magical heartbreak von Ling-Chang (I can't live without you.) ================================================================================ Kapitel 1: Tränen und Wiedersehen --------------------------------- Der Himmel verfärbte sich schwarz und dunkle Wolken ergriffen die Vorherrschaft. Ab und zu konnte man zwischen ihnen gleißende Blitze ausmachen, die die Dunkelheit auf seltsam gegensätzliche Weise durchbrachen. Selbst die kleinste und undeutlichste Wolke nahm nun die Form einer großen Bedrohung an, erstickend und schwer. Dennoch war der Himmel nichts mehr als eine magische Illusion, die von den tausenden Kerzen, die mitten in der Luft schwebten, zusätzlich erhellt wurde. In Hogwarts hatte es niemals einen Tag gegeben, an dem im Himmel nicht eine Kerze schwebte, meistens waren sie rot und strahlten ein beruhigendes Gefühl von Zuhause aus. Auch heute klebten sie wie Hoffnungsschimmer unter der Decke und erleuchteten die düstere Stimmung mit ihrem friedvollen Flackern. Die Schüler, die sich zum Frühstück in der Großen Halle eingefunden hatten, ließen sich von dem Unheil verkündenden schwarzen Himmel nicht beunruhigen. Vielmehr waren sie noch erregter, vielleicht lag dies auch gerade an dem aufgewühlten Wetter um sie herum, das die jungen Hexen und Zauberer ansteckte, ja förmlich mitriss. Ihr Gelächter und ihre Gespräche schwollen in einem stetigen Auf und Ab. Beinahe plätschernd trafen die Neuigkeiten des Tages per Eulenpost wie eine Flut in die Große Halle ein. Die wenigen Schüler, es war vielleicht die knappe Hälfte der Schülerschar, reckten aufgeregt die Köpfe und deuteten in den Himmel, von wo aus die Eulen ihre Besitzer anflogen und ihnen Briefe und Geschenke überbrachten – es waren ab und zu auch Morgenzeitungen dabei, zum Beispiel der Tagesprophet. Der plötzliche Lärm der Schüler war kaum zu ertragen. Eigentlich hatte Professor Charles Irving als Schulleiter die Pflicht, für ein würdevolles Benehmen seiner Schüler zu sorgen, doch seine Gedanken wanderten immer wieder aus dem Fenster hinaus in die Welt zu Menschen, die er einmal gekannt und gemocht hatte. Außerdem fand er in den wenigen Momenten, in denen er wirklich auf seine Umgebung achtete, nicht den Mut, die Schreierei und das nervtötende Geschwätz seiner Schüler zu unterbrechen. Schlimmer noch, er hatte keine große Lust dazu, vielmehr beobachtete er ruhig, wie am Slytherin-Haustisch ein Streit ausbrach und sich zu einer Prügelei entwickelte. Schultern zuckend tat er das Ereignis als eine Unwichtigkeit von kurzer Dauer ab und wandte sich wieder seinen eigenen Problemen zu, die sich in letzter Zeit Schwindel erregend schnell aufgetürmt hatten. Manchmal war er nachts aufgewacht, mit dem Gefühl zu ersticken, und hatte keine Ruhe mehr gefunden, bis die Sonne am Horizont aufging und einen weiteren Tag angekündigt hatte. Zuerst waren da die Nachrichten von der plötzlichen Kündigung eines seiner Lehrer, der nur noch bis zum Sommer unterrichten wollte, warum wusste niemand, danach kam die plötzlichen schlechten Neuigkeiten über einen ehemaligen Schüler, dessen Familie vor wenigen Tagen einem Attentat zum Opfer gefallen war, gefolgt von Charles erschreckend mürrischer Laune, die ihm in den vergangenen Tagen so einige schreckliche Stunden beschert hatten. Seufzend starrte er wieder aus dem Fenster und dachte nach. Für ihn war das zweite Problem das schlimmste. Nie hätte er sich vorgestellt, dass so etwas tatsächlich einmal einem seiner ehemaligen Schüler passieren konnte. Besonders nicht diesem. Als es plötzlich wieder leiser wurde, schreckte Charles Irving aus seinen Gedanken auf und erblickte seine Stellvertreterin Professor Carolina Gerald. Sie hatte wohl gerade mit ihrer herrischen und strengen Art für Ruhe gesorgt und ihn somit aus seiner Trance gerissen. Er beobachtete ihre Gestalt und ihm fiel die steile Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen auf, als sie ihm ins Gesicht sah. Müde erwiderte er diese Geste mit einem Lächeln und stützte sein Kinn auf seinen Händen ab. In dieser ein wenig entwürdigenden Haltung, vorgelehnt und in den Himmel starrend, verfiel er in Träumereien, aus denen er sich schließlich befreien musste, um der mittelalten Frau vor sich seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Jedoch blieb er mit dem Blick am Ravenclaw-Tisch hängen und schaffte es nur, Professor Gerald ein minder höfliches Interesse entgegen zu bringen. Tatsächlich bewunderte er den strengen Aufbau der Großen Halle. Selbst als er Schüler gewesen war, hatte sie nicht anders ausgesehen. Dem großen Portal, durch das man die Halle normalerweise betrat, am nächsten befand sich der Haustisch der Slytherins, daneben der der Ravenclaws und im Folgenden Hufflepuff und Gryffindor. An den Kopfenden dieser Tische befand sich auf einem Podest erhoben und waagerecht zu den vier Häusern der Lehrertisch. Während seiner Schulzeit hatte der Lehrertisch zwar anders ausgesehen, aber die gleiche Funktion gehabt: An ihm speiste das Kollegium. Nun besaß er zwar den gleichen Zweck, man konnte aber erkennen, dass er durchaus an Größe gewonnen hatte. Tatsächlich war der Grund ein ganz einfacher: In den letzten Jahren war die Anzahl der Lehrer und der in Hogwarts Beschäftigten stetig gewachsen, damit die sowieso schon überforderten Lehrkräfte ein wenig entlastet wurden. Inzwischen gab es hier um die vierzig Plätze, wobei nur um die fünfunddreißig wirklich besetzt waren. Professor Irving fragte sich, warum sein Vorgänger so viele Sitzplätze angeschafft hatte, obwohl zu dessen Zeit viel weniger Menschen an diesem Tisch sitzen durften. Es war wohl in weiser Voraussicht geschehen, beantwortete Charles sich seine Frage selbst und wandte den Blick von den leeren Stühlen rechts und links von sich ab. Er selbst saß auf einem anders geformten Stuhl. Wenn er sein altes Gehirn anstrengte und sich recht erinnerte, dann wirkte der steinerne Sitzplatz mehr wie ein Thron. „Professor Irving, es wäre vielleicht von Vorteil, wenn Sie ihre Aufmerksamkeit unserem Gespräch zuwenden würden“, erinnerte ihn die strenge Stimme seiner Stellvertreterin. Er seufzte noch einmal und schaute zu Carolina Gerald auf, die direkt vor ihm auf der anderen Seite des Tisches stand und die Hände in die Seite stemmte. „Verzeihung, wie bitte?“, fragte er und in seine Stimme schlich sich unbeabsichtigt Ungeduld. Ursprünglich hatte er nicht vorgehabt, so deutlich zu zeigen, dass er im Moment lieber allein gelassen werden wollte. Doch nun war es geschehen und im Angesicht der hochgezogenen Augenbrauen von Professor Gerald schluckte er schuldbewusst. „Wie ich sehe, haben Sie mir nicht zugehört. Nun denn, ich wiederhole es aber nur dieses eine Mal, also wären Sie so freundlich und würden mir zuhören?“, fragte Professor Gerald, die, auch wenn sie steif lächelte, mit ungeheurer Disziplin einen Wutanfall unterdrückte. Charles kannte diese Frau schon sehr lange. Er sah es in ihren Augen – allein die Tatsache, dass das Lächeln ihre Augen nicht erreichte, deutete bereits darauf hin. „Ja, verzeihen Sie mir. Ich habe heute Morgen schlechte Neuigkeiten erhalten.“ „Ich habe bereits davon erfahren, deswegen wollte ich ja mit Ihnen sprechen. Ich frage mich allerdings, wie der Tagesprophet die Nachricht schneller verbreiten konnte als das Lauffeuer der Gerüchteküche“, erwiderte die Frau und strich sich mit einer ihrer Hände eine ergraute Strähne aus dem Gesicht. Auch wenn man es Carolina Gerald nicht mehr ansah, in ihrer Jugend muss sie wohl beeindruckend hübsch anzusehen gewesen sein, doch inzwischen war diese aufregende Schönheit verblasst und das faltige Gesicht der mittelalten Frau erweckte nur noch Erinnerungen an traurige, sorgenvolle und mühselige Tage. Hätte sie sich vielleicht ein wenig mehr dafür interessiert, ihr Äußeres zu bewahren, hätte man ihr eine stolze Schönheit nach der jugendlichen Schönheit zugeschrieben, doch sie machte nicht den Anschein, als würde sie ihre Zeit mit Cremedosen und anderem verbringen. Ihr blondes Haar war mit einem Dutt am Hinterkopf zusammengebunden, auch wenn hier und da einige Strähnen aus dem Zopf hervorrutschten. Ihre Roben von mittlerer Qualität waren sicherlich schon Antiquitäten. Man sah, dass die Farbe bereits verblasst war und doch war die nun kupferfarbene Robe immer noch in einem guten Zustand. Allein daran konnte man erahnen, dass die mittelalte Frau sich früher einmal um ihr Aussehen gekümmert haben mochte. Charles fragte sich, warum ihm das immer und immer wieder an ihr auffiel. Er konnte es einfach nicht lassen, andere Menschen zu beurteilen. „Meine Posteule brachte mir den Tagespropheten durch mein Abonnement früher ins Haus als unter normalen Umständen üblich. Vielleicht war es heute Pech, denn eigentlich hatte ich nicht vor, bereits so früh diese erschreckenden Nachrichten zu erhalten. Leider war dem so.“ „Mir fällt es auch schwer, zu glauben, dass der Tagesprophet in dieser Hinsicht wirklich verlässlich ist. Es könnte zu einigen Missverständnissen gekommen sein“, antwortete Charles, der sich sichtlich froh über die Redemöglichkeit zeigte. Ihm war der Tagesprophet sowieso nie wirklich geheuer gewesen. Dennoch erinnerte er sich noch genau an den Artikel auf der Front und der anschließenden näheren Erläuterung auf der nächsten Seite, als hätte sich der ganze Bericht geradezu in sein Gehirn eingebrannt. Mit monotoner Stimme gab er den Artikel wieder, ohne wirklich auf Carolina Gerald zu achten, die ihn wieder mit hochgezogenen Augenbrauen ansah: „Grauenhafte Geschehnisse. Das Zaubereiministerium gibt bekannt, dass am 04. Februar in Eveningshire ein grauenhafter Fund gemacht wurde. „Eveningshire war immer ein ausgestorbenes Fleckchen Frieden. Idyllisch, wenn man nicht genau hinsah“, behauptete eine entrüstete Muggelfrau und bekam kräftig Unterstützung. Die Hexe Claire McRice (34) sagte im näheren Interview mit unserer Reporterin: „Ich hätte nie gedacht, dass so etwas hier passieren könnte. Die Wenhams waren immer anständige Leute und dann so etwas!“ Experten des Ministeriums für Hexerei und Zauberei waren am Tatort, wo sie bereits mit ihren Untersuchungen begonnen haben. Christopher Erwin erzählte, leicht blass im Gesicht: „Es gibt vier Tote, eine Verletzte und zwei Vermisste. Die Haushälterin, Martha Boll (57), der Butler, Edward Collins (48), die Haus- und Ehefrau, Joanna Wenham (19), und ihr unmittelbarer Bodyguard, James Parkins (27), fanden in der Nacht vom 03. auf den 04. Februar in dem alten Anwesen der Familie den Tod. Die Hebamme, Nora Clarkson (32), liegt schwer verletzt im St. Mungo Hospital, während der Ehemann der toten Mrs. Wenham, Timothy Wenham (19), und das in dieser Nacht geborene Kind der Beiden immer noch vermisst werden.“ Gerüchten nach zufolge sollen die Toten dem Todesfluch erlegen sein, der diese überraschend und unerwartet getroffen haben soll. Jedoch ist bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu erkennen gewesen, ob ein solches Gerücht befürwortet werden könne, behauptete der Sprecher des St. Mungo Hospitals, Nicolas Dickens. „Die Leichen der vier Menschen, die in dieser Nacht zu Tode kamen, wurden wie bei einer Museumsausstellung in der Eingangshalle des Anwesens aufgereiht. Es wirkte friedlich, jedoch auch grauenhaft.“ Weiterhin ist klar, dass es zu einem magischen Duell zwischen den Hexen und Zauberern gekommen sein muss, obwohl auch in diesem Fall unklar ist, wer darin verwickelt gewesen sei. Sicher ist auch, dass die Todeszeitpunkte der einzelnen Personen verschieden waren. Zuerst sollen wohl der Butler und die Haushälterin getötet worden sein und im Folgenden der Bodyguard, während kurz danach die Hebamme schwer verletzt sich selbst überlassen wurde. Erst danach soll die Hausfrau, Mrs. Wenham, ermordet worden sein. Jedoch sei es immer noch nicht klar, ob sie an den vielen ihr beigefügten Schnittwunden und dem daraus resultierenden Blutverlust oder an einem Fluch gestorben ist. Niemand weiß genau, was in dieser unheilvollen Nacht wirklich geschah, doch eins ist daraus ersichtlich, es muss grauenhaft gewesen sein. Diejenigen, die für den Tod dieser Menschen verantwortlich sind, haben mit einer erschreckenden Präzision gearbeitet, was darauf schließen lässt, dass auch hier wieder die so genannten „Raritätenjäger“ am Werk waren, die Jagd auf magisches Reinblut machen, um in dunklen Zeremonien ihren angebeteten Gott Tulbblood wieder zu beleben. Jetzt richten sich alle Blicke suchend nach Mr. Timothy Wenham, der als womöglicher Augenzeuge gilt und sich daher, falls möglich, mit sofortiger Wirkung bei der Aurorenzentrale und der Zentrale für magische Strafverfolgung im Ministerium für Hexerei und Zauberei zu melden hat. Die Zaubererzivilisation ist dagegen aufgefordert, nach auffälligen Personen in der Nähe des Anwesens Ausschau zu halten und außerdem mögliche Hinweise auf die Identität der Täter dem Ministerium für Hexerei und Zauberei zu zusenden. Weiterhin wird geraten, auf sämtliche Spuren des verschollenen Mr. Wenham zu achten und sie ebenfalls zu melden. „Halten Sie Augen und Ohren offen“, rät uns Christopher Erwin. „Mr. Wenham könnte verletzt sein. Wir haben schon erste Hinweise auf seinen möglichen Aufenthaltsort erhalten, jedoch stellte sich nichts dabei heraus.“ Mr. Timothy Wenham war am vergangenen Freitag, den 04. Februar, zuletzt im St. Mungo Hospital gesehen worden, als er für die vorläufige Geburtsregistration seines Kindes sorgte. Eine Stunde später kontaktierte Mrs. McRice das Krankenhaus und rief die Experten zum Tatort. Artikel von Lara Canham (Ausführliches zu diesem Thema gibt es in der nächsten Ausgabe des Tagespropheten)“ Professor Irving schlug die Augen nieder und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er hatte den Artikel bestimmt fünfzehn Mal fassungslos gelesen, bevor er überhaupt verstand, was passiert war. Im Verlaufe dieses Prozesses hatte sich der Bericht wie von selbst in seinem Gehirn festgesetzt und war dort nun, immer wieder aufrufbar, in unmittelbarer Reichweite. Bald würde man mehr wissen, doch Charles machte sich Sorgen. Das Ehepaar Wenham war während der Schulzeit unter seiner Tutorenschaft gewesen und hatte ihn immer wieder mit den herausragenden magischen Gaben überrascht. Timothy Wenham und Joanna Wenham, geboren Vaughn. Charles Gedächtnis war gut, manchmal sogar unangenehm gut. Er erinnerte sich genau an die Beiden herausragenden Schüler. Immer exzellent mit den besten Leistungen, freundlich und beliebt. Für die meisten Zauberer war ihre Musterschülerschaft jedoch nicht so wichtig wie die Tatsache, dass beide Reinblüter waren und somit zu einer aussterbenden Art von Hexen und Zauberern gehörten, die durch die Angriffe der „Raritätenjäger“ deutlich geschrumpft war. In jeder Hinsicht waren beide Wenhams perfekt. Vielleicht etwas zu perfekt? Charles sorgte sich um Timothy Wenham. Er hatte ihn schon seit ihrer ersten Begegnung sehr ins Herz geschlossen und genauso verhielt es sich mit dessen Frau Joanna. Sie war in Gryffindor eingeschult worden, während Timothy erst im vierten Jahr in Hogwarts zur Schule gehen musste und in Ravenclaw seine Zeit verbrachte. Dennoch kannte man die Beiden schon damals unter dem Spitznamen „Das perfekte Paar“. Professor Irving sah sich um und bemerkte, dass Professor Carolina Gerald ihn immer noch ansah. Mit einem müden Lächeln bedeutete er ihr, sich auf ihren Platz zu seiner Rechten zu setzen. Sie stimmte zu und ging um den Lehrertisch herum, um sich hinzusetzen. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass inzwischen schon fast alle Lehrer am Tisch saßen und auch der Großteil der Schüler anwesend waren. Während in der Großen Halle der Lärm erdrückend laut wurde, kam vom Lehrertisch kein einziger Laut, beinahe als wäre alles Leben aus den Erwachsenen gewichen, als gäbe es nichts mehr, das man bereden konnte. Tatsächlich war die ganze übertriebene Erhabenheit der Lehrer mit einem Mal von tiefer Trauer durchtränkt. Alle Professoren sahen trübsinnig drein und schienen den Appetit verloren zu haben. Also hatten auch sie von dem grauenhaften Ereignis gehört. Kein Wunder, da jeder von ihnen täglich den Tagespropheten las, um sich in der Abgeschiedenheit der Schule wenigstens auf dem Laufenden zu halten. In diesem Moment sah Professor Irving zum ersten Mal die Gegenteiligkeit von Lehrern und Schülern. Während an den Haustischen munter geschwatzt wurde, war die Stille am Lehrertisch erdrückend. Für einen Samstagmorgen, einem unterrichtsfreien Tag, eine eher unübliche Sache. Vielleicht war das auch gut so. Charles hätte sich allein gefühlt, wären die anderen Lehrer nicht im Mindesten betroffen gewesen. Doch anscheinend waren sie mehr als das. Es dauerte eine Weile bis schließlich der Professor für Muggelkunde, Gilbert Powell, seine Stimme hob und meinte: „Ich kannte Joanna Wenham. Sie war eine meiner Schülerinnen. Vorbildlich, brav, gut gelaunt, freundlich, ehrgeizig und vielleicht manchmal ein bisschen voreilig.“ Fast alle fingen daraufhin an zu nicken. Sie hatte viele Fächer belegt und war dadurch auch bei den meisten Lehrern bekannt gewesen. Besonders ihre vorbildliche Art und ihr starker Sinn für Gerechtigkeit waren vielen von ihnen aufgefallen. Ermutigt durch die Ansprache von Professor Powell sprach ein anderer Professor: „In Alte Runen war sie genauso. Sie hat immer alles richtig gemacht und ihre Arbeiten pünktlich abgegeben. Wenn ich Hilfe benötigt habe, dann konnte ich mich stets auf sie verlassen. Sie war eine gute Schülerin.“ Wieder folgte ein Schweigen, in dem ein einstimmiges Nicken zu sehen war. Professor Irving seufzte und schloss die Augen, entsetzt von diesem Andenken, das eindeutig einer Grabrede ähnelte. Als er sich zwang, seine Augen wieder zu öffnen, blieb sein Blick am Gryffindor-Tisch hängen. Er sah wieder ihr strahlendes Gesicht am Tag der Einschulung, ihre vor Stolz sprühenden Augen. Ihr Aussehen hatte sich bei ihm eingeprägt wie der Zeitungsartikel, der von ihrem Tod berichtete. Nicht, dass er seltsame Gedanken bei ihrem Anblick empfand, nein, es verhielt sich anders. Einige Menschen fielen einem nun einmal auf und andere nicht. Sie war eine dieser Personen gewesen, die die Aufmerksamkeit auf sich zog wie eine Blume in voller Blüte eine Honigbiene, oder wie ein hübsches Mädchen Freier. Von Letzterem hatte es auch nicht wenige gegeben. Manchmal wunderte sich Charles immer noch, warum Joanna damals direkt nach Timothys Schulwechsel ein plötzliches Interesse an Jungs und Liebe gehegt hatte, auch wenn dieses Interesse sich nur auf ihn bezog. Es war einfach ein wenig unerwartet und unnatürlich gewesen und doch fingen ja irgendwann Mädchen immer an, von Jungs zu schwärmen. „Die einzige Person, die es schaffte, Mrs. Wenham, damals noch Miss Vaughn, zu verwirren oder zu beunruhigen, war Timothy Wenham.“ Ein Murmeln erhob sich, als plötzlich sämtliche Lehrer in ihren Erinnerungen versanken und die Aussage der Zauberkunst-Lehrerin, Professor Catherine Baldwin, bestätigten. Als wollten sie den Anderen ihre Gedanken und Erlebnisse erzählen, wandten sich nun alle Professoren Gesprächen zu und bald summte es auch am Lehrertisch von Hogwarts. Durch den plötzlichen Gesprächsausbruch der Professoren neugierig geworden, reckten einige Schüler die Hälse und schauten interessiert herüber. Doch ihre Lehrer schienen sich nicht wieder anschweigen zu wollen, weswegen sie bald darauf ein erfreulicheres Thema ansprachen – die Kündigung eines ihrer verhassten Kollegen, der Wissenschaftslehrer Professor Edwin Peakin. Nur Professor Irvings Blick ruhte weiterhin auf Joannas ehemaligen Sitzplatz. Er seufzte ergeben, bevor er auf seine Sitznachbarin, Professor Gerald, reagierte, die ihn schon die ganze Zeit über sprechen wollte und ihm nervös an die Schulter tippte. Es war eine ihrer nervtötenden Angewohnheiten. „Professor Irving? Was denken Sie? Was wird Mr. Wenham tun?“ „Ich hoffe, er hat sich retten können und ist nicht von den „Raritätenjägern“ verschleppt worden. Das ist jetzt erst einmal meine einzige Sorge. Warum fragen Sie, Professor?“, antwortete er halbherzig und sah auf den dunklen Himmel, der seiner misslichen Lage nur noch die schlechte Atmosphäre hinzufügte. „Gehen wir einmal davon aus, er konnte sich retten. Was hätte er getan? Nun, er hat ja jetzt sein Kind und noch andere schwierige Umstände.“ „Vielleicht meldet er sich ja zunächst in den Zentralen des Ministeriums. Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Ich frage mich auch, was er tun würde. Er war aber stark und ein guter Zauberer. Er hatte nicht wenig Talent und konnte eine ganze Menge. Ich denke auf jeden Fall, dass er, für den Fall dass er sich retten konnte, sich zu helfen weiß, Professor.“ „Als Professor für Verwandlung würde ich natürlich viele Dinge tun, aber persönlich und in seiner Lage würde ich nach dem sichersten Ort trachten, besonders mit einem Kind.“ „Sie meinen …?“ „Hogwarts. Glauben Sie mir, Professor Irving. Mr. Wenham wird sicherlich nach Hogwarts kommen“, sagte sie und in ihrer Stimme schwang eine Stärke und ein Vertrauen mit, dass er normalerweise anderen zuschreiben würde aber nicht Carolina Gerald. Er zog die Augenbrauen zusammen und überlegte eine Weile, den Blick wieder gen illusionären Himmel gewandt. „Was denken Sie? Würden Sie ihn hier aufnehmen?“, fragte er schließlich, obwohl ihm die Antwort auf die Frage bereits in Gedanken vorschwebte. „Natürlich! Wenn die Berichte des Tagespropheten stimmen, wird er ja sicherlich von diesen „Raritätenjägern“ gejagt. Die wollen bestimmt sämtliche Zeugen auslöschen, die über ihre Identität aussagen können.“ „Vorausgesetzt, Mr. Wenham lebt noch und ist ihnen nicht schon längst in die Hände gefallen“, erinnerte Charles seine Stellvertreterin, die gerade einen Schluck aus dem versilberten Trinkkelch nahm, bevor sie sich ein wenig Schinken auf den Teller legte und sich genüsslich über ihr Essen hermachte. Er schluckte und erinnerte sich daran, dass eigentlich auch sein Magen Nahrung benötigte, doch ihm fiel auch auf, dass er wahrscheinlich eher darauf verzichten sollte, anderenfalls würde ein Unglück passieren. Während er wieder nachdenklich in den Saal blickte, stutzte er. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Große Halle sich unerwartet wieder geleert hatte. Anscheinend war die Stoßzeit fürs Frühstück schon vorbei und er gehörte zu den wenigen Nachzüglern oder Trödlern. Er sah sich um und bemerkte auch, dass der Großteil seiner Kollegen bereits wieder gegangen war. Manchmal wunderte sich Charles, wie sie ohne großes Aufheben einfach so verschwinden konnten, doch dann fiel ihm auf, dass er meistens mit den Gedanken irgendwo anders war und nicht auf sie achtete. Während er so nachgrübelte, kam ihm eine Idee. „Professor Gerald?“ „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Wäre es möglich, dass Sie dem Wildhüter und der Schlossmeisterin Bescheid geben könnten und ihnen einschärfen, ja ein Auge auf ihre Umgebung zu werfen? Sollte Mr. Wenham tatsächlich auf die Idee kommen, sich hierher zu flüchten, dann müssen wir frühzeitig davon erfahren, um ihn in die Sicherheit des Schlosses zu führen. Unerlaubter Eintritt ist nicht möglich, wie Ihnen sicherlich bekannt ist“, sagte er und schaute ihr in die Augen. Als sie mit einem Nicken antwortete, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er hatte fast nicht daran geglaubt, dass sie ihm zustimmen würde. Obwohl angesichts dieser Tatsache ihre Antwort wohl die zu erwartende Reaktion gewesen wäre. Insgeheim hoffte der alte Schulleiter, dass sein ehemaliger Schüler überhaupt in die Nähe der Schule kam, um dem Wildhüter und der Schlossmeisterin in die Arme zu laufen, sollte er nicht von den „Raritätenjägern“ verschleppt worden sein. Mit dem Beschluss von nun an ebenfalls Wache zu stehen, auch wenn er als Schulleiter weit mehr zu tun hatte, wandte er sich wieder dem düsteren Himmel zu. Erst einmal ging die Sicherheit der beiden Wenhams vor. Charles mochte es gar nicht zugeben, aber im Stillen fragte er sich, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen war. Charles kratzte das letzte Wort auf das Pergamentpapier. Es war das Letzte von fünf anderen Blättern und seine Hand schmerzte. In letzter Zeit verlangten solche ellenlangen Briefe seine größte Aufmerksamkeit, zumal der Großteil von ihnen ans Ministerium geschickt wurde und der alte Schulleiter daher erst recht aufpassen musste. Manchmal brauchte er Stunden nur um einen dieser Briefe politisch korrekt zu verfassen und ihn anschließend dem Korrespondenten des Ministeriums in Hogwarts, einem Inquisitor namens Thomas Bush, zu geben. Er konnte diesen mittelalten Mann nicht leiden. Das lag nicht daran, dass er vom Ministerium geschickt wurde, nein, vielmehr lag es daran, dass dessen Charakter einfach verdorben war. Der Mann war unerträglich, nicht allein deswegen, weil er seine Haare mit jeder Menge Gel zukleisterte und sie mit einem Kamm zurückkämmte. (Hinterher also eine widerliche Locke über der Stirn erschaffen hatte.) Allein bei dem Gedanken daran lief ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. Nicht, dass er sich nicht allein für seine Gedanken bestrafte, aber die Tatsache, dass er als Schulleiter andere Menschen allein nach ihrem Aussehen bewertete, war schon eine Schande. Er legte die Feder beiseite und besah sich noch einmal ihre Musterung. Sie war beige und am Kiel entlang mit braunen Flecken und Punkten gemustert. Im Anschluss daran ordnete er die Pergamentpapiere und schaute erneut nach möglichen Rechtschreibfehlern oder unangebrachten Ausdrücken. Mit einem zufriedenen Nicken holte er einen Briefumschlag hervor und drehte ihn um, sodass er die Adresse des Empfängers darauf schreiben konnte. Er tunkte die Federspitze in das Tintenfass und setzte sie aufs Papier. Überraschend laut klopfte es an der Tür seines Büros, vielleicht sogar hastiger und beunruhigter als geplant. Charles zuckte zusammen und zog seine Hand zurück, mit dem Ergebnis, dass quer über das Papier ein feiner Strich verlief. Er fluchte und schmiss die Feder daneben. Als er registrierte, dass beim Aufprall auf dem Tisch Tintenspritzer fliegen würden, streckte er die Hand aus, doch gerade dadurch riss er das Tintenfass um. Charles sprang auf und fluchte laut, weil das schwarze Unglück sich über den ellenlangen Brief verteilte und zusätzlich vom Schreibtisch auf den neuen Teppich im Schulleiterbüro tropfte. „Herein!“, fauchte er, als sich auf dem Teppich schon eine Pfütze gebildet hatte. Mit wütendem Blick schaute er auf und bemerkte seinen Gast, den er zuerst begrüßen wollte, doch Charles hielt inne und zog die Augenbrauen zusammen. Es war Professor Marc Edison, der in der Schule meistens nur als schattenhaftes Wesen bekannt war, weil er den größten Teil seines Lebens im Astronomieturm und dem zugehörigen Klassenraum verbracht hatte. Nur selten kam es vor, dass er sich bemühte, die Treppen des Turms hinab zu steigen, obwohl es eigentlich für einen mittelalten Mann wie ihn gar nicht so schwer war. „Professor Irving! Professor Irving!“, rief er, ohne auf den Schulleiter zu achten, der sich seine Hand vor die Stirn schlug und sich zurück auf seinen Stuhl setzte. „Wie kann ich Ihnen helfen, Professor?“, antwortete Charles genervt und lehnte sich zurück, um seine Müdigkeit und Nerveninstabilität unter Beweis zu stellen. Hätte der Astronomielehrer genauer hingesehen, wären ihm diese Anzeichen auf gereizte Stimmung aufgefallen, doch er war viel zu aufgeregt, als dass ihm irgendetwas in dieser Art ins Auge stach. Stattdessen fügte er hastig hinzu: „Der Wildhüter hat mir gerade Mrs. Wilson geschickt. Sie wissen schon, Ihre neue Schlossmeisterin. Sie sagte, er habe auf seiner nächtlichen Patroullie etwas entdeckt, dass ihm Sorgen bereitet. Zwar soll es angeblich nichts Schlimmes sein, doch bei seinen Vorlieben für Gefährliches wäre ich mir da nicht so sicher.“ „Wo hat Mr. Hunter denn dieses sagenumwobene Etwas gesehen, Professor? Hat Mrs. Wilson Ihnen das auch schon mitgeteilt?“, meinte der alte Schulleiter ironisch. Er hasste es, wenn Menschen nicht sofort mit den Neuigkeiten herausrückten oder noch schlimmer, wenn sie um den heißen Brei herumredeten. Ihm fiel es dann immer schwer, ihnen überhaupt zuzuhören. Genauso verhielt es sich mit allen Professoren, die Hogwarts aufwarten konnte, besonders die alten. Alle schmückten sie ihre Sätze unnötig aus und fügten unwichtige Sachen an, anstatt einfach einmal zu sagen, was sie auf der Seele hatten. „Natürlich, natürlich. In der Nähe des Schultors! Dort, wo er positioniert worden ist. Anderenfalls, wo hätte er denn sonst etwas sehen sollen? Ich denke, Mr. Hunter ist nicht so eine Person, die ihren Arbeitsplatz verlässt, ohne vorher Bescheid zu geben.“ „Von außen also? Denken Sie, was ich denke?“ „Ich hoffe doch. Wir haben seit über einer Woche uns unsere Nächte um die Ohren geschlagen und nicht viel geschlafen. Es wäre sicherlich von allgemeinem Interesse, wenn dieses Etwas Mr. Wenham wäre. Dennoch sagte Mr. Hunter, dass er sich nicht sicher sei. Er hätte nichts erkennen können.“ Professor Irving stand langsam auf und beobachtete für einen kleinen Moment einen Tintentropfen, der von der Ecke seines Schreibtisches in die schwarze Pfütze zu seinen Füßen fiel und ein lautes „Platsch!“ verursachte. Seufzend wandte er sich von diesem minder interessanten Schauspiel ab und ging um seinen Schreibtisch herum. Wenn dieses Etwas wirklich Timothy war, dann würde eines seiner Probleme urplötzlich von ihm weichen. Die Erleichterung wäre groß und er könnte auch der Zauberergemeinschaft, der Timothy angehörte, endlich Frieden geben. In den letzten Tagen hatten sich laut Tagespropheten immer mehr reinblütige Hexen und Zauberer per Brief oder persönlichem Besuch im Ministerium beschwert, dass ihre „Rasse“ auf den Straßen und in der Welt nicht mehr sicher sei. Wahrscheinlich platzte gerade das Ministerium zu dieser Stunde wieder aus allen Nähten. Allein der Gedanke an die viele Arbeit ließ Charles schaudern. Manchmal war er wirklich froh, nicht Mitglied einer so beschäftigten Vereinigung zu sein. Schließlich siegte seine Neugier und der alte Mann schritt zügig an Professor Edison vorbei auf seine Bürotür zu und dachte dabei wieder nach, so wie er es immer tat, wenn er das Gefühl hatte, dass bald etwas sehr Wichtiges passieren würde. Zwar hatten die Zeitungen vor wenigen Tagen das Interesse an dem neueren Attentat auf die Wenhams verloren, jedoch berichteten sie immer noch über die Auswirkungen und Folgen dieses Ereignisses. Nicht minder viele Gerüchte waren auf diese Weise in der Welt verbreitet worden, dass war dem Schulleiter klar und manchmal wünschte er sich nichts sehnlicher, als die Gewissheit, dass sein ehemaliger Schüler noch lebte. Doch das Ministerium hatte immer noch nicht mit den Informationen herausgerückt und somit den Großteil der Wahrheit vor der Zauberergemeinschaft verschwiegen. Dadurch hatte es erreicht, dass die Hälfte aller Hexen und Zauberer das Attentat bereits wieder vergessen hatte und nun nur noch täglich über Folgen und Auswirkungen diskutierte. Aber mit ihm verhielt es sich anders. Professor Irving hatte diesen Vorfall nicht vergessen. Wie konnte er auch, nachdem er all das in Erfahrung gebracht hatte? Er würde sich selber bestrafen, würde er das Andenken an seine Lieblingsschüler vernichten. Allein war er aber dennoch nicht. Auch andere Lehrer schenkten diesem Ereignis stets ihre Aufmerksamkeit, wenn auch etwas vorsichtiger, um nicht alte Erinnerungen und erneute Trauer hervorzurufen. Gerade dadurch war man in Charles Umgebung immer darauf bedacht, andere Themen anzusprechen, egal, wie langweilig sie waren. Seit Neustem war es sehr beliebt, über die neue Eulenausstellung in der Winkelgasse zu diskutieren. Seltsam, dass Menschen die langweiligsten Themen interessant finden konnten, wenn man ihnen nur einen guten Grund dazu lieferte. Charles eilte auf die Treppenstufen, die begannen sich zu bewegen, nachdem auch Marc auf die obere Treppenstufe trat. Ihm war es lieber, allein zu Mr. Hunter zu gehen, doch anscheinend wollte Professor Edison ihn nicht in Ruhe lassen. Obwohl der mittelalte Mann stets pflegte, in seinen Räumen zu bleiben, interessierte ihn der Klatsch und Tratsch der Schule doch ungemein. Nun vielleicht war es auch nur Zufall, dass Mrs. Wilson gerade den Astronomielehrer mit der Überbringung der Nachricht beauftragt hatte. Sicherlich kannte sich der mittelalte Mann im Bereich der Türme besser aus als ein anderer Lehrer, der sich auf dem Weg zum Büro des Schulleiters in einem der Türme wohl verlaufen hätte. Niemand hatte das Schloss besser gekannt als Professor Dumbledore, ein ehemaliger Schulleiter, der einer der erfolgreichsten in diesem Amt gewesen war. Dennoch hatte auch Charles’ Vorgänger das Schloss nie wirklich gekannt und schien selbst am Ende seiner Amtszeit stets über neue Räume überrascht gewesen zu sein, die er zuvor nie entdeckt hatte. Mit hastigen Schritten lief Professor Irving die großen Treppen in der Eingangshalle hinunter. Die nächtliche Ruhe ließ seine Schritte viel lauter klingen, als sie tatsächlich waren, und das Echo war seltsam gruselig. Vielleicht lag es auch daran, dass die Nacht den Atem angehalten hatte, denn die Spannung, die in der Luft lag, war kaum zu ertragen. Es könnte aber auch am Marmor liegen, aus dem die Stufen gebaut worden waren, doch das bezweifelte der alte Schulleiter. Ein eiliger Seitenblick auf die Stundengläser, die wie immer mehr als offensichtlich zeigten, dass Gryffindor vorne lag, schien Charles mehr als angebracht, um sich mal wieder in die Belange der Schule einzugliedern. In letzter Zeit hatte er wirklich zu viel mit der Korrespondenz mit dem Ministerium verbracht. Ein kleiner Urlaub wäre vielleicht angebracht, dachte er und schaute sehnsüchtig nach oben. Tatsächlich war es auch schon eine Weile her, seit er sich über die Decke der Eingangshalle wundern konnte. Auch wenn er jahrelang versucht hatte, sie sehen zu können, war es ihm bis jetzt nie gelungen. Sie blieb einfach unerreichbar, wenn nicht sogar mit dem Auge nicht ausmachbar. Die beiden Männer erreichten den Fuß der Marmortreppe und eilten quer durch die Eingangshalle auf das große Eichenportal der Schule zu, dass die winterliche Kälte aussperrte und für eine wohlige Wärme im Inneren sorgte. Selbst für Anfang Februar war es draußen im Moment viel zu kalt, weswegen Professor Irving, sobald er mit einem Wink seiner Hand die Tür geöffnet hatte, seinem Umhang fester um sich schlang. Das Gelände von Hogwarts war bei Nacht nicht nur unheimlich, sondern auch aus gutem Grund verboten zu betreten – es war nicht weniger gefährlich als ein Spinnennetz für eine Fliege. Dennoch fürchtete Charles sich nicht. Warum auch? Er war der Schulleiter von dieser Schule und nur sehr mächtige Hexen und Zauberer, auch wenn bis jetzt nur Zauberer Schulleiter gewesen waren, konnten dieses Amt auf sich nehmen. Das riesige Eingangsportal schlug hinter Professor Irving und Professor Edison zu, wie es ihm befohlen worden war. Der letzte warme Luftzug, der ihnen von hinten entgegenschlug, verflüchtigte sich sehr schnell, vielleicht etwas zu schnell, und hinterließ nur noch die bittere Kälte, an die man sich zu gewöhnen hatte. „Hat Mr. Hunter nun eindeutig eine Person ausmachen können oder war da nur etwas Auffälliges, dass er nicht zu beschreiben wusste?“, hakte Professor Irving nach, als ihm die unangenehme Stille bewusst wurde. „Ich weiß es nicht sehr genau, weil Mrs. Wilson sich nicht so recht erinnern wollte, dennoch kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass das Etwas sich bewegt hat. Also muss es ein Lebewesen gewesen sein. Ein Tier, ein Mensch, ein Geist – halt irgendetwas“, antwortete Professor Edison und verschnellerte seine Schritte, als auch ihm, dem äußeren Anschein nach zu urteilen, kalt wurde. „Können Sie mir nicht genau sagen, wo er das bewegungsfähige Etwas gesehen hat?“, fragte Charles nervös und sah sich um, um seine derzeitige Lage einzuschätzen. Manchmal konnte es auch für ihn gefährlich werden. Nicht, dass er sich fürchtete, aber es war besser, auf Nummer sicher zu gehen. „Ich sagte doch bereits, das muss in der Nähe des Eingangstors gewesen sein, anderenfalls hätte unser Wildhüter das Etwas nicht bemerken können. Es muss wohl direkt in dem kleinen Waldstück rechts oder links vom Tor gewesen sein. Sicherlich wird Mrs. Wilson oder Mr. Hunter uns zu der Stelle führen“, erwiderte Professor Edison bereits etwas genervt von der ständigen Fragerei des Schulleiters. Wieder beschleunigte er seine Schritte und eilte dem alten Mann voraus, als müsste er beweisen, wie nervtötend allein dessen Stimme war. Keuchend schaffte es Professor Irving mit Müh und Not mit dem mittelalten Professor Schritt zu halten, wenn auch nur annähernd. Er hatte zwar für die Erweiterung des Schulgeländes plädiert, jedoch wurden ihm erst jetzt die daraus resultierenden langen Wege bewusst. In den letzten Jahren war er nur wenig aus dem Schloss herausgekommen und somit war ihm all das nie wirklich aufgefallen. Das Tor schien so unendlich weit weg. Nach mehreren Minuten, nach Charles’ Zeitgefühl zu urteilen war es eine halbe Stunde, aber das stimmte nicht, also nach mehreren Minuten erreichten die beiden Lehrer das Eisentor, das mitten in dem Eisenzaun, der das ganze Gelände von Hogwarts umkreiste, wie ein Ungeheuer klaffte, jedoch in seiner Art sehr schön und kunstvoll aussah. Im Torbogen stand in großen Buchstaben „Hogwarts – Schule für Hexerei und Zauberei“ geschrieben. Wie immer bewunderte Charles den Eingang zu seiner Schule. Er hatte diese Inschrift schon öfter gesehen, als manch anderer und doch faszinierte ihn allein der Anblick und fesselte ihn wie am ersten Tag seiner Schulzeit. Professor Edison hielt inne und schaute sich um, als müsse er erst feststellen, welche Richtung er einschlagen sollte. Tatsächlich schien er von hier an nicht weiter zu wissen. Das lieferte Charles die Verschnaufpause, die er nach diesem nächtlichen Gewaltmarsch benötigte. Mit einem letzten Blick auf das Tor erfasste er die eisernen Schnörkeleien, die sich mit vielen Mustern verziert in bogenförmiger Anordnung um die Buchstaben herum befanden. „Da ist ja Mrs. Wilson, Professor Irving!“, rief Professor Edison aus und deutete nach links in die Dunkelheit. Zunächst konnte der alte Schulleiter nichts erkennen und fragte sich, wie es einem seiner Lehrer gelingen konnte, doch dann fiel ihm eine kleine Lichtkugel ins Auge und er seufzte. Natürlich hatte man die Laterne der Schlossmeisterin von weitem sehen können, aber er hatte mehr auf die unmittelbare Umgebung geachtet und die Frau somit nicht bemerkt. Dann hörte er auch die näher kommenden Schritte und genau in dem Moment tauchte die Schlossmeisterin Mrs. Emma Wilson auf. Ihr Gesicht erhellte sich fast unmerklich, als sie die beiden Männer sah. Sie winkte und hob die Laterne an, die ihr in der Dunkelheit des Waldes wohl den Weg erleuchtet hatte. Mit ihrer öligen Stimme rief sie nach den Beiden und winkte noch hektischer als zuvor. Professor Irving seufzte ergeben und machte sich innerlich auf eine lange Nacht gefasst. Dann zückte er seinen Zauberstab und flüsterte: „Lumos!“ Erst jetzt lächelte er wieder zufrieden und trottete vorsichtig hinter den anderen Beiden her. An erster Stelle pflügte sich Mrs. Wilson ihren Weg durch das Gebüsch und brach hier und dort Zweige ab. Obwohl sie anscheinend auf dem gleichen Weg zu ihnen gestoßen war, schien ihr der Durchgang immer noch nicht richtig ausgeweitet zu sein. Professor Edison schien nicht wirklich interessiert an seiner Umgebung zu sein und ging einfach nur dahin. Nur Charles fragte sich, was ihn wohl erwarten würde. Gleichzeitig wunderte er sich aber auch über die beiden Leute vor ihm. Schließlich musste er vor Nervosität erneut die Stille durchbrechen und fragte: „Mrs. Wilson, wohin gehen Sie?“ Sie zog die laufende Nase hoch und kratzte sich am Kopf, als hätte sie Läuse. Murrend antwortete sie: „Dahin, wo Martin ist, Professor Schulleiter Sir.“ Die Antwort erinnerte Charles an die Hauselfen, die ihre Zeit in der Küche von Hogwarts verbrachten. Wann immer er dort auftauchte, um sich ein nächtliches Mahl zu gönnen, begrüßten sie ihn mit der gleichen Anrede. Langsam aber sicher ging ihm das auf die Nerven. Er war Professor, Schulleiter und ein Sir, aber sicher nicht Professor Schulleiter Sir, doch an den Angewohnheiten der Elfen konnte er nichts ändern. Egal, wie oft er es ihnen auch erklärte, sie machten den gleichen Fehler Minuten später erneut. Es war ärgerlich, aber auch nicht unerträglich, nur nervend. Ergeben runzelte er bloß die Stirn und versank wie Professor Edison in tiefes Schweigen. Das war wohl die beste Lösung für die derzeitige Situation. Also sagte er nichts. Die beiden Professoren folgten der Schlossmeisterin noch eine Weile auf ihrem frei geräumten Weg durch den Wald und stießen dann auf eine Lichtung, an die sich Charles gar nicht mehr erinnern konnte. Aber er kannte die Umgebung des Schlosses sowieso nicht wirklich, also war das auch nicht überraschend. Wie lange sie gelaufen waren, das wusste er auch nicht. Seine Augen gewöhnten sich jedoch schnell an diese Lichtung, die heller war als der Wald und obwohl seine Lichtkugel für Licht gesorgt hatte, so war es doch noch lange nicht so gleißend wie das des Mondes. Es war Vollmond. Als er Martin Hunter, den Wildhüter seit fünf Jahren, erblickte überlief ihn wie immer bei dessen Anblick ein kalter Schauer. Nicht, dass er sich fürchtete, aber ihm war die Anwesenheit eines so mysteriösen Mannes nie wirklich geheuer gewesen. Aber nun musste er sich zwangsgebunden mit ihm auseinandersetzen. Doch zunächst schaute er sich noch einmal um, um sicherzugehen, dass er auch nichts übersehen hatte. Sein Blick fiel auf Professor Edison, der sich eher für die Sternbilder am nächtlichen Himmel interessierte, als für die Lichtung, und dann wanderten seine Augen zu Mrs. Wilson, die gerade mit einem Finger in der Nase bohrte – und anscheinend fündig wurde. Angeekelt rümpfte er die Nase und schaute hinüber zu Mr. Hunter, der am Boden kniete und sich über etwas beugte, das am Boden lag und weder nach Tier, noch nach Geist aussah. Ein Mensch. „Mr. Hunter!“, rief Professor Irving entsetzt und vielleicht ein bisschen voller Hoffnung und kam vorsichtig näher. Er bemerkte den zusammengekauerten Mann, der zudem noch am ganzen Körper zitterte, und eine Woge der Erleichterung brach über ihm zusammen wie eine Welle am Strand. „Professor Irving! Endlich sind Sie da! Meine Augen haben sich nicht getäuscht! Es war tatsächlich etwas Lebendiges! Sehen Sie, ein Mensch. Ein Mann, um genauer zu sein!“, frohlockte der Wildhüter und schaute mit einem strahlenden Gesicht zu dem alten Schulleiter auf, der zunächst ein wenig irritiert war, ob der plötzlichen Sinneswandlung seines eher introvertierten Angestellten. „Aber, Mr. Hunter!“, entrüstete sich Charles, als er den Stolz in der Stimme des Wildhüters hörte, der ihn an einen Jäger nach einer erfolgreichen Jagd erinnerte. Außerdem musste er sich eingestehen, dass ihm nicht gefiel, wie der Mann mit dem nackten Finger auf eine andere Person deutete. Schließlich beugte sich Professor Irving vor und berührte mit seinem Zeigefinger die Stirn des Kranken. Sie war brandheiß. Entsetzt schlug er die Kapuze des fiebrigen Mannes zurück. Charles sog scharf die Luft ein und drehte sich hastig zu Professor Edison um, bevor er diesem zurief: „Professor Edison! Suchen Sie Madame Marlowe im Krankenflügel auf und reservieren Sie schon einmal einen Platz für einen neuen Patienten. Und bitte beeilen Sie sich, das könnte sicherlich von großem Vorteil sein.“ Neugierig geworden versuchte Professor Edison zuerst einen Blick auf die Person zu werfen, bemerkte dann aber den eindringlichen Blick des Schulleiters und ließ sich ohne zu murren von Mrs. Wilson durch den Wald zurückführen. Als Charles sah, dass der zunächst noch widerspenstige Mann zwischen den Bäumen verschwand, war er erleichtert. Er hatte nicht geglaubt, dass eine der Klatschbasen aus seinem Schloss sich so schnell von einem neuen Opfer abwandte. Dennoch bewirkte gerade diese Aktion auch einen kleinen Stich der Furcht bei dem alten Mann, weil er sich nicht sicher war, was Professor Edison vorhatte. „Ist er das, Professor?“, flüsterte Mr. Hunter fragend und bekam als Antwort lediglich einen warnenden Blick. Es war nicht von Vorteil, wenn einige seiner möglichen Verfolger noch in der Nähe waren, die eigene Position zu gefährden. Außerdem wollte Professor Irving neue Gerüchte um den kranken Mann vor sich verhindern, obwohl ihm das wohl soeben gründlich vermasselt wurde. Professor Edison würde sicherlich seinen Kollegen von dieser nächtlichen Aktion erzählen und wie im Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht dann immer weiter unter Lehrern sowie Schülern zu Eltern und der Öffentlichkeit. Ein wenig enttäuscht über das Ergebnis all seiner Mühen wandte er sich zu Mr. Hunter um und sagte: „Bringen Sie Mr. Wenham in den Krankenflügel und sorgen Sie dafür, dass sich sämtliche Lehrer im Lehrerzimmer einfinden!“ „Natürlich, stets zu Ihren Diensten, Professor“, erwiderte der Wildhüter und beugte sich erneut über die zitternde Gestalt. Ganz vorsichtig schob er die Hände unter den jungen Mann und hob ihn hoch. Auf dem Boden lag nun nur noch ein kleines weißes Bündel, das sich ab und an ein wenig bewegte. Doch Professor Irving war sich dessen nicht ganz sicher, vielleicht spielten seine Augen ihm auch nur einen Trick. Er musste auf jeden Fall danach sehen. Insgeheim wusste er bereits, dass in dem Bündel sicherlich Timothys Kind sein würde, doch wie zuvor stieg sein Adrenalinpegel angesichts der bevorstehenden Entdeckung. Langsam hockte er sich hin und streckte die rechte Hand aus, nicht ohne zu merken, dass sie vor Anspannung zitterte. Ganz vorsichtig hob er das Bündel in seine Arme und spürte die Wärme und die Bewegungen, die davon ausgingen. Ohne Zweifel: ein Säugling. Erst jetzt schob er zärtlich die Tücher, die dem Kind ins Gesicht gefallen sein mussten, beiseite. Mit einem Lächeln sah er das runde, kleine Gesicht eines Babys. Plötzlich wich sämtliche Angst von ihm und ein Hauch, oder eher Sturm, von Zuneigung durchströmte ihn, als er dem kleinen Wesen beim Schlafen zusah. „Ein Wunder, dass es so unversehrt ist, nicht wahr, Professor?“, fragte der Wildhüter mit stolz geschwellter Brust, als er die positiven Auswirkungen seines nächtlichen Jagderfolges mitbekam. Doch Charles interessierte sich nicht für den mittelalten Mann. Seine Aufmerksamkeit galt dem Kind, das für ihn schon jetzt wie ein Enkel war. Also war er nun Großvater. Dann sah er zu Mr. Hunter hinüber und nickte. „Wir sollten Mr. Wenham schnell in den Krankenflügel bringen, Professor“, erinnerte ihn dieser und riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Natürlich mussten sie nun schleunigst für die medizinische Versorgung des Kranken sorgen. Wer weiß, was sich der junge Mann in Mr. Hunters Armen während seiner Flucht eingefangen hatte. Eiligen Schrittes, sie liefen schon fast, kamen sie dem Schloss näher. Das Schulgelände, das zuvor noch ein quälend weites Terrain gewesen war, hatte sich nun in einen Marathonkurs verwandelt. Weniger begeistert von Sport, hechelte Charles schon ziemlich schnell vor Anstrengung, doch er gab nicht auf und war mehr als erleichtert, als Mr. Hunter und er vor dem Eingangsportal seiner Schule standen. Die Wärme des Schlosses empfing die beiden Männer herzlich, übertrieben einladend, und begann sofort sie einzuwickeln. Während Professor Irving das kleine Kind immer noch fest an sich drückte, versuchte Mr. Hunter sich den jungen Mr. Wenham bequemer in die Arme zu legen. Als Charles’ Aufmerksamkeit sich nun seinem ehemaligen Schüler zuwandte, fiel ihm auf, dass dessen Zittern sich verschlimmert hatte. Außerdem rang dieser ständig mit dem Atem und Schweißperlen hatten sich auf dessen Stirn gebildet. Zwischen dem Keuchen und Stöhnen, begann Mr. Wenham immer wieder von seltsam wirren Dingen zu fantasieren. Tatsächlich hatte sich sein Fieber wohl ebenfalls verstärkt und Halluzinationen ausgelöst, denn was auch immer der rote Regenschirm mit seiner derzeitigen Lage zu tun hatte, es war ihm ziemlich wichtig, es seinen Rettern mitzuteilen. Von seiner schneeweißen Haut und den geröteten Wangen nicht zu sprechen. Alarmiert verschnellerte Charles seine Schritte und er bemerkte, dass Mr. Hunter wohl der gleichen Ansicht war. Es waren nur noch ein paar Schritte bis zum Krankenflügel, in dem sich Madame Marlowe um seinen ehemaligen Schüler kümmern konnte. Erschöpft aber erleichtert, betraten Mr. Hunter und Professor Irving den Raum. Ihnen entgegen kamen Madame Marlowe und Professor Edison und gemeinsam mit ihnen legten die Beiden Timothy Wenham in eines der Betten im abgetrennten Bereich, in dem normalerweise nur Lehrer oder Schlossangestellte lagen. Dort sollte er für die nächste Zeit unter spezieller Beobachtung stehen. Madame Marlowe beugte sich über ihren neuen Patienten. Sie war eine junge Ärztin, gerade erst aus der Zaubereiuniversität Shiredomes graduiert. Sie hatte kurze blonde Locken, war schlank und bewegte sich mit anmutigen, graziösen, gar fließenden Bewegungen durch die ihr zugeteilten Räume, während ihr Mann, Monsieur Marlowe, ihr stets auf den Fuß zu folgen pflegte und ihr mit Rat und Tat zur Seite stand – wenn auch weniger erfolgreich. Als sie sich schließlich wieder aufrichtete, zog sie besorgt die Augenbrauen zusammen. Mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich ab und ging zu einem der Medizinschränke hinüber, die bis unter die Decke reichten. Dort griff sie gezielt nach einigen Trankfläschchen und prüfte diese auf das Volumen ihres Inhaltes. Immer noch ein wenig in Gedanken gab sie ihrem Mann schließlich Anweisungen, einige Mixturen aus Zutaten herzustellen, von denen der alte Schulleiter noch nie in seinem Leben etwas gehört hatte. Noch einmal überdachte Madame Marlowe ihre Entscheidung und nickte selbst bestätigend, als müsste sie sich Mut machen. Dann kehrte sie zum Krankenbett zurück und überprüfte erneut die Lage. Nachdem sie wenige Sekunden damit verbrachte, herauszufinden, ob sie auch wirklich alles beachtet hatte, richtete sie sich wieder auf und wandte sich zum ersten Mal an Charles. „Professor, Mr. Wenham ist sehr krank. Ich denke, dass ihn das Ereignis und die Flucht gesundheitlich schwer belastet haben. Obenauf kann ich mir auch vorstellen, dass die Sorge um sein Kind und die psychische Belastung zu einer Krankheitsanfälligkeit geführt haben. Nach meinen Untersuchungen bin ich mir sicher, dass es sich hierbei um eine schwere Lungenentzündung handelt. In vielen Fällen ist diese tödlich, doch da ich eine Hexe bin und kein Muggel, trifft diese Statistik sicherlich nicht zu.“ „Ah. Wie beruhigend“, antwortete Charles, der versuchte ironisch zu klingen, doch die letzten Worte der jungen Frau hatten ihn zutiefst erschreckt, weswegen seine Stimme leicht zitterte und der Kloß in seinem Hals sich nur zusätzlich verstärkte. Monsieur Marlowe stieß wieder zu ihnen, in der Hand ein paar frisch gebraute Tränke, die wenig Vertrauen erweckend aussahen. Als sie nickend bestätigte, was ihr Mann angerührt hatte, warf Madame Marlowe einen flüchtigen Blick auf Professor Irving, wandte sich dann jedoch ab, um die Flüssigkeiten ihrem Patienten einzuflößen. Die Medizin schien sofort zu wirken, denn Timothys abgehackter, flacher Atem wurde plötzlich tiefer und rhythmischer. Zusätzlich fiel die Anspannung von ihm ab. „Madame Marlowe, wird alles wieder in Ordnung?“, erkundigte sich der Schulleiter, der schon wieder einige Bedenken äußern musste. Die Krankenschwester jedoch nickte und kam schließlich mit beruhigend erhobenen Händen auf ihn zu. Ihr Blick ruhte dabei aber auf dem schmutzigen Bündel in Charles Armen, das sich immer noch ab und zu bewegte, von dem jedoch kein Laut kam. „Das Kind?“, fragte sie leise, um es nicht aufzuwecken. Doch sie schien die Antwort bereits zu wissen, denn sie war nicht überrascht als Charles nickte und ihr das Bündel reichte. Er warf noch einen letzten Blick auf das friedliche Gesicht des schlafenden Säuglings und seufzte ergeben. „Geht es ihm gut?“, fragte er hastig, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen, doch sie wandte bei ihrer Antwort nicht einmal den Blick ab. Stattdessen sagte sie, die Stirn missbilligend gerunzelt: „Das kann ich Ihnen noch nicht sagen, Professor. Männer bleiben bitte draußen, während ich jetzt erst einmal die zweite Geburtsregistration vornehme.“ Dann drehte sie sich um und ging auf ihre privaten Räume zu, in die sie sich schließlich einschloss. Wahrscheinlich würde sie dort in ihr Büro gehen und die Daten für die Geburtsregistration erst einmal vorläufig festhalten, damit sie diese nicht vergaß. In Hogwarts wurde selten ein Kind geboren, daher gab es keine formalen Papiere. Madame Marlowe musste sie wohl erst noch bestellen, was sicherlich einen gehörigen Skandal im Ministerium auslösen würde. Professor Irving sah schon die Überschrift im Tagespropheten vor sich und stöhnte entsetzt auf. Erst dann bemerkte er, dass auch Monsieur Marlowe sich in den Raum für die kranken Schüler zurückgezogen hatte. Mr. Hunter, Professor Edison und der alte Schulleiter standen nun also alleine in diesem Zimmer am Bett eines schwerkranken jungen Mannes und schwiegen sich an. Schließlich meinte Mr. Hunter, wahrscheinlich um der unangenehmen Stille zu entfliehen: „Ich werde nun die anderen Professoren im Lehrerzimmer informieren, Professor. Dann brauchen Sie das nicht auch noch zu tun.“ „Tun Sie das, Mr. Hunter. Nur zu. Vielen Dank“, antwortete Professor Irving abwesend und drehte sich dann mit einem letzten Blick auf Timothy zu dem Astronomielehrer neben sich um und sagte: „Folgen Sie ihm und erklären Sie bitte ebenfalls die Umstände. Es muss, denke ich, nichts geheim gehalten werden. Also sagen Sie ihnen einfach alles, damit sie auch wissen, warum ich sie um diese Zeit habe ins Lehrerzimmer kommen lassen.“ Die beiden Männer nickten, bevor sie ihn allein ließen. Nachdem hinter ihnen die Tür zufiel, atmete Charles wieder tief ein und schließlich aus. Er setzte sich auf Timothys Bettkante und fuhr mit seiner Hand über dessen glühend heiße Stirn. Erleichterung und Sorgen waren zwei Gefühle, die sich in ihm im Moment bekämpften. Ein paar Mal schien das Eine, dann das Andere zu gewinnen, doch beide ließen nicht nach. Verträumt strich er seinem ehemaligen Schüler über die Stirn und sah aus dem großen Fenster hinter sich. In der Ferne bemerkte er den Sonnenaufgang und sog die Luft des neuen Tages ein. Timothy hustete und keuchte, als seine Lungenentzündung ihn Tage später aus einem tiefen Schlaf riss. Seine Augen flackerten hin und her, doch die Deckenlampen verstrahlten ein so helles Licht, dass er kaum etwas erkennen konnte. Stattdessen lauschte er den Geräuschen der Umgebung und versuchte etwas, egal was, auszumachen. Doch die Stille um ihn herum gab ihm keinen Grund zur Sorge. War er tot? Er mochte gar nicht daran denken, was ihm zugestoßen war. Sah so das Leben nach dem Tod aus? War dies Himmel oder Hölle? Er hoffte instinktiv, dass es Ersteres war. Obwohl die Deckenlampen und sein Gesundheitszustand nicht hierher passten. War er wirklich im Himmel? Oder träumte er nur? Und überhaupt: Was war passiert? Er atmete ruhig ein und aus. Während er versuchte, seine Augen irgendwie an das Licht zu gewöhnen, grübelte er weiter. Doch nachdem ihm das Nachdenken weitere Kopfschmerzen bescherte und ihm schwindelig wurde, wie auch immer das im Liegen ging, ließ er es bleiben und konzentrierte sich stattdessen auf andere Dinge. Er war aus der Villa geflohen, dann war er tagelang appariert und gelaufen und schließlich irgendwo einfach umgekippt. Ihm fiel nichts Weiteres ein, er konnte sich auch nicht mehr erinnern. Urplötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen und ihm fiel sengend heiß etwas ein. Er fuhr kerzengrade in die Höhe und blickte sich um. Doch außer ein paar Helligkeitsstufen konnte er noch nicht viel erkennen. Die Deckenlampen waren die reinste Qual. Sie blendeten ihn noch immer und hinderten ihn nun daran, sich richtig umzusehen. Wo war es? Wo war das Bündel? Wo war sein Kind? Wo bloß? Wo hatte er es zuletzt gesehen? Wo hatte er es hingelegt? Sein Kopf ruckte hastig hin und her und seine beiden Hände tasteten suchend in seinem näheren Umkreis. Als er außer weichen Stoffen nichts fühlte, bekam er schreckliche Angst. Seine Panik verstärkte sich durch seine vorübergehende Blindheit noch zusätzlich und relativ schnell zitterte er stark am ganzen Körper, von seinen flachen, hastigen Atemzügen nicht zu sprechen. Dann begann er wie verzweifelt zu rufen, als würde sein Kind ihm antworten können: „Wo bist du! Mein Schatz, wo bist du?“ Tränen liefen ihm die Wangen hinab, beinahe zärtlich umrundeten sie seine Nase und seinen Mund, bevor sie, etwas widerstrebend, nahe seinem Kinn hinabtropften. Ein Schluchzen quetschte sich aus seiner Kehle und Timothy erschrak, als er es hörte. Mit klopfendem Herzen saß er einige Sekunden aufrecht in seinem Bett und horchte, bis er diesen Laut als seinen eigenen entziffern konnte. Nachdem ihm das auffiel, musste er beinahe über sich selbst lächeln. Doch anstatt zu lachen, begann er zu weinen. Nach mehreren Minuten schlug er die Decke beiseite und schwang seine Beine aus dem Bett. Wieder bekam er einen Schwindelanfall, sodass er warten musste, bis sich sein rebellierender Magen beruhigte und das Drehen aus seinem Kopf verschwand. Stöhnend hob er eine Hand an den Kopf und drückte auf seiner Schläfe herum, als würde ihm das auch nur im Entferntesten weiterhelfen. Mit einigen Mühen schaffte Timothy es schließlich, aus dem Bett zu steigen, musste aber ziemlich schnell nach einer Stütze suchen, als ihm von neuem schwindelig wurde. Es war unangenehm, wenn sich der Boden unter einem hinwegdrehte. Und er hätte sich fast übergeben, doch als er sich daran erinnerte, warum er sich all dies antat, beruhigten sich seine aufgewühlten Gefühle und seine schwirrenden Gedanken fokussierten sich auf die Suche nach seinem Kind. Tastend ging er die Bettreihe entlang, bis er ans Fußende gelangte und dort für eine kurze Pause stehen blieb. Ihm war bis jetzt nicht wirklich aufgefallen, dass es ihm schlecht ging, doch als er die kurze Anstrengung hinter sich gebracht und angehalten hatte, war er bereits außer Atem. Es war zu anstrengend sich zu bewegen. Allein ein Schritt hatte ihm schon viel zu viel Energie gekostet, und allein die Mühe, die es ihm abverlangte … Doch er wollte nicht aufgeben. Vorsichtig ließ er das metallene Gestell seines Bettes los, um zu prüfen, ob er auch ohne Hilfe stehen bleiben konnte. Ihm fiel es nicht schwer, doch das eigentliche Problem, das Laufen, würde erst auf ihn zu kommen. Zuerst traute er sich nicht, sich noch weiter von seinem Bett zu entfernen, doch mit eiserner Sturheit brachte Timothy sich selbst dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Denk an etwas anderes. All dies ist nicht im Geringsten anstrengend, Tim“, ermahnte er sich und versuchte angestrengt, seine Gedanken abschweifen zu lassen. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er, dass sein Kopf nicht ganz bei der Sache war, obwohl das im Anbetracht der Umstände wohl eine einigermaßen durchdachte Idee war. Plötzlich ziepte etwas in seiner Brust und er begann zu husten. Als er sich vor Schmerzen krümmte, bohrten sich seine Fingernägel in seinen Unterkörper. Ihm fiel dies jedoch nicht auf, denn ein neuerer Hustenanfall schüttelte ihn so stark, dass er, ohne es zu merken, geschwächt auf die Knie sank. Keuchend versuchte er, seine Selbstbeherrschung zurückzuerlangen, doch das Husten hinderte ihn daran, klar zu denken. Auf den Knien und zusammengesunken, lag er auf den kalten Marmorfliesen dieses Raums und stöhnte. Als er sich hin und her zu schaukeln begann, berührte seine Stirn mehrfach den Boden. Auch das schien Timothy nicht wirklich aufzufallen, denn mit immer stärkerer Wucht schlug er seinen Kopf auf den Boden, wahrscheinlich um sich abzulenken. Dann begann er zu stöhnen und hustete noch einmal. Diesmal stockte sein Atem, als er versuchte, einzuatmen. Halb röchelnd und keuchend stand er vorsichtig wieder auf. Erst jetzt bemerkte er seine zitternden Hände und entsetzt begann er, sie wie im Zwang ruhig zu stellen. Ihm fiel ziemlich schnell auf, dass das nichts brachte, und er gab es auf. Stattdessen kehrte er zu seiner eigentlichen Aufgabe zurück – sein Kind. „Beruhige dich, Tim. Ganz ruhig. Du findest dein Bündel, ich versprech’s dir. Komm schon. Rappel dich auf!“, befahl er sich eindringlich und schaute sich um. Erstaunt riss er die Augen auf, als er den Krankenflügel von Hogwarts erkannte. Also doch! Er lebte noch! Aber wie war das möglich? Wie kam er hier her? Wann war er nach Hogwarts gekommen? Warum waren seine Augen jetzt plötzlich wieder in Ordnung? Was war denn jetzt eigentlich los? Timothy konnte von Glück sagen, dass sein Augenlicht bald zurückkehrte, denn als er entschlossen losstapfte, wäre er beinahe gegen ein anderes Bett gestoßen. Mit hastigen Atemzügen beruhigte er sich noch einmal und wandte sich dann der Wand zu, die ein Portal enthielt. Es sah aus, als würde es hinaus führen – oder tiefer hinein. Das wusste er nicht, doch solange es eine Tür gab, gab es auch einen Ausgang. Und wenn sein Kind nicht hier war, dann war es dort. Soweit überlegte er, doch seine Gedanken wurden unterbrochen, als er mit voller Wucht gegen eben diese Wand prallte. Timothy taumelte zurück und fiel hin. Seine rudernden Arme stießen gegen ein Metallgestell und ein scharfer Schmerz ließ Tränen in seine Augen schießen. Deswegen konnte er nicht einmal ein Stöhnen und ein anschließendes Fluchen verhindern. Als er versuchte, sich aufzusetzen, knickten seine Arme mehrfach ein und er stieß sich bei seiner harten Landung sowohl das Kinn als auch die Nase. Timothy legte die Stirn in Falten und probierte es noch einmal. Er durfte nicht aufgeben, vor allem nicht jetzt, da er so nah an diesem Eichenportal war, so nah an seinem Ziel. Wieder streckte er seine Hand aus und bekam einen Eisenstab eines Bettes zu fassen. Mühselig zog er sich hoch, schaffte es dadurch jedoch nur, sich aufzusetzen. Für mehr reichte seine Kraft nicht aus. Die Müdigkeit hatte ihn schon vor einiger Zeit übermannt, doch bis gerade eben hatte er tapfer darüber hinweg gesehen. Jetzt aber, nachdem er gelegen hatte, fiel es ihm bei weitem schwerer, nicht einzuschlafen. Während er so nachdachte, lehnte er sich an die Wand und blickte sich um. Der Raum wurde von warmem Tageslicht durchflutet und eingehüllt in die schönsten Farben. In pures Gold getüncht warfen die cremefarbenen Wände, die beruhigend wirken sollten, das Licht auf den marmornen Boden. Die metallenen Betten glänzten um die Wette und das weiße Bettzeug erweckte den Anschein eines komplett sterilisierten Raumes. Das war jedoch der einzige wirkliche Hinweis auf ein Krankenzimmer. Die weißen Schränke an den Wänden hätten genauso gut Kleidung enthalten können, gerade weil sie nicht wie jeder andere Medizinschrank Fenster hatten. Außerdem waren sie nicht aus diesem seltsamen Holz, das, wenn man mit den Fingern darüber streicht, sich anfühlte wie Plastik. Er konnte es nicht beschreiben, vielleicht war es ja auch nur der Lack, der den Eindruck von Plastik erstellte. Timothy zuckte mit den Schultern und sah sich weiter um. Die Decke war genauso hoch, wie er sie in Erinnerung hatte, unerreichbar aber stabil. Sie war gewölbt und einige steinerne Querbalken stützen sie, als wäre das bei der Konstruktion von Hogwarts nötig gewesen. Das ganze Schloss war voller Magie und durch eben diese gebaut, also wozu brauchte man Gewölbeträger? Die riesigen Fenster, die den Raum erhellten, klafften wie Löcher in der Wand gegenüber von Timothy, als müssten sie täglich ihre Größe unter Beweis stellen, als würden sie anders nicht beachtet werden. Natürlich, wer würde extra für diese Fenster hier herkommen? Die Meisten, die den Krankenflügel besuchten, hatten irgendein Leiden – meistens waren es Schüler, die sich unerlaubterweise gegenseitig Flüche auf den Hals gejagt hatten. „Konzentrier dich, Tim!“, erinnerte sich Timothy an sein eigentliches Vorhaben. Doch als er erneut versuchte, sich aufzusetzen, schaffte er es wieder nicht. Erschöpft ließ er sich gegen die Wand fallen und ärgerte sich. Kein weißes Bündel, kein Kinderbett, nicht den leisesten Anschein eines Kindes. Die Krankenschwester hätte doch wissen müssen, dass er sich Sorgen machte, sobald er aufwachte. Nein, stattdessen hatte sie sich wahrscheinlich eine schöne Zeit mit dem Kind gemacht. Er knurrte. Mit seinem Kind. Die Erinnerungen durchfluteten ihn und er knickte unter ihnen ein. Ihre Last bedrückte ihn schwer. Seine Frau, seine liebliche Frau, Joanna. Er würde diese Nacht nie vergessen. In seinem ganzen Leben nicht, das schwor er sich. Niemals. Tränen liefen ihm über die Wangen und ein leises Schluchzen fand seinen Weg zwischen weiterem Keuchen und Husten hinaus. Es hallte gespenstisch laut von den kahlen Wänden wieder und versetzte ihn in eine noch bemitleidenswertere Lage. Sein Kopf sank auf seine angezogenen Knie und er begann hemmungslos zu weinen. Joanna war nicht mehr da, um ihn zu trösten. Nicht mehr da, einfach weg! Die Tür zum Zimmer ging auf und vier Personen traten ein. Ihr gedämpftes Gespräch verstummte sofort, als sie sein leeres Beet sahen. Kurz danach rief eine entsetzte, sorgenvolle Frauenstimme: „Mr. Wenham?! Mr. Wenham?!“ Er hörte das aufgeregte Stöckeln ihrer hochhackigen Schuhe und das hektische Hin und Her, als auch die anderen Personen begannen, sich umzuschauen. Dann unterbrach eine alte Männerstimme die Suche der Anderen und sagte: „Madame Marlowe, er ist hier.“ Timothy erkannte die Stimme sofort. Es war Professor Irving, der alte Schulleiter von Hogwarts. Und die Stöckelschuhe gehörten wohl Madame Marlowe, die als Madame dann sicherlich den Krankenflügel leitete. „Wie alt sind Sie eigentlich, Mr. Wenham? Hat man Ihnen nicht beigebracht, dass man Krankheiten auskurieren muss?“, schimpfte ihn Madame Marlowe aus und stöckelte näher, bevor sie nach seinem Arm griff und verzweifelt versuchte, ihn hochzuheben. Obwohl sie sich merklich große Mühe gab, schaffte sie es nicht, ihn schließlich dazu zu bewegen. Selbst mit gut zureden war es nicht getan. Timothy saß einfach nur da, den Kopf immer noch auf den Knien, und schwieg. Sein Schluchzen war ihm im Hals stecken geblieben, als er die Schritte im anderen Raum gehört hatte. Dann plötzlich zerzauste ihm eine Hand die braunen Haare, während eine andere sein Kinn ergriff und zärtlich seinen Kopf anhob. Als Timothy aufschaute, erblickte er Professor Irving, der ihn mit einem verständnisvollen und liebevollen Lächeln bedachte. Allein das gab dem jungen Mann schon ein Gefühl der Sicherheit und er fühlte sich sofort geborgen. Mit einer leichten Bewegung strich Professor Irving über sein Gesicht und lächelte erneut, als wüsste er, wie es sich anfühlt, allein zu sein, nichts mehr zu haben. Timothy begann, sich für seine albernen Tränen zu schämen. Hektisch versuchte er, sie wegzuwischen und mit ihnen auch die erdrückenden Gefühle, doch ihm gelang es nicht und erneut kullerten einige Tropfen seine Wangen hinunter. Ärgerlich nahm er diesmal den ganzen Unterarm und wollte gerade damit den Tränen beigehen, als der alte Mann seine Hände in die eigenen nahm und meinte: „Nicht wischen, sonst schwellen die Augen an, Tim.“ Ganz langsam fingen die nassen Tropfen von neuem an, aus Timothys Augen zu schießen. Doch immer, wenn er sein Gesicht wieder verbergen wollte, hob die Hand des Schulleiters es an. „Tim, weine nicht alleine. Teile deine Trauer mit uns, sodass wir immer bei dir bleiben und dich unterstützen können. Niemand ist je so stark gewesen, wie du es die letzte Woche sein musstest, und niemand konnte dir helfen. Also lass uns wenigstens für dich da sein.“ Timothy senkte seinen Kopf und begann zu schluchzen. Professor Irving zog ihn an sich heran und nahm ihn vorsichtig in die Arme, als könnte er jede Minute zerbrechen. Gedämpft durch den Umhang klangen die Schluchzer leiser, doch die anderen Anwesenden, Madame Marlowe und Monsieur Marlowe, sowie Professor Gerald, wie Timothy jetzt erkannte, wechselten ängstliche Blicke. Das betretene Schweigen, das sich nun ausbreitete, erfüllte den Raum und wirkte beinahe genauso bedrückend, wie seine düsteren Erinnerungen. Doch immerhin erweckte es in ihm nicht die gleichen Gefühle. Er war der Einzige, der einen Ton von sich gab. Kläglich zitterten seine Schluchzer in den Raum hinaus und brachen dort, genauso kläglich wie sie entstanden waren, wieder zusammen. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, sein Herz auszuschütten oder sich auszuweinen, doch irgendwie wirkte es erleichternd und befreite ihn von seiner Last. Doch gerade weil er sich selber beim Weinen zuhörte, begriff er ziemlich schnell, dass seine Trauer ansteckend war, denn er musste immer stärker weinen. Also war es für ihn auch nicht überraschend, dass die Frauen im Raum ebenfalls anfingen zu weinen. Vielleicht war er sogar ein bisschen froh, dass er nicht angestarrt wurde wie ein Tier im Zoo. Als Timothy das Gefühl hatte, sich wieder ein wenig beruhigen zu können, schluckte er ein paar Mal und atmete, soweit es ging, ruhig ein und wieder aus. Professor Irving hatte sich neben ihm hingekniet und ließ ihn nun vorsichtig los, bevor er eine fragende Miene aufsetzte. Nein, nicht so Eine, die man aufsetzte, wenn man neugierig war, sondern wenn man jemanden nach seinem Befinden fragte. „Besser“, stotterte Timothy verlegen und versuchte seine Tränen wegzublinzeln. Erst beim vierten Mal gelang es ihm, einigermaßen aufzuhören. Dann schniefte er noch einmal und sah sich um. Nachdem er beschlossen hatte, dass alles noch in seinem alten Zustand war, wandte er sich wieder seinem alten Tutor zu. „Professor Irving?“, fragte er und schniefte. „Was hast du auf dem Herzen, Tim?“ Erschöpft schloss er die Augen und versuchte seine Frage noch einmal zu überdenken und somit seine Gedanken zu ordnen. Als sein Kopf ein bisschen klarer wurde, meinte er schließlich: „Wo ist mein Kind?“ Ein liebevolles Lächeln erschien auf dem Gesicht des alten Mannes und erneut strich er Timothy über die Wange, bevor er antwortete: „Es ist in Sicherheit. Dank dir, Tim. Du hast es gerettet und gut behandelt. Im Gegensatz zu dir war es in einem guten Zustand. Ihm geht’s gut, mach dir keine Sorgen.“ Erleichtert atmete Timothy noch einmal ein und lehnte sich gegen die Schulter des Schulleiters. Als er dessen Herzschlag hörte, beruhigte er sich. Mit leiser Stimme setzte er erneut an: „Ist es ein –“ „Hat man dir das bei der Geburtsregistration nicht gesagt?“, fragte der alte Mann im Gegenzug und als er den Kopf schüttelte, fuhr dieser fort: „Ein Mädchen, Tim. Es ist ein kerngesundes Mädchen.“ Die Erleichterung und Freude schwappte über ihm zusammen und Timothy begann erneut zu weinen. Sein Schluchzen war diesmal mit einigen Lachern vermischt und klang bereits wieder etwas besser. Trotzdem fielen die nassen Tropfen unaufhörlich auf die Kleidung des alten Mannes. Doch Professor Irving hatte Geduld, dafür war er während Timothys Schulzeit bekannt gewesen. Sein alter Tutor umarmte ihn so lange, wie er diesen brauchte und seine Tränen nicht versiegt waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)