfalls freute sich Johannes insgeheim, heute keinen Terrorattacken ausgeliefert zu sein, passierte ihm in letzter Zeit ja noch ziemlich oft.

„Vielleicht hat er nur verschlafen“, bremste Tanja Johannes’ Glücksgefühl, als sie sich an den Tisch lehnte und eingehend die Uhr über der Tafel betrachtete. Konnte sie seit neustem Gedanken lesen? „Ihm bleiben noch drei Minuten.“

Allerdings tauchte er nach dieser Zeitspanne immer noch nicht auf, was Tanja dazu bewog, von ihrem eigentlichen Platz zu Johannes umzuziehen, obwohl ihre Nachbarin das nicht sehr nett fand, jetzt durfte sie sich nämlich langweilen.

„Ich glaub, ich besteche Herrn Köhler, dass ich immer hier sitzen darf“, flüsterte Tanja Johannes zwanzig Minuten später zu, während sie irgendwelche hochinteressanten Sätze mit den passenden Verben ergänzen sollten. „Dann lebst du länger, ich kann dir in Englisch helfen und sonst gibt es nur Vorteile.“

„Und was ist mit Lisa? Die darf sich dann mit Tobi herumschlagen oder was?“ Johannes kritzelte irgendeine Verbform in die vorgegebene Lücke und schaute auf Tanjas Blatt, um ihre Lösungen miteinander zu vergleichen.

„Nein, Tobi bekommt seinen Einzeltisch vorne im Eck und Lisa... die sitzt halt allein, wird sie schon aushalten.“ Tanjas tolle Theorien. Erstens würde Herr Köhler nie auf diese Anregung eingehen und zweitens kannte Tanja ihre Sitznachbarin Lisa gut genug, um zu wissen, dass dieser ohne passendem Partner Gesprächsentzug während der Stunde drohte.

Ein Räuspern ließ die beiden aufsehen.

„Ich möchte ja nicht eure Teamarbeit unterbrechen, aber wenn ihr das nicht sofort einstellen, könnt ihr euch gleich wieder umsetzen.“ Leider wussten die beiden, dass Herr Köhler diese Drohung nur zu gerne wahrmache, weil sonst alle anderen ebenfalls auf die Idee kamen, mit ihrem Nachbarn spannende oder eher weniger spannende Neuigkeiten auszutauschen und somit ihrem Lehrer auf der Nase herumtanzten. Nerven strapazieren leicht gemacht.

Tanja murmelte etwas, was sich stark nach „Sie haben eh keine Ahnung von nichts“ klang und Johannes schrieb die restlichen Sachen von ihr ab, da er ehrlich gesagt dabei keinen richtigen Durchblick hatte. Englische Grammatik war eins der wenigen Mysterien, die es für ihn im Unterricht gab, gleich gefolgt von Musiktheorie – Intervalle und solche schrecklichen Verbrechen an Schülern –, die ihm leider nicht mal Tanja erklären konnte.
 

Der Dienstag hob sich ebenfalls nur durch Tobis Abwesenheit von der vorigen Woche hervor, denn es passierte absolut nichts Neues, Umwerfendes oder Katastrophales, außer dass Johannes nun noch einmal neben Tanja hockte und sie ihre hilfreiche Partnerarbeit in den meisten Fächern fortsetzen, zumindest wenn der Lehrer pennte und es nicht bemerkte.

„Johannes, könntest du Tobias die Hausaufgaben vorbeibringen?“, wurde er nach der vierten Stunde von seiner Geschichtslehrerin, einer sehr sozial angehauchten Frau Anfang dreißig, gebeten, die sich nämlich sehr sicher war, dass das sonst niemand tun würde. Besonders beliebt war Tobi schließlich nicht in der Klasse, was er allerdings selbst verursacht hatte.

„Wenn es sein muss“, antwortete Johannes nicht begeistert, aber da er seine Note im Sozialverhalten nicht deswegen negativ beeinflussen wollte, blieb ihm keine andere Möglichkeit. Außerdem würde ein kurzer Anruf niemanden umbringen, außer Tobi besaß die Fähigkeit per Telefon Gewalt auszuüben. Eher unwahrscheinlich.

„Bist du ab jetzt der Telefondienst?“, stichelte Tanja gehässig. „Wirst ja immer mehr bestraft.“

„Solange ich nicht sein Zimmer aufräumen muss oder so, geht’s noch.“

„Gute Idee, ich werde es Tobi gleich heute vorschlagen.“

„Nein, wirst du nicht. Du weißt ja nicht einmal seine Nummer.“ Und Johannes bezweifelte stark, dass Tanja ihre Zeit verschwendete, indem sie die Nummer im Telefonbuch oder im Internet suchte. Dumm gelaufen, wenn es keine Klassenliste mit Telefonnummer und anderen Daten gab, weil sich keiner dafür zuständig gefühlt hatte und auch die Eltern nicht daran interessiert gewesen waren.

„Du etwa?“, lautete ihre Gegenfrage.

„Naja... nicht direkt, aber Sarah hat mir doch seine Handynummer in die Hand gedrückt, ich probiers mal da.“ Ob er das unbeschadet überlebte?

„Mal sehen, was Tobi davon hält. Ich wäre an seiner Stelle sehr sauer, wenn meine kleine Schwester meine Handynummer an jeden vorbeilaufenden Freak weitergibt.“

„Danke für dieses freundliche Kompliment“, brummte Johannes und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. „Ich werde es früh genug merken, wie er reagiert. Und außerdem hast du nicht mal eine Schwester, die das machen könnte.“

„Ich hab halt Glück“, grinste Tanja und piekte ihm in die Seite, um ihn noch ein wenig mehr zu ärgern. Wenn schon, dann richtig.
 

Nach dem Mittagessen setzte sich Johannes an seinen Schreibtisch, legte den Zettel vor sich und tippte die darauf stehenden Ziffern in das schnurlose Telefon ein. Hoffentlich kam nicht gleich Vera oder seine Mutter angerannt, weil sie auch ganz zufällig telefonieren wollten.

Johannes wartete nervös auf ein Zeichen und wollte nach dreißig Sekunden schon auflegen, als am anderen Ende abgenommen wurde.

„Ja?“

„Äh, Tobi?“ Irgendwie klang er heute seltsam, vielleicht lag es daran, dass er nicht wusste, mit wem er sprach.

„Wer denn sonst?“

Johannes wurde es von Sekunde zu Sekunde unwohler. Etwas stimmte nicht, das merkte er. Noch ein Grund, weshalb er telefonieren nicht mochte: man konnte seinen Gesprächspartner nicht sehen und dessen Gemütszustand nicht einschätzen.

„Hallo, wer ist da überhaupt? Antworte mal, du Flasche.“

„Ich bins, dein geliebter Tischnachbar, ich muss dir die Hausaufgaben sagen.“

Tobi begann ohne Vorwarnung ihn anzuschreien, sodass Johannes erschrocken das Telefon aus der Hand rutschte und es auf die Tischplatte knallte. Anscheinend ging es ihm doch nicht so schlecht wie angenommen, wenn er wieder seiner Lieblingsbeschäftigung nachging.

„... bist schuld“, verstand Johannes noch, als er endlich den Hörer aufsammelte und ihn mit leichter Distanz von seinem Ohr hielt.

„Was hast du gesagt?“

„Mach dich nicht über mich lustig, du verdammter Wichser.“ Das Gezeter steigerte sich weiterhin, bis Tobi plötzlich in unkontrolliertes Schluchzen ausbrach und unzusammenhängende Beleidigungen verteilte.

Entsetzt schüttelte Johannes den Kopf. Wenn Tobi schon anfing zu heulen, musste wirklich etwas passiert sein, nur leider wusste er bis jetzt noch nicht den Grund, da gewisse Personen sogar in solchen Situationen lieber herumwüteten wie der letzte Irre statt Klartext zu reden.

„Jetzt krieg dich mal wieder ein und benehm dich wie ein zivilisierter Mensch.“ Klang hart, aber bei Tobi musste er so handeln, anders konnte man gar nicht mit ihm umgehen.

„Ich geb dir gleich mal zivilisiert, Idiot.“ Wenigstens versuchte Tobi nicht mehr in den Hörer zu brüllen, ein kleiner Erfolg für den Anfang.

„Nadja hat mit mir Schluss gemacht und du bist dran schuld!“

„Hallo?“ Umwerfende Logik. „Bei dir ist wirklich eine Schraube locker, was kann ich dafür, wenn ihr euch streitet?“ Musste Tobi ihn für jeden Schrott der Welt die Schuld zuschieben? Das nervte auf Dauer. „Und außerdem macht man nach zwei Wochen Beziehung nicht gleich so ein Drama daraus.“

„Halt dein Maul, du hast doch noch nie eine Freundin gehabt“, fauchte Tobi wütend, der sich wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben schien.

„Und du eindeutig zu viele, also müsste eine Trennung nicht mehr so schlimm für dich sein.“ Zwar redete er hier von Dingen, von denen er wirklich keine Ahnung hatte, aber so wie sich Tobi gerade aufführte, war es kein Wunder, dass die Leute ihn schnell wieder verließen.

„Es ist aber schlimm, kapiert?“

„So schlimm, dass man zwei Tage lang nicht in die Schule kommt? Wie alt bist du denn?“ Johannes war klar, wie provozierend seine Worte sich anhörten, aber das war ja nichts Neues.

Auf der anderen Seite der Leitung herrschte für einen Moment zum Glück Stille.

„Wieso rufst du mich überhaupt an? Und woher hast du meine Nummer?“ Anscheinend brauchte Tobi einen kleinen Themenwechsle, den konnte er gerne haben.

„Tja, deine Schwester verschenkt sie gerne. Und Frau Schaffner hat mich gezwungen, dir die Hausaufgaben zu geben.“ Tobi sollte auf keinen Fall denken, dass er diese Nummer freiwillig abzog, so tief war er noch nicht gesunken.

„Du kannst mich mal mit deinen Hausaufgaben. Lösch die Nummer und lass mich in Frieden“, ertönte die freundliche Antwort und Tobi legte einfach auf.

Johannes brauchte einige Minuten, um sich von diesem Horrorgespräch zu erholen und alles zu sortieren.

Nadja hatte mit Tobi Schluss gemacht. Kluge Entscheidung.

Tobi gab ihm dafür die Schuld. Zu dumm für diese Welt, der Junge.

Er hatte ihm nicht die Aufgaben überbringen können. Pech für Tobilein.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Kevin, als sich Johannes eine Viertelstunde später zu ihm kommentarlos vor den Fernseher setzte. „Du siehst nicht gut aus.“

„Mir geht’s gut“, behauptete Johannes, obwohl das die größte Lüge der vergangenen fünf Jahre war, aber Kevin musste nicht alles wissen, selbst wenn er es drei Minuten später sicher wieder vergessen hätte, da er solche Sachen gerne im Kurzzeitgedächtnis abspeicherte.

„Sei froh, dass ich nicht Vera bin, sonst würde ich dich jetzt ausfragen und Hobbypsychologe spielen“, meinte Kevin und Johannes stimmte ihm in Gedanken zu. Mädchen merken ab und zu definitiv nicht, wenn sie besser die Klappe halten sollten.

„Was ist mit mir?“, ertönte ihre Stimme aus der Küche und Kevin unterdrückte ein Grinsen.

„Nichts, wir haben nur über deine deinen neuen Freund gelästert.“

„Ach so... was habt ihr? Wagt es ja nicht, ihr kennt ihn nicht mal.“

„Was bestimmt auch gut ist“, murmelte Kevin halblaut und zwinkerte Johannes verschwörerisch zu.

Manchmal waren Johannes‘ Geschwister wirklich fies zueinander.

„Er hat was?“ Tanja starrte Johannes überrascht an und vergaß dabei fast zu atmen. „Und du verarschst mich auch nicht?“

„Nein, natürlich nicht.“ Genervt klopfte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Warum glaubte sie ihm eigentlich nie etwas sofort? Zugegeben, das Meiste klang einfach unglaubwürdig, aber es stimmte trotzdem. „Er hat mir tatsächlich das Ohr abgeflennt.“

„Was für ein Loser“, entschied Tanja. „Wahrscheinlich kommt er heute auch nicht, immerhin hat er sich total vor dir blamiert. So viel zum Thema 'Ich bin viel cooler als ihr es jemals sein werdet‘, das nächste Mal lachst du ihn bitte aus.“

„Wer lacht wen aus?“ Neugierig trippelte Lisa zu ihnen und wartete auf eine großartige Erklärung. Wie so oft konnte ihre Hoffnung auf neue Klatschgeschichten nicht im Zaum halten und musste unbedingt wissen, um was es ging, selbst wenn man nur sein Hausaufgabenheft zuhause liegen gelassen hatte.

„Ach nichts“, wehrte Johannes automatisch ab; sie würde es sowieso früh genug mitbekommen, wenn Tanja es ihr schadenfroh erzählten. „Wir lästern nur gerade über meinen Nachbarn, stimmts?“ Er warf Tanja einen auffordernden Blick zu, damit sie nicht irgendetwas ganz anderes sagte und glücklicherweise ließ sie sich auch darauf ein.

„Ja, genau, über seinen Nachbarn, der hat auch voll eine Schraube locker.“ Das stimmte sogar, denn welcher normale Mensch versuchte, im Winter seinen Rasen zu mähen? Nur Herr Katzenberg von nebenan.

„Ach so, ich dachte, es wäre was Interessantes.“ Enttäuscht suchte Lisa die nächste Sensation dieses Tages bei einer Traube anderer Schüler und Tanja tippte Johannes ärgerlich gegen die Stirn.

„Was sollte das denn? Das wäre die Gelegenheit gewesen, Tobi doof dastehen zulassen, sozusagen als kleine Rache für seine dauernde Blödheit.“

„Theoretisch schon, aber dann befinde ich mich ja auf demselben Niveau wie er und darauf kann ich verzichten.“ Außerdem hätte Tobi noch ein zusätzliches Motiv, ihm den Tag zu verderben, also sollte man besser aufpassen, was man weitererzählte und was nicht.

„Wenn du meinst.“ Unzufrieden strich sich Tanja eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich bezweifel zwar, dass man überhaupt Tobis sprachliches und geistiges Niveau erreichen kann, aber egal. Wenn du unbedingt sozial sein willst, kann ich nichts daran ändern, obwohl er es ja verdient hätte.“

„Wer hat was verdient?“

„Lisa, mach die Fliege, das verstehst du eh nicht“, verscheuchte Tanja ihre penetrante Sitznachbarin, flüsterte etwas von „Aufdringlicher Mensch ohne Beschäftigung“ und fing an, ihre Schulhefte auf Johannes‘ Tisch zu verteilen, schließlich wollte sie heute ein weiteres Mal hier sitzen.

„Hast du keinen eigenen Platz?“, knurrte plötzlich jemand hinter ihr und Tanja drehte sich freudestrahlend um. „Hallo Kindergartenkind, hast du dich endlich wieder beruhigt?“

Einen Moment lang blickte Tobi sie verständnislos an, bis ihm dämmerte, was sie damit gemeint hatte und wütend fegte er ihre Sachen auf den Boden.

„Das soll wohl nein heißen“, vermutete Tanja schnippisch und sammelte ihre herum liegenden Stifte auf. „Das kannst du aber auch netter ausdrücken.“

Johannes sah Tobi an, dass dieser sich nicht entscheiden konnte, welchen von ihnen beiden er als erstes zur Schnecke machen sollte. Zwei auf einmal schaffte nicht einmal ein wild gewordener Tobi.

Bevor es allerdings zu einem riesigen Massaker kommen konnte, betrat Frau Schaffner den Raum und musterte irritiert Tanja, die immer noch mit ihren Stiften beschäftigt war und Tobi, dem es der maßen die Sprache wegen Tanjas Andeutungen verschlagen hatte, dass er einfach nur dastand und Todesblicke verteilte.
 

„Was hast du dir dabei gedacht?“

„Es tut mir Leid, aber er regt mich halt mir seiner Unintelligenz total auf, das musste sein.“ Wenig schuldbewusst hockte Tanja neben Johannes in der ersten großen Pause auf einer Bank auf dem Schulhof und löffelte ihren Schokoladenpudding. „Es kann nicht sein, dass er die ganze Zeit macht, was er will und du dir alles gefallen lässt.“

„Lass mich doch, nun ist er noch schlechter gelaunt als sonst.“ Die ganzen vergangenen zwei Schulstunden war Johannes mit Radiergummis, Papierschnipselchen und sogar einer Schere bombardiert worden, weil Tobi ihm nicht vor der ganzen Klasse eine scheuern konnte, aber vielleicht überlegte er es sich noch anders, wer wusste das?

„Mann Jo, du bist ein Junge, also wehr dich! Sogar Tobis kleine Schwester kann sich gegen ihn durchsetzten, oder? Du würdest es auch hinbekommen, wenn du es nur versuchen würdest.“

„Ich will das aber gar nicht.“

„Bist du seit neustem Pazifist oder was?“ Seufzend tauchte sie ihren Löffel in die süße Masse. „Schlag ihn ein einziges Mal, dann merkt er, dass er sich nicht alles leisten kann, bitte. Oder soll ich das für dich tun?“

„Nein, ist schon gut.“ Wie peinlich, nun musste er sich auch noch von einem Mädchen beschützen lassen, das ärgerte ihn, obwohl es Tanja war, die sich wirklich nichts gefallen ließ, falls es sie störte.

„Da bist du ja.“ Das momentane Hauptthema der beiden stapfte auf Johannes zu, packte ihn grob am Arm und riss ihn hinter sich her ohne darauf zu achten, dass sein Opfer dabei fast hinfiel. Wäre ihm auch relativ egal gewesen, so wie Johannes ihn einschätzte. Tanja blickte ihnen mit hochgezogenen Augenbrauen hinterher, griff aber nicht ein, vielleicht lernte Johannes nun endlich sich zu behaupten gegen den Zwerg Tobi.

„Was soll das denn? Lass mich los“, beschwerte sich Johannes, wurde allerdings erstklassig ignoriert, bis sie in einem weniger bevölkerten Teil des Hofes ankamen, Tobi ihn als erstes die bekannten 50 Beleidigungen an den Kopf warf und danach großartigerweise erklärte, was er eigentlich wollte.

„Du bist ein verdammtes Arschloch, was willst du noch alles weitererzählen?“ Bei diesen Worten schüttelte Tobi Johannes einmal kräftig durch und dieser kam sich ziemlich doof vor, da er im Moment wirklich keine Lust hatte, sich mit dem Nervkind zu beschäftigen. Wieso durfte er nicht in Ruhe seine Pause genießen?

„Was hab ich denn alles weitererzählt? Außer deine kleine Eskapade gestern am Telefon nichts, an das ich mich erinnere.“

„Bist du über Nacht verblödet oder was?“, keifte Tobi. „Du musstest doch vor allen sagen, dass Sarah vermutet, ich würde auf dich stehen. Deshalb hat mich Nadja verlassen, also bist du dran schuld.“

Gegen seinen Willen musste Johannes laut loslachen, das war die schlechteste Begründung, die er je in seinem Leben gehört hatte und dermaßen weit hergeholt wie es nur ging. Dann war er theoretisch auch an Tobis Intelligenzlosigkeit und an Tanjas Haarfarbe schuld. Wie lächerlich.

„Hör auf damit, das ist nicht witzig!“ Das Geschüttel begann wieder und je mehr Johannes lachte, desto heftiger wurde es, bis ihm langsam schlecht wurde.

„Dann lass dir das nächste Mal was Besseres einfallen, sonst kauft man dir echt gar nichts ab.“ Ob das jemals jemand tat? Gute Frage, immerhin redete er hier mit Tobias Lohr, dem glaubte man besser nicht viel.

„Du bist so scheiße!“ Inzwischen völlig gereizt und wütend – also eigentlich wie immer – ging Tobi auf ihn los und verpasste ihm eine Ohrfeige, doch dieses Mal schlug Johannes zurück, was seinen Tischnachbar derart überraschte, dass er ihn einfach mit offenem Mund anstarrte.

„Das hast du davon, fühlst du dich jetzt cool, weil du einen Grund hast, mich noch mal zu schlagen?“

„Du glaubst doch die ganze Zeit, dass du besser bist als ich. Und das nur, weil du ein Stückchen größer bist.“

„Dann wachs halt oder lern, mit deinen Komplexen umzugehen.“ Bald konnte er ein Buch schreiben, auf welche 5000 Arten man Tobi zum Explodieren brachte, vielleicht würde das sogar jemand kaufen, die Leute gaben heutzutage für jeden Müll Geld aus. Außerdem hätte ein gewisses gefährliches Kleinkind dadurch die Chance, endlich einzusehen, wie affig es sich in eigentlich jeder Lage seines Lebens benahm, wäre im Moment gar nicht so schlecht für Johannes, da Tobi sich nicht mehr zurückhielt, ihm zuerst die Brille von der Nase fegte und dann munter auf ihn einschlug. Nur heute mit dem Unterschied, dass sein Opfer im geringen Maß Gegenwehr betrieb.

Das konnte noch heiter werden.

Nachdem Tanja ihren leeren Plastikbecher in den nächsten Mülleimer und den Löffel in ihre Jackentasche gesteckt hatte, beschloss sie, Johannes und seinen Fan zu suchen. Nicht, dass die beiden wieder sonstwas anstellten und sie nichts davon mitbekam, weil es ihr nicht erzählt wurde.

Ziellos stapfte sie über den Hof, spähte in jede noch so kleine Ecke und wunderte sich, wo die beiden denn abgeblieben waren. Das war der Nachteil, wenn man Männern nicht sofort hinter her rannte, sie verschwanden einfach und steckten wohlmöglich gerade die Kirche an, ohne dass irgendein Depp das bemerkte.

Kurz vor Pausenende sichtete sie sie immerhin eine ihr bekannte Person: Johannes, der auf dem Boden hockte – trotz der eigentlich kühlen Jahreszeit – und sich das Handgelenk hielt. Was hatten die denn bitte wieder ohne ihr Wissen veranstaltet? Und wo befand sich die Ursache für alles?

„Was geht denn hier ab?“

„Nach was sieht es aus?“

„Das übliche halt. Mr. T ging es zu gut und du hast es abbekommen.“

„Fast, dieses Mal musste er auch dran glauben. Zumindest ein wenig.“

„Wirklich?“ Freudig schaute sie Johannes an und fing schließlich an, um ihn herum zu tanzen und dabei irgendetwas Unverständliches zu summen.

„He, so weltbewegend war das nicht, seine Wange hat nur ein paar Kratzer.“

Mitten im Tanz blieb sie stehen. „Du hast Tobis hübsches Gesicht zerkratzt? Wie böse, jetzt will sicher kein Kerl mehr mit ihm zusammen sein. Bald leidet Tobi unter Entzugserscheinungen und du bist dran schuld!“

„Seiner Meinung nach bin ich auch an der Klimaerwärmung schuld, also würde mir das eigentlich nichts ausmachen“, meinte Johannes, stand wegen des Klingelns der Pausenglocke auf und verzog vor Schmerz das Gesicht, als ihm wieder bewusst wurde, dass er leider nicht mit ein paar läppischen Kratzern davon gekommen war. Wäre sowieso unrealistisch gewesen, wenn Tobi es dabei belassen hätte. Gewalt gehörte zu seinen Spezialitäten. Fand Johannes.

„Wo genau tut es dir weh?“ Tanja mutierte sofort zur Krankenschwester.

„Linke Schulter, rechter Fuß und mein Handgelenk hat sich auch schon mal besser angefühlt. Wetten, dass ich morgen als Sams - Doppelgänger in die Schule kommen werde?“

Zuerst verstand Tanja nicht, worauf er hinauswollte, doch dann erinnerte sie sich an die Kindergeschichte mit dem seltsamen Vieh mit den blauen Punkten. Guter Vergleich, obwohl Johannes normalerweise eine Spur besser aussah.

„Kann es sein, dass Tobi dir versucht hat die Zähne auszuschlagen, du blutest am Mundwinkel.“ Wie früh ihr das aufgefallen war, sensationell.

„Möglich, der schlägt überall hin, wo er dran kommt.“

„Und wo ist deine Brille?“

„Die müsste hier irgendwo auf dem Boden liegen.“

Nach kurzem Suchen fand Tanja das vermisste Stück ziemlich kaputt ein Stück entfernt neben einem Busch liegend. Einer der zwei Idioten war auf sie getreten, da half nur noch ein Besuch im nächsten Brillengeschäft. Kopfschüttelnd hielt sie Johannes die verbogene Brille entgegen.

„Deine Mutter wird sich freuen, wenn sie das sieht.“ Tanja nahm ihn am Arm und bugsierte ihn in den Klassensaal, wo schon Täter Nr. 1 aus seinem Plätzchen saß und die beiden keines Blickes würdigte.

„Er sieht aus wie ein Streifenhörnchen“, flüsterte Tanja Johannes grinsend zu, als sie die mysteriösen Striche auf Tobis Wange entdeckte.

„Dem Streifenhörnchen will ich nicht in freier Wildbahn begegnen, wer weiß, wie es sich da verhält.“

„Wenn ihr schon über mich lästert, dann macht das gefälligst so, dass ich es nicht höre, ihr Flaschen“, fuhr Tobi sie an, anscheinend hatte er immer noch schlechte Laune.

Während des Unterrichts wurde Johannes zwar verschont, aber sein Handgelenk tat immer noch dermaßen weh, dass er sich nach der vierten Stunde bei seiner Chemielehrerin abmeldete und nach Hause ging. Hoffentlich wurde das nicht zur Gewohnheit, sonst hätte er mehr Fehlstunden in diesem Halbjahr als in den letzten drei Jahren zusammen.

Seine Mutter öffnete ihm die Haustür. „Johannes, wieso bist du schon wieder da? Ist was ausgefallen?“

„Dreimal darfst du raten.“

Wie erwartet regte sie sich auf und zwar richtig. Eine halbe Stunde lang hörte er ihrem Geschimpfe zu, nickte von Zeit zu Zeit zustimmend und fragte sich, was sie wohl als Nächstes plante? Briefbömbchen? Telefonterror? Anzeige wegen Dummheit? Oder alles au einmal?

Irgendwann nahm sie sich das Telefonbuch, blätterte es durch und verschwand im Wohnzimmer, um zu telefonieren. Wenn sie nun tatsächlich Telefonterror bei Tobis Familie startete, würde er lachen.

Solange seine Mutter fremde Menschen zur Schnecke machte, konnte er sich ins Bett legen und schlafen. Dagegen hätte sie wahrscheinlich nichts. Als er gerade träumte, von einem Streifenhörnchentobi über den gesamten Schulhof gejagt zu werden, weckte ihn seine Mutter, um ihn vom Ergebnis ihres Gesprächs zu berichten.

Sie hatte sich mit Tobis Mutter, bei der sie sich erst eine Viertelstunde über das asoziale Verhalten ihres Sohns beschwert hatte, darauf geeinigt, dass sich Tobi und Johannes jeden Samstag von elf bis halb zwei treffen und Tobi ihn in das Geheimnis der englischen Grammatik einweihen würde.

Sollte nicht eigentlich das Nervkind und nicht er selbst eine Strafe erhalten? Wo blieb hier die Gerechtigkeit für arme kleine Johannese?

„Super Mama, das ist die dümmste Idee, die du je hattest.“ Wollte sie ihren jüngsten Sohn nicht schützen statt schaden? In welcher Welt lebten sie bloß?

„Das hast du auch gesagt, als ich mir die neue Stehlampe gekauft habe.“

„Aber das hier ist viel schlimmer, dagegen interessiert mich dieses hässliche Lampenteil kein Stück.“ Mit welchen Argumenten musste er ihr noch auf die Nerven gehen, um ihr klar zu machen, wie hirnlos er das alles fand. „Und was machst du, wenn er wieder gefährlich wird?“

„Seine Mutter hat mir versichert, dass sie ihn davon abhalten wird.“

„Das ist trotzdem unfair, ich bin das Opfer und er der Täter. Nicht anders herum.“

Leicht genervt versuchte sie ihrem Sohn die Vorteile zu erklären, aber Johannes blieb stur. Wenn er nicht mal Schmerzensgeld dafür bekam, konnten die hier alle machen, was sie wollten, er würde da nicht mitmachen.
 

Gegen drei Uhr klingelte jemand an der Tür, Johannes‘ Mutter öffnete und wenig später stand der Besuch in Johannes‘ Zimmer. Eigentlich hatte er mit Tanja gerechnet, aber stattdessen begrüßte ihn jemand anderes.

Sarah.

„Hat mein Bruder dich sehr verletzt?“

„Nein, nicht wirklich, aber es tut weh.“ Zumindest sein Handgelenk, der Rest ging wieder einigermaßen.

„Er weiß echt nicht, wann er aufhören muss“, seufzte sie enttäuscht.

„Bist du jetzt immer noch der Meinung, dass er auf mich steht?“ Wenn ja, sollte sie umgehend einen Arzt aufsuchen, das war nicht mehr normal.

„Bei ihm weiß man nie. ich hab dir doch erzählt, mit Basti hat es bei ihm auch länger gedauert, bis er es gecheckt hat.“

„Da bin ich aber beruhigt“, sagte Johannes ironisch. „Ich wollte schon immer, das so ein friedlicher Mensch auf mich steht, woher wusste er das nur?“

„Komm, normalerweise ist Tobi nicht ganz so gemein, nur bei manchen Leuten übertreibt er es öfters mal.“

„Irgendwoher kommt mir dieser Satz bekannt vor, kann es sein, dass du mir dasselbe schon einmal erzählt hast?“

„Kann sein.“ Sarah setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und kurvte damit ein wenig durch das Zimmer, wobei sie ein paar heruntergefallene Blätter überrollte und fast mit einer Topfpflanze zusammenstieß. Hoffentlich kam sie nie auf die Idee, den Führerschein zu machen.

„Bekommt er jetzt endlich richtigen Ärger?“ Wenn nicht, wäre er nun beleidigt.

„Klar, was glaubst du denn? Er hat bis mindestens Februar Hausarrest, Fernseh- und Computerverbot, vielleicht sogar länger. Und er darf Nachhilfe für dich spielen, aber das weißt du schon.“

“Erinner mich nicht dran, mein Samstag ist im Eimer.“

„Das Leben ist halt fies zu dir“, stellte Sarah fest und verabschiedete sich schließlich, weil Tobi nicht wissen brauchte, dass sie wieder ein Plauderstündchen mit dem 'Staatsfeind‘ eingelegt hatte.

Er würde sich sowieso genug über die zukünftigen Wochen freuen.

Am Donnerstag und Freitag redete Tobi mit Johannes kein Wort mehr, keine Beleidigungen, nicht mal ein böser Blick oder ein Radiergummi trafen diesen. Anscheinend halfen die Methoden ihrer Mütter, aber das Treffen für Samstag konnten sie sich an den Hut stecken.

„Herzliches Beileid.“ Tanja drückte Johannes ein Bröckchen Schokolade in die Hand. „Dein Wochenende kann nicht mehr schlimmer werden.“

„Ich weiß, sogar Sarah war schon bei mir und hat mich bemitleidet.“ Und dabei hatte sie ihm die Hälfte seiner Deutscharbeitsblätter zerknittert, das würde seinen Lehrer nicht freuen.

„Irgendwann zieh sie bei dir ein.“

„Jetzt übertreib mal nicht, da hätte ich was dagegen. Und meine Eltern sowieso.“ Er kaute auf der Schokolade herum und stellte angewidert fest, dass Tanja ihm Bitterschokolade angedreht hatte. Wie konnte sie das essen?

Und wieso merkte sie sich nicht, dass er das Zeug nicht abhaben konnte?

„Schmeckt es dir nicht?“

„Wenn es Vollmilchschokolade wäre bestimmt.“

„Oh, hab ganz vergessen, dass du das nicht magst.“ Wollten ihn in letzter Zeit alle ärgern? Nicht mehr lange und er würde auswandern, allerdings wusste er noch nicht wohin. Fing ja gut an.

„Beim nächsten Mal denk ich dran“, versprach Tanja und zog ihn hinter sich her. „Los, wir halten jetzt noch die letzten zwei Stunden Unterricht aus und du genießt deinen Freitag. Am besten verschläfst du morgen, vielleicht darfst du dann zuhause bleiben.“

„Das glaubst auch nur du.“ Als ob seine Mutter das durchgehen lassen würde, sie kannte genügend Tricks, um ihren jüngsten Sohn aus dem Bett zu werfen. Im Notfall holte sie sich Verstärkung von Vera.
 

„Johannes, aufstehen, es ist halb zehn.“

Demonstrativ stellte er sich schlafend, aber zuerst wurde er gewalttätig wachgerüttelt, der Rollladen aufgerissen und ihm schließlich die Bettdecke weggezogen. Schrecklicher Start in den Morgen, er wollte seine Ruhe haben!

„Ich weiß, dass du wach bist.“ Vera ließ nicht locker und irgendwann dröhnte eine ihrer Lieblingsschnulzlieder durch Johannes‘ Zimmer, sodass er absolut genervt den Stecker der Musikanlage zog und sich vornahm, seiner Schwester das nächste halbe Jahr keinen Gefallen mehr zu tun, weder Briefe zur Post bringen noch Telefonate von ihrem tollen XY weiterleiten.

Im Schneckentempo schlüpfte er in seine Klamotten, knabberte an seiner Brötchenhälfte vor sich hin , ignorierte die Aufforderungen seiner Mutter, sich gefälligst ein bisschen zu beeilen, und wurde um Viertel vor elf vor die Tür gesetzt, damit er pünktlich am Zielort ankam.

Toll, sein Vater hätte ihn wenigstens hinfahren können, jetzt gab es allerdings niemanden, der ihm vorschrieb, zu Tobi zu spazieren, also hätte er sich theoretisch nur bei Tanja verbarrikadieren zu brauchen und niemand wäre es aufgefallen...

Aber weil er ja ein zivilisierter Junge war – oder zumindest so tat – schlurfte er zum Haus des Grauens, betrachtete zwei Minuten lang einen vertrockneten Rosenstrauch – konnten die hier nicht gießen? – und klingelte. Er hoffte, sie hatten ihn überhört.

„Oh, hallo Johannes.“ Vor ihm in der Tür stand eine verschlafene Sarah in einem dunkelblauen Schlafanzug und gähnte leise. „Ich bring dich zu Tobi, er freut sich schon, dich zu sehen.“

„Total, er flippt fast aus vor Glück.“ Höchstens, wenn er wieder den Abflug machte.

Sarah blieb vor einer mit irgendwelchem Schrott vollgekleisterten Tür stehen und klopfte dagegen. „Tobias Valentin Lohr, Besuch für dich.“

„Fresse da draußen, ich zieh mich gerade an“, rief es von der anderen Seite und Johannes hörte, wie sein zukünftiger Nachhilfelehrer nettes Klanggedudel anstellte, was ihm schon hier auf dem Flur unsympathisch erschien. Hoffentlich stellte er es gleich wieder aus, sonst inszenierte Johannes Sander einen kleinen Stromausfall. Oder entführte die Musikquelle.

„Sarah, zisch ab, Johannes, hock dich hin und fass nichts an, ich geh kurz frühstücken“, erklärte ihnen Tobi unfreundlich, als er endlich vollständig bekleidet die Tür aufriss und sich an den zwei anderen vorbeidrängelte.

Langsam betrat Johannes das Zimmerchen, versuchte nicht auf Tobis verstreut herum fliegende Klamotten zu treten und setzte sich schließlich auf das ungemachte Bett, da die restlichen Stühle von zahllosen CD Stapeln blockiert wurden. Ordnung gehörte anscheinend wie Zivilisation zu dem riesigen Berg von unbekannten Fremdwörtern für Tobi. Der Junge hatte echt von extrem viel keine Ahnung.

Ignorierte man das Chaos und die nervige Musik, erschien der Raum ganz normal: Es gab ein Bett, einen Schreibtisch, einige Regale, einen Schrank und jede Menge Krimskrams, wie es sich für ein echtes bewohntes Zimmer gehörte.

„Was machst du da? Runter von meinem Bett.“ Nicht besonders erfreut verscheuchte Tobi ihn auf einen wackeligen Hocker, biss noch einmal in das Brötchen, das er sich aus der Küche mitgenommen hatte, und setzte sich auf den Schreibtischstuhl. „Danke, noch mal, dass wegen dir mich nicht mal meine Freunde besuchen dürfen.“

„Ich wusste nicht, dass du überhaupt Freunde hast, außerdem kann ich nichts dafür, wenn du dich nicht zurück halten kannst.“ Wer war hier das Opfer? Nicht Tobi.

„Ja ja, laber doch. Also, in welchem Fach bist du voll die Niete?“

„In Englisch.“ Merkte sich Tobi gar nichts?

„Geht doch, du bist doch nicht so perfekt, wie du dir immer einbildest.“

„Ich bin halt auch nur ein Mensch.“ Obwohl gewisse Menschen ihm das nicht glaubten, weil sie sich ein kleines bisschen beschränkt verhielten. „Kannst du vielleicht diese schlimme Musik ausmachen, da werd sogar ich bald aggressiv.“

„Bist du meine Mutter oder was? Wenn du statt My Chemical Romance lieber James Blunt oder sowas Bescheuertes hören willst, hast du gelitten, das besitze ich nicht. Aber ich könnte meine Oma fragen, ob sie mir ihre Volksmusiksammlung für dich ausleiht.“

„Sehr witzig, mach den Blödsinn aus, sonst können wir kein Englisch lernen. Heißt du eigentlich wirklich Valentin?“ Das interessierte ihn ausnahmsweise, denn Valentin klang so harmlos und Tobi... war es nicht.

„Ja man, aber erzähl das nicht wieder in der Gegend herum, ich finde den Namen idiotisch.“ Aus den Tiefen des Chaos zerrte Tobi sein Englichbuch, -heft, einen Block und ein Mäppchen hervor. „So, wo hat Streberlein seine Probleme?“

„Mit dir und deiner Musik. Und englischer Grammatik insgesamt.“

„Dann bist du echt dümmer, als ich mir vorgestellt habe, jeder Depp versteht das sonst.“ Netterweise stellte Tobi die Musik endgültig aus, klappte das Buch auf und startete mit dem Unterricht. Zwar gehörte Erklären nicht zu seinen bisher unbekannten Begabungen, aber gegen 13 Uhr verstand Johannes halbwegs, wovon Tobi redete. Ein toller Fortschritt, vor allem wenn man bedachte, wem das zu verdanken war.

„Johannes, willst du ein Eis?“ Unangemeldet kam Sarah in das Zimmer ihres Bruders gestürmt, diese Mal in richtiger Kleidung, und hielt ihm eine Schale mit Vanilleeis hin. Ihr schien es egal zu sein, dass es fast Anfang Dezember war.

„Ja danke.“ Tobi machte die Arbeit und er bekam das Eis, böse Welt.

„Und was ist mit mir?“, maulte Tobi beleidigt und schlug sein Englischheft zu.

„Du bekommst nichts, hat Mama verordnet.“ Sarah streckte ihm die Zunge heraus und widmete sich wieder ihrem Gast. „War mein Bruder irgendwie fies zu dir?“

„Naja...“ Zählte musikalische Belästigung dazu?

„Hör auf, Schrott zu labern, ich hab dich weder angefasst noch dumm angemacht, als halts Maul und ess dein Eis.“

„Ist ja gut.“ Johannes nahm die Schale entgegen und begann sie leer zu löffeln, wobei er von Tobi beobachtet wurde, der seinem nicht vorhandenen Eis hinterher trauerte.

„Oh man, du nervst.“ Mit dem Löffel kratzte Johannes die Eisreste zusammen und hielt sie dem überraschten Tobi vors Gesicht. „Iss.“

Zögerlich öffnete dieser den Mund, sein 'Schüler‘ fütterte ihn, Sarah stand daneben und schaute sie mit offenem Mund an. Konnten sich die beiden nicht angeblich nicht leiden? Schwebten sie hier in einer anderen Dimension herum? Oder träumte sie gerade einen sehr unrealistischen Traum?

„Was guckst du so doof?“, nuschelte Tobi seine Schwester an und wischte sich einen Vanilleklecks vom Kinn. „Er hat mir von seinem Eis was abgegeben, mehr nicht.“

„Denkst du!“ Grinsend hüpfte Sarah aus dem Raum und ihr Bruder schlug sich die Hand gegen die Stirn. Wollten ihn alle verarschen?

Die folgenden drei Monate trafen sich die beiden jeden Samstag zum Lernen und mit Tobis unfreiwilliger Hilfe erhielt Johannes endlich eine drei in Englisch im Halbjahreszeugnis. Sogar sein Lehrer wunderte sich darüber, da Johannes es bisher nur auf eine vier mit einem netten Plus gebracht hatte, aber das sah man leider nicht.

Außerdem hatte Tobi einen neuen Rekord gebrochen: Er hatte weder einen neuen Typen angeschleppt – ging bei dauerhaftem Hausarrest auch schlecht – noch Johannes misshandelt. Für seine kleineren oder größeren Aggressionsanfälle musste nun seine Zimmereinrichtung hinhalten oder manchmal etwas ältere Teller und Tassen. Allerdings nur, wenn sich seine Eltern nicht im Haus aufhielten.

„Müssen wir noch weiterlernen? Ich glaub, ich habs jetzt verstanden.“ Johannes legte den Bleistift zur Seite und streckte sich ausgiebig. Das nächste Mal sollte er nicht erst um halb vier ins Bett gehen, selbst wenn der Film noch so spannend war. Na gut, eigentlich hatte er ihn wegen der Hauptdarstellerin angesehen.

„Wenn du meinst, dass du es kannst. Dann kannst du mir jetzt beim Zimmer aufräumen helfen.“ Auffordernd piekte Tobi ihn mit einem Geodreieck in die Seite. In den letzten Wochen hatten sie es geschafft, einigermaßen normal miteinander umzugehen. Zwar stritten sie sich öfters und würden eher in den Sommerferien in die Schule gehen als sich als Freunde zu bezeichnen, doch im Großen und Ganzen hielten sie es zusammen aus.

„Nein, lass mal, darauf hab ich keine Lust.“ War er Tobis persönliche Putzfrau? Wenn der Junge keine Ordnung halten wollte, brauchte er nicht zu erwarten, dass andere Leute hinter ihm her putzen.

„Blödmann, wir haben sowieso nichts Besseres zu tun. Außer ich penn noch eine Runde oder futter den Kühlschrank leer.“ Johannes traute es Tobi auch zu, dass dieser einschlief und ihn hier sich langweilen lassen würde, aber Schlafen klang echt gut.

„Okay, dann schlafen wir halt.“ Bevor er allerdings das Bett belagern konnte, wurde er festgehalten und zurückgezogen.

„Mit den Klamotten legst du dich höchstens auf den Boden, aber nicht in mein Bett.“

„Soll ich mich ausziehen, damit deine Schwester den Schock ihres Lebens bekommt und wieder denkt, wir hätten was miteinander?“ Das konnte nicht Tobis Ernst sein.

„Ich kann dir auch was leihen, aber Straßenklamotten gehören nicht in mein Bett“, bestimmte der Eigentümer des Betts, kramte aus seinem Schrank ein paar Anziehsachen heraus und hielt sie Johannes hin. „Wenn sie dir nicht passen, hast du Pech gehabt, hier gibt’s nichts in XXL.“

„Danke, aber L reicht völlig.“ Freundlich wie immer, dabei regte sich Tobi immer tierisch auf, wenn man ihn auf seine Größe ansprach, aber anderen Leuten einreden, sie seien dick. Komplexekind.

Fünf Minuten später hatte Johannes sich umgezogen und musterte mit leichtem Entsetzen das seltsam lilafarbene Oberteil. Musste Tobi ihm solche geschmacklose Sachen andrehen? Bestimmt gab es sonst kein T-Shirt in seinem Schrank, das so bescheuert aussah.

„Hast du ein Problem damit?“, fragte Tobi mit einem gefährlichen Unterton. „Du kannst Sarah bitten, dir was anderes von ihr zu geben.“

„Nein, das wird mir noch weniger passen, aber eine schlimmere Farbe hat es sicher nicht.“ Johannes legte seine Brille auf den Schreibtisch und verkroch sich in Tobis Bett; sofort wurde er müde und schloss die Augen.

„He, mach dich nicht so fett, ich muss auch noch hin“, nörgelte Tobi, schob ihn unsanft zur Seite und machte sich dafür umso breiter. Fast bekam Johannes einen Arm ins Gesicht geschlagen und der Anteil der Decke verringerte sich plötzlich auf ein Viertel. Na toll.

„Tobi, du bist nicht allein auf dieser Welt.“ Schlimm wärs.

„Aber es ist mein Bett.“

„Das du im Moment mit mir teilst, also lass mir auch ein bisschen Platz.“ Der Junge verhielt sich wie ein klischeehaftes Einzelkind, dabei hatte er eine jüngere Schwester.

Unter leisem Protest ließ Tobi es zu, sodass Johannes schon nach kurzer Zeit einschlief und nicht bemerkte, wie ihm jemand die Decke klaute.
 

„Johannes, ich hab... oh!“ Eigentlich hatte Sarah den beiden einen Teller mit Schokoladenplätzchen vorbeibringen wollen, aber als sie die Situation bewusst wahrnahm, fiel ihr vor Überraschung das Essen aus den Händen und verteilte sich auf dem Fußboden. Wollten die beiden sie reinlegen?

Statt wie sonst am Schreibtisch zu sitzen und zu lernen oder sich zu ärgern schlummerten sie munter vor sich hin und ihr Bruder hatte Johannes ganz dreist als Kopfkissen benutzt, weil dieses auf dem Boden gelandet war.

Verpennt richtete Johannes sich ein Stück auf. „Hm, was ist denn... äh, hi Sarah.“ Warum kamen Geschwister immer dann ins Zimmer, wenn es gerade am Unpraktischsten war? Dummes Naturgesetz.

„Ich geh mal wieder.“ So schnell wie sie gekommen war verschwand sie auch.

„Klasse Timing“, grummelte Johannes noch müde und bemerkte etwas Schweres auf seinem Oberkörper, das keine Anstalten machte, von ihm herunterzugehen. „Tobi, was auch immer das werden soll, lass es sein.“

„Klappe, ich will schlafen, bleib liegen.“ Besitzergreifend krallte sich Tobi in Johannes‘ Oberteil und hinderte ihn dadurch an weiteren Bewegungen.

„Man, Pfoten weg!“ Seitdem Tobi ihn nicht mehr offiziell schlagen durfte, entwickelte er neue Techniken, um ihn zu terrorisieren: Er rückte ihm regelmäßig so sehr auf die Pelle, dass Johannes sich ziemlich belagert fühlte. So wie im Moment.

„Gelitten, du bist jetzt mein Kissenersatz“, bestimmte Tobi.

„Ich muss aber gleich nach Hause und außerdem bist du nicht so leicht wie du aussiehst. Also lass mich bitte los.“ Sonst gabs Ärger.

„Ja ja, nerv doch.“ Trotzdem rollte er sich von Johannes herunter und machte ihm Platz, sodass dieser aus dem Bett klettern und sich anziehen konnte.

Als Johannes zuhause ankam, wartete schon Tanja auf ihn, die aus Langweile sich zum dauerfernsehenden Kevin auf die Couch gepflanzt hatte und sich fragte, wie man freiwillig längere Zeit schon einen Schrott ansehen wollte.

„Hi Johannes, wie wars bei deinem 'Fan'?“

„Ging so.“ Was erwartete sie denn?

„Habt ihr schön Englisch gelernt?“ Sie grinste ihn an.

„Nicht wirklich.“ Höchstens eine halbe Stunde, dann hatten sie ihre Schlafstunde eingelegt.

„Und was habt ihr unwirklich gemacht?“

„Willst du nicht wissen.“ Tanja bekäme sicher einen kleineSchreianfall.

„Jetzt erst recht, aber wenn du es nicht sagen willst...“, sie legte eine dramatische Pause ein, „...frag ich dich nur, ob du mit mir nächsten Freitag auf eine Party gehen willst.“

„Wieso sollte ich?“ Partys gehörten zu den Dingen auf der Welt, die ihn gar nicht interessierten. Was sollte toll daran sein, saufende Leute um sich herum zu beobachten und dumme Musik zu hören? Da blieb er lieber zu hause und lernte Mathe.

„Weil du unbedingt mal unter Lete gehen sollst. Du hängst fast ständig in deinem Zimmer herum. Außerdem glaubt deine Schwester, dass du dort endlich die Frau fürs Leben finden könntest.“

„Auf was für blöde Ideen kommt Vera eigentlich noch?“, beschwerte sich Johannes. „Sie kann mich doch nicht mit irgendjemandem zwangsverkuppeln.“

„Mann, komm mit, allein hab ich keinen Bock da hinzugehen. Und Kevin nehmen wir auch gleich mit.“

„Vergesst es, ich hab Besseres in meiner Freizeit zu tun“, lehnte Johannes‘ Bruder ab und konzentrierte sich dann wieder auf den Bildschirm. „Ich kenne da eh keinen.“

„Doch, Johannes und mich. Und bestimmt wirst du noch ein paar Leute kennen lernen.“

„Trotzdem, kein Interesse.“

„Das werden wir ja sehen.“ Tanjas Gesichtsausdruck verriet nichts Gutes.

„Kevin?“

„Hm?“

„Wir sind schon dumm.“

„Kann man so sagen.“

„Und bestechlich.“

„Ja, irgendwie schon. Aber wenn mir Tanja drei Tüten Kirschbonbons verspricht, kann ich nicht nein sagen.“

„Und mir fünf Tafeln Vollmilchschokolade.“

„Jungs, was jammert ihr hier rum?“ Vera betrat das Wohnzimmer, in dem ihre zwei Brüder auf dem Sofa saßen und gezwungenermaßen darauf warteten, dass Tanja sie zur Party abholte. „Ist doch gut, dass ihr am Wochenende mal rauskommt.“

„Naja, wie man es nimmt.“ Johannes zupfte unzufrieden an seinem T-Shirt herum. Dass Tanja ihn mit ein paar Süßigkeiten ködern konnte, fand er fast schon peinlich. Allerdings kannte sie ihn lang genug, um zu wissen, wie man ihn am besten bestechen konnte.

Als es an der Tür klingelte, schlurften Johannes und Kevin in den Flur und wurden von einer vor Aufregung ganz hibbeligen Tanja begrüßt, die sie hinter sich durch die Straßen schleifte, um auf jeden Fall pünktlich anzukommen.

Zehn Minuten später standen sie vor der Stadthalle, in der die Party stattfinden sollte, und Tanja zerrte die beiden herein, da sie keine Anstalten machten, von selbst das Gebäude zu betreten. Typisch Jungs, man musste sie zu ihrem Glück zwingen.

Schon von Weitem gefiel Johannes die Musik nicht und je näher sie liefen desto nerviger fand er sie; ungefähr so schön wie Tobis Lieblingsmusik auf doppelter Laustärke.

„Ich will nach Hause, von dem Lärm bekommt man Kopfschmerzen“, beklagte sich Kevin, nachdem sie eingetreten waren, und Johannes stimmte ihm gleich zu, was ihm nur einen genervten Seufzer von Tanja einbrachte. Sie war wirklich Schlimmeres gewöhnt.

„Mann, pass doch auf!“

Vor lauter Beschweren hatte Johannes nicht mehr auf seine Umgebung geachtet und war direkt in ein Mädchen hineingelaufen, das sich nun den Arm rieb und ihn böse ansah. „Oder brauchst du eine neue Brille?“

„Tut mir Leid.“ Sehr nettes Mädchen, hoffentlich benahm sie sich nicht immer so freundlich zu fremden Menschen. Aber wieso kam sie ihm so bekannt vor?

„Was glotzt du mich so idiotisch an? Sind wir im Museum oder was?“, fauchte sie verärgert und wollte sich an ihm vorbeidrängen, doch Johannes hielt sie bestimmt an der Schulter fest. Zwar trug das Mädchen ein rotes Kleid – toll kombiniert mit einer ziemlich gefetzten Jeans und Turnschuhen –, war interessant im Gesicht mit allen möglichen Farben angepinselt und hatte zwei fast schon niedliche Zöpfe, aber das hatte theoretisch nichts zu bedeuten.

„Tobi?“

„Das hast du aber früh gemerkt!“

„Wie siehst du denn aus?“ Entsetzt wische Johannes seinem Klassenkameraden einmal quer über die Wange und hatte nun eine Schicht weiß der Geier am Finger hängen. Tanja und Kevin standen einfach daneben und fühlten sich richtig verarscht. Hatte Tobi seine Vorliebe für Frauenklamotten entdeckt? Oder war Fasching ausgebrochen und keiner wusste es?

„Ich hab eine Wette gegen Florian und Henning verloren, glaub nicht, dass ich extra für dich so herumlaufe. Gefällts dir wenigstens?“

„Es gibt Dinge, die müssen nicht sein“, meinte Johannes knapp und beobachtete Tobi bei dem vergeblichen Versuch, einen verdrehten Träger des Kleides zu richten. Um als richtiges Mädchen durchzugehen musste dieser noch lange üben.

„Seit wann hast du eigentlich kein Hausarrest mehr?“ Anscheinend hatten Tobis Eltern entschieden, ihren Sohn wieder auf die unschuldige Menschheit loszulassen, ohne Rücksicht auf Verluste, Sachbeschädigung eingerechnet.

„Seit heute. Ich hab sie überredet, mich nach einem Vierteljahr endlich nicht mehr zuhause einzusperren wie einen Schwerverbrecher. Das hält kein normaler Mensch aus.“ Dann musste er sich unter diesen Umständen ziemlich wohl fühlen. Ohne weiteres Interesse an einem Gespräch wuselte er an Johannes vorbei und verschwand nach draußen.

„Der hat echt einen kleinen Dachschaden und mit so jemandem hängst du regelmäßig rum.“ Erschüttert schüttelte Kevin den Kopf, musste aber gleichzeitig grinsen. Tanja verweigerte jegliche Aussage zu Tobis neuem Aussehen und schwieg.

Zusammen betraten die drei den Hauptraum des 'Events des Monats‘ und brauchten erstmal einen Moment, um sich an den Lärm und an die vielen Leute zu gewöhnen, die entweder herumstanden oder-saßen und sich dabei schön volllaufen ließen. Sehr zivilisiert.

Tanja schob Kevin und Johannes zu einem kleinen Tisch mit Stühlen, versprach ihnen etwas zu Trinken zu holen und kam keine zwei Minuten später mit drei Bechern lasch schmeckender Cola zurück. „Weil ich keinen Bock habe, dass einer von euch sich vor meiner Nase betrinkt und Blödsinn macht.“ So lautete zumindest ihre Begründung für die Getränkwahl.

Und selbst wenn sie das getan hätten, wären sie kein Stück aufgefallen, da das hier anscheinend die meist praktizierteste Tätigkeit war. Kein Platz für Vorbilder.
 

Nach zwei Stunden fühlte sich Johannes wie der letzte Depp. Sein Bruder und seine beste Freundin hatten sich ohne von ihm zu verabschieden aus dem Staub gemacht – deshalb saß er nun allein hier – und außerdem hatte er schon seit einer Viertelstunde direkten Blick auf zwei Personen, die einfach nicht die Finger voneinander lassen konnten, obwohl sie definitiv nicht sie einzigen Menschen in diesem Raum waren.

Hätte Johannes die beiden nicht gekannt, wäre ihm die Sache fast schon egal gewesen, aber einen der beiden kannte er – der mit dem roten Kleid, der auf dem Schoß des anderen Typen saß und ihn beinahe versuchte mit sehr unschön aussehenden Zungenküssen zu ersticken.

Also hatte Tobi sich nach langem Entzug wieder einen Jungen geangelt. Entweder war dieser zu blöd oder besoffen, um zu merken, dass er jemandem desselben Geschlechts an die Wäsche wollte oder er fand genau das besonders geil. Welche dieser Auswahlmöglichkeiten zutraf, wusste Johannes nicht genau – dem Typen traute er alles zu –, aber immerhin wusste er, dass die Knutscherei der beiden ihm ziemlich auf dem Keks ging. Konnten die sich nicht zuhause oder sonstwo befummeln? Es nervte ihn nämlich sehr, seinen 'Lieblingsklassenkameraden' bei solchen eindeutigen Aktivitäten zusehen zu müssen. Natürlich hätte er sich auch einen anderen Platz suchen können, aber er wollte sich nicht von Tobi quasi wegekeln lassen, da schaute er ihnen lieber beim Fummeln zu.

Während Johannes die zwei weiter mit bösen Blicken bewarf, dabei seine fünfte Cola schlürfte und mit seinen frisch geschnittenen Fingernägeln versuchte, den Tisch zu zerkratzen, hielten sich Tobi und sein neuer Fan kein bisschen zurück, im Gegenteil; dieser begann schamlos dem Pseudomädchen das Kleid von den Schultern zu streifen und bei ihm den gesamten Schlüsselbeinbereich mit der Zunge zu erkunden. Und Tobi schien es zu gefallen.

Langsam aber sicher bekam Johannes das große Kotzen, was allerdings nicht an seinem ungesunden Getränkekonsum lag, auch nicht an den zwei heftig beschäftigen Jungs, sondern einfach daran, dass Tobi wieder in sein altes Schema verfiel und alles anmachte, was nicht jünger als 13 war oder immerhin so aussah. Jedenfalls redete er sich das ein. Konnte Herr Schlägerkind das nicht ein einziges Mal lassen?

„Ist hier noch frei?“ Ein leicht angetrunkener Typ, den Johannes noch nie gesehen hatte, war bei ihm aufgetaucht und belagerte ohne auf eine Antwort zu warten den Stuhl neben Johannes, der genervt den Rest seine Glas leerte und das tolle Spiel ‚Tobi beobachten' fortsetzte. Was passierte eigentlich noch alles Bescheuerte heute Abend? Eine Steigerung von 'absoluter Reinfall' gab es hoffentlich nicht, sonst wäre das die erste und letzte Party für die folgenden 20 Jahre gewesen.

„Was guckst du so komisch zu denen da rüber?“, nuschelte der unverschämte Junge und legte den Kopf schief. „Ist das Mädchen deine Exfreundin oder was?“

Der Typ konnte von Glück sprechen, dass man ihn wegen der lauten Musik kaum zwei Schritte entfernt hörte, denn sonst hätte er von Tobi persönlich eine reingeschlagen bekommen. Ihn als Mädchen zu bezeichnen und noch mit Johannes zu verkuppeln musste tödlich enden, da half auch keine Ahnungslosigkeit bzw. Dummheit als Ausrede dafür.

„Nein, ganz sicher nicht.“ Nur über seine Leiche. Oder über Tobis.

„Sieht aber so aus.“ Manchmal sollten jüngere Kinder einfach die Klappe halten, empfand Johannes, vor allem wenn sie keine Ahnung von Allem und Jedem hatten, wie Mr. No name, der müde gähnte – wie wäre es mit nach Hause und ins Bett gehen? – und seinen Kopf an Johannes Schulter drückte, als wäre dieser das Kopfkissen vom Dient. Hielt der sich nun für die ultimative Katze oder was ging in seinem Hirn vor?

„Du bist schön weich“, murmelte Herr Unbekannt zufrieden, doch leider sah Johannes das nicht unbedingt als gelungenes Kompliment, schon gar nicht von einem nicht mehr sehr zurechnungsfähigen Jungen um die 15. Außerdem fingerte der andere Kerl – gab es hier keine Frauen oder was? – noch ausgiebig an Tobis halbnacktem Oberköper herum, bemerkte endlich die ihm geltenden Killerblicke und machte die Beute auf seinem Schoß darauf aufmerksam. Na super.

Der Abend war eindeutig am Arsch, den konnte kein Wunder mehr retten, denn an Johannes‘ Seite klebte weiterhin der Junge und von Zeit zu Zeit löste sich Tobi von seinem besitzergreifenden Fan, um Johannes und seinem selbsternannten Begleiter schiefe Blicke zuzuwerfen. Noch länger ließ er sich das nicht bieten.

Eine halbe Stunde später fasste er seinen Entschluss: Die konnte ihn alle mal, er würde jetzt gehen, auch ohne Tanja und Kevin, die sich nicht mehr bei ihm gemeldet hatten. Dafür würden sie sowieso noch Ärger mit ihm bekommen. Wenn er sie fand.

Johannes schob den dösenden Jungen von sich weg, betrachtete ein letztes Mal kopfschüttelnd seinen tollen privaten Nachhilfelehrer beim Knutschen und verließ den Saal. Endlich frische Luft, normale Lautstärke und keine aufdringlichen Leute – bis auf ein kicherndes Mädchen, das ihm die Hälfte des Heimwegs hinterher schlich und ihm mehrmals „Du bist mein Traummann, bleib stehen und heirate mich“ nachrief. Noch belästigender ging es kaum, hatten die alle keine Hobbies?

Nach einigen Umwegen erreichte er sein vertrautes Häuschen, angelte den Schlüssel aus der Hosentasche und hoffte, dass seine Eltern schon sachliefen und ihm keine unnötigen Fragen wegen seines abwesenden Bruders stellten.

Sein Wunsch wurde erhört – zu allerersten Mal heute –, nirgends brannte Licht, obwohl es gerade mal kurz vor zwölf war. Mysteriös.

Johannes schlurfte in die Küche, schenkte sich ein Glas Wasser gegen den ätzenden Colageschmack im Mund ein und setzte sich ins Wohnzimmer auf die Couch. Vielleicht war Kevin längst heim gegangen und deshalb nicht mehr bei ihm aufgetaucht. Zwar säße er dann eigentlich hier und ginge seiner Lieblingsbeschäftigung nach, aber möglicherweise hatte ihm der Partybesuch sogar die Lust auf Fernsheen verdorben. Wäre nachvollziehbar, wenn ihm genauso dramatische Geschehnisse verfolgt hätten.

Trotz des enormen Colaverbrauchs wurde Johannes schnell müde, rollte sich auf seinem Sitzplatz zusammen und nickte schließlich ein. Nur leider träumte er äußerst unerfreuliche Dinge von Tobi im Kleid, der es mit dem Typ von vorhin in irgendeinem abgelegenen Park trieb. Grausam, sein schlimmster Alptraum seit Langem.

Zum Glück weckten ihn gegen drei Uhr nachts nicht sehr leise Schritte draußen auf dem Flur; anscheinend war seine schöne Theorie für den Verbleib seines Bruders falsch gewesen.

„Kevin, bist du das?“

„Ja, wer denn sonst?“ Es hätte auch das Christkind sein können.

„Wo warst du die ganze Zeit?“ Sein Bruder hatte freiwillig die Flimmerkiste für diese vielverspechende Veranstaltung vernachlässigt, da stimmt etwas nicht. Apokalypse! Oder so ähnlich.

„Auf der Party, was soll ich um die Uhrzeit anderes machen?“ Naja, man wusste heutzutage nie, auf was für schlaue Ideen die Jugend kam.

„Und wieso bist du einfach weg gegangen?“ Schon mal was von Aufsichtsplicht für jüngere Geschwister gehört? Eher nicht, darum kümmerte sich meistens Vera.

„Weil halt, du bist kein kleines Kind mehr, das nicht auf sich selbst aufpassen kann.“ Kevin schien leicht gereizt zu sein, was nur an der entspannenden Atmosphäre gewisser Orte liegen konnte.

„Aber Tanja hast du mitgenommen oder was?“ Immerhin waren die zwei zur gleichen Zeit abgehauen.

„Mann, mach mal nicht so ein Theater, du hättest uns suchen können.“ Es entstand eine kürzere Pause. „Ich geh schlafen, solltest du auch tun. Bis morgen.“

Ja klar, und sich von der eigenen Fantasie Tobi und seinen neuen Freund beim Sex zeigen lassen. Darauf stand er auch total.

Leise grummelnd verzog sich Johannes in sein Bett und schlief tatsächlich wieder ein, wurde aber nicht von pornographischen Inhalten belästigt.

„Johannes, aufstehen, du musst zu Tobi!“

Wer hätte es gedacht? Als ob er Samstag morgens irgendwo anders hinginge.

„Ja, ich weiß.“ Müde krabbelte er aus dem Bett und stellte überrascht fest, dass er nur noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Vielleicht sollte er sich ein bisschen beeilen. Oder auch nicht, Tobi vermisste ihn sicher nicht.

Genau wie letzte Woche ließ ihn Sarah ins Haus – dieses Mal im grünen Schlafanzug –, er klopfte an Tobis Zimmertür und wartete. Keine Reaktion.

Entweder stellte sich Tobi tot, um nicht von ihm genervt zu werden oder... er war gerade mit seinem Typ beschäftigt und bekam deshalb nichts mit. Na toll, eigentlich wollte er so etwas nie wieder sehen, gestern Abend hatte völlig gereicht, aber zweieinhalb Stunden lang vor einer unheimlich spannenden Tür zu stehen gehörte nicht unbedingt zu seinen Lieblingstätigkeiten.

Extrem langsam drückte Johannes die Klinke hinunter und spähte in den Raum. Oder versuchte es zumindest, denn es war so dunkel, dass er nicht einmal das Chaos im Zimmer sehen konnte, wie schade.

„Huhu, jemand zu Hause?“, fragte Johannes und drückte nach einiger Zeit schließlich auf den Lichtschalter, um sich selbst eine Antwort zu geben.

„Mann, mach das verdammte Licht aus“, plärrte plötzlich jemand aus Richtung Bett und überrascht kam Johannes sogar dem Befehl nach. Anscheinend befand sich momentan doch ein Bewohner hier drin. Und hoffentlich nur einer.

„Wie soll ich mich hier zurechtfinden, wenn ich mir gleich den Fuß breche? Fliegen kann ich leider noch nicht, Schlaukind.“ Das wüsste er.

„Dann lern es und sei still, ich will pennen.“

Vorsichtig suchte Johannes sich einen Weg bis zum Fenster, krachte dabei in einige herumliegende Gegenstände und erreichte erleichert sein Ziel. Kurz tastete er an der Wand entlang, bis er das Band zum Öffnen des Rollladens fand und daran zog, damit er wenigstens unbeschadet durch das Zimmer latschen konnte. Ein Erfolg.

Nun erkannte er außerdem, dass Tobi allein in seinem Bett lag. Trotzdem beruhigte das Johannes nicht, denn sein 'Fan' sah wirklich aus, als hätte ihn sein Neuer die gesamte Nacht durchgenommen. War der Alptraum vielleicht doch real gewesen oder war er der neue Hellseher? Dann sollte er sich schnell bei Uri Geller bewerben.

„Was glotzt du mich schon wieder an? Machen dich Jungs in Kleidern doch geil oder was? Ich bin doch kein Porno!“

„Das glaubst auch nur du.“ Manche Leute würden sich sicher über so ein Angebot freuen, aber eher er sich selbst beim Gedanken an Tobi einen runterholte, ließ er sich lieber in die Psychiatrie einweisen oder machte ein Praktikum im Kindergarten. „Willst du vielleicht mal aufstehen? Wir sollten langsam Englisch lernen, dafür bin ich ja da.“ Gezwungenermaßen, außerdem wollte er das nicht, weil er – wie Tobi gerne meinte – Streberlein der Nation spielte, sondern weil er irgendetwas tun wollte statt dauerhaft Nervfischi beim Gammeln zu beobachten.

„Junge, kannst du knicken. Ich war gestern bis fünf Uhr weg, bin total müde und wahrscheinlich noch nicht ganz nüchtern.“ Die erste gute Selbsteinschätzung von Tobi Lohr.

„So sieht auch aus. Ist mir aber egal, dein Problem, wenn du nicht früh genug nach Hause gehst. Du stehst jetzt auf, sonst schalte ich das Licht an und nehm dir die Decke weg“, drohte Johannes genervt und ging ein paar Schritte auf Tobi zu, der das überhaupt nicht nett fand, sich aber trotzdem aus den Federn quälte, zum Schreibtisch schleppte und auf einen Stuhl pflanzte.

„Geht doch“, meinte Johannes zufrieden, setzte sich zu ihm und musste erkenne, dass sein kleiner Sieg gegen Tobi nichts gebracht hatte, weil dieser so aufmerksam war wie ein Fisch in der Vorschule. Er benutzte nämlich wieder Johannes als Kopfkissen und reagierte auf gar nichts mehr. Juhu.

„Tobi, wach auf!“ Johannes bewegte seinen Arm etwas hin und her, damit gewisse Personen nicht für immer und ewig an diesem kleben blieben, nur leider funktionierte das nicht unbedingt so wie geplant; Tobi rutschte einfach ein ganzes Stockwerk tiefer, lag nun halb auf Johannes Schoß und machte das Lernen endgültig unmöglich.

„Super gemacht, ignoranter Zwerg.“ Konnte der Junge nicht wie früher ihn schlagen statt zu belästigen und einzuengen mit seinen unmännlichen Anfällen? Hatte er nicht seinen doofen Freak, der auf solche merkwürdigen Dinge stand?

Egal, zuerst musste er Tobi ins Bett zurückbringen; bei seinem Glück kam sonst irgendjemand ins Zimmer, interpretierte die Szene falsch und erlitt einen kleinen – oder etwas größeren – Schock. Besser nicht.

Behutsam packte er Tobi unter den Armen, zog ihn in die Höhe und verfrachtete ihn wieder in sein tolles – das Ding war echt gemütlich – Bett. Mission erfüllt, theoretisch konnte er nun nach Hause gehen, sich langweilen und Tanja auf den Keks gehen, weshalb sie ihn gestern einfach allein gelassen hatte. Immerhin hatte er dadurch – und durch andere Faktörchen – beinahe ein Trauma erlitten. Oder so etwas Ähnliches.

Allerdings könnte seinen Pseudonachhilfelehrer auch wegen gestern ausfragen. Wenn er überhaupt zuhörte und antwortete.

„Tobi?“

„Hm?“, murmelte es zurück.

„Was war das gestern für eine bekloppte Aktion mit dem Typ auf der Party?“

„Hä?“ Tobi schien nachzudenken. „Ach so, das meinst du. Hast uns ja fast die ganze Zeit beobachtet und dabei ziemlich böse geguckt. Willst du nicht zugeben, dass du eifersüchtig bist?“

„Warum sollte ich etwas zugeben, was ich gar nicht bin?“ Das Gespräch verlief ja wirklich großartig, also genau wie immer. „Außerdem hast du mich auch öfters sehr blöd angestarrt.“

„Komm, wenn an einem wie dir so ein kleiner Junge hängt, darf man ja mal gucken, oder?“

„Der hat sich selbst eingeladen und wollte nicht mehr verschwinden.“ Manche Menschen gehörten nun mal nicht auf solche Veranstaltungen. „Und du bist jetzt mit deinem Typen für die nächsten zwei Wochen zusammen oder hat er endlich gemerkt, dass du doch kein Mädchen mit komischen Komplexen bist?“

„Mit dem Jungen will ich gar nicht zusammen sein“, brummte Tobi abweisend. „das ist Javier aus der 11., außer gut aussehen kann er nicht wirklich viel. Und er spinnt voll, glaubt an Geister und so ein Zeug, wahrscheinlich hält er sich selbst für den Kaiser von China. Nein, auf Gestörte kann ich echt verzichten, die sind höchstens als Ersatzlösung gut.“

„Wow, und ich dachte, du nimmst jeden, der sich nicht schnell genug versteckt.“

„Du und dein Wunschdenken, damit du dir auch Chancen ausrechnen kannst. Noch irgendwelchen schrottigen Behauptungen oder Fragen von dir?“

„Habt ihr miteinander geschlafen?“ Wenn man schon fragen durfte, dann nutze man das gefälligst auch!

„Hallo?“ Empört setzte sich Tobi auf – hatte er eben nicht noch einen auf Dornröschen gemacht? – und funkelte Johannes an. „Zum tausendsten Mal für dich zum Mitschreiben: Ich bin keine dumme Schlampe, weder für Javier, für dich oder sonst irgendeinen Idioten in diesem Universum, gecheckt? Langsam glaub ich echt, du willst, dass er und ich was miteinander anfangen, damit du dich darüber aufregen kannst.“

„Stimmt doch gar nicht“, verteidigte sich Johannes sofort, „aber was kann ich dafür, wenn es so aussah, weil ihr stundenlang nicht anderes zu tun hattet als gegenseitig an euch rumzumachen.“

„Okay, halt mal kurz die Klappe und komm her.“ Tobi klopfte auf den klitzekleinen Platz zwischen sich und der Bettkante und Johannes erwartete fast, dass er ihn mit einem 'Putt, putt, Hühnchen' zu locken wollte. Zutrauen würde er es ihm.

Misstrauisch platzierte er sich neben Tobi, der ihn kurz prüfend musterte und plötzlich anfing hinterhältig zu grinsen. Irgendetwas plante dieser Chaot wieder.

„Damit du wirklich einen Grund hast, dich aufzuregen“, warnte er Johannes vor und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Los, beschwer dich.“

„Äh...“, brachte Johannes nur überrumpelt heraus. „Ich glaube, ich geh mal nach Hause.“

„Bleib doch da, gerade wird’s lustig.“

„Nein, lieber nicht, bis Montag, tschüss.“ Konnte man Sonnenstiche in geschlossenen Räumen bekommen? Tobi war ein eindeutiges Opfer davon.

Überstürzt verließ Johannes das Zimmer, rannte dabei beinahe Sarah um und lief schnell nach Hause. Nein, er würde nicht über Tobis neuste Dummheit nachdenken, auf keinen Fall, dazu war er zu zivilisiert.

Wieso hatte ihn dieser Hohlkopf geküsst? Und wieso redeten sie über so einen Schrott wie Tobis Sexualleben, das ging doch 99% der Menschheit am Arsch vorbei!

Mehr als ein wenig verwirrt sauste Johannes in die Küche, leerte eine ganze Wasserflasche, um sich abzulenken, bis ihm die verdächtige Stille im Haus auffiel.

Dass man von Vera nichts hörte, leuchtete ihm ein, die hing die ganze Zeit bei ihrem Freund, dessen Namen er immer noch nicht auswendig konnte, herum und seine Eltern veranstalteten sicher auch nicht eine Lautstärke einer Grundschulklasse, aber Kevin hörte man meistens. Oder eher seinen besten Freund, die Glotze.

Seine Eltern sollten wirklich bald mit Kevin zum Arzt fahren, er hatte zwei Tage hintereinander etwas Besseres zu tun als sich zu verdummen. Apokalypse die zweite!

„Ah, Johannes, du bist ja schon da.“ Seine Mutter kam mit einer ihrer super mega tollen Frauenzeitschriften in der Hand in die Küche gelaufen, um sich einen Stift aus der Küchenschublade zu holen – sicher für ein verdammt einfaches Kreuzworträtsel. „Stell dir vor, dein Bruder ist heute freiwillig zum Frisör gegangen.“ Sie strahlte richtig.

Oh nein, der Weltuntergang nahte tatsächlich.

Tobi knutschte ihn fast ab.

Sein Bruder ging zur interessantesten Sendezeit im deutschen TV zum Frisör, obwohl er das höchstens einmal in einem Jahrtausend tat und eher gezwungen als etwas Anderes wurde.

Was kam wohl als nächstes?

Den Samstag konnte Johannes wirklich vergessen, der war für ihn gelaufen, denn er schaffte es nicht, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Weder auf die ungeheure Masse an Hausaufgaben, auf das geistreiche Fernsehprogramm, auf die netten Beleidigungen der Internetuser von einer der 10.000 lahmarschigen Internetseiten noch auf das Gerede seiner Mutter, die alle zehn Minuten in sein Zimmer schneite, von Kevins ungewöhnlichem Verhalten schwärme, seine Wäsche stahl oder die Pflanzen goss.

Und das lag ganz allein an der Unverschämtheit eines pubertierenden Blödmanns, der selbst in hundert Jahren nicht verstehen würde, dass er nicht alles, was sich bewegte, anhüpfen und sexuelle belästigen durfte.

Kein Wunder, dass er keine richtigen Freunde hatte.

Und wieso dachte er jetzt schon wieder über T.L. nach? Das war doch genau das, was er die eigentlich verhindern wollte. Ziel verfehlt, dumm gelaufen. Irgendwann würde er ihn wirklich verklagen, selbst wenn sich der Richter, der diesen Fall behandeln würde, dabei totlachte, das interessierte ihn zur Zeit kein bisschen.

Wegen Tobi konnte er nicht mal Fernsehen! Und das konnten sogar Leute, die krank im Bett lagen und sonst nichts Anderes tun durften. Hatte er ja auch schon öfters mitbekommen.

So, Krankheit und Tobi waren keine schönen Themen zum Nachdenken, da sah Johannes ein, also benötigte er Ablenkung, viel Ablenkung. Vielleicht sollte er mal Tanja anrufen, um ihr von der neusten Entwicklung zwischen sich und dem fehlorientierten Typen zu berichten.

Jetzt dachte er schon wieder an ihn. Gestört.

Und nun dachte er, dass er an ihn dachte! Bald würde er noch wahnsinnig werden, weil er an nichts Anderes mehr dachte. Na super, tragischer Tod eines Minderjährigen wegen Doofheit und Überbelastung des Gehirns mit gewalttätigen Inhalten. Das druckte doch keine Zeitung der Welt, nicht einmal für Geld.

Ziemlich verwirrt durch seine unlogischen Gedanken schnappte er sich das Telefon aus dem Flur, warf sich auf sein Bett und tippte die vertraute Nummer der Kufenbergs an. Mutierte er langsam zur Frau, weil er so oft dort anrief? Das musste er längere Zeit beobachten, hoffentlich nicht. Schwanger werden war eine der vielen Dinge, die er nicht unbedingt sein wollte. Und mit Schminken konnte er nichts anfangen, genauso wenig wie mit Kleidern und Kitschfilmen.

Nein, er hatte überhaupt keine Vorurteile gegenüber der weiblichen Bevölkerung.

„Kufenberg?“

Oh nein, nun begann wieder die störende Telefonnervosität. Konnte man die nicht abstellen oder per Päckchen an jemand anderes verschicken? Zur Not auch im See versenken, Hauptsache, sie ging anderen auf den Zeiger.

„Hallo, hier ist Johannes, ist Tanja da.“ Sagen Sie ja!

„Nein, die ist schon den ganzen Vormittag weg, ich weiß auch nicht, wohin. Soll ich ihr etwas ausrichten?“

„Nein, nicht nötig.“ Ja, sagen Sie ihr, ich habe durch verschiedene Arten homosexueller Handlungen mein Hirn verloren, sie soll mir helfen, es zu suchen. Klang das nicht schön und vernünftig? „Auf wiedersehen.“ Schon doof, dass er hier am Telefon mit Tanjas Mutter schwätzte, aber solche Feinheiten fielen ihm leider meistens eine halbe Minute später auf. Naja, die Frau würde es gerade so überleben. Wenn nicht: er war unschuldig.

Allerdings fragte Johannes sich, wo zum Geier sein Bruder und seine Freundin abhingen, während er hier so ziemlich alles versuchte, um nicht durchzudrehen. Scheiß Samstag, dummer Tobi, alles bescheuert.

Was hatte dieser Frosch auch für gestörte Probleme und küsste ihn einfach ohne Erlaubnis? Da konnte ja jeder kommen.

Obwohl es sich ja gar nicht so fürchterlich wie erwartet angefühlt hatte, theoretisch hätte er es sich schlimmer vorgestellt. Immerhin war der Kusspartner Tobi, Feingefühl gehörte ja nicht zu seinen überragenden Talenten – und wieder fragte er sich, ob Tobi überhaupt Talente besaß – und außerdem war er ein Junge. Oder sollte zumindest einer sein.

Küssende Mädchen fand die Gesellschaft in Ordnung, aber bei Jungs ging sie auf die Barrikaden. Irgendetwas stimmt da nicht.

Wann merkte man als Junge eigentlich, wenn man in einen anderen Jungen verknallt war? Kann irgendwann nachts im Schlaf die Erkenntnis? Klebte einem ein Zettel mit 'homosexuell' auf der Stirn? Oder verstand man es gar nicht? Schwere Frage, die er hoffentlich nie beantworten musste und Tobi würde er nicht fragen, der lachte sich höchstens tot. Obwohl das ja auch gut wäre, dann hätte er seine Ruhe vor ihm...

So vergingen auch die folgenden Stunden; Johannes kam zu keinem eindeutigen Ergebnis – er hatte ja nicht einmal eins gesucht – und wartete, dass ihn möglicherweise Tanja zurückrief, was sie nicht tat. Wunderbares Wochenende.

Aus Protest versuchte er schon um neun Uhr einzuschlafen, doch hatte sich seine gesamte Familie gegen ihn verschworen und veranstaltete bis um elf einen solchen Lärm, dass Johannes genervt wieder aufstand und begann, sein Bücherregal umzusortieren, damit er überhaupt etwas tun konnte.
 

Am Sonntagmorgen weckte ihn seine Mutter mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Johannes, wir machen heute einen Ausflug!“ und übersah dabei gekonnt die nicht vorhandene Begeisterung ihres Sohnes. Familienausflüge endeten meist in gähnender Langweile, weil seine Eltern ihre drei Kinder zwangen, durch kleine Käffer oder XXL Wälder zu laufen und die Natur zu bewundern. Welcher Teenager fand das toll? Genau, keiner.

Vor allem hatte Johannes zum wiederholten Mal ziemlich beschränkte Dinge geträumt – Tanja und Tobi waren mit ihm verheiratet, aber Tobi betrog ihn mit Kevin und Tanja fing eine Affäre mit Vera an – und wollte einfach nur weiterschlafen statt sich mit seiner Familie zu befassen.

„Sagt mal, Jungs, was ist im Moment mit euch los?“, ragte Vera, als ihre Brüder beim Frühstück nicht wie sonst den ganzen Brötchenkorb allein plünderten; Kevin malte komische Kreise mit dem Löffel in seinem Kakao und Johannes starrte wie hypnotisiert auf die Butterdose, als würde sie ihn bald in alle Geheimnisse des Lebens einweihen.

Plötzlich veränderte sich Veras Gesichtsausdruck zu einem verständnisvollen Grinsen. „Hatte euer kleiner Partyausflug doch Erfolg? Habt ihr endlich ein nettes Mädchen kennen gelernt?“

Kevin reagierte gar nicht und Johannes hustete so gekünstelt, dass Vera beleidigt das Thema fallen ließ. Männer konnten ihrer Meinung nach wirklich nicht mit Frauen über ihre Gefühle reden, sogar ihr Freund schaffte das nicht.

Gegen halb eins scheuchte Frau Sander ihre Kinder ins Auto, diskutierte noch schnell mit ihrem Mann, wohin sie überhaupt fahren wollten und schließlich kurvten sie fast eine Stunde durch ein Gebiet, noch unbekannter als Hintertupfingen, bis sie an einem x-beliebigen Wäldchen hielten und Johannes sich fragte, weshalb sie für diese fünf Tannen ihr Benzin zum Fenster rauswarfen. Und außerdem gab es hier keine Ablenkung, seine Gedanken würden ihm wieder schön auf die Nerven gehen.

Genau so kam es auch; aus Langweile überlegte er, ob Tobi vielleicht schwanger werden konnte, ob er ihn am Montag wieder belästigen würde und weshalb ihn das überhaupt interessierte, da er es spätestens morgen erfuhr. Außer er schwänzte die Schule.

Als es schließlich anfing, leicht zu nieseln, entschlossen drei Fünftel der Familie endgültig zu streiken und somit musste sich der Rest geschlagen geben.

Fazit dieses Ausflugs: Dumm Gedankengänge, hoher Benzinverbrauch und nasse Kleidung.

„Das habt ihr echt gut geplant“, murmelte Johannes und beobachtete Kevin, der schon die ganze Zeit nicht wirklich anwesend war. An was der wohl dachte? Sicher nicht an Mathematik. Aber hoffentlich nicht an solche tollen Dinge wie Johannes selbst, es reichte, wenn einer von ihnen pausenlos an ein und denselben Typ denken musste, ob er wollte oder nicht.

Nein, er war nicht verknallt, das war... geistige Verwirrtheit! Genau, sowas passierte sicher öfters in der Pubertät, also brauchte er sich keine Sorgen zu machen, morgen war das wahrscheinlich verschwunden.

Falsch gedacht, schon am nächstens Tag war Johannes‘ erster Gedanke, dass er heute Tobi wiedersehen würde und sofort versuchte er alles möglich, um sich einzureden, krank zu sein. Immerhin hatte er gestern ein bisschen Nieselregen abbekommen, davon konnte man sich schwer erkälten und deshalb musste er im Bett bleiben, eindeutig.

Dumm nur, dass seine Mutter das ganz anders sah und ihn schließlich entnervt aus den Federn warf, weil sie der festen Meinung war, Faulheit sei noch lange kein Grund zum Schwänzen. Das hatte Johannes natürlich so nicht gemeint, aber sie kannte ja nicht den offiziellen Anlass für seine schauspielerische Einlage. War auch besser für sie, sonst wollte sie sich vielleicht wieder bei Tobis Mutter beschweren, allerdings für Taten auf einer etwas anderen Ebene.

„Nimm dir doch ein Beispiel an deinem Bruder“, erzählte Frau Sander ihrem Sohn, als sie am Küchentisch saßen und Johannes weiter versuchte, seine ‚Ich bin krank, ich bleib zuhause’ Nummer durchzuziehen. Erfolg mangelhaft. „Er ist schon vor einer Viertelstunde losgegangen, während du dieses Theater veranstaltet hast.“

„Komisch, vor ein paar Wochen sollte sich Kevin immer an mir ein Beispiel nehmen, weil ich ja nie vorm Fernseher sitze und mich so oft mit anderen Menschen treffe“, brummte Johannes, kämpfte mit der Butter auf seinem Toast und wunderte sich über das wechselhaften Vorbildgequake von Erwachsenen. Wenn er und Kevin nun zusammen eine Bank ausrauben würden und Vera ihnen dabei half, an wem sollten sie sich dann ein Beispiel nehmen? An der Nachbarskatze? Oder dem Kleinkind vom Haus schräg gegenüber mit der geschmacklosen himmelblauen Wandfarbe? Alles nicht das Wahre.

„Ja, aber seit neustem...“

„Seit vorgestern“, unterbrach Johannes sie schnell.

„...hat sich das zum Glück geändert.“ Sie wirkte richtig stolz, als habe Kevin sein Suchtverhalten für immer besiegt. Eigentlich sollte sie lieber abwarten, wer wusste, was als nächstes kam. Vielleicht entdeckte er die das Playmobil neu für sich und machte dann den ganzen Tag nichts anderes, als diese kleinen Plastikfigürchen in der Gegend aufzustellen und sich tierisch aufzuregen, wenn jemand es wagte, sie auch nur einen Zentimeter zu verrücken.

Nein, diesen Gedanken wollte Johannes gar nicht weiterführen, sonst starb er möglicherweise durch eine ungesunde Mischung aus Essen im Mund und Lachanfall.

„Los, beeil dich, in zwanzig Minuten musst du in der Schule sein“, drängte ihn seine Mutter, klaute ihn unfreundlicherweise den Teller, um ihn klarzumachen, seinen Toast schneller zu essen und schob ihn einfach in den Flur.

Cool, nun hatte er die Lizenz zum Boden vollkrümeln. Das wollte er immer schon mal tun. Aber weil er bis vor kurzer Zeit so ein perfekter Sohn gewesen war – haha, guter Witz! – verhielt er sich so weit es ging anständig, aß sein Frühstück im Stehen fertig, zog sich an, flutete das Bad und schlurfte wie die Weinbergschnecke vom Dienst Richtung Schule, natürlich nur mit einem Gedanken.

Oder auch zwei.

Erstens: Tobi war da! Und zweitens: Wie sollte er das alles überleben?

Hoffentlich erwähnte Herr Unsensibel ihr chaotisches Treffen mit den bleibenden Folgen – und Schäden – nicht vor der ganzen Klasse und vor allem nicht in allen Einzelheiten, sonst würde er sein Versprechen, bald auszuwandern, doch in die Tat umsetzen. Egal, ob seine Eltern dafür oder dagegen waren, allein konnte er das leider nicht.

Als einer der letzten betrat er den Saal, in dem sie gleich Unterricht hatten und stellte fest, dass weder Tanja noch Tobi anwesend waren, um ihn zu begrüßen. Obwohl bei einem der beiden ihm das ganz recht war; wen er damit meinte, sollte allgemein bekannt sein.

Leicht verwirrt packte er seine Schulsachen aus, schaute sich noch einmal prüfend um, damit er niemanden übersehen hatten – obwohl das eher unwahrscheinlich war, die beiden nicht zu bemerken musste man erst einmal schaffen – und wartete, dass etwas passierte. Immerhin war heute nicht ohne Grund Montag, in zwei Tagen, in denen man seine Klasse nicht gesehen hatte, konnte sehr viel geschehen.

Und wenn es nur ein fehlgeschlagener Frisörbesuch gewesen war.

Gerade, als er die Suche aufgegeben hatte und sich aus Langweile seinem Englischbuch widmete, indem er es mit einer kleinen Kostprobe seines unverkennbaren künstlerischen Maltalents verschönerte – zwei mickrigen Strichmännchen auf einer einsame Insel – tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter und flüsterte ihm zum Glück sehr leise ins Ohr: Und? Hast du jetzt dein Leben als einfacher Hetero an den Nagel gehängt oder musste der nächste Psychologe bei euch vorbeikommen?“

„Tobi, halt die Klappe“, zischte Johannes gedämpft zurück, damit die anderen nicht sofort auf sie aufmerksam und ihre interessanten Stories vom Wochenende nicht durch ihr Intellektuellengespräch – nach dem Motto ’Du stehst auf mich, gibs zu’ – unterbrochen wurden. Es sollte wirklich höchstens 1% der Klasse wissen, dass Tobi mal wieder sich an anderen Menschen vergriffen hatte und dieser Prozentteil wanderte wahrscheinlich irgendwo draußen auf den Schulfluren herum oder lag krank im Bett. Leider wusste er ja nicht, wo sich Tanja im Moment befand.

„Wieso denn? So schrecklich kann es ja nicht gewesen sein, sonst hätte deine liebe Mama wieder bei uns angerufen“, stichelte Tobi böse grinsend, um auf irgendeine Weise Johannes aus der Reserve zu locken.

„Idiot.“ Er war alt genug, um sich nicht ständig von seiner Mutter –wahlweise Tanja oder anderen weiblichen Geschöpfen – beschützen zu lassen, checkte das Nervi nicht? Sollte er es sich auf sein T-Shirt drucken oder als Plakat an die Wand hängen? „Das Eine hat mit dem Anderen gar nichts zu tun.“

„Naja, denkst du.“ Das Grinsen auf Tobis Gesicht wandelte sich inzwischen von fies zu zweideutig und zur reinen Provokation strichen seine Finger im Bereich von Johannes’ T-Shirtkragen extra langsam auf und ab. „Beschwer dich wenigstens mal, damit man auch merkt, dass du es nicht magst.“

„Ich kann etwas auch nicht mögen, ohne es durch die Weltgeschichte zu schreien oder es mir auf die Stirn zu kleben“, erwiderte Johannes schnell und versuchte mit etwas merkwürdigem Herumgewackel, Tobi von seinem Nacken zu vertreiben, doch da Täterlein die ganze Angelegenheit zu lustig um aufzuhören fand – er mochte es ja sowieso, andere Jungs zu befummeln -, musste er drastischere Maßnahmen ergreifen:

Mit einem eher vermuteten als gezielten Schlag traf er Tobis vorwitzige Finger und verjagte diese somit. Nur hatte er es geschafft, so fest zuzuhauen, dass derjenige, der sonst eher austeilte, ihm ein paar unfreundliche Ausdrücke an den Kopf warf und die ganze Klasse ihren Gesprächsstoff vernachlässigte und sie äußerst überrascht anstarrte. Toll.

„Danke Tobi, unauffälliger gings nicht mehr.“

„Du bist hier nicht das Opfer, sondern ich.“ Ausnahmsweise, kam nicht allzu oft vor. „Also halt die Klappe und tu so, als wäre nichts.“ Endlich zog er auch seine Hand, die noch auf Johannes’ Hals geruht hatte und sicher der Auslöser für die Blicke ihrer Mitschüler gewesen war, zurück, ließ sich auf seinen Stuhl fallen und betrachtete gespielt traumatisiert seine Fingerkuppen. „Wie oft eigentlich noch? Sag, wenn du was nicht willst, sonst mach ich einfach weiter. Ist nämlich lustig, deine Reaktionen zu beobachten. Man könnte echt Wetten damit abschließen, wie du auf was reagierst.“

„Du nervst.“ Allerdings konnte er schlecht über etwas aufregen, was er eigentlich gar nicht so schlimm fand.

Nur musste das nicht unbedingt in der Öffentlichkeit sein.

Und lieber wäre es ihm, es käme nicht von Tobi, dann müsste er sich nämlich weniger Gedanken deswegen machen.

Fünf Sekunden vor Unterrichtsbeginn schlurfte Tanja in die Klasse – Johannes hatte sie noch nie so unmotiviert erlebt –, winkte ihm ganz kurz zu und begann dann, soweit Johannes es aus der Entfernung sehen konnte, ihren Tisch vollzukrakeln. Schöne Beschäftigung, nur durfte sie sich dabei nicht von Herrn Köhler erwischen lassen, der fand das gar nicht so schön, immerhin musste irgendein Idiot in den Ferien die ganzen Zeichnungen der Schüler von den Tischen entfernen. Das kostete Geld und das wollte die Schule natürlich nicht ausgeben. Zumindest hatten sie das noch nie getan, soweit sich Johannes erinnern konnte.

Vielleicht ärgerte ihn auch gerade sein Kurzzeitgedächtnis, wer wusste das schon?

Während des Unterrichts landete plötzlich ein zusammengefaltetes Zettelchen vor Johannes‘ Nase, auf dem dick und fett 'Für Johannes, nicht für Tobi!' stand. Der musste von Tanja sein, erstens erkannte man ihre Schrift ziemlich leicht und zweitens hätte sich sonst keiner die Mühe gemacht, Tobi noch einmal extra zu erwähnen, auch in einem negativen Zusammenhang.

Sicher bekam er endlich eine logische Erklärung für ihr eher ungewöhnliches Verhalten in den letzten Tagen. Ging doch!

Doch daraus wurde nichts, statt dem Geständnis der Woche stand nur ein kurzes Ich muss dir in der Pause was erzählen, Tanja' drin. Zu früh gefreut.

„Oha, Stunde der Wahrheit“, flüsterte Tobi ihm halblaut zu – natürlich hatte er mitgelesen, schließlich interessierte ihn alles, was ihn nichts anging – und entging unbeschadet einem halbherzigen Ellenbogenstoß von Johannes, der einfach seine Ruhe von dem Typen neben ihm haben wollte. Reichte Belästigung nicht; musste er ihm jetzt auch noch hinterher spionieren? Wie wäre es mit Briefgeheimnis? Obwohl das Papierfetzchen kaum als Brief durchging, aber man brauchte nicht immer so genau sein, das störte nur. Und in diesem Fall erst recht.

„Du siehst zu viel Fernsehen“, antwortete Johannes, zerriss die Nachricht feinsäuberlich, um alle Spuren zu verwischen und ließ die kleinen Überreste in seinem Mäppchen verschwinden. „Such dir ein anderes Hobby.“

„Was kann ich dafür, wenn ihr solche klischeehaften Sätze benutzt? Normalerweise wird sie dir dann ihre Liebe gestehen, du stehst zufällig auch auf sie und drei Stunden später heiratet ihr.“

„Könnt ihr eure Hochzeitspläne bitte nach der Englischstunde besprechen?“ Herr Köhler besaß das unschlagbare Talent, immer dann aufzutauchen, wenn er es auf keinen Fall sollte. „Außer, ihr wollt sie uns allen unbedingt mitteilen. Auf Englisch natürlich.“

„Äh, nein danke.“ Na toll, jetzt grinste sich ungefähr die ganze Klasse einen Ast und der Lehrer hatte bestimmt nichts Besseres zu tun als später in der Pause im Lehrerzimmer zu verkünden, wer sich mitten in seinem Unterricht verlobt hatte.

Nach zwanzig Minuten fiel Johannes allerdings noch etwas ein; er kitzelte fast die gleiche Botschaft – nur weniger melodramatisch – auf ein Kaugummipapierchen, achtete darauf, dass Stalkertobi dieses Mal seine Augen bei sich behielt und schickte den Minibrief an die Empfängerin auf der anderen Seite des Saals.
 

„Also, was ist los?“ Sofort nach der zweiten Stunde hatte Johannes Tanja abgefangen, sie zu ihrem Lieblingsort – eine der Bänke auf dem Schulhof – geführt und wartete nun gespannt, was er in wenigen Sekunden erfahren würde. Irgendeine abgedrehte Geschichte mit Außerirdischen und der Rettung der Welt? Die Invasion der Mathearbeiten ohne Taschenrechner? Oder hatte einfach Tanjas orangefarbener Nagellack den Geist aufgegeben und sie mussten eine Trauerfeier veranstalten?

„Naja...“ Fing ja schon informativ an. „Du weißt ja, am Freitagabend...“

„Ja, da waren wir auf dieser miesen Party und ich hab Tobi beim Knutschen zugesehen.“ Und zusätzlich einen Anfall erlitten, perverse Sachen geträumt und nervige kleine Jungs abgewehrt. Aber das wusste Tanja alles nicht, weil sie sich verdrückt hatte!

„Ja, dein Bruder und ich...“

Kam sie mal zu einem Ende? Sonst stotterte sie auch nicht sinnlose Satzfetzen vor sich hin, also warum heute?

„Was hat mein Bruder gemacht? Dich mit Fernsehprogramm vollgetextet? Dir auf die Nerven mit anderen Sachen gegangen? Sag es doch, ich kann nicht hellsehen!“ Zumindest noch nicht, vielleicht lernte er es in einem dieser überteuerten Kursen auf der Volkshochschule.

„Nein, wir sind seit Freitag zusammen.“

„Wie, ihr seid was zusammen.“ Kam da noch was? Anscheinend nicht, denn so erwartungsvoll, wie sie ihn ansah, müsste das gerade das Ende gewesen sein. Moment, das bedeutete ja...

„Okay, ganz langsam: du und Kevin, ihr seid seit Freitag Abend zusammen. Hallo, warum sagt mir das denn keiner? Stattdessen haut ihr ab, sehr nett!“

„Wir wollten es dir ja sagen. Irgendwann mal.“ Tanja seufzte tief. „Ich wusste ja nicht, wie du reagieren würdest. Wenn meine Schwester mit dir zusammen wäre...“

„Du hast keine Schwester!“

„Das war ein Beispiel, Mann!“ Ihr ging es schon deutlich besser. „iIch hätte jedenfalls ein Problem damit und deshalb hatte ich eigentlich vor, es dir nicht gleich am Samstagmorgen zu erzählen. Das verstehst du doch, oder?“

„Ja, muss ich wohl.“ Obwohl er sich schon ein bisschen hintergangen fühlte, aber wenn Tanja sich solche Sorgen um seinen seelischen Zustand wegen so einer Geschichte machte, konnte er gar nicht böse auf sie sein. Außerdem gehörte er nicht unbedingt zu der nachtragenden Sorte Mensch, die noch Jahre später wegen einer verschütteten Tasse Tee Terror machte.

„So, und was sollte ich noch wissen?“ Nun war sie zur Abwechslung neugierig.

„Naja...“ begann Johannes absichtlich wie sie und machte eine übertrieben lange Pause, bis Tanja ihn einmal auf den Fuß trat. „Ich glaub, Tobi steht auf mich.“

„Ja ja, das haben schon viele gedacht.“

„Hat er die auch alle geküsst?“

Nun hatte es Tanja die Sprache verschlagen; sie saß beinahe schockiert auf der Bank, nicht in der Lage, sich darüber aufzuregen oder kaputtzulachen. Vielleicht hätte Johannes es ihr etwas schonender beibringen sollen.

„Ich glaub aber, dass er noch etwas zu war, deshalb hat er es gemacht.“ Und seine Mutter arbeitete bei der Mafia. Klar; der Junge konnte trotz oftmals auftretender Probleme eigentlich so handeln, dass dabei nicht unbeteiligte zu schaden kamen – außer in seinen aggressiven Phasen – und das bedeutete, irgendetwas musste Johannes damit zu tun haben. Hilfe.

„Und... was ist mit dir?“ Mühsam schaffte Tanja es, einen vollständigen Satz zu formulieren ohne nach jedem dritten Wort mittendrin aufzuhören. „Du magst ihn doch nicht mal.“

„Ach, keine Ahnung.“ Sollte er zugeben, dass er seit Samstag sozusagen vor Verwirrtheit kaum stillgesessen hatte? Besser nicht, sonst vermutete sie wieder das schlimmste. Außerdem war es sich kein bisschen sicher in der ganzen Angelegenheit. Mochte er Tobi? Oder nicht? Oder viel mehr als er es normal sollte?

Eigentlich fand er ihn nervig, manchmal leicht – oder auch etwas mehr – asozial und im Thema Liebesleben deutlich frustriert, aber hatte sich das nicht in den letzten Wochen und Monaten etwas zum Positiven gewandelt? Oder bildete er sich alles ein?

„Das heißt, es besteht die Gefahr, dass du auch auf Tobi stehst“, fasste Tanja kurz zusammen und schüttelte gleich darauf den Kopf. „Das klingt alles so... bescheuert, merkst du das überhaupt?“

„Ja natürlich, aber ich kann es nicht ändern oder hast du dir ausgesucht, in Kevin verliebt zu sein?“ Wenn sie mit ja antwortete, würde er sich extrem verarscht vorkommen.

„Nein, eigentlich nicht.“ Uneigentlich sicher auch nicht, aber das musste man nicht noch einmal erwähnen.

„Na also, ich auch nicht, und Tobi auch nicht, immerhin fand er mich bis vor Kurzem auch dumm, blöd und was weiß ich nicht alles.“

„Schön, dass mal wieder jemand über mich redet!“ Die Person, die am besten nicht hätte auftauchen sollen, stand gehässig winkend hinter ihnen und schien sich sehr gut zu unterhalten. „Eure Stunde der Wahrheit ist echt interessant, damit könntet ihr ins Fernsehen gehen.“

„Das ist keine Stunde der Wahrheit, sondern ein privates Gespräch unter Freunden“, berichtigte Johannes ihn automatisch, „also geht es dich gar nichts an.“

„Doch, ihr redet über mich, also geht es mich ganz besonders etwas an.“ Ohne zu fragen quetschte sich Tobi zwischen Johannes und Tanja auf die Bank und schaute ersteren prüfend an. „Wieso gehst du davon aus, dass ich, Tobi der Coole auf dich, Johannes den Pseudostreber, stehe? Hast du Beweise? Bilder? Tonaufzeichnungen? Tagebucheinträge?“

„Nein, aber ich hab Augen im Kopf, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Ich sehe dich jeden Tag und merke ja wohl, wenn sie jemand komisch benimmt.“ Hoffentlich stimmte das alles, was er gerade erzählt hatte, sonst hätte er sich auf der ganzen Linie blamiert. Nicht unbedingt vor Tanja, die war es gewöhnt, dass er manchmal seltsame Dinge machte, aber vor Tobi. Und vor dem wollte er das auf keinen Fall zugeben.

„Ach, und du bist natürlich die Normalität in Person?“ Tobi hustete künstlich vor sich hin, bis er wieder eine seiner typisch schrecklichen Tobiideen hatte, das sah man ihm immer an.

„Ich leih ihn mir nur kurz aus, bis gleich“, versicherte er Tanja, schnappte sich sein potentielles Opfer und schleifte ihn in die bekannte, wenig beobachtete Ecke des Schulhofes.

„Wenn du mich wieder schlagen willst...“

„Will ich gar nicht, denk nicht immer so negativ von mir. In einem von fünftausend Fällen will ich nämlich mal was anderes von dir.“ Schon wieder fing er an zu grinsen, fast wie ein Haifisch. Unheimlich.

„Muss das hier sein?“ Johannes wollte nicht einmal wissen, um was für einen Fall es sich handelte, aber er vermutete nichts Gutes; keine Schläge bedeuteten bei Tobi immer etwas anderes Unangenehmes.

„Ja, ich glaube nicht, dass ich es mitten auf dem Pausenhof tun sollte.“ Obwohl man Tobi ansah, dass er dagegen nichts einzuwenden hatte. Vielleicht sollte er schnell flüchten, bevor es zu spät war.

Doch anscheinend konnte Tobi seit neustem Gedanken lesen, denn er hielt Johannes so fest wie er konnte – und das tat ziemlich weh – an den Schultern fest, um jeden noch so schlechten Fluchtversuch von Anfang an zu unterbinden. Dumm nur, dass es auch noch funktionierte.

Somit hing Johannes sehr ungemütlich zwischen Tobi und einer Hauswand in seinem Rücken und wünschte sich, Tanja würde vorbei kommen und ihn retten. Selbst wenn er dadurch noch mehr Punkte auf der Luschenskala bekam.

„Du hast dich doch selbst beschwert, weil du keine Ahnung hast, ich will dir sozusagen helfen“, erklärte Tobi feierlich, was allerdings durch seine alles andere als ernste Miene sofort zerstört wurde. Der Junge besaß keinen Sinn für geschmackvolles Auftreten.

„Muss das sein?“ Er wollte sich nicht von Tobi helfen lassen, schon gar nicht auf dem Schulhof. Und vor der verwendeten Methode gruselte es ihn auch ein wenig, allerdings aus dem Grund, dass er sich nicht frei bewegen konnte und sich nicht gegen gemeingefährliche Übergriffe wehren konnte.

„Theoretisch schon, praktisch auch.“ Der Griff um Johannes‘ Schultern lockerte sich ein Stück. „Komm, gibs zu, du willst es doch auch.“

„Nein!“ War er sich da ganz sicher? Nicht hundertprozentig. „ Na gut, also fast nein!“

„Falsche Antwort“, grinste Tobi beinahe fröhlich und hielt sich nicht mehr zurück; er küsste Johannes so unsanft auf den Mund, dass dieser zuerst annahm, Tobi wollte ihn ersticken statt etwas Anderem, bis er sich langsam an die eher ungewöhnliche Technik seines Klassenkameraden gewöhnt hatte und sich zu entspannen begann. Möglicherweise überdachte er seine Meinung gegenüber Tobi ein wenig, aber auch nur ein wenig, man musste es nicht gleich übertreiben.

„Und, bist du gestorben?“, wollte Tobi wissen, nachdem er sich von Johannes gelöst und ihn interessiert angesehen hatte.

„Am Anfang wars grässlich.“ Der schlechteste Mordversuch in der Geschichte seiner Heimatsstadt. „Aber irgendwann ging es.“

„Gibs zu, du fandest es mehr als ‚ging gerade so‘.“

„Ich sag jetzt gar nichts mehr“, entschied Johannes entschlossen, „bis später.“

Wirklich geholfen hatte ihm das Theater nicht, nur wusste er jetzt absolut sicher, dass da einiges nicht so sein sollte, wie er und Tanja es gerne hätten.

„Ja, freu dich schon mal auf den Unterricht!“, rief ihm Tobi hinterher – seit wann hatte dieser so unverschämt gute Laune? –, doch Johannes überhörte es schnell.
 

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Wow, 20. Kapitel geschafft, mal sehen, wie viele es noch werden. :)

Es freut mich, dass so viele Leute jede Woche verfolgen, was Tobi und Johannes wieder anstellen.

„Und, gab es Verletzte?“, fragte Tanja neugierig, als Johannes kurz vor Ende der Pause endlich wieder bei ihr auftauchte und sich theatralisch neben sie auf die Bank fallen ließ.

„Ja, meine Nerven und mein Stolz fordern Ruhe. Tobi ist vollkommen wahnsinnig geworden! Wenn uns jemand gesehen hätte...“ Dann wären sie bald das Gesprächsthema Nummer eins an Schule und Umgebung.

„Okay, das sagt alles.“ Und ihr Gesichtsausdruck noch mehr; sie vermutete anscheinend deutlich pikanterer Vorfälle, als tatsächlich geschehen war. Typisch Mädchen.

„Nein, Tanja, wir haben nicht miteinander geschlafen!“ Nur fiktiv in seinen Träumen und das zählte hier nicht.

Aber innerhalb von fünf Minuten sein erstes Mal zu erleben – länger konnten sie gar nicht weg gewesen sein – klang ziemlich billig und alles andere als romantisch, obwohl Romantik und Tobi sich von vorneherein ausschlossen und er selbst gehörte ebenfalls nicht zu den Leuten, denen das gefiel. Zuviel schlechte Erfahrung mit kitschigen Geschwafel zwischendurch aus Millionen schlechten Liebesfilmen. Natürlich alle unabsichtlich gesehen.

„Wäre auch sehr unrealistisch gewesen. Aber so wie du dich aufgeregt hast, muss er dich mindestens geküsst haben, stimmts?“

„Ja, richtig.“ Warum nicht gleich so statt mit fragwürdigen Verdächtigungen? Johannes wusste ja noch nicht einmal genau, wie Männer miteinander schliefen. Zwar konnte er sich das einigermaßen zusammenreimen, aber erstens hatte ihn das bis jetzt nie interessiert und zweitens verstand er nicht, wie man das in irgendeiner Weise toll finden sollte. Das musste doch arschweh tun; im wahrsten Sinne des Wortes.

„Und, weißt du jetzt, ob was aus euch beiden werden könnte oder nicht?“ Wieso nervte sie ihn damit schon wieder? Wollte sie ihn auf dem schnellsten Wege mit jemandem verkuppeln, damit sie mehr Zeit für Kevin hatte?

„Nein, das brauch seine Zeit. Du kennst Kevin schließlich auch seit fast zehn Jahren und plötzlich ist er beinahe mit dir verheiratet.“

„Weil ich ihn auch die ganze Zeit nur als 'dein Bruder, der ständig vor der Glotze hängt' gesehen habe, aber auf der Party war er dann 'Kevin‘, verstehst du?“

„Ja...“ Eigentlich nicht, aber er schob es in die Kategorie 'Frauenlogik', um sich nicht einzugestehen, das sein Kopf momentan noch mit ganz anderen Problemen gefüllt war. „Aber das hat doch dann auch etwas gedauert.“

„Nein, eigentlich nicht, bei uns war das schon nach ungefähr zwei, drei Stunden klar.“ Sie begann leicht zu lächen, als sie sich an ihren tollen Abend erinnerte. Schön für sie.

„Vielleicht liegt das daran, dass ihr keine zwei Jungs seid, die sich eigentlich gar nicht wirklich leiden können und sich alles vielleicht nur einbilden“, warf Johannes ein und merkte sofort, dass er sich mit diesem Satz selbst verarschte. Er stimmte nämlich schon längst nicht mehr, das war ihm klar, aber er schafft es nicht, das vor Tanja zuzugeben.

„Johannes, mach dir wegen der ganzen Sache keinen Kopf. Hock dich zuhause hin, denk nach, lass dich von niemanden beeinflussen und irgendwann wirst du merken, wie du es gerne hättest. Und wenn du dich nicht daran hältst, komm ich vorbei uns schlag dich, kapiert?“ Ihr Ratschlag klang ganz gut, nur der Schluss störte ihn, den würde er einfach vernachlässigen.

Genau in diesem Moment kündigte die Klingel das Ende der Pause an, alle Schüler strömten genervt zurück in ihre Klassensäle, unter ihnen auch Tanja und Johannes, die sich aus Prinzip kein Stück auf die kommenden Stunden Deutsch und Geschichte freuten. Immerhin hatten sie heute die letzten beiden Stunden Sport, da musste man weder wirklich denken noch schreiben.

Wie immer nach der Pause herrschte im Klassensaal das totale Chaos; durch die Unterbrechung war die allgemeine Motivation auf den Nullpunkt gesunken und da der Lehrer sich unendlich viel Zeit ließ, imitierte mindestens zwei Drittel der Klasse den nächstgelegenen Kindergarten.

„Ist ja fast lauter als auf dieser Flaschenparty“, stellte Johannes unzufrieden fest und bahnte sich durch eine Schar tuschelnder Mädchen – wollten die wieder Vorurteile erfüllen? – den Weg zu seinem Platz, wo schon Tobi fleißig dabei war, seinen Block anzupinseln. Sollte er ruhig, solange er keine unseriösen Wörter darauf schrieb, würde es ihm egal sein. Und selbst wenn, der Block gehörte nicht ihm.

Nein, stop, das war sein Block, nicht Tobis Block, der soeben mit der schönen Aufschrift 'Blindfisch des Jahrhunderts' bekleistert wurde. So ging das aber nicht!

„Hände weg von fremden Eigentum, Tobi! Ich werf ja auch nicht dein Chemiebuch aus dem Fenster und freu mich drüber, oder?“ Obwohl das als gerechte Strafe gut wäre, wenn sein Block nicht sofort in Ruhe gelassen wurde.

„Stell dich nicht immer so an, ich will dir damit nur sagen, dass du mal dein Hirn etwas anstrengst, damit du bald und nicht erst in fünftausend Jahren auf ein eindeutiges Ergebnis kommst.“ Mit einem Schubs stieß er sein Papieropfer auf Johannes‘ Platz und schaute ihn vielsagend an. „Oder hast du Angst, deinen nicht vorhandenen Ruf als Vorzeigehetero zu verlieren und im schlimmsten Fall in derselben Kategorie wie ich zu landen?“

„Erzähl keinen Quatsch, sowas habe ich nie behauptet. Man brauch halt Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass man möglicherweise nicht nur auf Mädchen steht.“ Sondern auch auf Pseudomädchen mit einer Dauernervfunktion. Wollten ihn die Leute alle drängen, sich sofort und ohne mal für drei Sekunden sich Gedanken zu machen Tobi an den Hals zu werfen und genau wie die anderen 200 Exfreunde am Ende festzustellen, dass man sich mit einer Beziehungen vielleicht etwas übernommen hatte?

„Mann, du hattest seit Samstag Zeit, wie lang dauert das denn bei dir? Pass auf, sonst schnapp ich mir deinen Bruder. Oder Tanja und dann hast du Pech gehabt.“ Sein schadenfrohes Grinsen über diese unglaublich blöde Drohung brachte Johannes höchstens zum Seufzen. Mit so unterbelichteten Menschen schlug er sich rum; und stand kurz davor, sich mit einem besonders gefährlichen Exemplar näher zu beschäftigen.

Da kam die Frage auf: Wer war hier jetzt eigentlich dümmer?
 

Mit zehn Minuten Verspätung begann die längste Deutschstunde in Johannes Leben – zumindest bildete er sich das ein – und das lag nicht nur an der unsympathischen Interpretation, die sie zusammen erarbeiteten, sondern auch am Störfaktor genau neben ihm, der sich so oft es ging einen Spaß daraus machte, Johannes anzugraben. Die verdeckte Phase hatte am Samstag geendet, nun begann er mit deutlich offensiveren Mitteln.

Und Johannes war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, Tobi heftig eins auf die Mütze zu geben und es einfach nur zu genießen.

Ein paar Berührungen am Unterarm konnte er durchlassen, das sahen die anderen von ihren Plätzen hoffentlich nicht besonders, aber als sich Tobis Hand gegen Ende der Stunde fast unter sein T-Shirt verirrte, musste er eingreifen, bevor sein Nachbar auf noch hinterhältigere Ideen kam. Außerdem schaute ihr Deutschlehrer sie schon seit fünf Minuten schräg von der Seite an; das bedeutete nichts Gutes. Reichte nicht das Gerücht über ihre anstehende Hochzeit?

Während des Geschichtsunterrichts hielt sich Tobi zum Glück weitgehend zurück, sodass Johannes nicht alle drei Minuten Fummeleien über sich ergehen lassen musste und vor der schwierigen Wahl des Abweisens oder Zulassens stand.

„Ihr hattet es ja sehr nötig“, meinte Tanja, als sie im Schneckentempo zur Turnhalle hinübergingen. „Wollt ihr das nicht lieber auf nach der Schule verschieben? Ist ungefährlicher.“

„Wars so deutlich?“ Hoffentlich hatten sich seine Klassenkameraden einmal im Leben richtig intensiv auf den Unterricht konzentriert.

„Wenn man länger hingesehen hat, schon.“ Manchmal sollte man besser auf Tanjas ehrliches Urteil verzichten, wenn man es nicht vertrug. Du Wahrheit war böse und klaute kleinen Kindern die Süßigkeiten.

In der Jungenumkleide hielt wieder niemand seine Klappe, jeder quasselte irgendeinen Schrott und Johannes befürchtete schon fast, dass möglicherweise er selbst darin vorkam, aber es wurde lieber über wichtigeres diskutiert, der Sportunterricht beleidigt und dumme 'deine Mutter' Witze gerissen. So begann immer diese Stunde.

Das momentane Thema fand Johannes absolut überflüssig: Volleyball. Man hüpfte dabei nur peinlich in der Halle herum, bekam Bälle ins Gesicht oder renkte sich beim Baggern die Arme aus. Eindeutig nicht seine Lieblingssportart, da fand er sogar Tennis spannender.

Zum Aufwärmen jagte ihr Lehrer sie mindestens eine Viertelstunde durch die Halle, wobei Johannes und Tanja als eine der letzten hinterherschlichen, und zwang sie zum Brennballspielen. Dieses Spiel lag auf einer Beliebtheitskala von eins bis zehn bei Johannes auf -4836, weil er entweder der Depp war, der den Ball zu kurz warf und Ärger mit seinen Mitspielern bekam, oder als erster verbrannte. Einfach frustrierend, da machte so ein Grundschulspiel auch keinen Spaß, wenn man sich vor allen zum Affen machte. Zum Glück erging es seiner Klassenkameradin Corinna nicht besser, deshalb fühlte er sich nicht ganz so allein als Loser und das beruhigte ihn fast schon wieder.

Die Hauptübungen mit dem Volleyball funktionierten heute einigermaßen, obwohl er einige Male den Ball quer durch die Halle feuerte und dabei drei Leute traf. So konnte man sich auch Freunde machen.

Tanja stellte sich um einiges geschickter an; trotzdem erwischte sie ihn einmal beim Spiel gegen Lisa und Corinna aus Versehen mit dem Ellbogen an der Seite und musste sich danach ausgiebige bei ihm entschuldigen, weil der Ball eigentlich auf seiner Seite gewesen war.

„Danke für den kleinen Mordanschlag“, presste er hervor und funkelte sie böse an. „Wollt ihr mich alle loswerden?“

„Eigentlich nicht, war doch keine Absicht.“ Schuldbewusst strich Tanja ihr T-Shirt glatt. „Und außerdem hab ich ja den Ball noch bekommen und wir haben sogar gewonnen, also freu dich.“

„Meine Gesundheit gegen ein Ballspiel, toller Tausch.“ Das nächste Mal spielte er mit Jakob oder Martin, die trafen überhaupt nicht, also bestand auch keine Verletzungsgefahr, außer man stolperte über sie, weil sie faul in der Gegend herumstanden und ihre Mitschüler beim Arbeiten zusahen.

„Ist jetzt gut, ich habe mich entschuldigt und mehr werde ich auch nicht tun, Herr Dauernörgler.“

„Ich nörgel nicht dauernd!“ Jedenfalls nicht so permanent wie manche alte Leute das taten.

„Aber oft genug“, neckte ihn weiter, bis sie eine weitere Runde spielen mussten, dieses Mal gegen jemand anderes. Die glücklichen waren Tobi und einer der beiden Faulpelze, der während des Spiels so oft wegen seines nicht vorhandenen Einsatzes von Tobi getreten wurde, dass Tanja und Johannes irgendwann nur noch beobachteten, die Tobi ihn über das Feld jagte und ihn dabei beschimpfte. Aggressionsabbau einmal anders.

„Oh man, das nächste mal schlag ich ihn nieder“, knurrte Tobi, als er und Johannes als letztes in der Umkleide hockten und sich umzogen. „So eine Flasche brauch mal einen Tritt in den Arsch.“

„Tu, was du nicht lassen kannst“, versuchte Johannes ihn wieder zu provozieren, doch Tobi schien vom Volleyball durch die Halle werfen so fertig, dass er nicht darauf einging.

„Dieses Spiel ist aber auch idiotisch“, beschwerte sich Tobi weiter und Johannes fragte sich, weshalb er als Dauernörgler betitelt worden war, wo doch sein Lieblingsmitschüler fast nur etwas zum Aussetzen hatte. Ungerechte Welt. „Ich bin voll verspannt.“

„Kauf dir jemanden, der dich massiert“, schlug Johannes vor und bereute es gleich, da er somit Tobis gesamte Aufmerksamkeit auf sich gerichtet hatte.

„Wieso kaufen? Du gammelst hier rum und tust nichts, also kannst du genauso gut das übernehmen.“ Anscheinend fand er seinen eigenen Vorschlag mehr als genial, so wie er grinste.

„Bin ich dein Diener?“, wollte sich Johannes aus der Affäre ziehen, wurde allerdings ignoriert und auf die nächste Holzbank gedrückt; Tobi entledigte sich seines Oberteils und setzte sich vor ihm auf den unbequemen Boden.

„Los, fang an, Blindfisch, oder hast du noch nie einen anderen Kerl angefasst?“

„Nein, eigentlich nicht.“ Wieso hätte er auch? Jungs standen nicht in Johannes‘ Zuständigkeitsbereich, bis auf seinen Bruder und seinen Vater. Und die gehörten in eine andere Schublade als Herr T. Lohr.

„Gut, dann lernst du es halt“, bestimmte Tobi, nahm Johannes‘ Hände und legte sie auf seine Schultern. „So, Problem gelöst, mach endlich, ich will heute noch nach Hause.“

„Nicht so freundlich“, brummte Johannes und begann leichten Druck auf die Schultern des Nervfischs vor ihm auszuüben. Dürfte nicht so schwer sein, einfach nach Gefühl zupacken, kleine Kreise ziehen und so weiter, das bekam er schon hin, wenn er sich Mühe gab.

Entspannt schloss Tobi die Augen, seufzte leise und lehnte seinen Kopf an Johannes Knie, also stellte er sich nicht so blöd an wie befürchtet.

Eigentlich hatte Johannes vorgehabt, nach fünf Minuten das Weite zu suchen, aber daraus wurde nichts; sein Fan bewegte sich kein Stück vom Fleck und auch er selbst wollte sich gar nicht von dessen weicher Haut trennen. Es war wie verhext, er kam auf Dauer nicht von dem Typen los. Langsam wurde es wirklich kritisch mit seinem Heteroleben.

„Ich glaub, das langt“, empfand Tobi nach ungefähr einer halben Stunde. „Willst du noch unbedingt deine Bezahlung?“

„Als würdest du mir Geld geben.“ Mit dieser Vorausdeutung lag Johannes genau richtig, der erwähnte Lohn entpuppte sich als einer dieser 'Ich-bring-dich-um-Küsse', den er nur allzu gern erwiderte und mit der netten Aufforderung „Ich will bis Samstag eine Antwort, lahme Schnecke, sonst hat dein Bruder bald eine neue Freundin“ verließ Tobi die Umkleide.

Das würden noch chaotische Tage werden und der Samstag erst recht.

Auf dem Weg nach Hause hatte Johannes sich fest vorgenommen, nicht sofort bei Tanja anzurufen und sie zu nerven, um nicht den Anschein zu erwecken, überfordert zu sein. Das wusste sie ja sowieso schon, außerdem würden sich seine Eltern aufgrund der vielen Telefonate in letzter Zeit wundern und zusätzlich neugierige Erwachsene verkraftete er auf keinen Fall.

Und Telefonieren blieb für ihn einfach das Mädchenhobby schlechthin, egal ob Vorurteil oder nicht, und das würde er nicht so schnell ändern können, obwohl seine Schwester auch nicht pausenlos an der Strippe hing und seine Mutter schon gar nicht. Außer, sie tat das, wenn er in der Schule war. Dunklen Familiengeheimnissen kam er hier auf die Schliche, er sollte bei TKKG mitmachen, falls sie noch einen Platz frei hatten.

Aber natürlich schaffte es Johannes Sander, grandiose drei Minuten sein Vorhaben einzuhalten, das Telefon nur von Weiten zu betrachten, bis er es mit einem kleinen Seufzer über seine eigene Unfähigkeit in die Hand nahm, sich im Stillen für sein inkonsequentes Verhalten ausschimpfte – die Supernanny wäre entsetzt gewesen – und zum tausendsten Mal Tanjas Familie belästigte.

„Lass mich raten. Irgendwas war mit dir und deinem Fastehemann Tobi“, fing Tanja gleich an, bevor Johannes sie richtig begrüßen konnte. „Hat er dich in der Umkleide bespannt? Befummelt? Ausgelacht?“

„Naja, so schlimm auch nicht.“ Wenn jemand angefasst worden war, dann höchstens Tobi von ihm. Weltpremiere.

„Mann, Johannes, hör auf, immer in Rätseln zu schwätzen, wir sind hier nicht beim Orakel von Delphi. Dein Bruder sitzt gerade neben mir und langweilt sich zu Tode, weil er eigentlich etwas mit mir unternehmen wollte, statt mir beim Telefonieren zuzuhören. Also komm bitte mal auf den Punkt.“ Klang sie genervt? Nicht wirklich, dann brauchte er sich auch nicht unnötig zu beeilen.

Aber was zum Geier machte Kevin schon wieder bei ihr? Johannes hatte erwartet, dass sein Bruder sich wenigstens einmal so 'normal' wie vor einer Woche anstellen und das Wohnzimmer in Beschlag nehmen würde. Aber daraus wurde irgendwie nichts, vielleicht hatte Tanja ihm etwas ins Essen getan oder entführen lassen?

„Hallo, lebst du noch? Erzähl endlich, was ihr gemacht habt, sonst muss ich Tobi persönlich danach fragen.“

„Ja ja, ist gut.“ So wie er Tanja kannte, endete das hochgradig peinlich für ihn selbst, lieber berichtete er ihr nun kurz und knapp, was in der unscheinbaren Jungenumkleide vor nicht einmal einer halben Stunde geschehen war und weshalb er seit zehn Minuten die Leitung belegte.

„Du stellst dich echt an.“

„Hä?“ Zugegeben, das hätte er nun nicht erwartet und das merkte man ihm auch an.

„Zum tausendsten Mal: Steh dazu, wie es ist und wenn du was von ihm willst, ist gut und wenn nicht, freut sich halt ein anderes Mädchen, dass sie bald an dir hängen darf.“

Aus dem Hintergrund ertönte ein deutlich vernehmbares Geräusch der Überraschung und Johannes fiel entsetzt ein, dass sein Bruder immer noch live mithörte. Peinlich, peinlich.

„Danke für den Rat.“ Den sie ihm gefühlte 200 Mal schon an den Kopf geworfen hatte. „Bis morgen.“

Toll! Nun wusste nicht nur seine halbe Klasse, dass da möglicherweise etwas zwischen Nervfischi und ihm lief, sondern auch Kevin, der das Ganze bestimmt nicht so locker sah wie Tanja, schließlich hatten Männer fast immer riesige Probleme mit Homosexualität. Als ob sie selbst davon betroffen wären, wenn eine einzige Person in ihrer Umgebung das war, hirnlose Massenpanik für doofe, fand Johannes auf Dauer.

Außer natürlich, er war durch zu viel Kontakt mit Tobi schwul – oder auch nur bi – geworden. Das konnte ihm nicht mal Dr. Sommer weismachen.

Zur Ablenkung kritzelte er seine Hausaufgaben aufs Papier, beobachtete vom Fenster aus wie seine Nachbarn sich ein Kämpfchen um den besten Parkplatz lieferten und dachte nach; nichts Neues also, vielleicht fand er im Internet nette Dinge zum Zeitvertreib.

Gegen sechs Uhr und einer großen Zahl Misserfolge – wer niveauvoll unterhalten werden wollte, durfte kein Internet besitzen – hörte er im Flur die Tür aufgehen und wie befürchtet stand wenig später Kevin in seinem Zimmer; mit einem Blick, als hätte Johannes behauptet, er wäre sein Vater – wie in 80% dieser schlechten Filmen – und die Großmutter gleich dazu.

„Hi Kevin.“ Irgendwie musste er das Unvermeidbare ein wenig heraus zögern.

„Stimmt das wirklich?“, fragte sein Bruder leicht nervös und setzte sich neben ihn an den Schreibtisch. „Oder war das ein dummer Witz von Tanja?“

Klar, mit solchen Dingen verarschte sie regelmäßig ihre festen Freunde, weil sie auch so oft welche hatte.

„Sagen wir es mal so.“ Wenn er jetzt eine halbe Stunde lang wages Zeug ohne genaue Aussage herunter leierte, verlor Kevin vielleicht schnell die Lust daran und machte die Fliege. „Ungefähr zehn Prozent der Weltbevölkerung ist homosexuell, wie groß ist also die Wahrscheinlichkeit, dass ich es auch bin?“

„Jo, hör auf mit dem Mathegequassel und sags mir einfach. Ich bin dein Bruder, ich habe ein Recht darauf zu wissen, auf wen oder was du stehst.“ Kevin klang fast schon beleidigt.

„Aber mir nicht erzählen, was zwischen dir und Tanja läuft!“ Gleichberechtigung für alle wennschon.

„Das ist auch was anderes“, behauptete Kevin nicht sehr überzeugend, „aber komm, es geht um Tobi. Den Tobi, der dich mit einem Physikbuch geschlagen hat, der sonst noch öfters gewalttätig war. Und auf den sollst du plötzlich stehen? Der erste April kommt erst noch.“

„Die Chancen liegen bei 89,847%“, grinste Johannes und wich einem genervten Fußtritt seines Bruders aus. Wie schön man andere Menschen mit unsinnigen Zahlen in den Wahnsinn treiben konnte.

„Naja, dann müssen Mama und Papa sich halt auf weniger Enkelkinder einstellen“, meinte Kevin sachlich und blätterte eins von Johannes‘ Heften durch, als suchte er nach einem Beweis des Geständnis. „Werden sie schon überleben.“

Auf dieser Antwort war Johannes nicht vorbereitet gewesen und das schien Kevin zu freuen.

„Hast du ehrlich geglaubt, ich mach jetzt ein riesiges Theater deshalb? Tanja hätte mir dafür ziemlich die Meinung gegeigt. Außerdem hatte sie ungefähr vier Stunden Zeit, mich geistig darauf vorzubereiten. Weiß Tobi schon von seinem Glück?“

„Er ist derjenige, der mich unbedingt entheteroisieren will“, stellte Johannes klar, „bis Samstag habe ich Zeit, ihm seinen Erfolg mitzuteilen.“

„Wow, was für eine Entscheidungsfreiheit.“ Kopfschüttelnd klappte Kevin das untersuchte Heft wieder zu. „Ich muss auch noch Aufgaben machen, bis später.“

Damit verschwand er in sein eigenes Zimmer und Johannes widmete sich den interessanten Überlegungen, wie es wohl wäre, mit Tobi eine richtige Beziehung zu führen.

Irgendwie beunruhigte ihn die Vorstellung von einem Tobi, der ständig an ihm klebte, ihn abknutschte und sogar einmal zugab, in ihn verliebt zu sein.

Wollte er sich das tatsächlich antun? Nicht, dass seine Nerven nach knapp einer Woche streikten oder sich sein kleiner Rest Intelligenz völlig verabschiedete.

Das musste er sich alles noch ein paar Mal ganz genau durch den Kopf gehen lassen.
 

In den nächsten zwei Tagen versuchte Tobi ihn so wenig wie möglich zu bedrängen, um ihm vorzugaukeln, in irgendeiner Weise frei wählen zu dürfen und am Samstag schließlich triumphierend Johannes abschleppen zu können. Kleiner Schleimer, das funktionierte nicht!

Außerdem schaffte es Tobi inzwischen nicht mehr, einen Tag lang Johannes nicht mehr anzurühren, küssen ging gerade noch so. Wahrscheinlich fühlte er sich schon wie der Sieger des Jahres.

Wenn Johannes ihn nun einfach abblitzen ließ, wäre das die perfekte Rache für die ersten drei Wochen Gewalttätigkeiten gewesen und Tobis Selbstsicherheit wäre vielleicht ein klein wenig angekratzt. Kratzer im Lack gefielen Männer ja überhaupt nicht.

Diesen hinterhältigen Plan schlug sich Johannes aber nach fünf Minuten gründlicher Überlegung wieder aus dem Kopf, da er erstens nicht so dreist handelte und er zweitens auf diese unverschämt guten Belästigungsattacken von Tobi nicht komplett verzichten wollte. Immer musste nicht sein, aber so zweimal in der Woche gefiel ihm doch ziemlich.

Was ihn schließlich zu einer Entscheidung brachte, die er am Donnerstag morgen kurz vor Schulbeginn Tobi vor dem Schultor mitteilte.

„So, was willst du von mir?“ Am frühen Morgen schien das Hirn des dauernörgelnden Gelegenheitsschlägers noch nicht ganz auf der Höhe zu sein.

„Dreimal darfst du raten.“ Ganz sicher nicht Deutsch abschreiben, das konnte er allein besser als mit Tobi zusammen.

„Kein Bock, sags einfach“, forderte dieser ihn auf, aber an seinem leichten Grinsen – Haifisch ließ grüßen – erkannte man, dass er vielleicht nur so tat, als wäre er dumm wie Stroh.

„Ich hab lang darüber nachgedacht.“ Darüber schon, nur über seine Wortwahl im Moment nicht. In schlechten Soaps wurden so irgendwelche vorhersehbaren Ereignisse angekündigt. Obwohl seine Aussage auf irgendeine Weise voraussehbar war. Und vielleicht lebten sie tatsächlich in einer miesen Soap mit einem untalentierten Drehbuchautor. „Ich sag ja.“

„Das heißt, du willst mit mir zusammen sein, Blitzmerker?“

„Ja.“ Wie oft denn noch? „Aber könnten wir erst so etwas wie... eine Probebeziehungszeit machen? Von der außerdem nicht so viele erfahren sollen? Dann wäre das Risiko geringer, dass dich jemand auslacht, falls es nicht hält.“

„Äh...“ Damit hatte Tobi scheinbar nicht gerechnet. „Wenns unbedingt sein muss. So ungefähr wie die Verlobung? Man testet erstmal, wie dumm der andere ist um dann festzustellen, dass man doch lieber seinen Bruder heiratet?“

„Ja, so ungefähr könnte man das sagen.“ Wie war Tobi auf den komischen Vergleich gekommen? Lag wahrscheinlich an der Uhrzeit.“

„Geil, dann kann ich alles mit dir anstellen!“, freute sich Tobi und packte dabei so fest Johannes‘ Handgelenk, dass er befürchtete, es würde gleich abfallen. „Wie lange soll die Probezeit gehen? Drei Tage? Vier?“

„Zwei Wochen“, legte Johannes fest und unterdrückte einen Schmerzensschrei, als seine Hand systematisch zerkleinert wurde.

„Hallo, weißt du, wie lang das ist?“

Den Kommentar, dass dies die durchschnittliche Dauer einer normalen Beziehung bei Tobi darstellte, verkniff Johannes sich hastig und versuchte stattdessen, seinen sozusagen neuen festen Freund dazu zu bringen, ihn entweder loszulassen oder nicht weiter zu beschädigen.

„Ich weiß es, ich kann einen Kalender lesen. Ist ja nicht so, als dürftest du mich die ganze Zeit nicht anfassen.“ Um das zu verdeutlichen, drückte Johannes Tobi einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Endlich probierte er selbst auch mal die Offensive aus, Fortschritt.

„Na gut, wenn das so ist, hab ich nichts dagegen“, meinte Tobi, gab Johannes Hand frei, legte ihm stattdessen einen Arm um die Hüfte und schleifte ihn wie sein neustes Ausstellungsstück in den Klassensaal.

Was hatte er an dem Satz 'Es sollen nicht viele davon erfahren' nicht verstanden?

„Johannes, warum grinst Tobi schon die ganze Zeit?“, fragte Tanja beunruhigt, als sie noch vor Unterrichtbeginn an Tanjas Tisch standen und hofften, dass ihr Lehrer leider die Treppe hinunter gesegelt und deshalb nicht mehr in der Lage war, den Unterricht zu leiten und sie somit eine schöne Freistunde bekamen.

„Nö, er hat einen guten Grund“, gab Johannes zu, dem es zum Glück noch gelungen war, Tobi knapp vor dem Klassenzimmer klar zu machen, dass sie nicht wie aneinander geklebt in den Saal spazieren konnten ohne verdächtig auszusehen. Dann wäre nämlich aus der 'geheimen Testbeziehung' schnell die öffentliche 'wir sind schwul und stolz drauf Beziehung' geworden. Und darauf hatte Johannes wirklich keine Lust, zum Schluss hörten das seine Eltern und wie sie darauf reagierten – vor allem, da sie nicht direkt von ihm benachrichtigt worden waren – wollte er nicht unbedingt wissen.

„Aha, und welchen? Geburtstag hat er erst in ein paar Monaten.“ Aus irgendeinem Grund schien Tanja nicht in Erwägung zu ziehen, Tobis gute Laune könnte möglicherweise mit Johannes zusammenhängen. Wahrscheinlich glaubte sie einfach nicht, dass er sich so mir nichts dir nichts von Herrn L. ‚umschwulen‘ ließ oder wie man das am besten ausdrücken sollte. 'Umbien' klang nämlich nicht sehr intelligent.

„Tobi hat jetzt inoffiziell einen festen Freund. Und dreimal darfst du raten, wie der heißt.“ Wenn sie das nicht verstand, würde er mal seinen Bruder fragen, ob er in einer unbeobachteten Minuten Tanjas weibliche Intuition gestohlen hatte.

Doch endlich ging ihr ein Licht – oder auch zwei – auf und sie schaute sichtlich überrascht von Johannes zu Tobi und wieder zurück, weil sie mit dem Ergebnis noch nicht in so kurzer Zeit gerechnet hatte. Gut, er selbst auch nicht, aber bei und durch Tobi war viel möglich. Mehr, als man eigentlich bei dessen Kindergartenbenehmen oft vermutete.

„Aber erst seit nicht einmal fünf Minuten“, fügte Johannes noch hinzu, damit sie sich nicht sofort wieder schlecht informiert fühlte. Andererseits hätte er auch als kleiner Racheakt... nein, hätte er sowieso nicht, so ein nachtragender Mensch war er einfach nicht, das schaffte er nicht. Zu anstrengend.

„Eigentlich müsste ich dich dafür schlagen, dass du dir nicht mehr Zeit zum Überlegen genommen hast, aber erstens kann ich daran auch nichts mehr ändern und zweitens will ich mich nicht mit Tobi anlegen, also lass ich es lieber.“

„Find ich auch richtig so von dir“, schaltete sich ein gewisser jemand in ihre Unterhaltung ein – spionierte er ihnen hinter her oder weshalb wusste er immer, wann er reinreden sollte? – und zeigte deutlich seine Besitzrecht an Johannes, indem er ein weiteres Mal seine Hand an dessen Seite platzierte. Da lernte jemand nicht gerne dazu.

„Tobi, hab ich vorhin meine Forderung auf chinesisch gestellt?“, beschwerte sich Johannes und schob die Hand seines eigensinnigen Freundes weg, hielt sie aber etwas länger als nötig gewesen wäre fest. Etwas musste er die Situation auch ausnützen dürfen.

„Nein, aber ich sehe nicht ein, weshalb ich dich nicht anfassen soll. Ich steh auf dich, du auf mich, wo liegt das Problem?“ Nun begann er auch noch herum zu zicken und das so früh am Morgen. Musste das unbedingt sein?

„Die tausend Leute, die drum herumstehen“, erklärte Johannes ihm, obwohl er nicht annahm, dass Tobi dafür Verständnis aufbrachte, eher bezeichnete er ihn als pingelig und verklemmt. „Wenn wir alleine sind, kannst du machen, was du willst.“ Von Tanja erntete er nur einen schrägen Blick, von Tobi ein zufriedenes Grinsen. „Aber könnten wir uns wenigstens in der Schule normal benehmen?“ Etwas unruhig fummelte er an Tanjas Mäppchen und riss dabei fast den Reißverschluss ab. Kam davon, wenn man sich ein Billigding aus Sonstwo zulegte.

„Wieso sollten wir? Diese ganzen tollen Heteropaare machen ja auch wie bekloppt auf dem Schulhof herum, wieso müssten wir uns dafür irgendwo in ein kleines Räumchen verziehen? Wenn die ein Problem damit haben, können die gerne woanders hinsehen.“

„Die sind ja nicht unbedingt das Thema, ich find es allgemein irgendwie...“ Nun hatte er Beschreibungsschwierigkeiten, sowas blödes.

„Johannes will uns einfach sagen“, übersetzte Tanja für Normalsterbliche, „dass ihm das ganze ziemlich peinlich ist, weil er noch nie mit jemandem zusammen war.“

„He, das stimmt doch gar nicht!“, versuchte das missverstandene Opfer hinterhältiger Wortfindungsstörungen Tanja zu stoppen, doch natürlich fand Tobi dieses Thema furchtbar spannend.

„Deshalb hast du dich immer so angestellt. Muss man ja wissen.“ Fies grinsend zupfte er Johannes am T-Shirt herum, um ihn zusätzlich noch etwas zu ärgern.

„Eigentlich müsstest du das wissen, du hast es nur verdrängt“, brummte Johannes, verscheuchte die belästigenden Finger von seiner Kleidung und warf Tanja noch einen bösen Blick zu, weil sie zu so einem idiotischen Thema umgelenkt hatte.

„Kann sein, ich kann mir halt nicht dein ganzes Privatleben merken“; erwiderte Tobi und schielte zu seinem neuen festen Freund, der ihm gemeinerwiese verbot, ihn zu nerven.

„Und ich nicht deine ganzen Exfreunde“, stichelte Johannes zurück.“

„Wenigstens hatte ich welche!“

„Darauf wäre ich nicht unbedingt so stolz.“

„Nur weil dich bis jetzt keiner mehr als zweimal angesehen hat!“

„Jungs, seid mal leise, ihr unterhaltet wieder alle anderen mit“, zischte Tanja ihnen zu, da tatsächlich die Aufmerksamkeit voll und ganz auf ihnen lag. So ein Schrott.

„Kümmert euch um euer eigenes Leben“, fauchte Tobi die Umstehenden an, die eigentlich nur auf eine der seit langen ausbleibenden Schlägereien warteten.

„Sagt der richtige.“ Tanja begann mit einem spitzen Bleistift ihr Deutschheft zu erstechen. „Warum streitet ihr euch überhaupt über sowas sinnloses?“

„Weil unser Lehrer nicht seinen Arsch hier her bewegen kann und uns deshalb langweilig ist“, behauptete Tobi. „Und weil dein Freund hier ohne mich bis an sein Lebensende einsam und allein vor sich hingegammelt hätte.“

„Ja ich weiß langsam, dass ich ohne dich, heiliger Tobias Valentin Lohr, niemanden zum Anbeten hätte. Soll ich gleich für dich eine eigene Glaubensrichtung gründen?“ Was er natürlich nicht tun würde, Kirche und so ein Zeug lagen ihm nicht besonders.

„Wie kann man nur so einen Blödsinn erzählen?“ Tanja wunderte sich gerade über diese unglaubliche Gabe des männlichen Geschlechts, als in Tobis Gehirn wieder merkwürdige Dinge vor sich gingen, die er gleich an seine Umwelt weitergeben wollte.

„Das bedeutet, dass ich eigentlich der erste war, der dich geküsst hat?“

„Wenn man mal meine halbe Familie und mögliche Kindergartenaffären ausschließt, eigentlich schon.“ Erwartete er dafür einen Preis, weil er sonst nur 'gebrauchte Ware' bekommen hatte? Konnte er vergessen, dafür bekam er nicht einmal eine Billigkopie des IKEA Katalogs.

„Endlich mal jemand, der nicht vorher schon mit der halben Stadt seine Bakterien ausgetauscht hat.“ Dazu musste ausgerechnet er einen Kommentar abgeben, das passte ungefähr so gut wie Tunfisch auf ein Marmeladenbrötchen.

„Sonst noch irgendwelche Probleme? Willst noch wissen, wo du ausnahmsweise als erster deine Pfoten gehabt hast?“ Gab ja nicht viele Dinge, die schon irgendjemand vor Tobi bei ihm getan haben könnte.

„Vielleicht seltsame rosa Briefe mit kitschigem Inhalt?“

„Ach, darauf willst du hinaus.“ Gab es so etwas wie ein Wörterbuch Tobi-Deutsch? „Nein, zum Glück noch nie. Aber wenn willst, darfst du mir ruhig einen schreiben. Mit schönen Rechtschreibfehlern und zusätzlicher Parfümwolke.“ Sein persönlicher Alptraum, aber welcher Junge stand denn auf solches Zeug?

„Ne lass mal, das überlass ich anderen dummen Leuten“, wehrte Tobi schnell ab. „Rosa ist nicht mein Fall. Und komisch gereimte Schnulzbotschaften gehören in die Mülltonne.“

„War ja klar, dass du sowas nie machen würdest. Wahrscheinlich kannst du das gar nicht.“ Gespielt gelangweilt stocherte Tanja weiter auf ihre Schulsachen ein. „Sogar Jos Bruder hat mir einen geschrieben, obwohl er... nicht ganz so war, wie ich es gerne gehabt hätte.“

„Ts, du hast doch keine Ahnung.“ Wie leicht man ihn auf die Palme bringen konnte; das wunderte Johannes jedes Mal aufs Neue. „Ich werde es euch beweisen!“ Damit rauschte er in seinem Ego gekränkt ab.

„Seit wann schreibt mein Bruder solche Briefe an dich?“ Das der überhaupt dazu in der Lage war. Vielleicht half Bestechung dabei.

„Gar nicht, aber ich wollte mal testen, wie dein Fan darauf reagiert.“ Entschuldigend lächelte sie ihn an. „Macht dir doch nichts aus, bald ein kleines Briefchen mit Hieroglyphen von deinem neuen Freund zu bekommen, oder?“

„Naja, solange es kein Drohbrief ist, stört es mich nicht.“ Im Gegenteil, es interessierte Johannes brennend, was Tobi sich kreatives einfallen ließ, um einen 'Liebesbrief' ohne Kitsch, Schnulz und Rosa zu fabrizieren.
 

Nachdem ihr Lehrer mit deutlicher Verspätung in den Klassensaal gestürmt kam – anscheinend hatte er beim Schwätzchen halten die Zeit vergessen – lief der Tag langweilig wie immer ab. Außer, dass sich Tobi die ganzen zwei Pausen nicht an Johannes und Tanja hängte und selbst während des Unterrichts auf so viel Abstand wie möglich ging. Zuerst dachte Johannes, sein Tischnachbar wäre wütend oder etwas in der Richtung, bis ihm ein Stapel zerknüllter Blätter unter ihrem Tisch auffiel und er vermutete, dass Tobi seine Ruhe haben wollte, um den perfekten Brief zu kreieren. Mal sehen, was dabei herauskam.
 

Das erfuhr er nach Schulschluss. Gerade hatte er seine Tasche gepackt und wollte sich auf den Heimweg machen, als ihm ein Zettel in die Hand gedrückt wurde, der schon eindeutig bessere Tage erlebt hatte. Juhu, die Post war da gewesen.

Während Tanja von ihrem Platz aus ihm neugierig zusah, stand der Absender schon im Türrahmen und beobachtete, wie sein ultimativ erster Versuch eines unschnulzigen Liebesbriefs ankam.

Interessiert entfaltete Johannes das Blatt und brachte erst mal kurze Zeit, um das Gekrickel zu entziffern, da so viel radiert worden war – oder auch aus Faulheit durchgestrichen – dass man an manchen Stellen fast schon Detektiv spielen durfte.

Aber schließlich verstand er, was hier genau von ihm gefordert wurde.
 

So, besser habe ich es nicht hinbekommen. Und wehe, du lachst, dann schlag ich dich!
 

Also einmalig fing es wirklich schon an, das musste man Tobi lassen. Und der Rest zeugte auch von stundenlanger Überlegung.
 

T O B I T O B I I T O B I T O B I C T O B I T O B I H T O B I T O B I M T O B I T O B I A T O B I T O B I G T O B I T O B I D T O B I T O B I I T O B I T O B I C T O B I T O B I H T O B I T O B I
 

Also irgendwie schon.
 

Gut, dass er das so genau wusste, aber vielleicht wollte er es nicht so öffentlich in einem Brief zugeben. Und auch die beeindruckende Wahl der Füllwörter zeigte von Tobis etwas überdimensionalem Selbstvertrauen.
 

P.S. Wir gehen am Freitagnachmittag Eis essen. Keine Widerrede!
 

Da hatte sich wirklich jemand sehr viel Mühe gegeben, so wenig Kitschpotenzial wie möglich in den Brief zu legen, nur die ganzen Drohungen hätte er besser weglassen sollen, wegen denen musste sich Johannes die ganze Zeit ein Grinsen unterdrücken und er wollte nicht unbedingt geschlagen werden.

Wenigstens hatte er heute seinen ersten 'Liebesbrief von doofe für doofe' bekommen und konnte demnach sehr stolz auf sich sein. Und natürlich auf Tobi, der das Ding zusammengebastelt hatte und dafür im gesamten Unterricht nicht zugehört hatte.

Was für ein unglaublicher Liebesbeweis!

„Und, bist du aufgeregt?“, löcherte Tanja Johannes schon den halben Tag. „Immerhin habt ihr heute Nachmittag euer erstes Date!“ Sie freute sich fast mehr für ihn als er für sich selbst, warum fanden Frauen solche Beziehungssachen auch immer so furchtbar romantisch und interessant? Ginge es nach ihm, existierte der Begriff 'Date' überhaupt nicht.

„Wenn du mich noch länger damit zuquatschst, vielleicht. Dann merke ich nämlich erst wirklich, auf was ich mich da eingelassen habe und werde panisch.“ Die Chancen standen zwar gering, aber möglicherweise wirkte die Drohung, um das Thema auf etwas anderes zu lenken. Er fragte sie ja auch nicht nach jedem Treffen mit seinem Bruder aus, das ging ihn nichts an.

„Hast du deinen Eltern erzählt, was du heute Nachmittag machst?“

„Natürlich nicht, ich bin doch nicht doof!“ Dazu erwartete er keine genauere Antwort. „Ich habe behauptet, ich müsste mit Tobi an irgendeinem dummen Referat arbeiten, die Ausrede geht immer. Musst du auch mal testen, wenn du Kevin treffen willst, ohne dass es die halbe Nachbarschaft mitbekommen soll.“

„Klingt gut, ich werde es mal ausprobieren.“ Sie zupfte sich einen unförmigen rosa Fussel von ihrem Oberteil. Wo kam der denn her? „Geht ihr eigentlich gleich nach der Schule hin oder erst noch einmal kurz nach Hause?“

„Wieso willst du das wissen?“ Das interessierte eigentlich nicht mal ihn selbst; er hatte ja selbst keine Ahnung, da musste er vorher Tobi fragen. „Willst du etwa...?“

„Nein, keine Angst, ich komme nicht mit. Ist schließlich euer Date und nicht meins. Obwohl du mir gerne was darüber erzählen darfst.“

„Kann ich machen. wenn überhaupt was passiert und ich lebendig zurück komme. Wer weiß, was Tobi mit mir in der Eisdiele anstellt.“ Tragischer Tod im Eisladen – das klang fast wie der Titel eines Krimis. Eines schlechten Krimis. Oder wie die fette Überschrift einer berühmt berüchtigten Tageszeitung mit vier Buchstaben.

„Da werden bestimmt noch andere Leute da sein, die dich retten werden. Und wenn nicht, hast du gelitten. Vererbt du mir was?“

„Ja, du bekommst Tobi.“ Hoffentlich schreckte sie das ab, weiter so unverschämt zu sein. Das Risiko während des Treffens den Löffel abzugeben war ungefähr so groß wie nie wieder Englischunterricht zu haben. Außer Tobi warf ihm aus Freundlichkeit einen Eisbecher aus Glas an den Kopf.

„Oh, da läuft dein zukünftiger Ehemann, willst du ich nicht mal fragen, wie er das Ganze geplant hat? Oder ob er sich überhaupt Gedanken deshalb gemacht hat.“ So wie sie klang vermutete sie eher letzteres, sie glaubte immer noch nicht wirklich, dass Tobi manchmal auch dachte. Aber auch nur, wenn er Lust darauf hatte.

„Ich geh ja schon.“ Johannes drängelte sich durch eine gruppe Sechstklässler – was blockierten die immer den halben Schulhof? – und tippte seinem fast festen Freund in den Nacken, um sich bemerkbar zu machen. Zwar konnte man Johannes schlecht übersehen – höchstens wenn man extrem kurzsichtig war –, aber Tobi hatte noch keine Augen im Hinterkopf und konzentrierte sich gerade sehr auf sein Marmeladenbrötchen. Wenn man sonst nichts Besseres zu tun hatte...

„He!“, wollte Tobi sich schon aus Gewohnheit aufregen. „Was soll... oh du bist es.“

„Ja, oder seh ich aus wie Javier?“ Wäre doch auch ein schöner Schreck am Morgen, auf den Johannes gerne verzichtete. Mit diesem Irren wollte er nicht unbedingt Ähnlichkeiten haben; der war erst vor ein paar Tagen wie bescheuert über den Schulhof gerannt und hatte behauptet, von sexuell frustrierten Geistern gejagt zu werden. War klar, ihm ging es auch gut.

„Also ich hätte nichts dagegen“, grinste Tobi vor sich hin.

„Danke“, brummte Johannes, „soll ich mit gleich eine Papiertüte über den Kopf ziehen, damit sich deine Augen freuen?“

„Nein, Mann, das war ein Witz!“ Ach so, das musste man ja wissen. „Ich darf auch mal welche machen, auch wenn sie schlecht sind. Aber was willst du eigentlich?“

„Wegen heute Nachmittag. Wann gehen wir da genau hin?“

„Direkt nach der Schule oder zwingen deine Eltern dich, beim Mittagessen da zu sein?“

„Nein, aber es hat mich interessiert, wann genau ich zum Eis essen entführt werde.“

„Früher ist besser als später, oder? Dann haben wir nachher mehr Zeit füreinander.“ Wie genau wollte Johannes jetzt nicht erfahren, auf jeden Fall hörte es sich nicht jugendfrei an.

„Aber erst, wenn wir zuhause sind!“ Nicht, dass sei Freund sich falsche Hoffnungen machte und damit schon in der Öffentlichkeit begann.

„Nein, ich habe jetzt voll Bock, dich im Eisladen flachzulegen“, meinte Tobi gelassen und streckte einem kleinen Mädchen, das sie verwirrt ansah, die Zunge raus.

„Lieber nicht, zum Schluss wollen noch alle zugucken.“ Vielleicht standen die Leute dort auf solche dummen Dinge?

„Wäre doch geil, sowas macht ja nicht jeder.“ Wieso schaffte er es öfters, Tobi die Idee noch schmackhafter zu machen? Unpraktisches Talent.

„Zum Glück nicht, ich will nicht unbedingt sehen, wenn Kevin und Tanja da rummachen würden.“ Bloß nicht bildlich vorstellen, das brauchte er nicht. „Ich geh mal wieder zurück zu Tanja, sonst macht sie eine Vermisstenanzeige auf.“

„Dann komm ich mit, allein hier abzuhängen nervt.“ Ohne auf eine Erlaubnis zu warten packte Tobi Johannes‘ Arm und ließ sich von diesem mitziehen.
 

„So, Jungs, viel Spaß bei eurem Eis, stellt nichts an, lasst die Bedienung leben und schockt die alten Leute nicht zu sehr.“ Zum Abschied winkte Tanja ihnen zu und beeilte sich, pünktlich nach Hause zum Essen zu kommen; sie hatte echt Hunger. Und noch einen Termin am Nachmittag.

Als endlich der letzte Depp – der Lahmarsch Martin – den Abgang gemacht hatte, atmete Johannes einmal tief durch, um sich mental auf das Kommende vorzubereiten und spürte schon im nächsten Moment, wie die gewisse Person an seinem Shirt herumfummelte. Aber er ließ es zu, kam ja nicht so oft vor, dass sie ungestört zusammen sein konnten, irgendwer nervte immer. Entweder Eltern, Geschwister oder andere böse Organisationen, gegen die man nichts unternehmen konnte.

„Tobi, gehen wir langsam mal los, ich will was Futtern.“ Und sich nicht hier von ihm ausziehen lassen, ein Klassensaal war dafür eher weniger geeignet; vielleicht hatte irgendein Idiot etwas vergessen, hockte nun draußen vor der Tür und beobachtete sie heimlich. Gestörte – Javier! – gab es überall.

„Spielverderber“, grummelte Tobi beleidigt, „Hier ist keine Sau, wir können sonstwas tun und keiner wird es mitbekommen.“

„Du hast mich aber zum Eis essen und nicht zum Sex eingeladen“, erinnerte Johannes ihn, „eins nach dem anderen, okay?“ Wieso musste Herr. L. ständig solche Andeutungen machen?

„Ja, Mama.“ Zwar sagte Tobi zu diesem Thema nichts weiteres, aber man sah ihm an, wie er sich insgeheim freute, dass sein Vorhaben nicht komplett abgelehnt worden war.

Gemeinsam verließen sie das Schulgebäude – zum letzten Mal diese Woche! –, schlenderten ein wenig durch die Gegend, achteten darauf, dass sie niemand bekanntes trafen und landeten schließlich in einer kleinen Eisdiele, in der schon einige ältere Frauen und eine Mutter mit ihren zwei jüngeren Kindern die besten Plätze belegt hatten. Pech gehabt.

Tobi und Johannes quetschten sich an einem kleinen Tisch auf eine kleine Eckbank und durchsuchten systematisch die kleine Eiskarte. Hier war so gut wie alles klein, nur die Preise selbstverständlich nicht, wäre ja auch etwas ganz Neues gewesen. Wehe, wenn die Inhaber nicht nur an der Einrichtung, sondern auch an den Portionen sparten! Dann würden sich die zwei Jungs extrem aufregen, das stand fest.

Tobi bestellte einen Eisbecher mit Vanilleeis und Himbeeren, Johannes dasselbe nur mit Kirschen. Natürlich hätten sie auch etwas zusammen kaufen können, aber die Bedienung hatte sie schon seltsam angesehen, als sie hier angetanzt waren. Noch nie zwei Jungs gesehen oder was?

„Wär ich ein Mädchen, würde ich herum kreischen, wie romantisch das hier angeblich ist“, verkündete Tobi leicht angewidert. „Fehlen nur die Kerzen und Rosen.“

„Und der Heiratsantrag“, fügte Johannes trocken hinzu. „Den kannst du aber gerne haben. Oh geliebte Valentina, willst du mich hei- aua, mein Fuß!“ Musste Tobi immer so brutal mitteilen, dass er darauf keine Lust hatte?

„Kommt davon.“ Selbstzufrieden grinste Tobi und beachtete nicht die Leute um sei herum, die diese interessante Aktion kopfschüttelnd verfolgt hatten. Vor allem der Kaffeetantenklatsch, der dadurch ein neues Thema gefunden hatte, über was er lästern konnte: Die böse Jugend von heute; dabei versuchten sie nicht einmal leise zu sein, Johannes hörte live mit, wie ihm die tollsten Verdächtigungen angedichtet wurden.

Inzwischen hatte die Kellnerin bemerkt, dass sie die Bestellung vorbeibringen sollte und nun stand vor Tobi und Johannes das Eis und forderte, gegessen zu werden. Dieser Wunsch wurde ihm auch gleich erfüllt.

„Mann, schmeckt das gut“, stellte Tobi fest und schaufelte sein Eis so schnell wie möglich in sich hinein; die Mutter am Nebentisch bekam fast Zustände, weil sie befürchtete, ihre Kinder könnten in zehn Jahren ebenfalls so unzivilisiert wie die zwei Antivorbilder werden. Beinahe wünschte sich Johannes, es würde so sein, dann hätte sie Grund zur Beschwerde.

„Nerven dich die Leute auch irgendwie?“, flüsterte Tobi ihm ins Ohr und Johannes nickte, allerdings hatte er keinen Plan, wie er sie am schnellsten loswerden sollte. Meistens half so lautes Gerede, bis die anderen sich gestört fühlten und das Feld räumten. Ob das hier auch nützte? Sicher nicht, die Omas schwatzen selbst schon laut genug.

„Ich hab eine Idee, was wir jetzt machen, aber reg dich nicht auf.“ Das klang verdächtig, was hatte der wieder vor?

Als sich Tobis Hände unter sein T-Shirt schoben und er ihm einen Kuss auf die Wange drückte, ahnte Johannes, was sich abspielen sollte und statt einen riesigen Aufstand zu machen, weil ja das Versprochen ignoriert wurde, beteiligte er sich ein wenig und so waren sie nach knapp drei Minuten die einzigen Besucher hier. Wie einfach das ging, ein paar meckernde Senioren in die Flucht zu schlagen. Und die Mutter hatte bestimmt Angst, ihre Kinder könnten dasselbe bei einem ihrer Kindergartenfreunde versuchen.

„Sieg für uns.“ Tobi entführte eine der Kirschen aus Johannes‘ Eisbecher und aß sie auf. „Wetten, die zeigen uns jetzt an für ‚Erregung öffentlichen Ärgernisses‘? Naja, ob sie damit durch kommen? Eher nicht, immerhin waren sie vorher asozial, wir haben uns nur gewehrt.“

Die Tür der Eisdiele wurde geöffnete und plötzlich standen zwei Jungs, die Johannes noch nie gesehen hatte, an ihrem Tisch und quatschen Tobi tot, der damit scheinbar keine Probleme hatte. Was passierte denn jetzt?

„Hi Tobi, was machst du denn hier?“

„Wir haben dich schon lange nicht mehr gesehen. Hast du dich vor uns versteckt?“

„Ich esse Eis, seht ihr doch. Und versteckt habt nur ihr euch.“ Er drehte sich zum sehr verwirrten Johannes. „Das sind – ob du es glaubst oder nicht – meine Freunde.“

„Ah, wurde wieder mal unsere Existenz angezweifelt?“ Der Kleinere der beiden fand das anscheinend irgendwie lustig. „Naja, da bist du nicht der einzige, dem es so geht.“ Er zog seinen einen Stuhl vom leeren Nachbartisch heran. „Ich bin Henning und das ist Florian.“ Er zeigte auf den anderen, der keine Anstalten machte sich zu setzen. „Wir waren mit Tobi im Kindergarten, außerdem wohnen wir nicht so weit voneinander entfernt. Und wer bist du? Tobis Neuer?“

„So könnte man es sagen.“ Mann, redete Henning viel, hoffentlich lag das nur daran, dass es viel zu erzählen gab. Wie sollte er das sonst auf Dauer aushalten? Nicht, dass er ihm völlig unsympathisch war, aber ein ständiger Angriff auf eine Ohren mochte er nicht so besonders.

„Wenn sie dich nerven, ignorier sie einfach“, wies ihn Tobi an, „Henning schwafelt manchmal mehr, als er sollte. Flo auch, aber nur, wenn er Lust dazu hat. Hock dich mal hin, du machst mich nervös.“

„Ja ja, ist gut.“ Florian angelte sich ebenfalls einen Stuhl und ließ sich darauf fallen. „Gib zu, es ärgert dich nur, dass ich größer bin als du. Obwohl ich jünger bin.“

„Dummschwätzer.“ Natürlich fühlte sich 'Valentina' in seinem Stolz gekränkt, weil er eigentlich immer der kleinste war, vielleicht sollte er sich mal vom Christkind etwas Größe wünschen, wenn das ging. „Außerdem seid ihr mitten in unsere cooles 'Date' mit verunstaltetem Heiratsantrag gerasselt.“

„Ach deshalb ist es hier so leer“, stellte Florian erstaunt fest. „Ihr habt etwas übertrieben und die Leute sind geflüchtet, oder?“ Ihm schien es nichts auszumachen, wahrscheinlich war er solche Aktionen von Tobi gewöhnt.

„Nein, das war absichtlich. Die alten Leute konnten nicht ihren Schnabel halten.“

Die in der Zwischenzeit etwas schockierte Bedienung eilte zu dem einzigen besetzten Tisch und wollte die Bestellung der zwei Neuankömmlinge aufnehmen. Wenn schon der Großteil sich verabschiedete, musste man aus dem Rest Profit schlagen, fand sie.

„Einmal diesen komischen Frühlingsbecher, aber mit zwei Löffeln bitte“, verlangte Henning, warf Florian einen gespielt verträumten und der jungen Frau mit dem kleinen Blöckchen in der Hand einen ganz unschuldigen Blick zu.

„Ach, es ist doch immer wieder schön, die Leute zu verunsichern“, fand Florian, grinste vor sich hin und verschränkte die Arme vor der Brust, als die Frau hastig das Weite suchte.

„Äh...“ Langsam wunderte Johannes heute gar nichts mehr. Hatte Tobi das ganze inszeniert, um ihn zu verarschen? Glaubte er weniger, dafür wirkte alles zu chaotisch.

„Lass dich von den beiden nicht täuschen, die machen das manchmal, um die Leute hereinzulegen. Die sind beide hetero, oder waren es bis vor zwei Monaten noch.“

„Dafür hast du keinen Beweis, vielleicht haben wir auch immer nur so getan?“ Mit Andeutungen konnte Henning gut um sich werfen, das musste Johannes ihm lassen. Vor allem hatte er selbst nicht gewusst, dass er selbst mal mit Tobi so etwas Beziehungsähnliches führen würde, also war es verständlich, wenn er jedem Typ einfach unterstellte, auch in irgendeiner Weise nicht hetero zu sein.

Komplizierter konnte er sich auch nicht mehr ausdrücken.

„Ihr seid schlimm!“ Heimlich stahl Tobi noch weitere Früchte seines Freundes, der das gar nicht mitbekam. „Kommt einfach hier her, verunsichert die Frau da hinten und findet es gut.“ Unsanft zwickte er Johannes in die Seite. „Lebst du noch? Findest du es so schrecklich, dass ich tatsächlich Freunde habe oder was ist?“

„Nein, glaub nicht, sie sind nur... anders als ich sie mir vorgestellt hätte.“ Nicht so... normal, also vom Aussehen her. Und auch von der Art nicht solche Quasseltaschen. Das würde eher zu Tobi passen.

Die Kellnerin knallte Florian das Eis vor die Nase und rauschte schnell wieder davon, um sich nicht zu lange mit den Verrückten von Tisch drei herumschlagen zu müssen. Immerhin bestand die Gefahr, dass Dummheit abfärbte.

„Habt ihr eigentlich noch was vor?“, fragte Henning zwischen zwei Löffeln Erdbeereis und einem Schokoladenstück. „Uns ist nämlich ziemlich langweilig, deswegen sind wir wie echte Gangster durch die Straßen gelatscht und haben die Leute böse angestarrt.“ Was für ein... interessanter Freizeitspot.

„Nicht direkt, warum wollt ihr das wissen?“ Etwas misstrauisch leerte Tobi ohne wirkliche Zustimmung Johannes‘ Eis. „Habt ihr wieder gestörte Ideen?“

„Nicht wirklich, ich erzähls dir mal.“ Henning beugte sich zu Tobi, flüsterte ihm etwas ins Ohr, warf dabei fast den Tisch um und kassierte einige schiefe Blicke von Florian; Johannes wartete gespannt, was hier geplant wurde.

„Aha, das ist wieder typisch du. Okay, Johannes was weiß ich Sander, dieser kleine nervige Junge hat den Antrag gestellt, ob wir nicht heute Nacht alle bei mir übernachten können, weil sie dich gerne etwas besser kennen lernen wollen, du bist ja jetzt eigentlich mit mir zusammen. Ich rate dir, sag nein, die sind im Doppelpack echt kindergartenmäßig.“

„Naja...“ Eigentlich hatte er mit etwas bekloppterem gerechnet, aber Übernachten klang doch halbwegs zivilisiert. Allerdings konnte sich das Ganze auch als großer Fehler herausstellen, falls die drei irgendwas Dummes planen.

Aber versuchen konnte man es, zur Not wanderte er heute Nacht um zwölf aus.

Nachdem sie ihre Eisbecher mehr oder weniger geleert hatten und die Kellnerin mit einer ganz kleinen Eisschlacht in den Wahnsinn getrieben hatten, bezahlte Tobi wegen seiner einzigartigen – und nur heute vorhandenen – Großzügigkeit das Eis und zu viert machten sie den Abgang.

„Sowas müsste man öfter machen.“ Florian grinste immer noch leicht vor sich hin. „Aber mit einer Kamera, ich will das Gesicht von dieser Frau in mein Zimmer hängen. Da hab ich immer was zu lachen.“

„Du hast doch ständig Henning dabei, über den kannst du auch lachen“, unterbrach Tobi ihn und wurde dafür fast von Henning gegen die nächste Straßenlaterne geschubst.

„Da hat er aber Recht“, machte sich Florian noch zusätzlich beliebt. „Komm, sag auch was Nettes.“ Er stieß Johannes mit dem Ellbogen in die Seite; da hatte jemand heimlich bei Herrn Unromantisch Nachhilfe genommen, es fühlte sich jedenfalls so an. „Vielleicht sieht er dann endlich ein, dass er die größte Lachnummer von uns allen ist.“ Das hatte er ebenfalls abgekupfert. Oder sie kamen so gut miteinander aus, weil sie beide einen Hang zum Fieß sein besaßen.

„Ich bin unparteiisch“, zog sich Johannes ganz schnell aus der Affäre, „vielleicht sag ich meine Meinung morgen früh.“ Falls er bis dahin nicht geflohen war. „Oder auch nicht, kommt drauf an.“

„Tja, nicht jeder hackt aus Dummheit gerne auf anderen herum.“ Provozierend streckte Henning seinem Kumpel die Zunge raus.

Doch keine drei Minuten später verstanden sie sich wieder blendend, hatten sich bei einander eingehakt und sangen so ungefähr alle Lieder, die ihnen spontan einfielen, angefangen beim 'Roten Pferd' bis zu den 'drei Chinesen mit dem Kontrabass'. In diesem Fall allerdings ohne Kontrabass – das schien den zwei Falschsängern nicht zu gefallen –, dafür mit einer Ananas, bei Tobis kleinem Solo sogar mit einem Regenfass. Kreativität musste man haben.

Natürlich wurden sie deshalb von entgegen kommenden Passanten dumm angeguckt; es kam halt nicht sehr oft vor, dass vier leicht gestörte Jugendliche eine Gesangseinlage in der Öffentlichkeit gaben, die auch noch so schräg wie möglich klang.

Am besten steckte Tobi seinem Freund noch die Zunge in den Hals, damit die Leute um sie herum erst recht etwas zu Sehen hatten. Und nachher zum Beschweren.

So etwas ähnliches schien sich Tobi überlegt zu haben, denn seine bösen, vorwitzigen Finger legten sich auf Johannes’ Schulter, zogen ihn zu sich und ließen schließlich nur los, weil Johannes ihm genervt zuzischte, dass er ihn heute schon einmal gegen die Regeln mehr als nur angefasst hatte.

„Mann, das hält ja niemand zwei Wochen aus“, moserte Tobi vor sich hin und beobachtete ein wenig neidisch Florian und Henning, die sich keine Gedanken um potentielle Zuschauer machten. Lag wohl daran, dass sie weder schwul noch zusammen waren. Obwohl das einige vermuteten, was nur dadurch entstand, weil die zwei gerne auf diese Art provozieren. Zwar ohne deutliches Rumgemache und solches Zeug, aber sie schafften es trotzdem immer wieder, nur durch kleine Gesten oder zweideutige Sätze, die Leute zu verwirren. Das gefiel Tobi natürlich ziemlich.

Nach einem interessanten Trip durch die Innenstadt landeten die Krachmacher und Johannes bei Tobi zuhause, machten seine Mutter auf sich aufmerksam und verzogen sich schnell in das Chaoszimmer, um dort ihr Unwesen zu treiben. Wie auch immer das aussehen sollte.

„Flo, Henning, beschäftigt euch mal kurz, wir haben mal was zu tun“, erklärte Tobi seinen verdutzen Freunden, als er schon dabei war, Johannes auf sein Bett zuzuschieben– natürlich ohne ihn vorher einmal zu fragen oder wenigstens vorzuwarnen – und nicht gleichzeitig über eine seiner vielen Stolperfalle auf dem Boden zu segeln. Multitaskingfähigkeit braucht man wirklich in diesem Räumchen.

„Äh, okay.“ Schulterzuckend hockten sich die zwei auf ein Plätzchen – ein kleines Viereck ohne störenden Bodenbelag – , Flo zauberte ein paar vereinzelte Spielkarten aus seiner Hosentasche und sie begannen 'Metzger‘, ein sehr gewalttätiges Kartenspiel, zu spielen, während Johannes sich auf der anderen Seite des Zimmers am liebsten sehr laut aufgeregt hätte, dass Tobi sich nicht einmal in der Anwesenheit seiner Freunde – von denen einer gerade abzukratzen schien, so laut wie er rumschrie – zusammenreißen konnte. In welcher Welt lebten sie denn hier?

„Tobi, ist ja schön, dass du dich so freust, weil ich da bin“, redete Johannes einfach drauf los, „aber muss das jetzt unbedingt sein? Morgen haben wir doch auch noch Zeit. Oder Übermorgen, von mir aus auch am Sonntag. Aber nicht jetzt!“ Zwar sollten Florian und Henning an solche Szenen gewöhnt sein – sonst hielten sie es bestimmt nicht seit ungefähr einen kleinen Jahrzehnt bei 'Valentina' aus –, aber er selbst fand das nicht so angenehm, von anderen Menschen, die er seit einer Viertelstunde kannte, bei explizieten Interaktionen mit Tobi beobachtet zu werden. Obwohl die beiden sich lieber darauf konzentrierten, sich gegenseitig ins Krankenhaus zu bringen statt die interessierten Zuschauer zu mimen. Man müsste hinweisen, dass sie etwas verpassten.

„Stell dich doch nicht immer so an.“ Sehr genervt vom Verhalten seines Freundes ließ Tobi ihn gnädigerweise los, setzte sich aufs Bett und tat so, als wäre er beleidigt. Toll. „Die beiden werden nichts sehen, was sie nicht mindestens schon einmal live erlebt haben.“ Hoffentlich mussten sie bis jetzt nicht jede vorläufige Beziehung von Tobi von Anfang an mitverfolgen, da wären sie ja fast schon geschädigt fürs Leben. „Außerdem haben sie ja besseres zu tun.“

Das stimmte, Florian schimpfte momentan auf Hennings extrem gemeine Brutalität und dieser freute sich einfach nur, dass er ein weiteres Mal seine Rache für die kleinen Sticheleien bekommen hatte. Langsam fand Johannes immer mehr, dass sie zu Tobis als Freunde passten.

„Fangt ihr an oder seid ihr schon fertig?“, fragte Florian, während er seine Karten wieder verschwinden ließ. „Ich will nämlich nicht länger mit diesem kleinen Freak hier was zu tun haben, er ist gemein gefährlich, passt auf.“ Um seine Aussage zu unterstützen streckte er seine Hand hoch, die tatsächlich ein paar seltsame rote Muster aufwies. Manche Menschen übertrieben es gerne, wenn sie spielten.

„Wir haben gar nicht angefangen, weil ihr dafür erst den Raum verlassen und zusammen mit meiner Familie das Haus räumen müsstest.“ So viel Aufwand wollte er nicht unbedingt dafür veranstalten, außerdem hätte es seine Eltern sicher interessiert, weshalb sie für kurze Zeit den Nachbargarten aus nächster Nähe betrachten durften. Und dann hätte Johannes wieder Terror gemacht, weil ihm das auch nicht recht gewesen wäre, wenn sie es schon erfahren hätten.

Manchmal fragte man sich, wer hier von beiden der kompliziertere war.

„Naja, auch nicht schlimm, das macht ihr das einfach, wenn wir weg sind.“ Etwas anderes hatten sie auch nicht vorgehabt. Schlauer kleiner Henning. „Aber irgendwas müssen wir jetzt machen, sonst wird es langweilig.“

„Tobi, tu was, er wird uns alle wie immer auf die Nerven gehen, wenn wir nicht gleich was machen“, seufzte Florian und wedelte gespielt theatralisch mit den Armen in der Luft herum; wollte er einen fiktiven Schwarm Fliegen verscheuchen? Oder seinen störenden Fanklub? Das sah mehr als bescheuert aus.

„Klappe, ich überlege auch gerade.“ Freundlichkeit wurde hier wirklich groß geschrieben. „Wie wäre es mit Wizard? Das ist einfach genug für euch und man kann sich nicht dabei umbringen.“ Auf was er da wohl anspielte? Ganz sicher nicht auf die vorige Aktion der zwei Idioten.

„Ja, geht in Ordnung.“ Damit war Henning auch zufrieden.

„Was soll. das sein?“ Unter diesem Namen konnte sich Johannes nichts vorstellen – außer ein paar Verrückte, die sich als Zauberer verkleideten –, vielleicht erklärte ihm einer der drei netten Jungs die Regeln von diesem Ding. Was auch immer das sein sollte.

„Wirst du gleich sehen.“ Waghalsig stürzte sich Tobi auf den größten Berg mit der meisten Auswahl an unterschiedlichen Objekten und fand nach drei Minuten ein kleines Kästchen, indem sich ein Stapeln Karten befand. Nicht schon wieder, mit solchen Zeug stand Johannes gerne auf Kriegsfuß, er bekam nämlich meistens die dümmsten Karten, die keinem Menschen oder ihm selbst nur Pech brauchte. Zum Bespiel bei Maomao oder diesen anderen Horrorteilen für kleine Kinder.

„Schön.“ Eigentlich nicht, aber auf ihn hörten ja eh keiner. „Und wie geht das?“

„Also...“ Henning wollte mit einer unglaublich langen und sehr verwirrenden Erklärung beginnen, doch Florian fehlten dazu die Nerven.

„Spiel einfach mit, du wirst es dann merken.“

Juhu, da standen seine Chancen zu gewinnen richtig gut, wie schafften diese Personen das nur?

Johannes wurden ein paar quietsch bunte Karten mit irgendwelchen Pseudofantasymustern in die Hand gedrückt – sicher die Billgversion aus dem Eineuroshop – und versuchte sich, ohne genaue Kenntnisse in das Geschehen einzubringen.

„Nein, nicht die Farbe, du musst blau legen“, machte ihn Tobi schon zur Schnecke und warf ihm die Karte zurück auf den Schoß. „Denk doch mal mit, Mann!“

„Keine drei, du musst mindestens eine fünf haben“, nervte Florian noch dazwischen, bis Johannes schließlich gar keine Lust mehr hatte und einfach den ganzen Stoß ablegte.

„So wird das nichts“, stellte Henning bedenklich schnell fest – nach fast einer halben Stunde – und weihte Johannes so gut es ging in die Logik dieses Unterhaltungsdings ein. Zwar verstand man dadurch auch nicht unbedingt alles, aber Johannes wurde wenigstens nicht ständig für falsche Sachen angemeckert.

Nach zwei Stunden, in denen Florian fast immer gewonnen hatte – seltsamerweise mischte er auch immer die Karten –, beschloss Tobi, etwas Essbares aus der Küche zu klauen, weil er seinen Freunden nicht antun wollte, zusammen mit seiner Familie am Küchentisch zu essen. Seiner Meinung nach unterhielten die sich nämlich nur über totlangweilige Themen, die nicht unbedingt jeder miterleben musste.

„Endlich ist er weg, jetzt können wir über ihn lästern“, schlug Henning vor und wartete, dass jemand anfing. Nichts tat sich, dumm gelaufen.

„Okay, dann halt nicht. Erzähl uns was von dir!“, belagerte er Johannes, der davon nicht erfreut war. Da kam man sich ja vor wie in einer dieser unterirdischen Talkshows. Fehlten nur noch die unehelichen Kinder und die ätzende Moderatorin.

„Was denn? Ich heiße Johannes Sander, bin noch 16 Jahre, gehe mit eurem Freund in eine Klasse, fand ihn am Anfang total dumm, habe zwei Geschwister, meine beste Freundin ist mit meinem Bruder zusammen, ich kann Bitterschokolade nicht ausstehen, bin eine Niete in Sport, ähm...“ Am besten hielt er ihnen gleich noch seinen Stammbaum unter die Nase und seine Zeugnisse aus der ersten Klasse. Das musste ungefähr denselben Spannungsgrad erreichen.

„Interessant.“ Guter Witz! „Über uns gibt es nicht so viel zu sagen.“ Das behauptete eigentlich jeder und zum Schluss redete er trotzdem einen ganzen Roman über sich selbst. „Flo und ich sind beide fünfzehn, ich bin Einzelkind, er hat eine Zwillingsschwester, im Moment schlagen wir uns in der neunten Klasse auf dieser komischen Realschule durch – du kennst die sicher, da soll angeblich alles so schlimm sein – und gehen Tobi seit dem Kindergarten so oft es geht auf die Nerven.“

„Mehr oder weniger, meistens liegt es an dir“, fügte Florian noch hinzu.

„Da ergänzt ihr euch alle ja sehr gut.“ Vielleicht sogar zu gut, da musste man immer aufpassen. „Ist Tobi zu euch auch immer so gewalttätig, wie zu mir am Anfang?“ Dieses Mysterium sollte mal geklärt werden.

„Nein, eigentlich nicht. Höchstens etwas fies, aber das sind wir ja auch.“

„Schön, dass wieder über mich geredet wird.“ Tobi stand mit einem kleinen Tablett in der Hand in der Tür. „Ich fühle mich fast wie einer dieser intelligenten Promis aus dieser Zeitung mit vier Buchstaben.“

„Dann freu dich, so wirst du bald bekannt und berühmt.“ Kaum stand das Tablett in seiner Reichweite, schnappte sich Florian ein Brötchen davon. „Aber halt nicht unbedingt im positiven Sinn.“

Während des Essens führten sie ihr Dummgeschwätz weiter fort, wobei Johannes eher daneben saß und die Niveaulosigkeit über sich ergehen ließ. Manchmal war er ja auch nicht besser, also sagte er dazu einfach nichts.

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach Henning in einer seiner detailreichen Schilderung über Florians beste Unterrichtskommentare und Sarah kam herein, in der Hand ein Telefon.

„Tobi, sind Henning und- Oh, hallo! Flo, deine Mutter ist dran, sie hat schon die halbe Nachbarschaft angerufen.“

„Naja, passiert.“ Anscheinend vergaß er öfter, seine Eltern über seinen Aufenthaltsort zu informieren. Das holte er nun nach. „Hallo Mama... ja, tut mir leid... ja, ich bin bei Tobi, hörst du doch... Henning auch... kann ich hier übernachten?... okay, ich komm morgen irgendwann wieder, tschau!“ Er beendete das Gespräch und seufzte genervt. „Müssen die immer hinter mir her telefonieren? Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“

„Sagen sie alle.“ Henning stahl ihm das Telefon aus der Hand. „Ich ruf auch mal lieber an, sonst nervt es morgen wieder.“ Er tippte eine Nummer ein und wartete kurz. „Hallo... ich bin bei Tobi, übernachte hie auch, komme morgen wieder... ja, ich hab meine Hausaufgaben gemacht... nein, ich gehe morgen nicht mit euch einkaufen... nein! Bis dann.“

Er gab das Kommunikationsmittel an Johannes weiter. Hoffentlich wirkte sich das nicht allzu stark auf die Telefonrechnung der Lohrs aus, sonst hätte Tobi ein kleines Problem.

„Oh, hallo Tanja!“ Seit wann ging sie bi ihnen ans Telefon? Moment... das gabs doch nicht. Aus Gewohnheit hatte er ihre statt seiner eigenen Nummer gewählt. Peinlich, Tobi grinste sich deswegen neben ihm schon einen Ast.

Nach kurzer Klärung erreichte er zuhause seine Mutter, behauptete irgendetwas, was mit Referat und Schule in Verbindung stand und schaffte es somit, dass sie sich nicht wunderte, dass er bei dem bösen kleinen Schlägerjungen übernachtete. Sobald es um Schule ging, verstanden Eltern so gut wie alles, unheimlich.

„So, du kannst dann gehen“, versuchte Tobi seine kleine Schwester aus dem Zimmer zu verjagen, doch das ließ sie sich nicht gefalle, sondern quetschte sich auf ein Fleckchen zwischen Florian und Johannes, bediente sich ohne Erlaubnis am Tablett und wollte wissen, weshalb Tobi gleich drei Leute eingeladen hatte.

„Weil ich Bock dazu hatte“, antwortete ihr Bruder, „reicht das oder brauchst du eine schriftliche Erklärung mit Datum und Unterschrift?“

„Nein, aber wieso ist Johannes hier? Ich dachte, du findest ihn doof?“

„Ja, weil... ja... hm...“ Was erfand Tobi nun auf die Schnelle, ohne dabei zu erwähnen, dass sie kurz vor der Heirat standen? Improvisieren fiel ihm wohl nicht so leicht.

„Weil ich ihn dazu gezwungen habe“, schaltete sich Florian ein, „ich wollte nämlich mal wissen, wer oder was 'Johannes Sander' ist und wie man ihn am besten zur Schnecke machen kann.“ Was für ein nachvollziehbarer Grund, sogar Sarah fand das nicht sehr logisch. Aber wer nahm schon Rücksicht auf jüngere Geschwister?

Bevor sie noch genauer nachfragen und die Jungs damit in Erklärungsnot bringen konnte, warf Tobi sie sehr schnell raus, um sich wieder auf das Essen vor ihm zu konzentrieren.

„Wo sollen wir eigentlich schlafen? Auf dem Boden nicht, oder?“ Das traute Johannes Tobi sogar zu, falls er gerade zu gute Laune hatte. „In dein Bett passen wir alle nicht.“

„Wir könnten es versuchen.“ Von dieser Idee schien Henning begeistert zu sein, vielleicht tat er auch nur so. „Ihr macht euch alle ganz klein und ich bekomme den meisten Platz.“

„Ja, so siehst du auch aus. Vergiss es, der einzige, der in mein Bett kommt, ist Johannes.“ Das klang nicht gut. „Ihr dürft euch was anderes suchen. Unten haben wir noch eine sehr unbequeme Couch für überflüssigen Besuch. Mit hässlichen Kissen und ohne Decke.“

„Danke, wir haben dich auch voll lieb, du Depp.“ Beim Thema Betten verstand Florian wohl keinen Spaß. „Ihr werdet irgendwo noch eine Matratze für uns haben, sonst holen wir uns eine.“

„Klar haben wir eine, Blitzmerker, oder worauf hast du vorher immer geschlafen? Bestimmt nicht auf meinen Schulheften. Ich müsste das Ding nur mal finden...“

„Dann beeil dich, wir warten solange.“ Demonstrativ verschränkte Henning die Arme und summte 'alle meine Entchen' vor sich hin. Aus Protest tat es Florian ihm nach.

„Wie im Kindergarten“; beschwerte sich Tobi, räumte das Geschirr und das übrige Essen vom Boden auf das Tablett und hob es hoch. „Ich suche, ihr räumt auf, kapiert?“ Natürlich wartete er nicht, bis jemand ihm antwortete, sondern brachte die Sachen weg. Keiner der übrigen drei rührte sich, um Putzfrau zu spielen, das war ihnen wirklich zu blöd.

„Wir gehen dann aber noch nicht schlafen, es ist erst sieben Uhr und außerdem haben wir Wochenende.“

„Ich bin aber müde, Henning“, gähnte Florian ihm vor, „siehst du?“

„Dann geh Abends nicht immer zu spät ins Bett“, erwiderte sein Freund, der noch lange nichts an ins Bettgehen dachte, um sieben waren noch nicht einmal die Grundschüler müde. Höchstens ein paar wenige besondere Ausnahmen.

„Keine Schlägerei.“ Zivilisation kannten die hier alle nicht richtig, fand Johannes. „Das könnt ihr auch machen, wenn ich nicht da bin.

Als Tobi mit einer extragroßen Matratze zurück kam, regte er sich erst über seine nicht ausgeführte Forderung auf, brachte seine Freunde schließlich dazu, wenigstens den Platz vor dem Bett leerzuräumen und zwang sie am Schluss, einen dieser 0815-Filme im Fernsehen mit ihm zu gucken, bei dem Florian schon mitten drin heimlich wegpennte.

Dasselbe hätte Johannes gerne auch getan, aber erstens war es für ihn etwas zu hell und zweitens wäre es Tobi aufgefallen, weil er sich direkt neben ihn gesetzt hatte. Pech gehabt, er musste es aushalten, ob er wollte oder nicht.

So ertrug Johannes fast zwei Stunden lang das versucht coole Verhalten von ein paar Möchtegernhelden, die ihm ziemlich auf den Geist gingen, und die unlogische Handlung, die ihm von irgendwoher bekannt vorkam.

Um die Katastrophe zu perfektionieren erwartete Sarah von ihnen, dass sie mit ihr noch etwas ansahen, was damit endete, dass sie einen dieser merkwürdigen, für Kinder produzierten Filmchen verfolgten, die von Einfallsreichtum nur von den richtig üblen Romantikstreifen getoppt werden konnten. Folterabend der nettesten Sorte.

Gegen zehn Uhr flüchteten die vier geschädigten Jungs in Tobis Zimmer, verschlossen die Tür und weigerten sich, in absehbarer Zeit wieder herauszukommen.

„Tobi, wieso hast du das zugelassen?“, fragte Florian vorwurfsvoll, der zwar nur die Hälfte mitbekommen hatte, allerdings hatte ihm das schon mehr als gereicht. „Damit kann deine Schwester Menschen zu Tode langweilen, willst du das wirklich?“

„Wenn du nicht die Klappe hältst, schon.“ Durch den Film war Tobi so gereizt, dass er schon eins seiner Kissen quer durch das Zimmer katapultiert hatte. „Sonst bring ich dich zu ihr und sie zeigt dir alle Folgen ihrer Lieblingsserie.“

„Willst du mich umbringen? Da geh ich lieber in die Schule.“ Das musste für ihn ein ziemlich außergewöhnliches Geständnis sein, so wie Henning ihn gerade ansah. Sozusagen Premiere des Wahnsinns.

„Jetzt bin ich auch müde, können wir vielleicht schlafen gehen?“; fragte Johannes auf die Gefahr hin, böse angenörglt zu werden, doch niemand hatte etwas dagegen, der Film schien schlimme Auswirkung auf das männliche Gehirn zu haben. Sofort verbieten lassen!

Da niemand irgendwelche Übernachtungssachen dabei hatte – Johannes höchstens seinen Schulranzen –, verlieh Tobi der Reihe nach Schlafanzüge, Handtücher und Waschlappen. Nur Zahnbürsten konnte er leider nicht auftreiben.

„Bestimmt bekomm ich jetzt Karies“, jammerte Henning herum, „ich will kein Loch haben!“

„Stell dich nicht so an, von einmal nicht putzen stirbst du nicht und deine Zähne auch nicht.“ Florian warf ihm ein Handtuch gegen den Kopf. „Wenn du es so schrecklich findest, kannst du ja Zahnpasta lutschen, vielleicht hilft es was.“

„Mach doch selber.“

Zum Schluss machte Tobi sich genervt zur Schecke, weil sie sich im Bad ein Wasserduell mit Zahnputzbechern lieferten und gegen halb elf lagen alle schön verteilt in Tobis Zimmer und unterhielten sich, denn ohne genaueren Grund waren alle plötzlich wieder putzmunter. Nur hatte niemand Lust, das Licht wieder anzumachen.

Johannes kuschelte sich ein wenig an Tobi, der sich wie gewohnt extrem breit in seinem eigenen Bett machte – natürlich sah er das nicht ein und schob die Schuld für den wenigen Platz auf Johannes – und nach den Geräuschen von der anderen Matratze zu urteilen versuchten Henning und Florian, ein von Tobis Kissen zu zerfetzen.

Leider bekam Johannes nicht mehr mit, ob sie es tatsächlich schafften oder ob Tobi davor das Kissen vor dem tragischen 'Feder verlier Tod' rettete, denn er schlief knapp an der Kante vom Bett einfach ein. Mit Auswandern wurde es also doch nichts mehr.

Als Johannes mitten in der Nacht wach wurde, lag er ziemlich ungemütlich zwischen Bettgestell und der Matratze der zwei Verrückten. Na super, da hatte ihn wohl jemand aus Platzgründen aus den Federn geworfen, wie freundlich.

Vorsichtig, um nicht noch alle anderen aufzuwecken, suchte sich Johannes einen Weg aus dem Schlafbereich, fischte sich seine Brille und stellte mit einem Blick auf die Uhr fest, dass es gerade mal halb drei war.

Und er war nicht müde genug, um seelenruhig weiterzuschlafen, das konnte ja noch etwas werden. Was sollte er denn bitte die nächsten sechs Stunden machen? Alleinunterhalter für seine Nerven spielen? Den Kühlschrank plündern? Doch nach Hause gehen und Ärger bekommen, weil er natürlich keinen Schlüssel dabei hatte und klingeln musste?

Nein, erst mal ging er aufs Klo, wenn er schon hier stand, danach... das entschied er spontan.

Im Dunklen bahnte er sich einen Weg bis zur Tür – schlimmer als nachts im Wald, da stolperte man auch über alles und jeden – und blieb im Flur kurz stehen. Wohin musste er eigentlich? Hier gab es so viele Türen – immerhin vier Stück! –, da wusste er auf Anhieb nicht, welche es sein konnte. Obwohl Tobis Tür ausschied, aber der Rest... schwere Frage.

Irgendwann hatte er keine Lust mehr, wie ein Depp herumzustehen, sondern öffnete eine der Türen und entdeckte zum Glück, dass er sich für die richtige entschieden hatte. Wäre schlecht gewesen, wenn es die von Tobis Schwester gewesen und die noch auf gewesen wäre.

Fünf Minuten später versuchte er zurück in das weiche Bett zu kommen, ohne auf Hennings Hand oder Florians Klamotten zu treten, was sich als gar nicht so einfach heraus stellte. Das Chaos schienen alle drei zu lieben, noch mehr Gemeinsamkeiten.

Um dieses Mal wenigstens etwas mehr Platz für sich selbst zu haben, schob Johannes Tobi, der noch schön vor sich hin pennte, ein Stück an die Wand und legte sich daneben, nur um zu merken, dass er immer noch nicht bereit zum Wiedereinschlafen war. Vielleicht sollte er anfangen, Schafe oder Katzen zu zählen. Oder Tobis als kleine Alternative, um sich von den ganzen anderen Leuten, die auch Viecher zählten, zu unterschieden. Heutzutage wurde doch an jeder Ecke Individualität gefordert, warum nicht auch hier?

Nachdem ihm der hundertste Tobi vor dem inneren Auge vorbeigehüpft war, fühlte sich Johannes verarscht und hörte auf; statt der gewünschten Wirkung war er fast schon aufgedreht, was für ein Scheiß! Und damit hatte er nicht einmal zehn Minuten totgeschlagen, Betrug. Wer auch immer diese Methode entwickelt hatte, gehörte auf dem Mond geschossen. Ohne Rückfahrgarantie natürlich, sonst wäre es ja zwecklos.

Sollte er Tobi wecken, damit er jemanden hatte, mit dem er reden konnte oder bei dem er sich überhaupt beschweren konnte, dass er nicht von rosa Schmetterlingen oder wahnsinnigen Mathetests träume? Verdient hätte T.V.L. es auf alle Fälle, aber wenn er einen kleinen Ausraster wegen der Uhrzeit bekam, wären auch noch die anderen wach und das Theater noch größer. Dumme Aussichten.

Genervt rückte Johannes etwas näher an Tobi, der ihn automatisch festhielt und somit eine weitere Flucht unmöglich machte. Talent zum Besitzergreifen sein hatte der Junge, kein Zweifel, aber musste er es auch noch nachts ausüben? Und sogar im Schlaf? Irgendwas stimmte da nicht.

Doch Johannes hatte momentan keine Lust, ein kleines Kämpfchen gegen seinen festen Freund zu führen, der das sowieso nicht mitbekam. Verschwendete Kraft, die man später für andere Zwecke nutzen konnte. Zum Beispiel Tobi eins auf die Mütze geben, wenn er sich in der Öffentlichkeit daneben benahm. Oder sich über sinnlose Hausaufgaben beschweren und sie trotzdem machen, das gehörte auch dazu.

Endlich merkte Johannes, dass er sich nicht mehr ganz so wach fühlte wie noch vor kurze Zeit – lag bestimmt an Tobis Anwesenheit – und schon bald tat er das, was jeder normale Mensch um diese Uhrzeit tun sollte: schlafen und die dümmsten Dinge träumen.
 

Ein leises Getuschel in der Nähe seines Ohrs weckte ihn wieder halb auf, was ihn erstens nervte, weil er gerne noch weiter geschlafen hätte, und zweitens spürte er die gefährliche Kante direkt neben sich. Einmal runterfallen am Tag genügte doch eigentlich.

„Ja, Flo, mach weiter!“ Aha,das klang mehr als seltsam. Was auch immer die zwei Jungs da vorhatten, er selbst wollte es nicht wissen. Deshalb hielt er demonstrativ die Augen geschlossen und versteckte sich noch ein bisschen mehr in der Decke, die ihm allerdings in der restlichen Nacht fast wieder komplett entführt worden war, dank Tobi.

„Gefällts dir, Henning?“ Florians Stimme örte sich an, als müsste er gleich loslachen, aus welchem Grund auch immer. Was machten die zwei da?

Etwas raschelte und ohne wirkliche Vorwarnung fing Henning an, wie ein Wahnsinniger zu keuchen, sodass sich Johannes erschrocken noch tiefer in die minimalen Weiten der Decke vergrub und sich wünschte, nie wieder rauskommen zu müssen. Wollte ihn die ganze Welt verarschen oder was verstanden die beiden unter der Bedeutung 'nicht schwul'?

„Ja, gibs mir, Flo!“

Jetzt reichte es aber, langsam übertrieben die beide es wirklich. Wo lebten sie denn, dass man seine Privatangelegenheiten nicht mehr zuhause hinter verschlossener Tür regeln konnte? Das tat er ja auch nicht, sonst hätte sich schon längst jemand aufgeregt.

Ruckartig zog jemand Johannes die einzige Schutzhülle vor der fiesen Welt weg und das erste, was er sah, waren die zwei gewissen Leute, die keinen Meter von ihm entfernt saßen und sich kaputt lachten, weil er auf ihr kleines Theaterstück hereingefallen war.

Wie peinlich!

„Na, hats dir gefallen?“, fragte Florian lässig und grinste ihn an. „Heute war Premiere, extra für dich. Freust du dich auch schön?“

„Ihr könnt mich mal.“ Etwas anderes fiel Johannes im Moment nicht ein, die bekannte Schlagfertigkeit hatte sich nämlich in Luft aufgelöst durch den kleinen Schock am Morgen.

„Gerne, sofort?“ War klar, dass Tobi das wieder ernst nahm, der wartete sozusagen nur darauf. Mit was für netten Leuten er sich hier herumschlug, man glaubte es kaum.

„Nein, vergiss es.“ Immerhin hatte er die beiden nicht von ihrer Dummheit abgehalten, also musste Strafe sein. „Ich hab Hunger, bring uns was.“

„Wenn du schon so ankommst, ganz sicher nicht.“ Und gleich kam die Rache, wie gemein. „Wir können wie normale Menschen unten in der Küche essen, meine Familie schläft noch mindestens bis elf oder länger.“

„Na wenns sein muss.“ Mit einem bösen Blick an Henning und Florian verließ Johannes das Bett und stapfte beleidigt in die Küche, um nun wirklich den Kühlschrank leerzuräumen. Als Rache der Rache der Rache. Oder so, war ja auch egal, Hauptsache Rache!

„He, eingeschnapptes Hühnchen, bleib stehen!“, rief Florian ihm hinterher. „Du bist selbst dran schuld, wenn du gleich etwas annimmst, ohne überhaupt mal hingeguckt zu haben.“

Obwohl Johannes das momentan nicht zugeben würde, hatte Tobis Freund recht, ein bisschen zumindest. Statt wie ein Einserschüler in Deutsch zu interpretieren hätte er mal die Augen aufmachen sollen. Auch wenn er dann möglicherweise eine tolle Überraschung vor der Nase gehabt hätte. Von der er sicher noch etwas hätte lernen können.

Entgegen Tobis Annahme, seine Familie würde den halben Vormittag in ihren Zimmern verbringen, saß seine Mutter in der Küche am Tisch mit einer Tasse Kaffee und einem Brötchen mit Marmelade vor sich. Ein wenig verwundert beobachtete sie die Jungsparade, die sich im Schlafanzug zu ihr setzte und gleich begann, das Brotkörbchen zu erleichtern, als hätten sie seit Jahrzehnten nichts mehr zu futtern gehabt. Das ließ sie allerdings unkommentiert, was Johannes ganz recht war.

„Was habt ihr denn gestern Abend noch schönes gemacht?“ Na gut, diese Standardfrage hätte sie auch weglassen können, das fragte man kleine Achtjährige, aber nicht eine Gruppe von extrem coolen Jugendlichen.

„Nichts besonderes“, antwortete Tobi zwischen zwei Brötchenhälften und einem Schluck Kakao. „Du musst Sarah wirklich diese schrecklichen Filme verbieten, davon bekommt man Alpträume, stimmts?“

Florian und Henning nickten gleich, obwohl mindestens einer von ihnen kaum etwas mitbekommen hatte, aber Hauptsache man tat, als wüsste man 100%ig Bescheid.

„Ach Tobi, du machst auch nicht immer besseres Sachen“, belehrte Frau Lohr ihn sofort und trank ihren Kaffee leer. „Außerdem könntest du mich nächstes Mal vorwarnen, wenn wir wieder sehr viel Besuch bekommen, damit ich mehr einkaufen kann.“

„Ging nicht, war eine spontane Aktion, von der wusste ich selbst gestern Morgen noch nichts.“ Da hatte er ausnahmsweise recht, was auch nicht besonders häufig vorkam. Tag der Premieren und Rekorde.

„Florian und Henning kenne ich ja, aber wer bist du noch mal?“ Fragend sah sie Johannes an, der sich wunderte, wieso sie ihn nicht erkannte; er kam doch jede Woche hier her. Vielleicht lag es am Schlafanzug – einer von Tobi, das sagte alles – und an seiner interessanten Frisur am Morgen.

„Mann, wie peinlich, Mama.“ Tobi blickt sie schräg an. „Das ist Johannes, nicht erkannt?“

„Oh, jetzt wo du es sagt, fällt es mir auch auf.“ Etwas verlegen versteckte sich Tobis Mutter hinter einer weiteren Tasse Kaffee. Ein zusätzlicher Kaffeeabhängiger auf dieser Welt, wie schön.

„Eltern“, murmelte Tobi genervt, trank seinen Kakao aus und bestimmte aus einer Laune heraus, dass sie nun alle genug gegessen hatten und zurück in sein Zimmer gehen würden. Seit wann herrschte hier im Hause Lohr Diktatur, das gefiel Johannes gar nicht, eigentlich wollte er nämlich noch ein Brötchen essen, aber daraus wurde nichts; Tobi drückte ihn ohne Rücksicht in Richtung Tür und zerrte ihn in sein Chaosräumchen.

„Ich müsste dann bald auch wieder nach Hause“, teilte Johannes Tobi mit, dem das gar nicht zu passen schien. „Hausaufgaben machen und so, du weißt ja.“

„Wieso? Es ist Samstag, Englischtag. Du bleibst hier noch und ich tu so, als würde ich dir helfen und du tust so, als verstehst du es.“

Stimmt ja, diesen besonderen Tag in der Woche hätte er wegen des vielen Gedöns drum herum fast vergessen. Das kam davon, wenn man sich zu lange mit einem kleinen besitzergreifenden Etwas in einem Zimmer aufhielt.

„Was? Du bist sein Nachhilfelehrer?“ Henning konnte es kaum glauben, verständlich. „Du checkst doch selbst höchstens die Hälfte, die ihr im Unterricht macht, oder?

„Tja, auch ich kann was“, gab Tobi an und hielt ihm das Englischheft, das er aus irgendeiner Ecke gezaubert hatte, unter die Nase. „Guck rein, das kannst du nicht.“

„Will ich auch gar nicht, meine zwei in Mathe kannst du nicht toppen.“

„Jungs, hört auf, euch gegenseitig auf die Nerven zu gehen.“ Unbeeindruckt vom Notenduell neben ihm spielte Florian mit einem Kugelschreiber, den er auf dem Schreibtisch gefunden hatte. „Dafür seid ihr beide in Bio die totalen Loser, also seid still, zivilisiert und macht was, was nichts mit Schule zu tun hat.“

Zum Schluss quetschten sie sich alle zu viert mit einem kleinen Brettchen auf das Bett und spielten ein paar Runden 'Mensch ärgere dich nicht‘, was damit endete, dass Tobi ziemlich aggressiv die Figürchen auf seinem Bettlaken verteilte, weil er als einziger erst eins davon auf dem Feld hatte, während Florian schon so gut wie fertig war.

„Der Spielverderber in Aktion“, seufzte Henning und trauerte seinem zweiten Platz hinterher. „Das nächste Mal spielen wir Memory, vielleicht hast du da eine Chance.“

Johannes fand es erstaunlich, wie die drei sich beschäftigen konnten, ohne sich gleich vor eine Flimmerkiste oder den schrottreifesten PC zu hocken. Das sollten sich mal ein paar tausend andere Typen abgucken, damit sparte man nämlich auch noch Strom. Und Nerven, falls das Elektroteil nicht so wollte wie man selbst.

„Oder Siedler von Catan, da gewinnt er doch öfters.“

„Aber nur, weil er gerne die Karten aus der Kasse klaut, Henning. ist dir das noch nie aufgefallen?“ Florian begann das Spielmaterial – soweit er es fand – wieder einzuräumen und trat dabei Tobi natürlich ganz ausversehen auf dem Fuß.

„Wir gehen jetzt aber wirklich, sogar wir müssen für die Schule lernen“, verabschiedete sich Florian eine halbe Stunde später, als er und Henning in ihren Klamotten vom Vortag und frisch gewaschen per erneuter Wasserschlacht in der Haustür standen. „Viel Spaß noch, bei was auch immer. Und lass Johannes am Leben, Tobi, eigentlich ist er ja ganz in Ordnung. Nur sollte er sich eine neue Brille kaufen.“ Wie oft wollte er noch auf heute Morgen anspielen?

„So, jetzt sind wir sie los“, stellte Tobi fest und schloss dir Tür. „Englisch müssen wir ja nicht lernen, oder? Ich hab keinen Bock drauf, es ist sowieso nichts Schwieriges zum Üben dabei. Oder verstehst du das Futur immer noch nicht?“

„Besser als andere Sachen.“ Auf Schule hatte er auch keine Lust. „Und was machen wir jetzt?“

„Ah, ich hätte da eine Idee.“ Mit einem bekannten Tobigrinsen zog er Johannes zurück in sein Zimmer in Richtung Bett und setzte sich dort neben ihn. „Du wirst jetzt lernen, etwas aktiver zu sein. Ist echt nervig, wenn ich der einzige bin, der immer was machen muss.“

„Aha.“ War das so ein Problem? Fand er eigentlich nicht. „Muss das sein? Du hast mehr Ahnung als ich.“

„Deswegen sollst du es lernen, Mann.“ Man merkte Tobi an, dass er ihn gerade als leicht schwer von Begriff einstufte. „Fangen wir ganz einfach an: Küss mich.“

„Äh...“ Sowas klappte doch nicht auf Befehl! Sah er aus wie ein Hund, der alles machte, was von ihm verlangt wurde? Dann würde er schleunigst etwas an seinem Äußeren ändern.

Trotzdem beugte sich Johannes zaghaft zu Tobi hinüber und gab ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. „So gut?“

„Das kann ja meine Schwester besser.“ Verzweifelt seufzte Tobi. Das musste jemand noch viel lernen. Aber sie hatten ja den halben Vormittag Zeit.

„Ich hab keinen Bock auf den Schrott, ich will wieder nach Hause!“, quengelte Tobi seit fast einer halben Stunde herum und spielte Pseudofußball mit einer Coladose, die das Pech hatte, direkt vor ihm auf dem Boden zu liegen.

„Da bist du nicht allein“, stimmte ihm Tanja zu – oh nein, die beiden waren einer Meinung, die Welt müsste untergehen! – und verstellte genervt die Schnallen ihres Rucksacks. „Es hat noch nicht mal angefangen und es ist schon scheiße, das muss man erst mal hinbekommen.“

Das kam davon, wenn man mit drei zehnten Klassen einen selbsternannten Wandertag machen wollte und das Busunternehmen, das dafür einen Berg Kohle bekam, einfach vergaß, dass es circa hundert Leute irgendwo hinbringen sollte. Deshalb standen sie schon seit dreißig Minuten dumm herum, langweilten sich, gingen den Lehrern auf den Geist und hofften, dass sie bald einfach nach Hause gehen durften. Wer wollte sich denn auch irgendein doofes Schloss aus dem letzten Jahrtausend, das bestimmt einsturzgefährdet war, ansehen? Und darüber natürlich auch einen Aufsatz schreiben? Diese Schüler jedenfalls nicht.

Die Lehrerin der Parallelklasse telefonierte schon längere Zeit hektisch durch die Gegend, um den Tag irgendwie noch zu retten während der Rest der Aufsichtspersonen sich heimlich aus dem Staub gemacht hatte, um sich wahrscheinlich nun beim nächsten Supermarkt einen Kaffee zu kaufen.

„Was eine tolle Organisation hier“, brummte Johannes und beobachtete die zwei Intelligenzbolzen Martin und Jakob aus seiner Klasse beim ultimativen Schnack-Schnack-Schnuck mit zwanzigtausend Neuerfindungen, bei denen sie selbst irgendwann nicht mehr durchblickten und gleichzeitig aufgaben. Schlau!

„Johannes, mach was, mir ist langweilig“, befahl ihm Tobi und schoss ihm mit aller Kraft die Dose gegen das Schienbein. Als ob er so bessere Ideen aus dem Ärmel zaubern konnte.

„Was denn? Bin ich dein Alleinunterhalter oder so?“ Das wäre ihm sehr neu. Außerdem würde er dafür gerne fünf Euro pro Minute bekommen.

„Nee, das brauch ich nicht. Mach einfach irgendwas, Hauptsache, es passiert was.“

„Ich hab noch Haarspangen dabei“, schaltete sich Tanja ein, „wir könnten dir also eine schöne Frisur verpassen.“ Sie begann schon in ihrem Rucksack danach zu kruscheln.

„Nein, auf keinen Fall!“ Wie brachte man Tobi sehr schnell auf die Palme? Genau, so!

„Tanja, lass es, du musst ja nicht die ganze Zeit mit ihm abhängen, ich krieg später sowieso seine Rache für deine Vorschläge ab.“ Das Leben war und blieb ungerecht. Aber er wollte es ja theoretisch so, also sollte er besser mal die Klappe halten, beziehungsweise seine Gedanken auf lautlos stellen.

„Eine Kaffeetasse Mitleid für Johannes Sander, wer spendet mit?“, fragte Tanja in die Runde und es sah wirklich so aus, als wollte sie gleich bei ihren Mitschüler ein wenig Anteilnahme sammeln gehen. Bei diesen Freunden brauchte er sich wirklich nicht zu fragen, warum er sich manchmal seltsam benahm.

„In ein paar Minuten kommen die Busse!“, krähte die Telefondienstlehrerin so laut sie konnte und ein kollektives „Nein!“ machte deutlich, wie sehr sich die Schüler darüber freuten, dass ihr Ausflug doch nicht ins Wasser fiel.

„Das rentiert sich doch eh nicht mehr“, versuchte jemand, der natürlich anonym bleiben wollte und deshalb in der Mitte einer extrem großen Gruppe genervt aussehender Jugendlicher stand, die Lehrerin zu überzeugen. „Lassen sie uns einfach nach Hause gehen, ist doch so schönes Wetter.“

„Nein, wir haben das wochenlang geplant, also wird das jetzt auch gemacht.“ Typische Lehrerantwort, immer extra die Schüler ignorieren und sich noch darüber freuen.

Natürlich dauerte es schließlich seine Zeit, bis die zwei Busfahrer gecheckt hatten, wo sie eigentlich hinsollten – wahrscheinlich gab es kein Geld für Navis – und dann wollten selbstverständlich alle Leute gleichzeitig einsteigen und es entstand ein meterlanger Stau, den Tobi, Tanja und Johannes von Weitem bewunderten. Sie fühlten sich zu intelligent, um sich auch noch daran zu beteiligen.

Irgendwie schafften sie es dann doch noch, einigermaßen gute Plätze zu bekommen, quetschten sich zu dritt auf zwei Sitze und wurden dafür gleich von der nächsten Lehrerin zur Schnecke gemacht, was sie aber nicht störte, denn niemand von ihnen wollte sich einen Platz mit irgendwelchen 'coolen Menschen' aus den Parallelklassen teilen.

Mit fast einer Stunde Verspätung fing die tolle Fahrt an, in der Johannes zwischen seinen zwei Killerfreunden eingeklemmt war und sich von Tobi das Ohr abnörgeln ließ. Nichts neues, aber das noch mindestens eineinhalb Stunden ertragen zu müssen, fand er nicht sehr erfreulich. Hatte Tanja nicht ihr Musikding dabei, mit dem er das Generve neben sich nicht mehr anhören musste?

Das hatte sie tatsächlich, aber sie sah nicht ein, es mit ihm zu teilen, weil er sein eigenes hätte mitnehmen können. Mädchen auf dem Egotrip waren manchmal wirklich grauenhaft.

Wie eigentlich immer bei dummen Busfahrten mit tausenden gelangweilten Pseudoerwachsenen war es lauter als die Polizei erlaubte: Hinter ihnen unterhielten sich zwei Mädchen über irgendwelche Fernsehserien, für die man eigentlich Schmerzensgeld erhalten sollte, zwei Jungs weiter hinten fanden es toll, sich gegenseitig gegen die Fensterscheibe zu knallen und ganz vorne hatte einer der Lehrer darauf bestanden, im Radio den bekanntesten Uraltliedersender einzuschalten.

Wie konnte man sich hier nicht wohlfühlen?

„Warum müssen wir in dieses blöde Schloss gehen?“, fing Tobi einfach wieder von vorne an. „Da gibt’s nicht mal Geister, also was wollen wir da?“

„Uns kulturell weiterbilden und den Besitzern die Schatzkammer ausrauben“, erklärte ihm Johannes und versuchte sich, eine bessere Position zu verschaffen, indem er Tobi halb vom Sitz stieß. „Außerdem kannst du im Souveniershop bestimmt dein ganzes Geld zum Fenster rauswerfen. Sei froh, dass das ein kleines Schloss ist, sonst würden wir noch länger da sein.“

„Ich bin aber nicht froh! Das nächste Mal bin ich krank. Oder im Urlaub, was weiß ich? Zum Glück haben meine Eltern das bezahlt, sonst hätte ich ihnen was erzählt.“ Immer noch schlecht gelaunt von der Vorstellung, den halben Tag durch ein Gebäude ohne irgendwelche interessanten Sachen laufen zu müssen, eroberte Tobi durch einen gezielten Ellbogenstoß sein Territorium zurück und angelte in seiner Tasche nach seiner Wasserflasche. Vielleicht lenkte sie ihn etwas ab.

„Mann, mach dich nicht so breit, du bist nicht allein in diesem Bus.“ Johannes sah es auf Dauer nicht ein, ständig ein Viertel oder weniger von allem zu bekommen: Vom Sitzplatz hier, vom Tisch in der Schule, vom Platz und der Decke in Tobis Bett...

„Wär ja noch schlimmer, Privatausflug mit den ganzen Lehrern, da würde ich sogar nach Hause zurücklaufen.“ Gnädigerweise rückte Tobi fünf Zentimeter nach links und fragte sich, wieso er seine verdammte Wasserflasche nicht entdeckte, dafür aber einen Haufen loser Blätter und jede Menge Süßigkeiten. Ordnung war halt immer noch was für Spießer.

„Suchst du was?“, fragte Johannes und hielt seinem Freund schließlich eine Flasche mit durchsichtigem Inhalt entgegen. „Die hast du vorhin liegen lassen.“

„Echt, hab ich gar nicht gemerkt.“ Das hatte man auch gesehen, sonst hätte er nicht wie ein irrer seine Sachen durchsucht.

„So siehst du auch aus.“ Blitzschnell klaute sich Johannes einen von Tanjas Ohrstöpseln und hielt ihn sich ans Ohr. „Äh... seit wann hörst du denn sowas?“

„He, ich will auch wissen, was für Geschmacksverirrungen sie hat!“, rief Tobi, hörte es sich einige Sekunden an und ließ es sehr schnell wieder bleiben. „Oh man, da ist nichts mehr zu retten, nicht mal mit einer Therapie.“

„Jetzt regt euch mal ab. Was ist an 'Keane' so schlimm? Soll ich lieber 'Snowpatrol' oder 'High school musical' hören?“

„Nein, lass es alles lieber sein. Weiß mein Bruder davon?“

„Ja klar, der hat mich erst darauf gebracht.“ Das fand sie schon besser.

„Okay, dann weiß ich, was ich ihm zu Weihnachten schenke.“ Ob er eine Paartherapie finanzieren konnte? Musste klappen, das ging ja gar nicht.

Sie stritten sich noch länger über die unterschiedlichsten Musikarten – wobei sie alle einheitlich gegen Schlager und Countrymusik stimmen -, bis sie endlich den Ort erreichten, an dem sie ihren 'Bildungshorizont' erweitern sollte. Oder besser gesagt, wo sie so schnell wie möglich wieder weg wollten.

„Das sieht ja noch schlimmer aus als ich dachte“, war Tobis erster Kommentar und wurde dafür von einem Lehrer, der gerade an ihnen vorbei lief, böse angesehen. „Wollen wir uns nicht heimlich absetzen und dann...“

„Versuchen können wir es, aber ich glaub nicht, dass wir es schaffen.“ Wirklich Lust auf das Theater hatte Johannes nämlich auch nicht, obwohl ein ganzer Schultag wegfiel. Was war schlimmer? Geschichte im Klassensaal oder in einem eingestaubten Schloss?

„Alle Schüler bitte hier her!“ Nun gab es tatsächlich kein Zurück mehr, eine der hochmotivierten Lehrerinnen stand schon am Eingang und winkte ihnen zu. Konnte die ihr Hobby nicht ohne andere ausleben?

In Grüppchen von circa zwanzig Leuten folgten die Schüler und Lehrer immer einem Führer, die sie kreuz und quer durch die Gegend lotste, ihnen dabei Vorträge ohne Punkt und Komma erzählte und es fertigbrachte, dass Tanja nach nicht einmal zehn Minuten ihren treuen Freund, den MP3-Player, benutzte.

„Und das hier ist ein Bild von Hildegard von Blauturm, ihrem Mann, ihren fünf Kindern und dem Schloss im Hintergrund. Und hier ist ihre Halbschwester Ursula mit ihrer Tante Franziska und...“

„Kann der mal aufhören? Das interessiert doch niemanden, wie diese Familie von auf und davon heißt. Außerdem sehen die eh alle gleich aus, sogar den Mann kann man nicht vom Rest unterscheiden.“ Johannes‘ Nerven hatten sich schon seit Anfang der endlosen Ahnengalerie verabschiedet und saßen nun im Innenhof des Schlosses und sonnten sich. Zumindest nahm Johannes das an, dass ihnen das besser gefiel als das hier.

„Die sind doch alle besoffen in der Familie, oder warum heißen die Blauturm, wenn es hier keinen blauen Turm gibt? Volksverarschung oder was? Ich will das Geld von meinen Eltern zurück! Der Mann gehört sowieso ins Altersheim und nicht in das Schloss hier, um arme Schüler zu quälen“, meinte Tobi ungeduldig, weil er so schnell wie möglich von hier weg wollte.

„Weißt du was? Du täuschst vor, dir wäre schlecht und dann frag ich, ob wir raus gehen dürfen.“ Sowas funktionierte immer, es konnte nämlich keiner prüfen, ob sein Freund jetzt wirklich einen kleinen Kreislaufzusammenbruch bekam oder seine schauspielerischen Leistungen zeigte.

„Wenn es sein muss...“ Zwar gehörte es nicht zum normalen Tobiverhalten, seinen Lehrern mit solchen Sachen auf den Geist zu gehen, aber unangenehme Situationen forderten ungewöhnliche Mittel.

Keine drei Minuten später standen die zwei erfolgreichen Jungs im Schlossgarten und freuten sich, ihre Ruhe vor dauerschwätzenden Senioren zu haben.

„Ist doch mal viel besser.“ Schwungvoll ließ sich Tobi ins Gras fallen und sprang gleich wieder auf, als er merkte, dass er in einem kleineren Ameisennest gelandet war. Dummheit siegte bei ihm gerne.

„Wenn man hinsieht, wohin man sie legt, bestimmt.“ Nach einem gründlichen Check des kleinen Rasenstücks machte Johannes sich dort gemütlich und atmetet tief ein. So konnte man einen Ausflug überstehen. Gerade so.

Natürlich verdrängte Tobi ihn gleich von seinem Plätzchen, weil es dort schön schattig war, und war kurz davor einzuschlafen, doch daran hinderte Johannes ihn. Was sollte er allein die ganze Zeit machen?

„Tobi, schlafen kannst du auch später im Bus.“

„Bei dem Lärm ganz sicher nicht.“ Wenn er wollte, konnte er viel, auch das. „Okay, dann zeig mir mal, was du noch alles von letzten Samstag kannst.“

„Bist du wahnsinnig? Doch nicht hier!“ Die zwei Wochen waren noch nicht ganz vorbei. „Wenn die alle gleich rauskommen und wir hier... das geht nicht!“

„Stell dich nicht so an, der scheintote Mensch wird denen noch lang genug diese Blauturmfischgalerie zeigen, sie noch totreden und dann kommen sie. Dauert bestimmt noch mindestens eine halbe Stunde. Oder was willst du anderes machen?“ Schweigen im Wald. „Ha, wusste ich es doch, dir fällt auch nichts anderes ein.“ Zufrieden grinste Tobi vor sich hin.

„Du denkst echt nur an das eine“, warf ihm Johannes vor, aber weil ihm gerade die Lust auf zwecklose Diskussionen auf niedrigem Niveau fehlte, gab er nach und beugte sich über Tobi. „Manchmal frag ich mich echt, warum ich das jedes Mal trotzdem mache.“

„Weil du mich magst, du Schnellchecker“, erklärte sein Freund es ihm und wartete, dass Johannes endlich mal die Führung übernahm und nicht er selbst immer alles machen musste.

„Ja, daran liegt es wohl.“ Obwohl ihn es besser getroffen hatte als andere Leute, die so verliebt waren, dass sie nichts mehr um sich herum wahrnahmen und regelmäßig gegen die nächste Tür rannten. Und natürlich nicht mehr logisch denken konnten.

„Hallo, heute noch?“ Ungeduldig rupfte Tobi an einem Stück Gras neben sich. „Noch langsamer und die nächste Schnecke machts für dich.“

„Wer nervt, bekommt gar nichts.“ Sowas ging bei ihm nicht auf Knopfdruck, wie oft denn noch? „Sag bitte.“

„Vergiss es.“

„Dann mach ich nichts.“

„Arschloch.“

„Danke.“ Mit dieser Nummer konnten sie in die nächste Talkshow gehen. „Na gut, aber nur, weil es sonst nichts zu tun gibt.“ Wieso ließ er sich zu jedem Scheiß überreden? Das hatte er doch früher auch nicht unbedingt zugelassen. Man, langsam trat sein Verstand in Ruhestand.

Zuerst vergewisserte er sich, dass niemand hinter einem Baum stand und Beweisfotos von ihnen schoss, dann setzte er sich irgendwie – wie genau er das anstellte, wusste er nicht – auf Tobi und probierte sozusagen seinen ersten eigenständigen Zungenkus aus. Das fühlte sich extrem seltsam an, aber das lag sicher nur daran, dass er keinen Plan davon hatte. Naja, Herr Bestechungskind schien es nicht zu schlecht zu finden, jedenfalls hatte er sich noch nicht großartig beschwert.

Ging ja auch kaum, dann hätte er erst Johannes die Zunge abgebissen.

„Na also, das üben wir jetzt noch zwanzig Mal und dann klappt das für die nächsten hundert Jahre“, meinte Tobi zuversichtlich, als er wieder gefahrlos kommunizieren konnte.

„Woher wusste ich, dass ihr hier seid und es euch zu gut geht?“ Eine mehr als genervte Tanja kam angestapft, entfernte das Elektrogerät aus ihren Ohren und setzte sich neben die zwei, die immer noch ziemlich aufeinander hangen. „Mann, ich will auch, dass Kevin hier ist, das hält ja sonst wirklich keine Sau aus.“

„Natürlich nicht, deshalb haben wir ja auch die Fliege gemacht. Was hast du erzählt, um raus zu kommen?“

„Ich musste aufs Klo. Und dann hab ich mich halt verlaufen und bin bei euch gelandet. Klingt doch glaubhaft, oder?“ Sie packte eine Schokoladentafel aus und begann mit dem Frustessen.

Eine Viertelstunde war die Führung scheinbar beendet, die anderen versammelten sich auch auf der Wiese und die drei bekamen Ärger, weil der Lehrer sie durchschaut hatte. Sollte er doch, ihnen machte das wenig aus, solange er ihnen keine Strafarbeit gab oder sie zwang, die Führung noch einmal mitzumachen.

„In einer halben Stunde geht es weiter, dann sehen wir uns außerhalb vom Schloss um.“

„Nein, Natur!“, rief jemand dazwischen und lachte sich über seinen eigenen nicht auffindbaren Witz kaputt. Musste einer aus der anderen Klasse sein, so wie er sich anstellte.

Genau wie die Gruppe Mädchen, die wild kreischend vor einem Schwarm Mücken flüchtete und somit fast in einen kleinen Bach stürzte. Hinschauen half.

„Dümmer geht’s nicht mehr.“ Tanjas Tafel wurde von Minute zu Minute kleiner. „Hoffentlich rennen sie gegen einen Baum.“

„Oder legen sich in einen Ameisenberg wie Tobi.“ Obwohl man Tobi nicht mit dieser Horde naturfeindlicher Tussen vergleichen durfte. Die waren ja harmlos im Gegensatz zu Tobi, selbst wenn sie sich noch so nervig anstellten.

„Klappe, sonst tot“, lautete die geistreiche Antwort darauf. „Das geht sie gar nichts an.“

„Natürlich nicht, aber es ist lustig. Leben die armen Tierchen noch?“

„Keine Ahnung, musst du mal nachsehen, Tanja, vielleicht hat Tobi sie auch unabsichtlich umgebracht.“ Wieso waren ihre Gespräche immer so hohl?

Der Rundgang um das Schloss stellte sich als richtig gefährlich heraus, da einer der Jungs aus Johannes' Klasse nicht seine Augen aufmachen konnte und den erstbesten Abhang hinunterfiel. Zum Glück war der nicht so tief, sonst hätte der arme Idiot dort unten übernachten dürfen. Niemand wollte ihm nämlich hochhelfen.

„Und das ist eine alte Eiche, die der Besitzer von 1745 hier pflanzen ließ, weil er ...“, fuhr der Mann mit seinem Job fort und erzählte zu fast jedem Baum, Strauch und Blatt auf dem Boden eine Geschichte, die meistens damit endete, dass einer tot oder verheiratet war. Sehr tragisch.

„Die Bäume hier sind alle berühmter als wir alle zusammen“, stellte Tanja seufzend fest. „Das kann es doch nicht geben. Dabei haben die nichts gemacht außer herumzustehen und Sauerstoff zu produzieren.“ Als ob ihr Apfelbaum das nicht könnte!

„Tja, damit müssen wir wohl leben.“ Immerhin gab es sogar Steine, die bekannter als sie waren.

„Trotzdem, das ist gestört. Das ganze Zeug ist gestört, das interessiert echt niemanden.“

Deprimiert von den Promibäumen schlichen die Schüler am Ende zu den Bussen, setzten sich auf ihre alten Plätze und weigerten sich, heute sich noch irgendwelche kulturellen Dinge anzutun.

„Halt, ich will nicht wieder in der Mitte hocken, das ist der dümmste Platz von allen“, protestierte Johannes, als die anderen ihn beinahe dazu zwangen.

„Ja klar, deshalb will ja auch keiner hin.“ Dass sein Freund manchmal so schlau war, fand Tobi sehr bedenklich. „Wir können natürlich Tanja verscheuchen.“

„Nein, machen wir nicht“; bestimmte Johannes. So weit kam es hier noch. „Zwei müssen sich einen Sitz teilen.“

Damit fing die Diskussion richtig an, denn bei Tobi und Johannes wäre das viel zu auffällig – welche normalen Jungs taten das denn? – und Tanja und Tobi hatten auch Gründe, die nur sie selbst verstanden.

Am Schluss saß Tanja auf Johannes‘ Schoß, beklagte sich, weil es so unbequem war und verweigerte ihm weiterhin die Musikzufuhr.

Gegen Mitte der Fahrt fühlte sich Johannes wieder eingezwängt, da die beiden anderen ohne ihn zu fragen trotz der Lautstärke weggepennt waren. Wenigstens nahm er sich dafür Tanjas Düdelding.

Als sie am späten Nachmittag aus dem Bus ausstiegen, kam sich Johannes wie zerschlagen vor; Tanja war doch nicht ganz so leicht wie sie aussah.

Aber immerhin hatten sie diesen unzumutbaren Ausflug für Bekloppte überstanden, da musste man auch wieder positiv sehen. Es hätte noch viel schlimmer werden können, mit einem doppelt so großen Schloss mit tausend anderen Leuten.

Da wäre außerdem seine kleine Unterrichtseinheit mit Tobi nicht so einfach gewesen.

„Los, Kevin, beeil dich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“, forderte Johannes seinen Bruder genervt auf, als dieser am Samstag morgen um halb elf endlich aufgestanden war und zum Frühstück wanderte. „In einer halben Stunde kommen Tanja und Tobi, also beweg deinen Arsch.“

„Oh, so autoritär heute morgen“, machte sich Vera über ihren jüngeren Bruder lustig, „muss ja etwas ganz Wichtiges sein. Es ist noch nicht mal elf und ihr steht freiwillig auf. Seid ihr krank? Oder habt ihr eine Wette verloren?“

„Nein, wir haben etwas vor“, erklärte Johannes ihr, während er das Plastikgeschirr aus den Tiefen des Küchenschranks holte und sich über die Abwesenheit des dazugehörigen Plastikbestecks ärgerte. „Sieht man doch, oder?“ Wo war das Zeug nur? Das benutzte sonst auch keiner, also musste es hier irgendwo herumliegen! Oder hatte seine Mutter wieder ohne Vorwarnung aussortiert?

„Ihr beide zusammen?“ Langsam wurde es Vera fast unheimlich. Erst wurde Kevin wie von Zauberhand von seinem übermäßigen Fernsehkonsum geheilt und plötzlich unternahmen er und Johannes seltsame Dinge, die stark nach einem Picknick aussahen. Verkehrte Welt oder wie? Das taten doch keine normalen Jungs freiwillig.

„Nicht nur.“ Mehr brauchte sie nicht zu wissen, fand Johannes und schnappte sich zufrieden die Gabeln und Messer aus dem billigsten Material des Universums; wieso versteckten sie sich auch in der Salatschüssel? Seine restliche Familie würde noch früh genug erfahren, wer seid neustem immer mit ihm abhing und ihre Reaktion konnte er sich schon vorstellen. Entweder entsetzt oder völlig entsetzt. Vielleicht auch volle Kanne entsetzt.

„Aha, wer denn noch? Kenn ich diejenigen?“ Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, nahm sie sofort an, es handle sich um mindestens ein Mädchen. Stimmte eigentlich sogar, außer Tanja hatte ihm jahrelang etwas verschwiegen, was er hätte wissen sollen.

„Müsstest du.“ Genug Informationen, den Rest durfte sie sich sonstwoher zusammensuchen. Er jedenfalls benötigte Proviant, denn ohne diesen machte ein Picknick so viel Sinn wie ein PC-Spiel ohne Computer. Im Keller müsste noch viel Essen sein, gestern hatten seine Eltern erst den halben Supermarkt leergekauft und den danebenstehenden sicher auch. Irgendetwas Gutes würde sicher dabei sein, zur Not düste er noch schnell in den kleinen Gammelladen an der Ecke, in dem es alles und noch viel mehr gab.

Nachdem Johannes sich für ihren Ausflug mit allen möglichen – und unmöglichen – Produkten, hauptsächlich Kuchen und solchem Süßzeug, eingedeckt hatte, warf er alles in ein kleines Körbchen, das ihm Vera unter die Nase hielt und wartete ungeduldig, dass Kevin freundlicherweise einen Zahn oder zwei zulegte und nicht bis an sein Lebensende im Bad am Waschbecken stand. Und in seinem Zimmer vor dem Kleiderschrank plus Spiegel.

Kurz nach elf klingelte es an der Haustür und davor standen Tanja und Tobi, die sich gegenseitig gefährlich musternde Blicke zuwarfen. Langsam sollten sie sich vertragen, schließlich würden sie sich noch längere Zeit ertragen müssen, ob sie wollten oder nicht. Und das galt nicht nur für heute, sondern möglicherweise für die folgenden Monate.

„Kevin kommt gleich, er schminkt nur gerade noch sein Ego“, berichtete ihnen Johannes und drückte der verwirrten Tanja das Körbchen in die Hand. „Ist erst vor einer halben Stunde aufgestanden, der Depp, der hat Nerven.“

„Sei nicht zu freundlich, er ist halt so.“ Tanja reichte den tonnenschweren Korb einfach an Tobi weiter, dem das gar nicht gefiel, einfach vom Mensch zum Packesel degradiert zu werden. „Außerdem ist eine halbe Stunde früh genug.“

„Schon, aber nur, wenn man die ganze Arbeit seinen Geschwistern überlässt. Vera musste Frühstück machen und ich das Picknickgedöns zusammenpacken.“ Faulheit gehörte manchmal wirklich bestraft.

„Ich bin ja schon da.“ Seufzend trottete Kevin in dem Flur, um allen seine anbetungswürdige Anwesenheit zu präsentieren, was allerdings nur Tanja richtig freute. Johannes war es relativ egal und Tobi... der hatte andere Probleme.

„Wir haben noch einen zusätzlichen 'Mitesser'“, warnte er Johannes vor und zerrte Sarah aus einem der Rosenbüsche, in dem sie bis vor einigen Sekunden fleißig auf Käferjagt gewesen war. „Meine Eltern fanden es nämlich eine tolle Idee, sie mir für heute anzudrehen, weil ich ja sowieso nichts Besseres vorhabe, als auf sie aufzupassen. Ignorante alte Leute. “

„Hallo Johannes!“, begrüßte Sarah ihn fröhlich, „bist du jetzt endlich mit Tobi zusammen?“

„Äh.“ Musste sie immer gleich auf dieses Thema wechseln? Aus ihr wurde später sicher eine gute Klatschtante.

Eigentlich waren die zwei Probewochen um, er konnte theoretisch ein riesiges Schild mit 'Tobi und ich heiraten bald!' aufhängen und würde sich nicht strafbar machen, aber es der kleinen Schwester seines Freundes auf die Nase binden? Tobi fände das bestimmt alles andere als lustig.

„Naja, also eigentlich, wie soll ich das sagen?“ Hoffentlich nervte er sie mit seinem doofen Vielleicht-Getue so sehr, dass sie es nicht mehr hören wollte, doch Tobi ersparte es ihm schnell.

„Ja, sind wir, zufrieden, Frau Löhrchen?“

„Nenn mich nicht so“, beschwerte sie sich. „Du bist nur eifersüchtig, weil ich es vor dir gewusst habe, dass es so kommen wird.“

Ob Tobi tatsächlich auf Sarahs zweifelhaften Hellseherfähigkeiten neidisch war, blieb natürlich im Dunkeln, da die restlichen Teilnehmer des Ausfluges forderten, endlich loszugehen, damit sie im Park noch halbwegs schöne Plätze bekamen.

In Zweiergrüppchen mit Sarah an der Spitze als die neue Körbchenträgerin liefen sie zur nächsten Bushaltestelle und warteten, dass der Bus, der sie zum gewünschten Zielort fahren sollte, sich beeilte. Was er wie immer nicht tat, man wurde ja nur dafür bezahlt, und mit einer Viertelstunde Verspätung verteilten sich die vier inzwischen leicht gereizten Jugendlichen inklusive Kind mit Gepäck in dem Fahrzeug, das auch schon bessere Tage gesehen hatte. Irgendwann in der Steinzeit ungefähr.

„Das nächste Mal laufen wir da hin“, bestimmte Tobi, der es sich auf Johannes‘ Schoß bequem gemacht und als aller erstes einen Typen in ihrem Alter angefaucht hatte, weil dieser ihn als komisches Mädchen bezeichnet hatte. Trug er ein Kleid oder wieso nahm der Vollidiot das an? Vielleicht sollte dieser in eine Brille statt in coole Klamotten investieren.

„Das will ich sehen“, rief Sarah, „du bist bestimmt der erste, der sich ein Privattaxi wünscht.“

„Klappe dahinten“; fuhr ihr Bruder sie an, „ nach deiner Meinung hat dich keiner gefragt.“

„Lass sie doch“, mischte sich Tanja ein, die zusammen mit Kevin auf der anderen Seite des Busses saß. „Wenigstens hat sie eine.“

„Könnt ihr einmal aufhören, euch zu streiten?“, fragte Johannes und plante beinahe schon, demonstrativ an der kommenden Haltestelle auszusteigen und zurück nach Hause zu gehen. Mit diesen Menschen wurde es nie ruhig, wo hatte er bloß das Klebeband liegen gelassen?

„Wir streiten nicht, wir machen uns zur Schnecke, um uns gut zu fühlen“, berichtigte Tobi ihn und zupfte Johannes eine Staubflocke aus den Haaren, die es sich dort gemütlich gemacht hatte. „Macht Spaß, versuch es doch auch.“

„Nicht, wenn der ganze Bus zuhört.“ Der dumme Typ von vorhin schien sehr an ihrem Gespräch interessiert zu sein und weiter vorne saß ein Grüppchen anderer Jugendliche, die inzwischen auch lieber sie als Alleinunterhalter benutzten. Toll.

„Kannst ja Geld dafür verlangen“, schlug Kevin vor. „Oder du lernst ganz schnell Telepathie, dann klappt das auch irgendwie.“

Die weitere Fahrt lang schwieg Johannes aus Protest und belauschte Tanja und Kevin, die sich über den Horror von Schulausflügen aufregten und die Lohrgeschwister bei einem anhaltenden Wortgefecht über dies, das und noch viel mehr. Und die anderen Fahrgäste taten es ihm gleich, obwohl sie eigentlich gar nicht verstanden, um was es hier ging. Was für Mitläufer.
 

„Und wo lang jetzt?“

Der Bus hatte sie irgendwo am Ortsrand hinausgeworfen – Endhaltestellen sollten verboten werden – und nun standen sie hier und fragten sie, in welcher Richtung sich der sagenumwobene Park befand. Irgendwo in der Nähe, und mehr wussten sie auch nicht mehr. Peinliche Panne beim Picknick. Beziehungsweise vorm Picknick.

Sarah kam schließlich auf den Gedanken, jemanden, der aussah, als hätte er Ahnung, nach dem Weg zu fragen, doch entweder tarnten sich alle, die ihnen weiterhelfen könnten oder sie wählte immer die falschen aus.

„Wenn das so weitergeht, essen wir halt hier“, meinte Tanja und deutete auf den einladenden Asphaltboden mit den vielen kleinen Löchern drin. „Schmeckt doch überall gleich.“

„Dann hätten wir auch zuhause bleiben können“, meckerte Tobi sofort und Johannes hielt sich schon vorläufig die Ohren zu, um einem erneuten Zickenkrieg zwischen den zwei Ts zu entfliehen. Wie Kevin das bloß aushielt, ohne wenigstens etwas die Nerven zu verlieren. würde wohl auch eins dieser störenden Rätsel des Lebens bleiben.

„Ich weiß, wo wir hin müssen“, unterbrach plötzlich Sarah die beiden und deutete auf eine kleine Seitenstraße. „Da hinten irgendwo.“ Dabei wirkte sie so stolz, als hätte sie soeben dem Osterhasen die Ostereier geklaut und im Internet versteigert.

„Schön, und woher? Kannst du doch hellsehen?“ Skeptisch hakte sich Tobi bei Johannes ein und zog ihn in die angegebene Richtung. „Oder steht ein Schild hier, das keiner aus dir schlauem Kind gesehen hat?“

„Da vorne ist ein Stadtplan.“

Nach diesem kleinen Zwischenfall landeten alle fünf halbwegs wieder in Normalzustand in der ungewöhnlich grünen Oase – Johannes tippte auf Kunstrasen – und breiteten eine deutlich zu kleine Decke aus, auf der sie mit allem Zubehör kaum Platz fanden. Vielleicht hätten sie vorher achten sollen, nicht das nächste Bettlaken aus dem Schrank zu ziehen.

„Viel zu viel Natur“, moserte Tobi und verscheuchte eine Taube, die ihm sein Törtchen klauen wollte. „Überall krabbelt es, das nervt.“

„Du nervst auch, hier ist es schön!“ Wie immer ließ sich Sarah von ihm nicht die Stimmung ruinieren und fütterte den hungrigen Vogel mit einem Stück ihres Kuchens. „Aber du kannst eh nur rumnörgeln.“

„Stimmt gar nicht, ich sage nur die Wahrheit.“

„Leute, aufhören.“ Wenn das nicht bald aufhörte, würde er sich einen Sonderplatz suchen, auch ohne Decke, aber mit dem Essen, beschloss Johannes. „Esst, genießt es und haltet die Klappe.“

Nach einigen Minuten hielten sich endlich alle daran und bald rannte Sarah irgendwo zwischen den Bäumen herum und sammelte Insekten, um sie später ihrem Bruder ins Bett zu legen. Natürlich ohne dass dieser etwas von diesem Plan ahnte, dann wäre ja der Witz weg.

„Oh Mann, jetzt ist mir schlecht“, stöhnte Johannes nach dem dritten Stück Kuchen und einer Ladung seltsamen Obstsalats, in dem sich scheinbar noch ganz andere Dinge befanden außer Trauben und Melonen. Dass sich Tobi zusätzlich auf ihm breit machte, half ihm kein bisschen, das verschlimmerte alles nur noch.

Tanja und Kevin bewarfen sich gerade mit einigen Karottenstückchen und trafen dabei in 99 Prozent der Fälle alles außer ihrem Ziel, nämlich Johannes‘ Gesicht, Tobis Haare und sogar den Inhalt des einzig vollen Platikbechers. Ob Kakao mit Möhre gut schmeckte? Johannes konnte in seinem momentanen Zustand darauf verzichten zu probieren.

„Wenn du kotzen musst, sags vorher.“ Wie so oft bei aufkommender Langweile fand Tobi es ganz interessant, ihn von oben bis zu erkunden und ging Johannes gleich noch auf den Geist, dass sie ihr „Johannes übernimmt die Führung-Training“ so schnell wie möglich fortsetzen sollten, damit bald endlich etwas mehr passierte. Auf was er hinauswollte, war natürlich klar.

„Sag mal Tobi“, murmelte Johannes ihm ins Ohr, „denkst du auch mal an was anderes? Man kann eine Beziehung auch ohne 'es' führen, schon gewusst?“

„Nee, natürlich nicht, dafür bin ich zu blöd.“ Zur Strafe für diese gemeine Unterstellung ging Tobis Zunge in Johannes Mund auf Wanderschaft, bis sie das Gefühl hatte, genug gesehen zu haben.

„Musste das sein?“ Direkt vor seinem Bruder, das ging den eigentlich gar nichts an.

„Jeder darf das, wir auch. Was glaubst du, was dein Bruder und Tanja machen, wenn sie allein sind?“

Das wollte sich Johannes nicht unbedingt vorstellen, es reichte, wenn sie es selbst wussten. Privatsphäre war nicht umsonst privat, oder?

Die folgenden Stunden lagen sie weiter auf der Decke, beobachteten Sarah bei ihrer Mission, auf jeden Baum zu klettern und fast nicht mehr herunterzukommen, verteidigten ihr Plätzchen gegen einen Haufen Mütter mit Kinderwagen und chillten einfach.

Tobi nötigte Johannes außerdem wieder, in aller Öffentlichkeit seine Belästigungen zu ertragen – schließlich durfte er es nun offiziell – und versuchte ihn dazu zu bringen, heute Nacht bei ihm zu übernachten.

Unglaublicherweise sogar mit Erfolg, da Johannes im Moment seine netten fünf Sekunden hatte.

„Ich bin müde, ich will nach Hause.“ Quengelnd setzte sich Sarah neben Johannes und trommelte so lange mit einer Gabel auf den Korb ein, bis auch der letzte von ihnen genervt einwilligte, den Rückzug anzutreten. Zwar hätten sie noch länger hier herumliegen können, aber zuhause war es ja auch schön. Und außerdem hatte sich Tanja ausversehen den halben Kakao über ihre Bluse geleert, was Tobi richtig lustig gefunden hatte. Schadenfreude gehörte immer noch zur besten Freude. Solange, bis man selbst davon betroffen war.

Diese Mal verlief die Busfahrt nur halb so chaotisch wie bei der Hinfahrt, was ihnen allen aber ganz recht war, da sie mit der Zeit in den Schlafmodus verfielen und knapp von Kevin an ihrer Haltestelle geweckt wurden, da er einer dieser Menschen war, denen beim kürzesten Nickerchen im Bus furchtbar schlecht wurde.

Auf der Hälfte des Weges verabschiedeten sich erst Kevin und Tanja von ihnen, da sie noch einen Kinobesuch geplant hatten – natürlich allein – und dann Sarah, die ohne ihren großen bösen Bruder nach Hause gehen musste, weil dieser sich für heute Nacht bei Johannes einquartiert hatte.

Johannes war sehr auf die Reaktion seiner Eltern gespannt.

Nein, er eröffnete ihnen ganz sicher nicht, dass er was mit Tobi am Laufen hatte, das brauchten sie noch nicht zu wissen, aber dass er den kleinen Killertypen mit nach Hause schleppte und ihn freiwillig bei sich übernachte ließ, musste sie hoffentlich etwas wundern.

Die Übernachtung bei Tobi war schließlich unter dem Thema 'Wir müssen noch ein ganz böses Referat vorbereiten' gelaufen und seine Eltern hatten ihm das geglaubt, obwohl er nicht einmal das Hauptthema nennen konnte. Hatte eh keiner gefragt.

Erwachsene waren manchmal echt ein Fall für sich.

„Wenn deine Familie uns heute Abend nervt, bin ich sauer“, verkündete Tobi schon im Voraus und Johannes dachte sich daraufhin einen Teil. Sicher meinte sein Freund ganz bestimmte Aktivitäten. Hilfe!

„Werden sie nicht, wenn sie keinen Grund haben.“ Was nicht hieß, dass sie sich nicht einen unglaublich hirnlosen Grund aus den Fingern sogen, um ihnen regelmäßig auf den Keks zu gehen. Eigentlich traute er das nur seiner Mutter zu, sein Vater hatte echt besseres zu tun statt Johannes und seinen Besuch ständig mit seiner Anwesenheit zu terrorisieren.

„Wir schließen einfach dein Zimmer ab. Oder stellen einen Stuhl vor die Tür.“ So schnell schien für Tobi das Problem der potentiellen Belästigung erledigt zu sein, wieso machte er denn dann davor gerne solches Theater?

Johannes seufzte leise, packte Tobi am Arm, damit dieser nicht eine Straße zu früh abbog und stand endlich mit ihm in ihrem Vorgarten. Vor einem Vierteljahr hatte Herr L. doch auch den Weg gefunden, aber vielleicht nur wegen seiner eindeutig organisierteren Schwester. Vielleicht hatte er sich vorher ebenfalls zwanzig Mal verlaufen, wer wusste das schon?

Weil er wie so oft seinen Schlüssel sonstwo zuhause liegen gelassen hatte – das doofe Ding verselbstständigte sich dauernd– machte Johannes mit Dauergeklingel auf sich Aufmerksam, während er aus Sicherheitsgründen Tobis Hand von seinem Arm verjagte. Seine Eltern sollten auf keinen Fall jetzt schon Verdacht schöpfen, es reichte, wenn er es ihnen in fünftausend Jahren persönlich sagte. Oder per SMS oder sonst einer dieser praktischen Nachrichtenteile, die absolut unpersönlich waren.

„Du stellst dich wieder an“, beschwerte sich Tobi, kooperierte dieses Mal allerdings recht schnell und nahm seine Pfoten keine Sekunde zu spät weg, da gerade Johannes‘ Mutter die Tür öffnete, ihren Sohn begrüßte und ziemlich verwirrt Tobi musterte, der sich fast schon hinter Johannes versteckte, um nicht total aufzufallen. Die Frau erkannte ihn trotzdem, unfassbar!

„Hallo Mama.“ Jetzt durfte er eine gute Erklärung finden. „Also Tobi und ich... wir wollten... ja, für Deutsch lernen...“ Schlecht, ganz schlecht; meinte auch Tobis Ellenbogen, der ihm unangenehm gegen den Rücken drückte.

„Wir wollten uns einfach so treffen, ist ja nicht verboten.“ Ohne Rücksicht packte Tobi seinen Freund am Handgelenk und zerrte ihn ins Innere des Hauses. „Bis später irgendwann mal.“ Haifischgrinsen hoch zwanzig.

Noch verwunderter als vorher sah Frau Sander ihrem Sohn und dessen ehrlichen Gast hinterher, als sie ziemlich schnell in Johannes‘ Zimmer verschwanden. Anscheinend verstanden sich die beiden endlich besser als von ihr erwartet, das freute sie. Dann verringerte sich die Chance, ihren Sohn wieder frühzeitig von der Schule abholen zu müssen.

„Danke Tobi, jetzt denkt meine Mutter vielleicht, ich hätte sie angelogen.“ So was tat Johannes eigentlich recht ungern, wenn es nicht aus irgendwelchen Gründen absolut notwendig war. Eltern merkten es nämlich erschreckenderweise schnell, vor allem Mütter mit ihrem sechsten Sinn für Familienangelegenheiten.

„Haben wir so oder so, ich bin ja nicht grundlos hier, kannst du dir bestimmt denken.“ Klar konnte man sich das denken, hier sprach Tobi, das sagte alles.

„Du hast immer einen Grund, egal ob du mir eine reinschlägst oder dich bei mir zum Übernachten einlädst.“ So gut kannte er seinen Freund inzwischen.

„Heute wäre es doch perfekt, oder?“

„Für dich wäre jeder Tag perfekt, sogar an deiner Beerdigung.“ Wahrscheinlich hatte Tobi das bis jetzt bei allen seinen Exfreunden und Exfreundinnen gefunden und wollte auch bei ihm in nichts nachstehen.

„Übertreib mal nicht.“ Herr Unsensibel entfernte einen Stapel Klamotten von Johannes’ Stuhl – er warf ihn einfach auf den Boden – und setzte sich schließlich. „Irgendwann darf ich auch zum ersten Mal mit einem Typen schlafen.“

Das Geständnis des Jahrtausends: Der böse, kleine, bisexuelle Tobi hatte bis heute noch nie mit einem Jungen Sex gehabt und wollte das wohl endgültig nachholen – mit Johannes, der von solchen Dingen ungefähr so viel Ahnung hatte wie eine Ente vom Rückwärts Einparken. Die Chancen für die größte Katastrophe ihres bisherigen Lebens standen verdammt gut, dafür brauchten sie nicht einmal eine Wahrsagerin mit Fakehoroskop und Billigzauberkugel, die ihnen das bestätigte.

„Das hat dich schockiert, stimmts?“ Zufrieden über dieses unerwartete Outing machte Tobi es sich noch ein wenig bequemer auf seiner Sitzgelegenheit. „Wärst du nicht der erste. Was diese Idioten immer erwarten, nur weil man mehr Exfreunde hat als sie jemals haben werden. Ignorante Spießergesellschaft, schlimmer als im Mittelalter.“

„Ist ja gut.“ Wenn Tobi sich zu sehr hineinsteigerte, wurde es für Johannes als direkten Anwesenden ungemütlich. Zwar zweifelte er, dass er als persönlicher Besitz wieder mit Schuleigentum attackiert wurde, aber auch auf dummes Rumgeschrei hatte er keinen Bock. Außerdem würde das seinen Eltern gar nicht gefallen, wenn sich die Nachbarn wegen des Lärms aufregten. Schlechter Allgemeineindruck.

„Sagt der richtige, du hast so Probleme ja nicht. Das kann sich aber ändern, wen irgendwann die ganze Stadt weiß, dass du schwul bist.“

„Wer sagt, dass ich schwul bin? Ich kann ja auch bi sein wie du. Oder das ist alles eine hormonbedingte Gefühlsverwirrung.“ Wieso klang er manchmal, als hätte er halb Wikipedia auswendig gelernt?

„Behaupte doch gleich, du wärst lesbisch.“ Tobi schien diese Diskussion mehr als unsinnig zu finden. „Los machen wir was, du kannst sein, was du willst, solange du nicht plötzlich auf einen Bruder stehst.“

„Wird nicht passieren, keine Angst.“ Allein die Vorstellung fand er unzumutbar. Bestimmt gab es seltsame Menschen, die so etwas als toll, super und sonst wie bezeichneten, allerdings distanzierte er sich lieber davon, zumindest wenn er dann mit Kevin verkuppelt werden sollte. Der hatte Tanja. Und er selbst hatte Tobi, auf den er in nächster Zeit nicht unbedingt verzichten wollte. Nicht weil er jemanden brauchte, der ihm am liebsten 24 Stunden am Tag an die Wäsche wollte, sondern weil... weil halt, dafür gab es keine logische Erklärung. Für ihn jedenfalls nicht.

„Hoffe ich doch.“ Interessiert fing Tobi an, Johannes‘ Schreibtisch noch unordentlicher zu machen als vorher und entdeckte dabei ein paar spannende Dinge: einen grandiosen Vokabeltest mit einem richtigen Wort, eine kleine Armee benutzter Saftgläser und der ziemlich zerknickte 'Liebesbrief' von ihm selbst.

„Wieso hebst du den auf, der ist voll fürm Arsch.“

„Wenn er nicht von dir wäre, könnte man ihn fast niedlich finden.“ Aber weil Tobi und seine Sachen aus Prinzip weder niedlich, süß, putzig oder andere verkitschte Eigenschaften besaßen, musste man erst einen neuen Begriff dafür erfinden, um nicht auf der imaginären Opferliste zu landen.

„Gut, dass er von mir ist.“ Aus Großzügigkeit – oder eher, damit Johannes etwas zum Anbeten hatte – ließ er das Papier mit der stark versteckten Liebeserklärung nicht in den Mülleimer fallen, sondern steckte es zwischen die Löschblätter eines Bioheftes und widmete sich anderen Dingen, nämlich Johannes, der die ganze Zeit etwas gelangweilt in der Gegend herumgestanden hatte und sich nun leicht verwundert auf dem Teppich wiederfand.

Da wollte wieder jemand was von ihm, wie unerwartet.

„Du bist echt schrecklich“, meinte Johannes versucht genervt, als Tobi ihn auf den Boden drückte und sich breit grinsend auf ihn hockte. „Dir wäre es sich auch egal, dass gleich meine Mutter reinkommt, uns zum Abendessen holen will und dann den Schock ihres Lebens erleidet. Falls sie umfällt und sich verletzt, darfst du den Krankenhausaufenthalt bezahlen.“

„Du bist der größte Spielverderber, den ich kenne.“ Deutlich beleidigt zog sich Tobi zurück und testete, ob er mit einem Bleistift ein Loch in den Schrank bohren konnte oder ob der Schrank standhaft blieb.

„Heute Abend darfst du“, lenkte Johannes schließlich ein, um seine Einrichtung zu retten und um nicht ständig so fies zu seinem Freund zu sein. Außerdem konnte man ihn dann nicht mehr als total verklemmt bezeichnen.

Das fand Tobi natürlich auch cool und ließ den armen Schrank in Ruhe, der nur mit ein wenig Bemalung davongekommen war.

Um wenigstens etwas zivilisiert zu sein, setzten sich die zwei vor den PC und zockten nette, sinnfreie Spiele, weil eigentlich jeder in ihrem Alter das tat und Johannes‘ Mutter sich nicht mehr wunderte als sie es sowieso schon tat. Immerhin machte das Spiel, bei dem man wahllos irgendwelche bunten Kreise abschoss, einigermaßen Spaß und sie schlugen damit erfolgreich die Wartezeit bis zum Abendessen tot, auf das sich Tobi freute. Allerdings nur, weil danach endlich auf seine Wünsche eingegangen wurde.

Zu Johannes‘ großer Freude gab es zum Essen nicht das langweilig Brot mit dem laschen Frischkäseaufstrich, sondern eine Kartoffelsuppe, an der auch sein Bruder, der gezwungen worden war, heute hier zu essen, nichts auszusetzen hatte. Nur Vera fehlte wieder, da sie unterwegs war, entweder mit ihrer Freundin Maya oder ihrem Freund ohne Namen. Sogar ihre Eltern hatten diesen peinlicherweise vergessen und wollten nicht nachfragen.

Das Gespräch dümpelte am Rande des Niveaus entlang: Kevin regte sich über den unfähigen Sportlehrer auf, seine Mutter über eine x-beliebige Telenovela – Limettas Unglück in der Dummheit oder so ähnlich –, sein Vater kommentierte alles mit 'ja ja' und 'find ich auch', während Johannes und Tobi stumm zuhörten und Fingerkämpfchen unter dem Tisch spielten.

Kaum hatten sie den letzten Teller in die Spülmaschine geräumt, machte Kevin so hastig wie möglich den Abgang, natürlich wussten nur Johannes und Tobi wohin. Vom Liebesleben ihrer Kinder hatten Herr und Frau Sander eindeutig keine Ahnung. War auch besser so.

Zurück in Johannes‘ Zimmer spielten die zwei Jungs noch etwas das Spiel ohne Hirn, falls jemand sie in nächster Zeit stören wollte und sie sonst unabsichtlich bei nicht jugendfreien Tätigkeiten erwischte. Spätestens in einer halben Stunde brauchten sie nichts mehr zu befürchten, da dann die übrig gebliebene Familie Sander für den gesamten Abend das Wohnzimmer inklusive Fernseher belegte. Diejenigen, die in diesem Zeitraum anderen Beschäftigungen nachgingen, wurden zum Glück in Ruhe gelassen.

„So, genug getarnt“, bestimmte Johannes, nachdem er dreimal in Folge gegen seinen Freund verloren hatte, und beendete das Programm. „Noch irgendwelche Wünsche? Willst du dich im Internet suchen? Oder ein paar Pornos zur Einstimmung sehen? Ich weiß ja nicht, was du bei solchen Sachen genau brauchst.“

„Nein, kein Interesse, reicht, dass ich dich habe.“ Aus nachvollziehbaren Gründen fühlte sich Johannes nach dieser Aussage wie ein Gegenstand, aber ersten war er das auf Dauer gewöhnt und zweitens meinte Tobi es ja nicht böse. Besser konnte er sich einfach nicht ausdrücken, was Johannes nicht besonders schlimm fand. Jungs überließen das lieber den Mädchen, meistens zumindest, obwohl es auf beiden Seiten auch Ausnahmen gab.

„Sag mal, was machst du?“ leicht verwirrt beobachtete Tobi, wie Johannes zuerst die Tür abschloss und schließlich den Rollladen herunterließ, sodass sie am Ende ziemlich im Dunkeln saßen. „Ich will kein 'Mord im Dunklen' spielen, das ist für kleine Kinder und macht nur zu zweit wenig Sinn.“ Jetzt wurde er auch noch quengelig, juhu.

„Will ich ja auch nicht, wir sind hier ja nicht im Kindergarten.“ Wer dieses Spiel in ihrem Alter spielte, musste entweder sehr frustriert oder besoffen sein und Johannes hatte keine Lust, eins von beiden zu sein. Und auch nicht alles auf einmal, das wäre ja noch schöner.

„Ach ja, und warum dann der ganze Terror? Ich werde nichts sehen, was ich nicht schon kennen. Bist du doch ein kleines verklemmtes Kind?“

„Nein, aber ich will nicht, dass meine Nachbarn uns zuschauen.“ Allerdings war das nur die halbe Wahrheit, denn obwohl er es sich selbst kaum eingestehen wollte, machte ihn die Situation etwas nervös und das sollte Tobi nicht unbedingt hautnah sehen. Es genügte, dass er sich sicher wegen mangelnder Kenntnisse wie der letzte Depp anstellte, da brauchte man nicht noch mehr zu betrachten. Fand Johannes.

„Okay, dann halt das erste Mal ohne Licht. Wird bestimmt lustig, ich weiß ja nicht einmal, wo dein Bett steht.“ Deshalb machte er sich auch gleich auf die Suche, aber spätestens, als er mit einem unüberhörbaren Knall gegen den Schreibtisch donnerte, merkte Johannes, dass das so nichts wurde; also tastete er nach Tobi und zog ihn mit sich auf das gesuchte Bett. Mission erfolgreich, mal sehen, was nun geschah in ihrer eindeutig zweideutigen Position.

„Äh, Tobi“, das interessierte Johannes, „hast du eine Ahnung, wie das geht? Was wir machen müssen?“ Wenn nicht, wäre das schon unpraktisch für sie.

„Nee, nicht wirklich.“ Gute Aussichten für gelungenes Chaos. „Aber wir kriegen das schon hin, mach einfach, was du für richtig hältst. Wenn ich dich schlage, merkst du, dass ich es nicht mochte.“

„Denkst du eigentlich auch mal an was anderes außer an Gewalt und Sex?“ Langsam nahm das ein wenig überhand.

„Ja, ans Essen.“ Wieso wusste Johannes auch ohne zu sehen, dass Tobi sicher wieder grinste wie ein Irrer? „Gibs zu, du denkst auch nicht rund um die Uhr an deine Hausaufgaben und den Weltfrieden.“ Vorsichtig griff Tobi Nach Johannes‘ T-Shirt, um es seinem Freund auszuziehen. Dummerweise besaß er keinerlei Talent für Ich-klaue-anderen-Menschen-im-Dunklen-die-Klamotten und zerrte über eine halbe Minute daran herum, bis es endlich seinen Weg über Johannes‘ Kopf gefunden hatte.

„Ein Grund, den Rollladen aufzulassen... hey, wir können ja auch das Licht anmachen.“ Schnellcheckerfisch schlug wieder zu.

„Nein, das ist Stromverschwendung“, argumentierte Johannes munter dagegen und probierte selbst aus, ob es ohne Licht tatsächlich so schwer war, jemand anderes von seinen Klamotten zu befreien. Er schaffte es wesentlich schneller, allerdings nur, weil er darauf achtete, nicht mit der Öffnung des Oberteils ständig an Tobis Nase hängen zu bleiben. „Siehst du, mit etwas Übung funktioniert das auch.“

„Dann lass halt das dumme Licht aus, wenn du unbedingt angeben willst.“ Ein wenig verstimmt machte Tobi es sich auf seinem Freund bequem und schrieb ihm mit dem Finger nicht sehr nette Wörter auf die Schulter. „Nicht einmal kleine Kinder haben so Probleme.“ Wurde bald sein Standardsatz.

„Ja, ich weiß, ich bin blöd und du bist cool. Gut, dass wir da jetzt geklärt haben.“ Zur Versöhnung drückte Johannes ihm einen Kuss auf den Mund – beim ersten Anlauf hatte er sein Kinn getroffen – und legte seine Arme um Tobis Hüfte. Wenn er ihn ärgern wollte, konnte er einfach anfangen, ihn zu kitzeln.

Doch Tobi schien diese Kuschelstunde schnell langweilig zu werden; er befreite sich aus der Umklammerung und begann an Johannes‘ Hose herumzufummeln, bis er erfolgreich den Reißverschluss geöffnet hatte und an ihr zupfte, damit sie endlich den Abgang machte. Noch eindeutigere Anzeichen, was in seinem Kopf vorging, gab es gar nicht. Außer es stellte ein Schild mit roter Neonschrift auf. So was zauberte Tobi ja ständig aus seiner Hosentasche.

Ein wenig gewöhnungsbedürftig fand Johannes es schon, als sein Freund ihn fast komplett ausgezogen hatte und mit einem deutlichen Husten dasselbe von ihm forderte Nein, er war nicht verklemmt! Es gehörte einfach nicht zu seinen normalen Hobbies, daran lag es. Tobi hatte mit den anderen Jungs vorher bestimmt schon solche Erfahrungen gesammelt und nicht nur Schach gespielt. Stop, Tobi konnte doch gar kein Schach!

„So, du darfst wieder aktiv werden, sonst lernst du es nie.“

Die Frage, ob er es überhaupt jemals lernen wollte, wurde wie so oft eilig und dezent unter den Teppich gekehrt und dort vergessen. Aber weil Johannes immer noch zu der netten Sorte Mensch gehörte, schlug er Tobi diesen Zwangsvorschlag nicht ab. Er entfernte die überflüssige Hose, zog sich das kleine Terrorkind auf den Schoß und überlegte krampfhaft, was er als nächstes tun sollte. Auf keinen Fall übertreiben, aber Tobi auch nicht zum Einschlafen bringen.

Tolle Devise, wenn man keinen Plan von nichts hatte, dann probierte er einfach etwas aus. Sogar für seine Verhältnisse ziemlich zaghaft tastete Johannes nach dem perversen Fischi auf sich und strich ihm über die Brustwarzen. Entweder war das gut oder es würde gleich weh tun. Zum Glück trat letzteres nicht ein, stattdessen meldete sich Tobi mit einem irritierenden Geräusch, das mit viel Fantasie wir das zufriedene Schnurren einer dieser extrem fetten Katzen klang. Etwas mutiger geworden intensivierte Johannes sein Vorhaben, bis sich sein Gegenüber fast wie ein durchgedrehtes Meerschweinchen anhörte. Gruselig.

„Geht’s dir gut?“ Er konnte sich nur schwer vorstellen, dass ein Junge wegen ein bisschen Anfassen gleich austickte. Aber Tobi eröffnete sowieso eine eigene Kategorie Lebewesen.

„Ja, mach weiter“, drängte dieser ungnädig und rutschte aus Rache auf Johannes‘ Schoß hin und her, sodass dieser erschrocken aufkeuchte. Was waren sie doch für unübertroffene Meister im Unterdrücken menschlicher – oder männlicher – Triebe, dagegen sahen sogar alle Mönche und der Papst alt aus. Respekt.

„Jetzt sind wir beide irgendwie geil aufeinander.“

„Mehr oder weniger.“

„Dann können wir jetzt richtig anfangen.“ Sehr überzeugt von seinem Vorhaben streifte sich Tobi das letzte Kleidungsstück aus und wiederholte das ebenfalls bei Johannes, der schneller nackt war als er gucken konnte.

Nun gab es kein offizielles Zurück mehr, weshalb Pornofischi die Chance sofort für sich ergriff und blind dorthin griff, wo er glaubte, Johannes noch ein wenig mehr für ihr Tun zu begeistern. Ein unterdrücktes Stöhnen verriet ihm den Erfolg seiner eher hinterlistigen Tat und wie von Tobi erwartet ließ er erst recht nicht locker; sonst wäre es ja was für Luschen.

Johannes, für den verständlicherweise das Ganze völlig neu war, konnte sich kaum entscheiden, ob er diese Prozedur kommentarlos – höchstens mit ein wenig seltsamen Gequietsche – genießen oder eilig flüchten sollte. Einerseits fühlte er sich schon ziemlich gut an, andererseits war es auch superpeinlich. Eine wirklich komplizierte Zwickmühle, aber er beschloss es durchzuhalten. Mit so wenig Begleitgeräuschen wir er in der Lage war, seine Eltern brauchten nichts von seinen Freizeitbeschäftigungen zu erfahren.

„Na endlich.“ Erfreut hörte sich Tobi das Ergebnis an und ließ langsam nach.

„Und was passiert jetzt?“, fragt Johannes leicht erschöpft „Das war sicher noch nichtalles, oder?“

„Nö, jetzt darfst du mich ficken.“

„Wieso ich dich?“ Eigentlich hatte er damit gerechnet, Tobi nutze in dieser Situation seine aktivere Stellung gnadenlos aus und ließe ihm keine Wahl.

„Weil ich genau weiß, dass du es nicht mögen würdest, unten zu liegen und außerdem will ich mal wissen, wie sich das anfühlt.“

„Aha, gut.“ Und was muss ich machen?“ Nett, dass er von der Opferrolle verschont blieb, aber ohne wirkliche Peilung half ihm das dummerweise nichts.

„Bleib einfach sitzen, ich weiß ungefähr, was ich tun soll.“ Selbstbewusst wie eh und je gab Tobi seinen Freund noch einen Kuss, doch bevor er überhaupt ansatzweise anfing, unterbrach Johannes ihn hastig.

„Sollten wir nicht theoretisch... naja, Kondome benutzen?“

„Hast du welche da?“

„Nein, wieso sollte ich?“

„Siehst du, ich auch nicht. Oder willst du gleich zum nächsten Geschäft rennen und welche kaufen? Mann, ich glaube nicht, dass wir welche brauchen, keiner von uns kann schwanger werden, gefährliche Krankheiten haben wir sicher nicht und... ach, ich will das jetzt einfach hinter mich bringen, verstehst du doch, oder?“

„Muss ich wohl“, seufzte Johannes leise, „aber wenn ich nachher solche coolen Sachen wie Hepatitis B hab, kannst du was erleben.“

„Ja ja, schön für uns.“ Tobi hörte ihm schon gar nicht mehr richtig zu, denn er hatte sich mental vollkommen auf diesen Moment vorbereitet. Nur dass es so weh tat, als Johannes in ihn eindrang, damit hatte er nicht gerechnet.

Johannes auch nicht und seine erste Sorge, während Tobi wie wild zu jammern anfing war, seine Eltern konnten es hören. Super erotische Stimmung, einer heulte fast und der andere fürchtete sich vor der Entdeckung durch andere Mitbewohner.

„Aua, war das...geil.“ Sichtlich enttäuscht von seinem ersten Mal lag Tobi eine halbe Stunde später neben Johannes im Bett und zog an einem losen Faden im Bettlaken. „Irgendwas haben wir falsch gemacht.“

„Beim ersten Mal macht man immer Sachen falsch“, korrigierte Johannes ihn müde; eigentlich wollte er langsam schlafen statt sich die Beschwerden über diesen tollen Reinfall anzuhören. „Irgendwann versuchen wir es noch mal. Und informieren uns vorher!“

„Ja, König Johannisbeere.“ Die Aussicht auf eine Wiederholung besänftigte Tobi sofort. „Weißt du was?“

„Nein, aber du wirst es mir gleich sagen.“

„Ich hab Hunger auf Schokomuffins.“

„Und ich hab mich schon auf ein klischeehaftes ‚Ich liebe dich‘ gefreut. Danke, dass du meine Hoffnungen zerstört hast.“

„Nichts zu danken.“ Der Faden riss endgültig ab. „Ich will trotzdem was essen.“

„Der Sternenhimmel ist doch voll romantisch, oder? Sag ja!“

„Find ich jetzt eigentlich weniger. Außerdem ist der Boden unbequem.“

„Super, wegen dir hab ich das überhaupt gemacht, weil ich dachte, du stehst auf so eklig romantischen Schrott. Na toll.“

„Denken ist nicht wissen. Und ich habe mich schon gewundert, dass du seit Neustem solche Sachen toll findest. Das könnte dein Image ruinieren.“ Falls es dort überhaupt noch etwas zu ruinieren gab.

„Klappe, das ist es sowieso, hätte keinen Unterschied gemacht.“ Also doch, war wirklich klar gewesen. „Aber jetzt hab ich mich umsonst auf diese arschnasse Wiese gelegt und so getan, als wäre es interessant, Sterne zu stalken.“

Ein typisches Gespräch zweier Idioten, auch bekannt als Johannes und Tobi. Was bei anderen Paaren klang, als steckten sie in einer metertiefen Beziehungskiste, gehörte bei ihnen zum alltäglichen Umgangston. Johannes störte das nicht; im Gegenteil, was sollte er mit einem Typen, der sich wie ein halbes – oder im schlimmsten Fall wie ein ganzes – Mädchen benahm? Außer, ihn nicht ernst nehmen?

Lieber einen bösen Tobi statt einen unheimlichen Tobi, der alten Frauen über die Straße half und kleine Kinder in den Kindergarten brachte.

Mit einem Seufzen streckte Johannes den Arm aus und hielt seinem weiterhin laut nörgelnden Freund konsequent den Mund zu. Bei diesem mit noch mehr unfreundlichen Worten gefüllten Vortrag ging sogar der letzte unsichtbare Rest Kitsch flöten, wenn er überhaupt existierte. Die Wahrscheinlichkeit konnte unterm Teppich Fallschirm springen.

„So, bevor du noch mehr rumjammerst“, erklärte Johannes sachlich, „man kann sich auch ganz normal den Himmel angucken. Das werden wir auch überleben.“

„Der Himmel ist aber dumm, da passiert nichts. Und die Sterne sind auch zum Einschlafen, kein normaler Mensch schaut die sich freiwillig länger als drei Minuten an.“

„Schade, dass du nicht normal bist, sonst könnten wir jetzt nach Hause gehen und dort weiter für den unheimlich beeindruckenden Geschitest lernen.“ Die perfekte Beschäftigung für einen angenehmen Freitagabend im Frühling, allein auf einer Wiese ohne nervende Leute, die ihnen auf den Wecker gehen konnten.

„Dann bleiben wir doch lieber hier.“ Mit dem Thema 'Schule' stand Tobi immer noch auf Kriegsfuß und man konnte ihn damit quer durch die Stadt jagen; das änderte sich sicher in den nächsten Jahren nicht.

Plötzlich hochkonzentriert durch diese vielversprechende Aussicht – oder eher Drohung - starrte er auf die hellen Lichtpünktchen über ihren Köpfen und tat so, als entdeckte er ganz unglaubliche, bis jetzt noch nicht gefundene, Sternenbilder. Allerdings zweifelte Johannes, ob sein Freund mehr als den Orion und den großen Wagen kannte und auch fand, er selbst wusste in diesem Gebiet ebenfalls nicht besonders viel.

„Tobi, lass es, ich weiß, dass du nicht auf einmal dein Talent beim Sterne zusammensammeln bemerkt hast.“ Die Sache mit dem Testlernen war sowieso reiner Unsinn gewesen, wieso sollte er sich an so einem gemütlichen Wochenende so etwas antun? Es gab circa tausend Beschäftigungen, denen er sich lieber widmete, vielleicht sogar Sex mit Tobi... wenn er oben liegen durfte.

„Ach ja, was du nicht alles weißt, Frau Besserwisserin.“ Frech stieß Tobi ihm einen Ellbogen in die Seite. „Und natürlich hast du voll die Begabung da drin, stimmts?“

„Hab ich nie behauptet!“ Was alles in eine kleine, arme Aussage hineininterpretiert wurde! Schlimmer als in einer Deutscharbeit, in der es dafür wenigstens noch eine Belohnung gab. „Aber dass du auf einen Schlag die Sterne interessant findest, nachdem ich mit Üben gedroht habe, ist schon ein wenig auffällig, findest du nicht auch?“

„Nö“, meinte Tobi selbstsicher und rückte ein wenig auf Johannes zu. „Willst du dich jetzt wirklich darüber streiten, hm? Hast du nichts Besseres zu tun? Überleg mal ganz scharf.“

„Doch, ich könnte mein Zimmer aufräumen, die Nachbarskatze zum Mond schießen, mein CD Regal entrümpeln, die Schule pink und neongrün anpinseln, willst du noch mehr Details?“ Natürlich wusste er, worauf sein Freund anspielte, aber es machte ihm wie immer Spaß, ihn ein bisschen zu ärgern und den Streber raushängen zu lassen, vor allem, weil Tobi es ihm manchmal tatsächlich abnahm, dass er das alles bei nächster Gelegenheit tat. Falls er gerade in Stimmung dazu war.

„Das glaubt dir nicht einmal meine Schwester.“ Heute hatte er den Trick durchschaut, nicht tragisch. „Und die glaubt sogar, der Mond wäre fünfeckig, wenn du es lange genug sagst.“ Inzwischen befand sich Tobi keine drei Zentimeter mehr von Johannes entfernt und hielt ihn fest, damit er ihm nicht entwischte, falls er keine Lust auf nächtliche Tätigkeiten verspürte.

„Du willst aber nicht schon wieder mit mir schlafen, oder?“ Obwohl er eigentlich nicht ganz abgeneigt war, fiel es doch auf, dass Tobi viel öfter wollte als Johannes es als normal empfand. Hoffentlich war er nicht irgendwie süchtig danach geworden, das wäre eher schlecht. Besonders viel Zeit dafür hatten sie nämlich nicht, gewisse Familienangehörige ließen sie kaum in Ruhe.

„Lieber nicht.“ Wie nett. „Nein, nicht, weil du schlecht da drin bis oder so, davon hab ich keine Ahnung, aber das letzte Mal hat genauso weh getan wie vorher, das war echt scheiße.“

„Gut zu wissen.“ Schön, dass er das auch mal erfuhr, Tobi hatte nämlich kein Ton darüber verloren und Johannes war automatisch davon ausgegangen, es sei angenehmer gewesen. Tja, fail.

„Mann, ich kann ja nicht bei jedem mal rumheulen, das ist peinlich“, brummte Tobi vor sich hin, „außerdem schafft es jeder, warum also wir nicht? Das frustriert dich doch sicher auch.“

„Nein, eigentlich nicht.“ Es gab auch andere Dinge als das kleine Wort mit drei Buchstaben. „Von mir aus müssen wir es nicht mehr machen, wenn es dir unangenehm ist.“

„Sagst du jetzt, später regst du dich bestimmt wieder auf, dass ich mich total anstelle.“ Aus irgendeinem Grund stachelte das Thema Tobis Diskussionsverhalten an. Angekratzter Stolz? „Komm, niemand verzichtet freiwillig darauf, auch du, heiliger Johannes, nicht.“

„Ach Junge, wenn du mir nicht glaubst, kann ich auch nichts dafür.“ Was für ein Terror wegen so einer Nichtigkeit. Wenn er sagte, ihm mache es nichts aus, dann meinte er das auch so. Punkt! Er war mit Tobi zusammen, weil er ihn mochte, nicht weil er pausenlos mit ihm ins Bett steigen wollte. Dafür hätte er sich auch diesen billigen Javier angeln können, der machte es bestimmt mit jedem. Oder diese Plastikmädchen aus der Parallelklasse.

„Gut, dann glaub ich dir halt. Aber wehe, du entscheidest dich in einer Woche wieder um, das kannst du schön vergessen.“ Natürlich winkte Tobi dabei mit dem halben Gartenzaun, dass sonst sein Ego verletzt wäre und er nach langer Zeit wieder gewalttechnisch aktiv werden müsste.

„Nein, werde ich schon nicht... Schatz.“ Wer die Ironie nicht verstand, der durfte sie sich in den Kleiderschrank hängen.

„Mit wem redest du? Ich heiße so nicht“, konterte Tobi, „gehst du fremd?“

„Ja, klar, mit einem Berg Münzen und Goldschmuck. Fühlt sich absolut toll an und kann man überall mit hinnehmen.“ Entweder hatten sie ohne etwas zu bemerken Alkohol getrunken und erzählten deshalb so einen Müll oder sie mutierten zu Mädchen. Die machten das ja den ganzen lieben langen Tag lang, wenn man sie nicht davon abhielt. „Nur muss man beim Küssen immer gut zielen, weil man sonst falsch trifft.“

„Ein Crashkurs für eine Beziehung mit Glitzerzeug, juhu.“ Mit einer etwas groben Bewegung zerrte Tobi Johannes zu sich und legte den Kopf auf dessen Schulter. „Los, bring mir was darüber bei, ist doch echt lebenswichtig.“

Das waren die richtigen, von Geschichte nichts wissen wollen, aber bei so einem Blödsinn hörten sie gerne zu. „Okay, also, den Goldschatz trägst du am besten den ganzen Tag in deinem Geldbeutel mit dir rum, sonst ist er vielleicht sauer, außerdem solltest du... aua! Hallo, geht’s dir noch ganz gut?“

Sein Geschrei wurde von Tobi nur mit einem bösen Lachen beantwortet.

„Bist du jetzt zum Vampir übergegangen?“ Verärgert über dieses Kindergartenverhalten rieb sich Johannes über seinen Oberarm, in den Tobi ihn einfach so aus Spaß gebissen hatte. Tickte der noch ganz richtig oder gehörte er mal zusammen mit Javier zum Psychologen geschickt? Sah er aus wie einer dieser beliebten Schokomuffins?

„Nein, es ist lustig, wenn du dich über sinnlose Sachen aufregst.“ Zählte das noch als Kompliment oder schon als Beleidigung? Auf alle Fälle konnte er spätestens jetzt das Niveau vom Boden aufkratzen und zum Tierarzt bringen.

„Danke. Noch etwas, was ich wissen sollte?“

„Moment...“ Ausnahmsweise dachte Tobi nach, um ihn gleich noch mehr solche Dinge an den Kopf zu werfen, allerdings schien er keine zu finden. Was für ein Glück. „Nichts, was mit dir zusammenhängt, aber so wie ich dich kenne, hast du es noch nicht mitbekommen.“

„Was denn? Meine Mutter ist der Weihnachtsmann oder was?“

„Nein, aber du kennst doch noch Basti und Javier?“

„Ja, natürlich, dein Ex und der Gestörte, den du auf der Party abgeschleppt hast.“ Wie konnte man sich an diese beiden nicht erinnern?

„Genau. Und so wie es gestern ausgesehen hat, haben die was am Laufen.“ Stolz über seine eigene Art des Allgemeinwissens zwickte Tobi in die ramponierte Schulter seines Gegenübers.

„Sie sind also zusammen?“ Dieser schlechte Geschmack auf beiden Seiten schockierte Johannes beinahe. Aber dumm und dumm, passte doch irgendwie gut. Nein, damit meinte er nicht sich und Tobi!

„Ich tippe eher auf Fickbeziehung, Javier ist nicht so der Typ für längeres Zusammensein, da sind ihm seine komischen Geister lieber. Aber das ist ja nicht unser Problem.“ Gelassen zuckte Tobi mit den Schultern und widmete seine Aufmerksamkeit wieder wichtigeren Dingen im Leben, zwar nicht wieder Johannes‘ Schulter, aber einem anderen Teil von ihm. Zu seiner Freude gab es trotz der kleinen Meinungsverschiedenheit vorhin nun keinen Protest gegen seine Lieblingstätigkeit. Wenn man sonst nichts zu tun hatte, fand man das doch nicht so nervig, wie man es sich manchmal einredete.

„Kann man bei uns eigentlich von der Liebe auf den ersten Schlag sprechen?“, fragt Johannes etwa eine halbe Stunde später, als er wieder einmal zum aktiv sein genötigt worden war und Tobi mit einer netten Massage zufriedenstellte. „Zu fast jedem Anlass gibt es diesen blöden Spruch, also warum nicht auch bei uns?“

„Wenn du meinst, dass ich dich mit dem Physikteil geschlagen habe, weil ich dich so geil fand, ist das deine Sache. Ich finde das mehr als idiotisch.“ Glücklich über das angenehme Gefühl auf seinem Rücken schloss Tobi die Augen und begann ziemlich leise den Refrain von irgendeinem Trällerliedchen zu summen.

„Muss das jetzt sein, du zerstörst die nicht vorhandene romantische Atmosphäre“, hielt ihm Johannes vor und hörte einfach auf mit seiner Zwangsbeschäftigung. „Du hast echt Talent bei so was.“

„Na also, doch noch ein Talent heute gefunden“, freute sich Tobi, nachdem er aus reiner Freundlichkeit seine musikalische Beigabe abgebrochen hatte. „Kannst eine Runde stolz auf mich sein.“

„Werde ich bei Gelegenheit tun.“ Die Intelligenz hatte sich wohl schon längst nach Atlantis abgesetzt und feierte dort mit der Zivilisation eine schöne Strandparty. Wieso lud keiner sie dazu ein? Johannes fühlte sich ausgeschlossen. „Was machst du eigentlich in den Ferien?“ Die begannen auch schon in nicht allzu langer Zeit.

„Ach, kein Plan, irgendwas halt. Chillen, nichts tun und schlafen. Klingt doch gut.“

„Ja, extrem abwechslungsreich, pass auf, dass du dich nicht überanstrengst.“

„Werde ich nicht, meine Eltern haben schon gedroht, mit uns für ein paar Tage Zelten zu gehen.“ Die Begeisterung war fast spürbar. „Es wird fürchterlich: Überall Insekten, die Sarah mit sich herumtragen wird bis an ihr Lebensende, keinen eigenen Platz für sich und kein Fernsehen. Super, oder?“

„Echt tragisch, ich werde Tanja fragen, ob sie dich für einen Euro bemitleidet.“ Familienurlaube gehörten aber auch verboten, danach brauchte man nämlich zwei weiteren Wochen Erholung von ihnen. Etwas unpraktisch bei nur zwei Wochen Ferien.

„Dann gib ihr lieber zwei, damit sie es auch noch für dich tut.“ Haifisch auf zwölf Uhr!

„Wieso? Ich blieb schön zu Hause und mach mir ein paar entspannende Tage ohne dich in unserem Garten.“ Dafür musste man nicht bemitleidet werden, außer es regnete ohne Unterbrechung.

„Denkst du! Ich hab schon alles geplant, wie ich dich mitnehmen werde, meine Eltern haben sicher nichts dagegen. Und Sarah auch nicht, dann bist du hier nicht so allein.“

Was für... wunderbare Aussichten, da konnte man glatt neidisch auf ihn werden.

Hatte es denn auch ausnahmsweise Vorteile, endlich einen Freund zu haben? Und wenn ja, wo waren sie versteckt?

Leise seufzte Johannes vor sich hin, die nächsten Wochen und Monate mit Tobi würden sehr lustig werden, da war er sich sicher. Schrecklich sicher.

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So, offiziell ist das das Ende von Tobi und Johannes.

Ich bedanke mich bei allen, die es gelesen, favorisiert und kommentiert haben. Danke, ohne euch wäre es sicher schon nach einigen Wochen für immer in einer Ecke verschwunden. :]

Aber inoffiziell werden noch ein paar Extrakapitel folgen, allerdings nicht mehr so regelmäßig und auch nicht nur mit Tobi und Jo, sondern auch mit anderen vorkommenden Personen.
 

Viele Grüße an euch alle, Kavi ^^

Extra 1 (Basti und Javier)

Basti war ziemlich angekotzt von der Gesamtsituation, wie eigentlich immer.

Aber es war sein gutes Recht; jeder, absolut jeder hätte sich in diesem Fall zumindest stark verarscht gefühlt.

Zuerst wurde er gnadenlos gegen irgendeine komische Tusse eingetauscht und nun belästigte ihn auch noch so ein gestörter Vollidiot, mit dem er auf den Tod nichts zu tun haben wollte.

Warum disste ihn das Leben immer so unverschämt? Er hatte doch gar nichts getan!

Vielleicht war es einfach ein Fehler gewesen, sich vor einem guten halben Jahr als schwul zu outen; seitdem tanzten dauern seltsame Leute an, die ganz plötzlich etwas von ihm wollten.

Bei Tobi war er schon an niemand Einfachen geraten, aber was im Moment zur Auswahl stand, toppte wirklich alles. Damit hätte er nie gerechnet und es auch nicht in Erwägung gezogen.

Aber was sollte man machen, wenn man morgens nichts ahnend auf dem Pausenhof hockte, noch halb schlief und ohne Vorwarnung dieser wahnsinnige Javier ankam, wie blöd vor sich hinlächelte und verkündete, dass seine Geister ihm aufgetragen hätten, mit ihm zu schlafen.

Außer doof gucken und fast an einem Lachkrampf sterben erst mal nichts. Drei Stunden später war dann der Zeitpunkt erreicht, an dem Basti sich nur noch über diese dreiste und grottenschlechte Anmache aufgeregte und kurz davor stand, Javier wegen unglaublicher Dummheit anzuzeigen.

Verdient hätte der Spinner es.

Allerdings musste er dafür erst einmal die letzte Schulstunde hinter sich bringen, nach Hause kommen und natürlich wissen, wo er anrufen konnte, um seinem Wunsch nachzukommen.

Joy, selbsternannter bester Freund, Quasselstrippe und Nervensäge in einer Person, schob ihm schon den ganzen Tag, seit dem Vorfall, kleine Papierfetzchen zu und erwartete, auf die darauf gekritzelten Bemerkungen Antworten zu bekommen.

Nur hatte Basti gar keinen Bock, sich zu dämlichen Sachen wie Fick ihn bloß nicht, zum Schluss wirst du genauso strange wie er! oder Warum will der unbedingt dich? Ihr kennt euch doch gar nicht! Perverser oberflächlicher Idiot!!! zu äußern.

In Wirklichkeit interessierte es Joy sowieso nicht, er brauchte nur wieder seine Portion Aufmerksamkeit am Tag und glaubte, sie durch solche Nachrichten am Rande des Niveaus zu erhalten.

„Also ich an deiner Stelle würde mich nicht darauf einlassen“, fing Joy sofort an, kaum dass die Klingel sich bemerkbar gemacht und die ersten ihre Hefte weggeräumt hatten. „Wer weiß, auf was der steht, vielleicht bringt er dich nach dem Sex um und isst deine Asche zum Frühstück und...“

„Joy, Maul.“ Warum musste er immer so kranke Fantasien haben? Das hielt ja kein Mensch aus. „Ich pfeif auf den, der soll sich von seinen dummen Geistern einen runterholen lassen, aber nicht von mir, auf den hab ich keine Lust.“

Und das lag nicht daran, dass Javier superhässlich war – war er leider nicht, sonst wäre das die perfekte Ausrede gewesen –, sondern weil Bastis Ruf nach dem kleinen, schief gelaufenen Abenteuer mit Tobi sowieso schon ziemlich am Ende der Skala hing und kurz vorm Abstürzen stand.

„Gute Einstellung.“ Joy freute sich, dass er nicht der einzige war, der von Javier nichts hielt. „Kommst du nachher zu mir?“

„Geht nicht, muss arbeiten.“ Und wenn er noch einmal aus Faulheit nicht hinging, flog er mit großer Wahrscheinlichkeit raus. Dabei brauchte er das Geld, wer finanzierte ihm sonst sein Wochenende und die Kippen?

„Nie hast du Zeit für mich“, begann Joy sein übliches Nörgelthema.

Genervt verdrehte Basti die Augen, hörte dezent weg und stopfte seine Sachen in seine Tasche. Wieso hatte er manchmal das Gefühl, mit einem dauerjammernden Mädchen statt mit einem echten Kerl abzuhängen? Sogar sein Kaktus benahm sich männlicher, der schwieg nämlich durchgehend.

„Dann such dir bessere Termine aus.“ Wenn Joy zu blöd war, um sich zu merken, wann er nicht konnte, konnte er ihm auch nicht mehr helfen.

Beleidigt wie immer murmelte Joy einige unfreundliche Bemerkungen vor sich hin und flitzte schnell aus dem Saal ohne auf Basti zu warten. Aber daran hatte sich Basti in der halben Ewigkeit, seit sie sich kannten, schon gewöhnt, weshalb es ihm nichts ausmachte – jede Joyfreie Minute bedeutete etwas Entspannung –, denn er wusste, diese anstrengende Person würde spätestens heute Abend wieder mit ihm in Kontakt treten und ihm auf den Geist gehen wollen.

Theoretisch wäre er jetzt noch ein paar Minuten im Klassenraum geblieben und hätte vor sich hingechillt, wäre nicht jemand in den Saal getreten und auf ihn zugekommen, auf den er im Augenblick so was von keinen Bock hatte.

Eigentlich hatte er nie Bock auf Javier, der Typ war bei ihm allein durch die vielen Geschichten über seine netten Geister unten durch, aber dank heute Morgen hätte er ihn am liebsten in die nächste Mülltonne gepackt und diese nie wieder geöffnet.

„Was ist?“, fauchte Basti, als das schwarzhaarige Etwas sich auf seinen Tisch setzte und auf eine Reaktion wartete. „Geh weg, ich hab kein Interesse.“

„Aber...“

„Nein! Nur weil ich schwul bin und du nicht so scheiße aussiehst wie die meisten Kerle hier, heißt das nicht, dass ich mit dir ins Bett will, klar?“ Und wenn er das nicht verstand, würde Basti es auch gerne noch einmal für ihn wiederholen, solange bis der Depp kapierte, wie arm er eigentlich war, um einen fremden Typ so dumm anzuquatschen.

„Aber meine Geister...“

„Scheiß auf deine Geister! Die können sich auf den Kopf stellen und dabei Cola trinken, ich machs nicht! Wenn die sagen, du sollst aus dem Fenster springen, machst du es ja auch nicht.“ Obwohl, er würde es Javier irgendwie zutrauen, das würde sein bescheuertes Verhalten erklären.

„Aber ich...“ Anscheinend fiel Javier kein gutes Scheinargument mehr ein, denn er schwieg und rutschte auf der Tischplatte hin und her. Endlich hielt er die Klappe.

Um sich vor weiteren Dummschwätzattacken zu retten, verließ Basti etwas schneller als nötig gewesen wäre die Schule, ging zu seinem Fahrrad und fuhr nach Hause.

Er musste jetzt noch irgendetwas zum Ablenken tun, bevor er in den Supermarkt fuhr, sonst pflaumte er vielleicht wegen schlechter Laune die Kunden an und dann trat ihm sein Chef auch in den Arsch. Super Voraussetzungen für diesen Nachmittag.

Daheim wärmte er sich erst einmal ein Süppchen in der Mikrowelle auf, hockte sich auf die Couch und durchsuchte das Fernsehprogramm nach Sendungen, die wenig Hirn forderten und dafür Entspannung lieferten.

Ersteres traf ziemlich oft zu, letzteres funktionierte gar nicht. Scheiße gelaufen, aber wenigstens schmeckte das Essen.

Halbwegs zufrieden stellte Basti den leeren Plastikbecher auf den Wohnzimmertisch und bekam fast den Schreck seines Lebens, als er eher zufällig zur Terrassentür sah und dort jemand stand. Und ihm zuwinkte.

„Der hat doch nicht mehr alle.“ Langsam wurde es wirklich nervig. Was verstand Javier an dem Satz Ich will nicht! nicht? Sollte Basti es sich auf die Stirn schreiben? Tag und Nacht mit einem Schild, auf dem das stand, herumlaufen? Es Javier per Brief schicken?

Ignorieren, einfach ignorieren, das half eigentlich bei allem, also auch bei so einem wie Javier. Seine coolen Geister würden irgendwann verstehen, dass sie hier im Diesseits nicht das Sagen hatten.

Aus Protest wegen des störenden Besuchers vor der Glastür verließ Basti schlecht gelaunt das Wohnzimmer und verbarrikadierte sich in seinem Zimmer, das zum Glück im ersten Stock lag, sodass kein komischer Vogel sich vor das Fenster stellen und reinsehen konnte. Einen Baum gab es auch nicht in der Nähe und wenn Javier so blöd war und die Regenrinne hochklettern wollte, würde Basti ihn da ganz schnell wieder runter scheuchen und das Rohr ansägen.

Probeweise warf Basti einen Blick aus dem Fenster nach unten auf die Wiese vor dem Haus und überlegte, ob er nicht ein paar Backsteine ausversehen fallen lassen sollte, da dort unten ein gewisses Etwas saß und zu warten schien.

Bei dem tickte doch nicht mehr alles richtig, da fehlten nicht nur ein paar Tassen, sondern gleich der ganze Geschirrschrank.

Basti fing schon wieder an, sich tierisch selbst leid zu tun. Warum ging sein Schicksal nicht anderen Menschen auf die Nerven?
 

Sein Schicksal pfiff auf seinen Wunsch und Basti lief eigentlich nur noch permanent mit einem genervten Gesichtsausdruck durch die Gegend. Was sollte er auch sonst tun, wenn an allen Ecken und Enden der größte Psycho der ganzen Schule auf ihn wartete?

Das schlimmste war ja eigentlich, dass Javier nichts tat, außer nett zu lächeln, sich ziemlich zum Affen zu machen und ab und zu mit einem Schild aufzukreuzen, auf dem dick und fett entweder Hallo oder Ich seh dich, Basti gekritzelt worden war.

Hätte er ihn irgend bedrängt oder dumm angemacht, hätte Basti wenigstens etwas Handfestes gegen ihn, aber so wirkte das doch alles eher wie auf Kindergartenniveau ohne viel Sinn.

Joy lachte sich inzwischen halbtot, wenn Javier fast vor Bastis Haus sein Zelt aufschlug oder die ganze Pause im Türrahmen des Klassensaals stand ohne auch nur einen Schritt näher zu kommen.

„Du hast wohl endlich deinen größten Fan gefunden, oder?“

„Klappe.“ Es reichte doch, wenn der Rest der Klasse ihm immer schiefe Blicke schenkte, weil er sich nicht gegen Javier durchsetzen konnte, jetzt musste nicht auch noch Joy damit anfangen.

„Das ist ein freies Land, ich darf sagen, was ich will.“

„Aber nicht in meiner Gegenwart! Und vor allem nicht über den da.“ Sogar Bastis Eltern hatten ihn schon gefragt, was zwischen ihm und Javier lief und sich natürlich nicht mit einem unfreundlichen Nichts! zufrieden gegeben.

„Reg dich nicht so auf, Basti. Irgendwann wird er einsehen, dass er bei dir keine Chance hat. Der wird schon nicht so bekloppt sein und dir nur noch hinterher rennen, sogar der muss doch ein Hobby haben.“

Hatte Javier ja, nur lautete das 'Leuten mit Ignoranz auf die Nerven gehen' und das übte er ohne Pause gefühlte 24 Stunden am Tag aus.

„Ja ja“, grummelte Basti undeutlich, „Wers glaubt wird selig.“

Etwas hilflos grinste Joy ihn an und begann zur Ablenkung über sein neues Computerspiel zu plappern, was Basti ungefähr genauso spannend fand und stattdessen überlegte, wie er sich diese penetrante Person vom Leib halten sollte.

Ignorieren half irgendwie doch nicht so gut, wie er vermutet hatte, außerdem hielt er es sicher keine zwei Wochen mehr aus und wurde dann irre.

Drohungen waren auch nicht das Wahre, zum Schluss zeigte Javier ihn an und das wäre ja wohl der dümmste Fail des Jahres.

Vor ihm verstecken hatte noch kein einziges Mal funktioniert und seine Eltern fanden es sicher auch nicht besonders lustig, wenn er wegen eines fehlgeleiteten Möchtegernmediums den Unterricht schwänzte und nicht mehr vor die Tür ging.

Mit Javier reden verlief sicher auch ohne Erfolg, so wie der von seinem Plan überzeugt war.

Blieb eigentlich nur eine Möglichkeit, auf die Basti wirklich keine Lust hatte, aber wenn Javier ihn danach für immer und ewig in Ruhe ließ, klang sogar die Option, von Ghostyboy gefickt zu werden, ganz angenehm.

Aber Joy würde er das nicht mitteilen, der fiel doch tot um oder machte solange Terror, bis er die Idee dann doch wieder scheiße fand und sich lieber rund um die Uhr beobachten ließ.

„Und wenn man nicht aufpasst, muss man das ganze Level noch mal von vorne anfangen und das ist echt bescheuert...“ Joy hatte gar nicht bemerkt, dass Basti nicht einmal so tat, als würde er ihm zuhören. Entweder weil er wieder so in sein Geschwätz vertieft war oder er hatte es sogar gemerkt, aber es interessierte ihn einfach nicht. Hauptsache, er musste nicht den Mund halten.

„Schnabel, Joy, erzähl das deiner Mutter, aber ich will es nicht wissen.“ Immerhin musste er sich innerlich auf seinen Plan vorbereiten, da störten diese Endlosmonologe seines persönlichen Dauerbegleiters – in diesem Fall nicht Javier – nur.

„Mann.“ Schon wieder war Joy beleidigt, allerdings kam das so oft vor, dass sich Basti deswegen schon gar keine Gedanken mehr machte und ein schlechtes Gewissen bekam er erst recht nicht. „Warum denn jetzt? Egal was ich sage, du bist dauernd am Nörgeln. Übst schon mal für später oder was?“

„Nein.“ Dafür brauchte er gar nicht zu üben, das konnte er auch so. „Aber es nervt einfach, sieh es ein.“

Ein böser Blick versuchte Basti zu durchbohren. „Dann mach ich es halt anders.“ Endlich schloss er den Mund und schwieg tatsächlich, was wirklich ganz selten vorkam und wofür ihm Basti sehr dankbar war und, falls die Möglichkeit bestanden hätte, einen Orden verliehen hätte.

Dass Joy ihn jedoch ohne Vorwarnung in einem Grinsekatzenmodus ansah und so wie die schlechte Kopie von Javier wirkte, hätte er sich auch sparen können, dafür bekam er von Basti nämlich nur eins auf die Mütze.

Was für gestörte Menschen um ihn abhingen, es war kaum auszuhalten.
 

Basti wusste nicht, ob er aufgeregt war oder ob die Übelkeit von den fünf Muffins kam, die er sich am Morgen aus eine plötzlich Eingebung heraus innerhalb von zehn Minuten reingezogen hatte.

Eigentlich war es nicht wichtig, auf jeden Fall hätte er am liebsten gekotzt, keine gute Voraussetzung für das, was er geplant hatte, nämlich mit Javier den Deal 'Sex gegen kein Generve' zu schließen.

Lustigerweise musste er heute erst fünf Minuten warten, bis er Javier entdeckte – sonst fand dieser ihn immer schneller als ihm lieb war –, und den Drang bekämpfen, ihn erst einmal eine reinzuhauen, weil er ihm zeigen wollte, was er von der ganzen Aktion, die seit Tagen ablief, hielt.

Er riss sich allerdings zusammen, näherte sich gekonnt cool Javier, der ihn ansah, als wäre er gerade aus einem Paralleluniversum geflohen, und stellte sich direkt vor ihn.

„Haben deine Geister immer noch nicht ihre Meinung geändert?“ Lieber fragte man mal nach, bevor man sich ziemlich zum Affen machte, weil Javier inzwischen nur noch aus Prinzip hinter ihm herlief.

„Nein, wieso sollten sie auch?“ Javier grinste ihn an und legte den Kopf schief.

Am liebsten hätte Basti ihm mitgeteilt, dass er mit der 'Ich bin so süß und unschuldig wie ein Zuckergußengel' Masche bei ihm eher das Gegenteil von dem erreichte, was er wohl erhoffte. Basti ließ es aber bleiben, immerhin musste er ihm jetzt trotzdem sagen, dass er inzwischen doch einverstanden war, obwohl er Javiers Benehmen affig, idiotisch und auch irgendwie schon fast nuttig empfand.

„Dann ist gut.“ Die dümmste Feststellung seines Lebens, hoffentlich erfuhr Joy nie etwas von dem, was er hier veranstaltete.

„Wieso? Willst du auf einmal doch?“ Javier fielen fast die Augen aus dem Kopf, aber ein erfreutes Grinsen zog sich über sein Gesicht, was Basti gar nicht gefiel.

„Aber nur, wenn du mich dafür in Ruhe lässt; du rennst mir nicht mehr hinter her, nicht in der Schule, auf der Arbeit und vor unserem Haus hängst du auch nicht mehr ab, kapiert?“ Ansonsten wäre die ganze Aktion ziemlich fürn Arsch. Obwohl, das war sie irgendwie ja sowieso.

„Kein Problem, auf Dauer wird es eh etwas langweilig. Willst du sofort hier oder hast du irgendwelche Sonderwünsche?“

Dass er es an einem Samstagmorgen vor seiner Haustür vor jeder Menge Publikum mit ihm machen wollte, überhörte Basti einfach mal – wahrscheinlich hätte er sich sonst nur fürchterlich aufgeregt – und teilte mit, dass heute Nachmittag der beste Zeitpunkt für ihn wäre. Und zwar nicht im Freien.

„Okay, dann nachher bei mir. Kannst kommen, wann du willst, ich bin den ganzen Tag daheim.“ Javier angelte einen Block und einen Bleistift aus seiner Umhängetasche, pinselte seine Adresse samt einem unförmigen Herz darauf und drückte sie Basti in die Hand. „Und wenn du nicht kommst, dann komm ich zu dir.“

Mit einem vielsagenden Grinsen drehte Javier sich um und Basti ärgerte sich, dass er ihm doch nicht vor die Füße gekotzt hatte. Verdient hätte der kleine Depp es allemal.
 

Kurz nach sechs klingelte Basti bei Javier zuhause an der Tür. Seinen Eltern hatte er einfach erzählt, er wäre bei Joy; hoffentlich kam der nicht auf die Idee, bei ihm anzurufen und nach ihm zu fragen, das wäre verdammt schlechtes Timing.

Warum ging denn keine Sau an die Tür? Hatte ihm Geistfuzzi die falsche Straße aufgeschrieben, um ihn zu ärgern? Oder kannte sich Basti in seiner Heimatstadt nicht mehr aus und war falsch abgebogen?

Bevor er genervt wieder das Weite suchen konnte, öffnete sich doch noch die Tür und ein abgehetzter Javier zerrte ihn nach drinnen. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“

Mit dem Gedanken hatte Basti mindestens alle halbe Minute nachgedacht, aber die Vorstellung, in seinem eigenen Zimmer von Javier angefallen zu werden, gruselte ihn dann doch eine Spur mehr.

Energisch fasste Javier Basti am Handgelenk und zog ihn die Treppe hinauf – dass Basti fast auf die Fresse flog, wurde unter den Teppich gekehrt – in sein Zimmer, wo er Basti kaum Zeit ließ, sich umzusehen, und ihn sofort in Richtung Bett drängte.

Da hatte es aber jemand sehr nötig.

„Willst du nicht mal die Tür zumachen?“ Nicht, dass sie mittendrin unerwünschte Zuschauer bekamen, darauf verzichtete Basti nur zu gerne.

„Nicht nötig, es ist nur meine Schwester da und die ahnt schon, was hier passiert, deswegen hockt sie seit drei Stunden vor der Glotze und kommt wahrscheinlich erst dann hoch, wenn du weg bist.“

Toll, und was wäre, wenn die Schwester plötzlich mal Bock hatte, ihren Bruder beim Sex zu bespannen? Neugierige Mädchen, die ihm sozusagen bei seinem ersten Mal dazwischenfunkten, brauchte er nicht, vor allem wenn eigentlich keiner wissen sollte, dass er sich hier mit Javier einließ.

„Und deine Eltern?“ Wenn die irgendwann antanzten, während er noch hier war, würde er freiwillig das Haus durchs Fenster verlassen.

„Sind arbeiten, die kommen nicht vor acht nach Hause, wir haben also Zeit.“ Grinsend legte Javier sein Arme um Basti und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

„Lass das.“ Genervt schob er seinen größten Fan ein Stück von sich weg. Reichte es ihm nicht, dass sie das taten, was seine toten Freunde ihm ins Ohr flüsterten, musste er ihm dann noch die Zunge in den Hals schieben? Definitiv nicht!

„Ist ja gut“, seufzte Javier – anscheinend war das für ihn inklusive gewesen, Pech gehabt – und bugsierte Basti mehr oder weniger elegant in Richtung Bett. „Aber der Rest ist okay, oder?“

„Kommt drauf an. Wenn ich dich anschreie, merkst du, dass ich das nicht will.“ Zur Not imitierte er Tobi und schlug zu.

Über diese Ansage schien Javier nicht sehr erfreut, aber er beschwerte sich nicht darüber, sondern streifte Basti das Oberteil über den Kopf und drückte sich an ihn.

Basti musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen bei so einer lachhaften Attacke zu verdrehen. Er war doch kein überdimensionaler Teddybär, da hätte Javier ja auch jemand anderen Dummes dafür benutzen oder sich im Spielzeugladen ein richtiges Kuscheltier kaufen können.

„Haben deine Geister auch bestimmt, dass du mich erdrückst?“

„Dir gefällt aber auch gar nichts.“ Javier rückte von Basti ab und überlegte einige Sekunden. „Wenn du jetzt auch noch spontan keinen Bock mehr hast, mit mir zu schlafen, tret ich dir in den Arsch.“ Er zauberte sein freundlichstes Lächeln aufs Gesicht, schubste Basti mit aller Kraft auf sein Bett und krabbelte zu ihm. „Und laufe dir die nächsten zehn Jahre hinterher, kapiert?“ Seine Finger fummelten an Bastis Hose herum.

Bei dieser ultimativen Drohung hielt Basti lieber den Mund.
 

Wenn DAS Sex unter Kerlen gewesen war, war jeder Kindergeburtstag härter.

Basti konnte es immer noch nicht fassen; er hatte sich auf alle möglichen kranken Sachen von Javier eingestellt und dann hatte dieser eigentlich fast zwei Stunden nur an ihm herumgespielt und am Ende sich noch von ihm einen runterholen lassen.

Ende der Geschichte, Basti hätte am liebsten gefeiert. Wenn er gewusst hätte, wie leicht er sich von Javiers Interesse 'freikaufen' konnte, hätte er schon am ersten Tag zugestimmt und es nicht in diese unnötige Verfolgungsvariante laufen lassen.

Jetzt musste er nur noch nach Hause und die Sache wäre ein für alle mal beendet. Kein Javier, keine Gerüchte, kein gar nichts.

Sein Problem bestand nur darin, dass er hier nicht wegkam, da er ziemlich eingequetscht zwischen Matratze und Javier dalag und egal wie oft er versuchte, sich bemerkbar zu machen, Javier kuschelte sich einfach noch enger an ihn und ließ ihn nicht los.

„Javier, ich muss weg.“ Sonst riefen seine Eltern bei Joy an, um zu erfahren, ob er dort übernachtete und dann brach hundertprozentig das Chaos aus. „Hallo, hör mal zu, Mann!“

„Nein, du bleibst hier.“ Javiers Lippen drückten gegen seinen Hals und kitzelten ihn.

„Willst du, dass meine Eltern die Polizei einschalte, weil sie nicht wissen, wo ich bin?“ Dann bekam Basti sicher bis zum seinem achtzehnten Geburtstag Hausarrest und Joy wäre bestimmt auch nicht so stolz, als schlechtes Alibi benutzt worden zu sein.

„Nein, natürlich nicht.“ Seufzend rutschte Javier von ihm weg, sodass Basti nach seiner Hose und seinem Handy in der Tasche angeln konnte und teilte seinen Eltern kurz per SMS mit, dass er erst morgen früh zurückkam. Um halb elf im Dunkeln noch nach Hause zu wandern gehörte wirklich nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, da gammelte er eher die nächsten zwölf Stunden in Javiers Klauen und ließ sich als Kissen verwenden, immerhin würde er ihn voraussichtlich sehr sehr lange nicht mehr treffen.

Außer wenn er Pech hatte und Javier wieder in einem Anfall von Gestörtheit über den Schulhof jumpte und verkündete, dass seine Geister den Weltuntergang vorausgesehen hatten.

Keine Minute später lag Basti schon wieder in Javiers Umarmung, döste leicht vor sich hin, aber spürte trotzdem, dass da jemand seinen Wunsch – Sex ja, Kuss nein – nicht Folge leistete.

Hatten dem Typ nicht die zwei Stunden plus fast drei Stunden Rumliegen gereicht, in denen Basti vor Langweile alle Lieder, die er auswendig kannte, gesummt hatte? Sogar das Zimmer hatte er betrachtet; kleiner Raum mit dunkelblauer Tapete, an der silberne Alufoliensterne und –monde klebten, auf dem Wandregal lag eine milchige Wahrsageglaskugel und vor dem Bett lag ein blauer Teppich mit komischen Mustern.

Da durfte man doch verlangen, auch mal für fünf Minuten in Ruhe gelassen zu werden.

Aber das entsprach sicher nicht dem Wille der holy Gespensterviecher, na super.
 

„Hä? Wo ist der?“ Joy konnte es kaum fassen, dass Javier weder vor der Schule, noch während der ersten und zweiten Pause aufgetaucht war. „Ist er krank? Hast du ihn verschwinden lassen?“ Sein Blick konnte man als einziges Fragezeichen verstehen.

„Keine Ahnung“, brummte Basti leise in sich hinein und schrieb ein paar Zahlen auf seinen Collegeblock. Er konnte ihm ja schlecht die Wahrheit sagen, dann wäre Joy sauer, weil er nicht früher eingeweiht worden war.

„Mysteriös.“ Mit einem Kugelschreiber bemalte Joy die Tischoberfläche mit kleinen Pentagrammen und Mondsicheln. „Vielleicht hat er endlich keine Lust mehr, dich zu nerven?“

Wollte sein Sitznachbar mal das Thema wechseln? Javier verschwand aus seinem Leben und der Hohlkopf hatte nichts Besseres zu tun als munter weiter über ihn zu quasseln. Wo blieb da der Sinn?

„Hallo, gibst du mal richtige Antworten?“ Die Kulispitze bohrte sich in Bastis Arm und hinterließ ein blaues Pünktchen. „Du bist schon den ganzen Tag so komisch. Ist was passiert?“

„Nein.“ Lüüüge! Natürlich hatte er allen Grund, etwas seltsam drauf zu sein.

„Moment...“ Dass sie mitten im Unterricht saßen und eigentlich Rechnungen von der Tafel abschreiben sollten, machte Joy im Moment nichts aus, weswegen er wie verrückt auf seinem Stuhl herum hibbelte und Basti noch ein bisschen bunter anmalte. „Du hast doch nicht mit ihm...“

Erwischt! Basti sah diskret auf die andere Seite, wo kein hyperaktiver Joy ihm auf den Keks ging und tat so, als würde er ihn nicht hören.

„Hat er dich in den Arsch gefickt...?“

„Joy!“ Na toll, warum plärrte der Idiot das so laut durch die Gegend? Jetzt glotzte so gut wie die ganze Klasse zu ihnen und selbst ihr Lehrer sah von seinem Buch auf; peinlicher konnte es kaum werden. „Bist du bekloppt?“

„Wenns doch so ist.“ Eingeschnappt funkelte ihn Joy an. „Erst machst du mit dem Typen rum und dann sagst du es mir nicht mal. Wie scheiße bist du denn?“

„Könnt ihr eure privaten Probleme bitte zuhause besprechen?“ Ihr Lehrer befürchtete wohl, dass da noch ein paar Details auftauchten, die nicht für die Ohren von braven Schülern gemacht waren.

„Ja ja, Sie mich auch.“ Basti wollte sowieso nicht deswegen mit Joy darüber streiten, vor allem nicht vor einer Horde Kinder, die allein beim Gedanken von zwei schwulen Kerlen halb in Ohnmacht fiel. „Ist gut.“

Die folgende halbe Stunde schwiegen alle, doch kaum klingelte es zum Schulschluss, beendete Joy seine seltene Stummheit und redete ohne Punkt und Komma auf Basti ein, bis dieser sich genervt die Ohren zuhielt und sich wegdrehte.

„Joy, ist gut, reg dich ab.“

„Und warum hast du mir nichts gesagt? Stell dir vor, der hätte nicht so 0815 Methoden gewollt, wer hätte dich ganz cool aus seinem Zimmer gerettet?“

„Alter, Klappe.“ Als ob Joy den Helden gespielt hätte, er hätte eher die Polizei gerufen und dann so getan, als wäre alles seine Arbeit gewesen.

„Es sollte halt keiner wissen, auch du nicht.“ So was war verdammt peinlich, checkte das keiner?

„Na danke.“ Jetzt schmollte Joy wieder vor sich hin, das konnte noch lustig werden. „Und, wars wenigstens gut? Würdest du es noch mal tun?“

„Jein und nein.“ Etwas mehr hätte sicher nicht geschadet und mit Javier hatte er abgeschlossen, seine kleinen Geisterfreunde waren jetzt hoffentlich befriedigt und so wie er Javier kannte, würde der gleich den nächsten anmachen.

„Aha.“ Kommunikation am Ende. „Cool.“
 

Es war seltsam, auf dem Nachhauseweg nur von Joy und nicht noch von einem aufdringlichen, schwarzhaarigen Etwas verfolgt zu werden. Vor allem, als Joy irgendwann abbog und Basti nun endgültig allein durch die Straßen schlich.

Naja, eigentlich sollte er sich freuen, Party feiern und seine neue Freiheit genießen statt sich darüber aufzuregen.

Warum funktionierte das denn nicht?

Basti war verwirrt, angekotzt und ärgerte sich über seine Unfähigkeit; so ging das einfach nicht, da stimmte was nicht. Was für ein Schrott.

Das Essen schmeckte unterirdisch, das Fernsehprogramm langweilte ihn noch mehr als sonst zu Tode, die Aussicht, die nächsten Stunden an der Kasse zu sitzen und dumme Menschen zu sehen, verdarb ihm noch den Rest und außerdem musste er sich gefasst machen, dass Joy mit seiner großen Klappe nicht lange still sein konnte und bald die halbe Nation von seinem kleinen Ausflug zu Javier erfuhr.

Alles scheiße, am besten legte er sich jetzt ins Bett und schlief fünf Jahrhunderte durch.

Natürlich tat Basti das nicht, sondern quälte sich zum Supermarkt – nur die Kohle, die er hoffentlich bekam, motivierte ihn – und wäre sehr gerne wieder umgedreht, als er eine gewisse Person erkannte, die bei den Fahrradständern herumgammelten und damit beschäftigt war, einem Kerl, den Basti ab und zu der Schule gesehen hatte, mit irgendwas vollzutexten. Warum er dafür auf dessen Schoß sitzen musste, wusste wohl nur der Heilige Geist.

Sollte er halt, Basti interessierte das nicht die Bohne, solange sie nicht planten, den Supermarkt abzufackeln, während er noch drinnen hockte. Die Episode mit Ghostyboy war abgehakt, sollten seine imaginären Freunde doch bestimmt haben, dass er gleich den nächstbesten Typen ansprang. Basti gings am Arsch vorbei!

Leise summend lief Basti an den beiden vorbei, betrat widerwillig den Laden und tat das, was man von ihm verlangte. Nicht, auf was er Lust hatte, ansonsten wären alle älteren Damen sofort vor die Tür gesetzt worden – die gingen Basti immer auf die Nerven – und alle Menschen mit Kleinkindern im Schlepptau hätten Schmerzensgeld wegen dem Lärm, den die Kleinen permanent veranstalteten, zahlen müssen. An Basti natürlich, an wen denn sonst.

Gefühlte drei Jahre später floh er aus dem Supermarkt, weil ihm die Kunden so dermaßen auf den Wecker gingen, dass er am liebsten Konservendosen nach ihnen geworfen hätte, und stellte fest, dass Javier wohl kein Zuhause hatte – das vom Samstag war bloß gemietet gewesen, ganz bestimmt –, denn er hing immer noch an derselben Stelle herum, nur mit einem anderen Kerl.

Soweit es Basti aus der Entfernung verstand, erklärte er diesem gerade die Grundlage von Geisterverständigung und den eigentlichen Sinn dahinter.

Bedeutete wohl, dass er sich ein neues Opfer suchte, dem er solange hinterher rannte, bis er seinen dummen Willen durchsetzte. Was für ein Deppchef; und so einem hatte er wirklich einen runtergeholt. Na dann gute Nacht.
 

„Mann, Basti, du hast in letzter Zeit so schlechte Laune, das nervt.“

„Halts Maul, ich hab keine schlechte Laune! Und der einzige, der nervt, bist du!“

„Eigentor.“ Joy wirkte schon wieder wie ein eingeschnapptes Kleinkind, was Basti noch mehr auf den Keks ging als sonst. „Hallo, du kannst mit mir reden, wenn was ist, hast du das schon vergessen?“

„Bin ich ein Mädchen oder was?“ Die hockten doch dauernd in kleinen Grüppchen zusammen und heulten sich gegenseitig das Gehirn aus dem Kopf, bis keiner mehr ansprechbar war. So etwas hatte Basti definitiv nicht nötig.

„Noch nicht, aber wenn du so weiter machst, würde es mich nicht wundern.“

„Joy...“ Der Kerl schaffte es unglaublich gut, sich verdammt unbeliebt bei ihm zu machen. „Geh sterben. Oder kleb dir Tesa vors Gesicht, aber sei endlich leise!“

„Ich rede wann ich will, wir sind...“

„Nicht schon wieder der dumme Spruch.“ Wenn er noch einmal Deutschland ist ein freies Land sagte, würde Basti ihm zeigen, dass das nicht nur für ihn galt.

„Und außerdem sollen wir Gruppenarbeit machen, da muss man reden.“

„Kannst auch schweigen, ist schöner.“

„Arschloch.“ Inzwischen war Joy wirklich sauer. „Mach doch deinen Schrott allein, ich such mir eine andere Gruppe. Freu dich.“ Er packte seinen Stuhl und zog mit ihm auf die andere Seite des Klassensaals um.

Super gemacht, Basti hätte sich selbst applaudiert, wenn die Situation nicht so dumm gewesen wäre. Aber Joys anhaltendes Geplapper reizte ihn im Moment halt, was konnte er dafür? Er hatte genügend andere Probleme, die eigentlich keine Probleme waren.

Erstens hockte inzwischen fast jeden Tag das Möchtegernmedium mit ständig wechselnden Begleitern vorm Supermarkt und ignorierte ihn die ganze Zeit, zweitens hatte er sich immer noch nicht damit zurecht gefunden, nicht bei jedem Blick aus dem Fenster angegrinst zu werden und drittens wusste Basti nicht, warum er aus der ganzen Sache so ein Drama machte und das regte ihn auf.

Vielleicht war er von einem Geist besessen, der ihm das Gehirn geklaut hatte, weshalb er sich so bescheuert benahm. Oder Javier hatte ihn heimlich verflucht und das ließ sich nicht mehr rückgängig machen.

Oder er drehte einfach so am Rädchen, weil er keine andere Beschäftigung hatte und Aufmerksamkeit brauchte, was dermaßen peinlich wäre, dass er lieber mal seine Identität ändern sollte.

Der Unterricht dümpelte fast unbemerkt an Basti vorbei, nur ab und zu hörte er Joy, der sich wirklich für den ganzen Tag von ihm weggesetzt hatte, irgendwelche dummen Kommentare abgeben.

Alles scheiße hoch hundert; Basti war kurz davor, einen Antrag auf Schicksaländerung zu stellen, damit er nicht komplett verzweifelte. Egal wie dumm er sich gerne zu Joy benahm, wenn der sogar schon flüchtete, konnte es kaum schlimmer werden.

Haha, von wegen. Natürlich kam es noch schlimmer, zumindest empfand es Basti so, als er sich mit der schlechtesten Stimmung des Jahrtausends auf den Heimweg machen wollte und plötzlich Javier vor ihm auftauchte und nicht einsah, warum er ihn vorbei lassen sollte.

„Geh weg, du Vogel oder hast du unsere Vereinbarung vergessen?“ Mit einer unfreundlichen Handbewegung wollte er ihn zum Verschwinden animieren, aber Javier beeindruckte das Schauspiel kein Stück, stattdessen hielt er Basti an den Handgelenken fest und zog ihn mit sich.

„Hallo, bist du dumm oder so?“ Basti konnte es einfach nicht fassen, was hier schon wieder ablief.

„Nein, bin ich nicht, danke der Nachfrage.“ Javier warf ihm sein schönstes Lächeln an den Kopf und zerrte den sich sträubenden Basti mit sich in eine etwas abgelegene Ecke des Flurs.

„Was ist dann dein Problem?“ Auf unsinnige Diskussionen verzichtete Basti freiwillig, er wollte nach Hause, etwas essen und schlafen. Warum akzeptierte das keiner?

„Ich hab kein Problem. Aber du.“ Javier kam einen Schritt näher.

„Und wer sagt das? Halt, warte... deine Gruselfreunde, stimmts?“ Die Wurzel allen Übels, irgendwann reiste er ins Jenseits und trat den Viechern in die Eier.

„Nein, meine Intuition. Oder willst du mir erzählen, es ist Zufall, dass du seit unserem Treffen so rumhängst? Und so wie du mich da am Supermarkt angesehen hast... das sagt alles.“

„Verarsch mich nicht, woher willst du wissen, wie ich drauf bin, du bist doch nie in der Nähe. Oder spionierst du mir immer noch hinter her?“ Eine Überraschung wäre das nicht.

„Nein, aber ich weiß es trotzdem. Oder glaubst du, Joy findet es gut, dass du noch schlimmer drauf bist als sonst, und tut nichts dagegen?“

Jetzt wurde es krass; Joy hatte sich doch nicht im Ernst mit diesem Freak in Verbindung gesetzt, weil er sich Sorgen machte? Hallo, schlechter Aprilscherz?

„Wir wollen dir helfen, Basti.“ Witz des Jahres, geh nach Hause.

Bevor Basti Javier verkünden konnte, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollten und er ihm nicht half, indem er ihn in der Schule verschleppte, hatte Javier ihm auf einfache und wirkungsvolle Weise daran gehindert, indem er ihm nicht ganz sanft mit der Zunge in seinen Mund vorgedrungen war.

Einige Sekunden spielte Basti mit dem Gedanken, Javier zu beißen – der Typ hatte doch auch einen Schaden –, entschied sich dann aber spontan um. Das konnte er später noch nachholen. Irgendwann mal.

„Und, hast dir gefallen?“ Eine der Fragen, die man eigentlich nie stellen sollte.

„Nein.“ Doch, allerdings würde Basti das nur über seine Leiche zugeben. Zum Schluss glaubte Javier auch noch, mit seinen unzivilisierten Methoden Erfolg bei ihm zu haben.

„Sagen sie alle.“ Javiers Finger glitten irgendwo im Bereich seiner Schulter herum und Basti wusste nicht, ob er sich aus Prinzip wehren oder es sich gefallen lassen sollte. Scheiß Zwickmühle zwischen Stolz und etwas anderem, was er nicht unbedingt benennen wollte. „Was würdest du dazu sagen, wenn meine verstorbene Großmutter von dir erwartet, dass du es nochmal mit mir machen sollst?“ Inzwischen wanderten Javiers Hände an seiner Wirbelsäule herunter.

Als allererstes würde er die Dame als die perverseste Oma der Stadt einordnen. Und dann nein sagen, um Javier zu ärgern. Und Joy. Und alle anderen, die geglaubt hatten, er wäre so leicht zu schnappen.

„Ja... scheiße, ich würds machen.“ Nein, er hatte es tatsächlich gesagt, Schande über ihn und seine unkontrollierte Klappe. Wie tief konnte er denn noch sinken? Und daran waren nur Joy und Javier schuld, genau, er selbst konnte nichts dafür!

„Hoffe ich doch für dich.“ Zufrieden schlang Javier seine Arme um Basti und lachte leise. „Jetzt sofort?“

Der hatte wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Bist du irre?“ Die Schulleitung warf sie vor die Tür, wenn sie erfuhr, dass sie es nach Schulschluss auf dem Flur getrieben hätten.

„Ein bisschen.“ Wo er Recht hatte... „Aber du bist auch nicht ganz richtig im Kopf, also passt das schon.“

Das war das böseste Kompliment, dass Basti in seinem ganzen Leben bekommen hatte; es machte ihn trotzdem irgendwie nichts aus.
 

„Hä? Und ihr seid jetzt zusammen? So irgendwie?“ Joy konnte es kaum fassen.

„Ja, kann man so sagen.“ Obwohl sie das nie besprochen, keine Hochzeitsvorbereitung getroffen und auch nicht großartig im Internet verkündet hatten. Aber Basti nahm es einfach mal an, da Javier es sich nicht nehmen ließ, ihn jetzt jeden Morgen von zuhause abzuholen und ihn am Nachmittag zu sich zu entführen.

Und selbst wenn sie nicht offiziell zusammen waren, irgendwas klebte sie trotzdem aneinander und sei es nur Javiers Bedürfnis, ihn so oft wie möglich zu begrabbeln.

„Und warum jetzt genau? Bist du doch irgendwie verknallt oder willst du ihn nur vögeln?“

Eine typische Joyfrage, darauf bekam er ganz sicher keine Antwort, das verriet schon allein Bastis böser Blick, mit dem er ihn aufspießte und über einen imaginären Grill hängte. Als ob Basti das selbst so genau wusste, das stellte sich mit der Zeit heraus.

Und zur Not, nur Sex war auch was Gutes.

„Ist ja gut, ich hab nichts gesagt. Ist deine Sache. Und nein, ich bin nicht neidisch.“

Wahrscheinlich war niemand neidisch auf Basti, weil er Javier an der Angel hatte, aber es störte ihn nicht, solange nicht Javiers spezielle Freunde angeflogen kamen und ihn aufforderten, Joy zu heiraten.

Aber solange er einigermaßen zufrieden mit der Situation war, ging ihm der Rest der Umgebung mal so richtig schön am Arsch vorbei. Und die Gruselfraktion sowieso.



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Von:  Eleven
2010-10-08T16:19:35+00:00 08.10.2010 18:19
hallöö x3
hab mir deine FF angesehen und ich find sie echt gut :)
besonders gut fand ich, dass die geschichte und auch die charaktere sich erst entwickelt haben. also nciht, dass sie ganz plötzlich mega aufeinander standen und übereinander hergefallen sind -.-
das war echt klasse! x3
auch, dass sie nachdem sie irgendwie zusammen gekommen sind, trotzdem noch diese kleinen diskussionen hatten und nicht ganz plötzlich alles wunderherrlich war. das hat die geschichte realistischer wirken lassen x3
nen weiteren plus punkt geb ich dir dafür, dass du dich generell (meiner meinung nach) recht an die realität gehalten hast, zum beispiel war kein extremer kitsch dabei, was für jungs untypisch gewesen wäre :)
man konnte sich auch gut in Jo rein versetzen, dass er immer noch irgendwie geglaubt hat, an sonder art pupertären geschmacksverirrung zu leiden xD
generell haben mir deine charaktere gut gefallen, das war ziemlich... amüsant x'D
dein schreibstil ist auch sehr gut und hat meiner meinung nach auf jeden fall potential! ich liebe es wenn man sarkasmus in seine geschichten einbringt, und das hast du perfekt hinbekommen :'D also somit genau meinen geschmack getroffen
eine winzig kleine sache hätte ich zu bemängeln, aber das soll nicht böse gemeint sein, viel mehr hoffe ich, dass es dir vielleicht hilft noch besser zu werden. vielleicht seh ja aber auch nur ich das so, also sehr als persönlichen kritikfaktor von mir xD
ich mochte es, dass du zu anfang, wo tobi jo im unterricht so 'angegrabscht' hat, extra geschrieben hast, jo fände das gar nicht allzu schlimm, nur eben peinlich. das ging fand ich nach einiger zeit leider unter, also ich hatte manchmal das gefühl es könnte noch ein wenig mehr beschrieben werden, wie er sich in einigen momenten fühlt, die das 'verliebt sein' ausmachen. (sowas wie bauchkribbeln, ect.)
ist nur konstruktive kritik, wie gesagt, ich hätts dann noch besser gefunden, aber das ist meine meinung und auch so war es eine sehr sehr tolle geschichte :D
greezes. <3
Von:  MaiRaike
2009-10-14T21:50:03+00:00 14.10.2009 23:50
Eine wirklich schöne Fanfic.
Leider immer volkommen kühl und sachlich beschrieben. Bis zu einem gewissen Grad macht das den Reiz dieser Geschichte aus.
Ab und zu hättest du aber doch mit kleinen Andeutungen auf das Gefühlsleben deiner Personen eingehen können.
Ich würde mich freuen, wenn du mir eine ENS schicken könntest, wenn du ein Zusatzkapitel geschrieben hast.
Ich hoffe, das eines dabei ist, in dem sich Johannes im Internet über ihre Fehler informiert und auf das Wundermittel Gleitgel aufmerksam wird.
Lg
Von:  Olschi
2009-07-17T17:41:32+00:00 17.07.2009 19:41
wah... endlich kam ich dazu, das ende zu lesen. Ich muss sagen: das ende ist echt anders... als bei anderen geschichten mein ich. Z.B. dass es bei ihnen mit DEM nicht klapptXD Und die beiden werden wohl auf ewig unromantisch bleiben. Weiß gar nicht ob ich darüber traurig oder fröhlich sein soll. Einbisschen Romatik wäre nicht schlecht gewesen, aber dann wärs vll zu schnulzigO__o Auch egal!
Ich werde die Beiden vermissen;__; Hab sonst keine Dojis in meiner favoliste, die so lustig sind und die auch noch laufen! Von den meisten der storys gibts eh keine lebenszeichen. Ich habs dir ja schon mal gesagt: du warst mein einziges Licht;__;

Von:  Laniechan
2009-07-10T13:28:08+00:00 10.07.2009 15:28
immerhin geht es weiter...auch wenn ich nicht damit einverstanden bin, dass es zu ende ist...und dann auch noch so ein unbefriedigendes ende. ich hab jetzt zwar nicht mit sonstwas gerechnet, aber ein bisschen mehr hab ich mir schon vorgestellt.

mal schauen, was die extrakapitel bringen.

lg laniechan
Von: abgemeldet
2009-07-10T10:50:58+00:00 10.07.2009 12:50
Q.Q
ende... ende *flenn*
*sehnsüchtig auf extrakapitel wart*
das kaitel war echt lustig^^
ich musste die ganze zeit lachen xD
es wird nicht zufällig ein extrakapitel übers zelten geben, oder? xD
ich find diese ganze geschichte einfach nur toll^o^
ich hab noch ne frage, ich hab sie dir schon ma in deinem gästebuch gestellt, aber keine antwort bekommen, deswegen frag ich jetzt mal hier:
den text den du momentan immer unter deine ENS setzt, aus welcher geschichte ist die? (falls sie aus einer ist...)
naja, freu mich jedenfalls wenn bald wieder was von dir kommt^^

LG Phoenix
Von:  Bartimaeus
2009-07-09T12:10:07+00:00 09.07.2009 14:10
xD was für ein nettes ende XDD armer johannes familienausflug mit tobi XD hoffentlich überlebt er das unbeschadet XDDD

Von: abgemeldet
2009-07-06T18:09:37+00:00 06.07.2009 20:09
haha xD
nein wie geil xD
das unromantischste erstemal das ich je gelesen habe xD
pornofischi, geiler spitzname xD
vielleich sollten die zwei sich tipps von kevin und tanja holen^^
obwohl das wohl sehr, sehr, seeehr peinlich werden würde x)
ich versuch mir grad vor zu stellen was passiert wenn jos eltern von der beziehung erfahren...
und wie jos mutter danach versucht ihren sohn auf zu klären xD
und der schokomuffin am ende x)
ttal toll^^
war ein super kapitel, hoff es geht bald weiter^^

LG Phoenix
Von: abgemeldet
2009-07-03T17:08:01+00:00 03.07.2009 19:08
Hahahihihi ich lach mich grad sowas von Schlapp xD du hast des mit dem Schokomuffin wirklich geschrieben (muhaha ich habe macht über dich) lg Anna-Maria^^
Von:  snowwhitedoll
2009-07-03T16:16:51+00:00 03.07.2009 18:16
lol
die gehen ja schnell zur sache xD
nur ein wenig zu ungeschickt xD
aber ich bin echt erstaunt, dass jo da mitgemacht hat!
hach tobi..mein liebling =)
tolles kapitel!

hugs
Von:  Bartimaeus
2009-07-02T21:44:26+00:00 02.07.2009 23:44
XDDDDDDD wie geil XDDD die zwei sind aber echt verplant, sich vorher nich mal ein bisschen zu informieren XDD
achja, vll gehts nur mir so, aber ich hab hin und wieder probleme beim lesen, weil ich nich weiß, wer von den beiden was sagt XDDD is mir schon ein paar mal aufgefallen XD


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