magical heartbreak von Ling-Chang (I can't live without you.) ================================================================================ Kapitel 6: Nachhilfe und Reinblut-Angelegenheiten ------------------------------------------------- 30. Juni, London an Hogwarts, der Schulrat Hiermit empfehlen wir, der Schulrat, Christina Blake (6. Klasse, Ravenclaw) die Teilnahme am vierwöchigen Nachhilfekurs der Sommerferien in Hogwarts – Schule für Hexerei und Zauberei. Anbei befindet sich der Stundenplan. Sollte ein aufgeführtes Fach bei der Wahl von Ihnen nicht belegt worden sein, so gibt es in dieser Zeit eine Freistunde. Die von Ihnen belegten Schulfächer sind: - Arithmantik - Englisch - Mathematik - Kräuterkunde - Verteidigung gegen die Dunklen Künste - Zauberkunst - Zaubertränke Weiterhin wird Ihnen ein Nachhilfelehrer zur Seite gestellt, der sie außerhalb des Pflichtunterrichts begleiten wird, das umschließt ebenfalls die Freistunden. Der Ihnen zugewiesene Professor ist: Timothy Wenham (Neuzugang, Professor für Verteidigung gegen die Dunklen Künste; Orden des Merlin, 2. Klasse). Professor Wenham wird Ihnen außerdem im Bereich der Zaubereigeschichte helfen. Mit freundlichen Grüßen, (im Auftrag des Schulrats) Professor Audrey Kent (London Institute of Magical Schooling) Die Worte waren einfach zu wunderbar, als dass man sie nicht einhundert Mal lesen musste. Sie hatte es geschafft, zwar mit jeder Menge Glück, aber immerhin: vier Wochen pure Liebe! So stellte sich Christina gerade ihre Sommerferien vor. Obwohl ihre Eltern noch vor zwei Tagen Protestbriefe gesendet hatten, sie möge doch heimkommen und nicht in der Schule bleiben trotz der Regelungen, hatte sie ihnen erklären müssen, dass die Nachhilfe von besonders erzieherischem Wert wäre – in Hintergedanken fügte sie aber andere Bilder an. Anscheinend hatte der Schulrat also Timothy Wenham als Professor akzeptiert, die Schule ihn eingestellt, das Ministerium seine Position beglaubigt und er war frühzeitig dazu angehalten, sein Geld durchs Lehren zu verdienen. Daraufhin kam man natürlich auf die Idee, ihn bereits als Tutor für einen Schüler, oder eine Schülerin in ihrem Fall, in den Sommerferien während dieses Projektes einzusetzen. Was also hieß: 7-7-7, Jackpot! Kichernd ging sie die Treppe zur Eingangshalle mit dem Brief in der Hand hinab, es war Montagmorgen und somit der erste Tag der, plötzlich so wundervollen, Nachhilfekurse! Neben ihr schritt die zurückhaltende Ann McMiller, von der Christina eigentlich erwartet hätte, dass sie nicht an dieser Nachhilfe teilnehmen musste. Hinter beiden schlurften Marc Valentine und Fynn Jin, die wenig Lust auf Pauken in den Ferien hatten, man sah es ihnen förmlich an, zumal beide schreckliche Tutoren abbekommen hatten. Gemeinsam betraten sie die Große Halle und waren nicht erstaunt, als nur ein großer Tisch dort aufgebaut war, nicht auf dem Podest sondern in der Mitte der Halle. Einige Lehrer saßen bereits dort, doch es war noch reichlich früh, weswegen der Rest bestimmt erst später langsam eintrudelte. Auf der Seite, die dem großen Portal zugewandt war, saßen die Professoren und ihnen gegenüber die Schüler. Beinahe alle Lehrer hatten sich bereit erklärt, in den Ferien in Hogwarts zu bleiben, um den Dümmsten der Sechstklässler auf die Sprünge zu helfen. Glücklicherweise hatte sich Peter McBeth dagegen entschieden und erlöste Christina nun von einer Tortur sondergleichen – wer wohl Mathematik unterrichtete? Professor Irving, die Ruhe selbst, trug einen sonnengelben Umhang mit gleichfarbigem Spitzhut, der ihn ein wenig überschwänglich aussehen ließ. Seine Roben darunter waren in einem schillernden Gold-Gelb-Ton gehalten und auch an den Säumen der Kleidung befanden sich sowohl goldene Knöpfe, als auch goldene Stickereien. Wer weiß, wie viele Galleonen das gute Stück gekostet hatte … Christina musterte ihn gerade, als er den Kopf hob und sie nickend begrüßte. Mit einem freundlichen Lächeln wies er ihr den Platz gegenüber zu, auf den sich wohlwissentlich niemand gesetzt hatte, aus Angst, er würde ihn oder sie den ganzen Morgen vollquatschen. Seufzend gab sie sich geschlagen und nahm den Stuhl in Anspruch, weil aber neben ihr nur noch einer frei war und Ann sich dort hinsetzte, mussten Marc und Fynn ans Ende der Tafel wandern und sich gegenüber von Professor Peterson, wer sie vergessen hat: Zaubertränke, hinsetzen. Allein ihre Gesichter zeigten bereits ihre Meinungen darüber: beide zogen eine Grimasse, als hätten sie in eine Zitrone gebissen – sie waren schlichtweg begeistert. „Miss Blake, schön, dass Sie sich entschlossen haben, unserer kleinen Runde beizuwohnen“, meinte Professor Irving überflüssigerweise – das Gleiche sagte er übrigens auch zu Ann. Dann hob er seinen Kopf etwas weiter an und schien verzweifelt zu versuchen, seine Bartspitze von seinem Teller fern zu halten, während er nach dem Brotkorb griff, der außerhalb seiner Reichweite stand. Christina reichte ihm diesen und nahm sich schließlich selbst einen Toast. Als sie gerade dabei war, ihn mit Marmelade zu ertränken – sie hatte wirklich keinen Hunger –, setzte sich Professor Gerald neben Professor Irving. Langsam waren also alle Lehrer gekommen. Nur der Platz rechts, aus seiner Sicht natürlich links, vom Schulleiter blieb frei. Außerdem fehlten noch drei Schüler und der Schulinquisitor, der aber nie den Raum mit seiner Anwesenheit beehrte, weil er vom Ministerium geschickt war und sich für zu wichtig hielt, um mit respektablen Leuten wie den Professoren von Hogwarts zu speisen. Fußgetrappel hinter ihr, sagte ihr bereits, dass zwei Schülerinnen, man hörte es an den hochhackigen Schuhen, die Halle betraten. Als sie sich umwandte, erkannte sie Rita Weasley, sie war die berüchtigtste Dumme, die Hogwarts je gesehen hatte, und Maya Valentine, was sie überraschte. Das Mädchen war die Zwillingsschwester von Marc und wie Rita in Gryffindor, während ihr Bruder mit Christina Ravenclaw besuchte. Es fehlten also noch ein Lehrer, ein Schüler und der Inquisitor, der ja eh nicht kam, also auch nicht wirklich fehlte. Erneut wurde das Portal geöffnet und dieses Mal trat urplötzlich Stille ein – alle Professoren hatten ihren Blick auf den Mann gerichtet, der auf die Tafel zu schritt. „Ah! Professor Wenham, gut, dass Sie gekommen sind. Setzen Sie sich, setzen Sie sich!“, wies Professor Irving den jungen Mann an und bugsierte ihn neben sich auf den einzig freien Lehrerstuhl. Nun waren auch die Schüler still und starrten gebannt zu ihm hinüber. Mit einem stolzen Lächeln klopfte Professor Irving dem jungen Mann auf die Schultern, der wurde dabei leicht nach vorne geschubst, und verkündete: „Darf ich Ihnen allen vorstellen?! Professor Timothy Wenham, der neue Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste! Er wird das Fach aber nur zur Hälfte übernehmen, da er keine vollständige Ausbildung zum Professoren besitzt.“ Mit einem stolzen Blick schaute der Schulleiter jeden in der Runde bedeutungsschwanger an und nickte sich dann selbstbestätigend zu. „Wie, zur Hälfte?“, brummte James Anderson, ein Sechstklässler aus Hufflepuff, mit vollem Mund und besprühte seinen besten Kumpel, Dominic Bond, mit Brotstückchen. „Er wird nächstes Jahr den Unterricht der Ravenclaws und Slytherins übernehmen“, beantwortete Professor Irving beflissentlich und löste dadurch eine Welle von Jubel und Stöhnen aus – Jubel bei den Nachhilfeschülern von Ravenclaw und Slytherin, Stöhnen bei Gryffindor und Hufflepuff, weil diese Charles Irving behalten mussten. So viel Glück konnte man doch nicht haben! Innerlich jubilierte Christina mehr, als dass sie sich äußerlich freute. Wie hätte sie auch jauchzend vor Freude durch den Raum hüpfen sollen, wenn sie doch eigentlich nichts für diesen Mann empfinden oder ihn kennen sollte? Nachdem sich das geklärt hatte, Natalie Clarks aus Hufflepuff kam eine Viertelstunde zu spät und wurde zum Putzen des Pokalzimmers verdonnert, begann also der Unterricht. Christina hatte einen seltsamen Stundenplan: Montags hatte sie in der ersten Stunde gleich Zaubertränke, jedoch in der zweiten frei, dafür aber in der dritten Mathematik und in der vierten frei. Nach dem Mittagessen würde sie dann eine Stunde Arithmantik und eine Stunde Kräuterkunde haben. Mathematik wurde von den Tutoren gelehrt, was bedeutete: Einzelunterricht bei Timothy Wenham! Dienstags würde sie in der ersten Stunde Verwandlung haben und in der zweiten und dritten Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Bis zum Mittag hatte sie dann frei und nachmittags musste sie sich mit Zauberkunst und Englisch herumplagen – zwar nur eine Stunde jeweils, aber das war schon schlimm genug. Mittwochs konnte sie auch nicht von Glück reden: wieder musste sie zur ersten Stunde erscheinen, Zauberkunst einstündig. In der Zweiten hatte sie dafür frei, in der Dritten Englisch und in der Vierten Arithmantik. Nach dem Mittagessen würde sie dann den Horror schlechthin erleben: einstündig Mathematik gefolgt von Verwandlung. Schlimmer ging’s nimmer! Donnerstag begann mit Arithmantik in der Ersten, Englisch in der Zweiten und Mathematik in der Dritten. Nach dem Mittag dann Verwandlung und Verteidigung gegen die Dunklen Künste – logischerweise nur eine Stunde jeweils. Dann endlich würde erst der erlösende Freitag kommen. Zwar musste sie auch da zur ersten Stunde erscheinen, Kräuterkunde in Gewächshaus Vier, aber darauf folgte in der zweiten Zaubertränke, was doch recht angenehm war. In der Dritten und Letzten hatte sie dann Zauberkunst und ging ins Wochenende! Beinahe mit einer verbissenen Überzeugung prügelte Christina sich selbst die dämlichen Spruchformeln aus Verwandlung in den Kopf. Doch, auch wenn sie es selbst nicht glauben wollte, es funktionierte nicht mehr so gut wie vor den Ferien. Vielleicht war die Ursache dessen aber auch ganz anderer Herkunft als die geglaubte Lernmüdigkeit: Ihr gegenüber saß niemand anderes als Timothy Wenham und las mit einer anziehend attraktiv aussehenden Art und Weise einen dicken Wälzer, von dem Christina nicht einmal die Hälfte verstanden hätte – Streber blieben nun einmal Streber und Dumme natürlich Dumme, so wie Blaukraut auch Blaukraut blieb und Brautkleid … Brautkleid?! Weiß sollte es sein, nicht beige wie es gerade in Mode war. Ein ausladender Rock umwehte lange, schöne Beine, deren Füße in hochhackigen, halsbrecherischen Schuhen steckten, hinzu noch ein wundervoll gesteckter Brautstrauß und eine hervorragende Hochsteckfrisur … Ja, so konnte man sich doch wohl fühlen. Die Schminke wurde von einem der Top-Stylisten der Zauberwelt gemacht und der Duft, das Parfum der bevorstehenden Hochzeit, sollte nicht zu blumig sein, aber dezent im Hintergrund die Ausstrahlung und die Schönheit – Ein sanfter Schlag auf ihren Hinterkopf lenkte sie wieder in die Wirklichkeit. Mit einem Lächeln im Gesicht sah Timothy sie an und entrollte die Tageszeitung. Er hatte sie gehauen! Und auch noch, schändlich, mit einer Tageszeitung! Und, oh Gott, es war der Klitterer! Schande über ihr Haupt! „Ihre Konzentration lässt nach, Miss Blake“, schalt er sie und sie zuckte innerlich zusammen. „Lernen Sie doch diese Sprüche auswendig“, maulte sie zurück und schämte sich gleichzeitig für ihr Mundwerk. „Ich kenne sie bereits und außerdem würde es Ihnen nicht helfen, wenn ich für Sie lerne. Wir können leider auch nichts Interessanteres machen, wenn Sie nicht zu Ende gelernt haben“, fügte er an und schmunzelte, als sie ihre Unterlippe schmollend vorschob. „Aber, Professor!“, widersprach sie verzweifelt und überlegte sich eine Ausrede nach der anderen, bevor sie hervorsprudelte: „Es sind bereits zwei Wochen der Nachhilfe um und ich habe pausenlos gelernt – ob es nun Samstag oder Mittwoch war! Ich fühle mich, als wäre ich der weiseste Mensch der Welt! Können wir nicht einfach einmal einen Tag ausspannen? Es ist Freitagnachmittag und die Woche ist eh fast vorbei! Wir haben für heute doch schon genug getan.“ „Miss, wenn Sie mir alle Sprüche aufsagen können, sie vielleicht auch noch zaubern können, machen wir Schluss für heute. Das wiederum aber auch nur, wenn Sie mir versprechen, abends noch die Kräuterweisen auswendig zu lernen, die alle Fünftklässler kennen sollten, aber die kein Nachhilfeschüler in der Sechsten überhaupt je gehört hat!“ Entsetzt sog Christina die Luft ein. Wie fies er war! Erst sollte sie die Sprüche lernen, sie womöglich auch noch aufsagen und hoffen, dass sie wirken, dann sollte sie Kräuterweisen büffeln und am Ende noch stumm zaubern?! Oder vielleicht noch das Vertrauensschülerklo putzen! Was war sie?! Seine Sklavin?! „Mir reicht’s!“, schnappte sie zurück, schob alle Pergamentblätter vom Tisch und kippte, absichtlich, das Tintenfass darüber aus. Sie sah noch, wie die Augen ihres Gegenübers groß wurden und er begann, zu fluchen, bevor sie mit hoch erhobenem Haupt die Schulbibliothek verließ und sich in Richtung Gemeinschaftsraum begab. „Vielleicht war ich etwas zu voreilig“, murmelte sie, als einige der Wandportraits den Kopf schüttelten, die Gemälde aus der Bücherei hatten wohl wieder ein Gerücht verbreitet – dieses Mal stimmte es aber auch. Trotzig schüttelte sie den Kopf und war sich sicher: Verdient, war verdient! Trotzdem hatte sie bereits ein schlechtes Gewissen, es waren schließlich nicht ihre Notizen gewesen, sondern seine, die er ihr geliehen hatte. Sie wusste von Rita Weasley, dass er manchmal bis spät in die Nacht in der Bibliothek saß und für die Nachhilfe in Büchern nachschlug. Christina blieb stehen und wandte den Kopf über die Schulter, nur, um noch einmal auf die Tür zu blicken, die im stummen Protest bedrohlich zurückschaute – oder so ähnlich. „Ja, ich weiß. Dumme Christina, verliebte Christina …“, murrte sie und drehte sich schließlich um. Seufzend ergab sie sich ihrem Schicksal und marschierte zurück, nicht, ohne vorher noch zu überlegen, was sie sagen sollte. Als sie die Tür zur Bücherhalle öffnete, drang dieser bezaubernde Duft von alten Mysterien an ihre Nase. Leise schloss sie das Portal und huschte zwischen zwei Regale und beobachtete Alexandra Lycra, die Alte aus der Bibliothek, wie sie diese insgeheim getauft hatte: Die Frau wagte es mit allen, ihr gegebenen Mitteln mit Timothy zu flirten! Das war doch eine Frechheit sondergleichen, er gehörte ihr nicht und trotzdem tat die Frau so, als wären sie verheiratet. Gerade schob sie sich, das tat sie immer, den Bleistift zwischen die Lippen und schaute wieder verführerisch durch ihre langen Wimpern auf die Tischreihen – Christina hatte diese Blicke ziemlich schnell bemerkt und sorgte nun immer dafür, dass Timothy sich mit dem Rücken zur Bibliothekarin setzte. Das war wenigstens ein Vorteil, den sie sich erringen konnte! Langsam und zögernd ging sie durch die Regalreihen und blieb schließlich in einer stehen, um Timothy dabei zu zusehen, wie er ein Pergamentpapier trocknete. Die Tinte schien beinahe jedes Blatt ruiniert zu haben. Mit Schuldgefühlen, die ihr Herz höher schlagen ließen, wollte sie gerade wieder an den Tisch treten, als der junge Mann aufschaute, abgelenkt von einer Eule, die draußen vor dem Fenster schwebte. Sein Gesicht, das sich von den hellen Strahlen der Nachmittagssonne abhob, wirkte plötzlich anders, ganz anders. Die Ruhe und Gleichgültigkeit, die er sonst ausstrahlte war verschwunden und an ihrer Statt fand sich dort nur noch eine tiefe Trauer, vielleicht auch etwas Wut, gemischt mit Schmerz. Als die Sonne seine Wangenknochen orange-rot färbten und ihn in einen jungen, wunderschönen Gott verwandelten, entfuhr Christina unweigerlich ein Keuchen. Timothy zuckte zusammen und drehte sich um, bevor er ob ihrer Entdeckung seine altbekannte, geschauspielerte Miene aufsetze. Herausfordernd hob er die Hand, in der die Papiere lagen und wedelte damit durch die Luft. Mühsam beruhigte sich Christina, nicht weil sie wütend war, sondern weil sie kurz davor gestanden hatte, dem jungen Mann um den Hals zu fallen und ihn stürmisch zu küssen, als Auffressen hätte man dieses Verlangen besser beschreiben können. „Entschuldigung“, begann sie verzweifelt und tat ein paar Schritte in seine Richtung. Er verdrehte daraufhin die Augen und wandte sich ab. Er zeigte nie mehr Reaktionen als diese, nie. Egal, wie oft sie böse mit ihm war oder sich vor ihm blamierte, er rollte bloß mit den Augen und die Sache war gegessen. Wenn sie traurig oder am Verzweifeln war, dann hatte er nie einmal daran gedacht, sie zu trösten – das hieß nicht, dass er sie in den Arm nehmen sollte, aber ein paar gute Worte hätten es auch getan. Wie unsensibel Männer doch waren! „Aber …“, stotterte sie weiter und ihr Blick glitt irritiert auf den Boden. Anschauen durfte sie ihn nicht, sie würde den Satz nicht beenden können, wenn das so weiter ging. „Was aber?“, fragte er skeptisch und in seiner Stimme lag sowohl der Hohn, als auch etwas Wut. „Ich lerne so viel, ich werde das doch nie alles schaffen! Wie soll das denn gehen?!“, rief sie fast, anstatt zu flüstern, wie es die Bibliotheksregeln eigentlich von ihr erwarteten. „Ach, aufgeben kommt jetzt auch noch?! Erst sich selbst die Suppe versalzen, bis oben hin darin feststecken und dann den Dreck nicht selber auslöffeln. Ja, so stellt man sich das vor!“, knurrte er zurück und sprach damit genau ihr schlechtes Gewissen an, „Aber was soll ich tun?! Ich bin so arm und schwach!“ Er äffte eindeutig eine Frauenstimme nach. Verhöhnte er sie? Was bildete er sich ein?! Wütend warf sie ihre Schulbücher auf den Tisch und schritt entschlossen auf ihn zu, bevor sie ihm den Finger vor die Brust stieß und gefährlich leise sagte: „Hören Sie, Sie haben kein Recht, mich so zu behandeln, auch wenn Sie ein Professor sind! Ich beschimpfe sie auch nicht als armselig!“ „Für Sie sitze ich jeden, verfluchten Tag in der Bibliothek und muss irgendwelche Sprüche von Grundschülern abhandeln, die Sie, meine Liebe, verpennt haben zu lernen! Da könnten Sie ruhig einmal dankbar sein und nicht meine Unterlagen ruinieren, die ich in gutem Gewissen extra nur für Sie beschafft habe!“ „Wer hat Ihnen denn gesagt, dass Sie neben mir sitzen müssen, wenn ich lerne?! Ich denke, auswendig lernen, kann ich auch alleine!“ „Ach, warum tun Sie es dann nicht?! Warum sind Sie zu unfähig, um sich zehn Verwandlungssprüche einzuprägen?! Nein, stattdessen brauchen Sie dafür geschlagene zweieinhalb Stunden, nach denen Sie diese immer noch nicht beherrschen! Was soll ich denn noch tun?!“ „Sie sind doch derjenige, der mich ablenkt!“, schrie sie zurück und es war ihr sichtlich egal, dass die Bücher davon einen Gehörschaden bekamen und die Bibliothekarin wutentbrannt auffauchte. „Ach, ich nerve also? Warum sagen Sie das nicht gleich?! Dann gehe ich jetzt, mache mir einen schönen Tag, während Sie zusehen und die Schulunterlagen lernen. Von mir brauchen Sie anscheinend ja keine Hilfe mehr“, stellte er beleidigt fest und seine Stimme zitterte vor Zorn, seine Augen blitzten gefährlich. Christina zuckte zurück und starrte ihn entsetzt an. So war das doch gar nicht gemeint gewesen! Sie hatte doch nur sagen wollen, wie faszinierend sie ihn fand und … Timothy packte seine Sachen zusammen und wuchtete sie auf seine Arme, den Rest, den er nicht tragen konnte, ließ er mit einem Zauber hinter sich her schweben. Dann stolzierte er mit erhobenem Haupt an ihr vorbei und verließ die Bibliothek. Sie hörte das Portal zuschlagen. Ihr stiegen die Tränen in die Augen und sie wandte Mademoiselle Lycra den Rücken zu, die jetzt bestimmt hämisch auf sie herabsah. Langsam rutschte sie an einem Regal auf den Boden hinab und starrte die goldene Plakette an, die ihr verkündete, dass sie in der Abteilung für „magische Tierwesen“ war. Dann liefen ihr unkontrolliert Tränen über die Wangen und die Bücher fielen aus ihrem Schoß. Sie zog die Beine an und vergrub ihr Gesicht in den Armen, die sie um die Knie geschlungen hatte. Schluchzend und sich selbst verfluchend, weinte sie leise vor sich hin. Auch der sonst so beruhigende Duft der Bücher schaffte es nicht, sie aufzuheitern. Die Nacht war hereingebrochen und Timothy legte das Buch beiseite, das er sich aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Nach dem Streit mit seiner Schülerin hatte er sich wütend den großen Zeh verstaucht, als er gegen seine Schlafzimmertür getreten hatte. Danach war kein Gedanke mehr an dieses Gespräch verloren worden, stattdessen musste er zum Krankenflügel, als sein Fuß drohte, gefährlich anzuschwellen. Ein Abschwelltrank später war er gemeinsam mit seiner Tochter in sein Büro zurückgekehrt. Jetzt, da sie friedlich in ihrem Bettchen schlief, das Buch ihn langweilte und der Schlaf auf sich warten ließ, wanderten seine Gedanken jedoch zurück zu dieser nachmittäglichen Szene. Warum war er bloß so wütend gewesen? Egal, wie sehr ihn Leute in der Vergangenheit geärgert hatten, nie wäre er auf den Gedanken gekommen, sie anzuschreien. Warum hatte er seine Fassung verloren, als das Mädchen ihm gesagt hatte, sie könne nicht weiterlernen? Es hatte doch pausenlos gearbeitet, aber warum war er nicht in der Lage gewesen zu akzeptieren, dass es müde war? Ja, sie wollte Ärztin werden und deswegen musste er dringend dafür sorgen, dass sie in ihren absoluten Hassfächern besser wurde, obwohl dieses Vorhaben viel Zeit in Anspruch nahm, die sie nicht hatten. Aber war es der Stress allein gewesen, der ihn in diesem Moment gezwickt hatte und ihn wütend auf sie werden ließ, obwohl sie doch nichts getan hatte? Er mochte keine Leute, die so einfach aufgaben – sie hatte Zweifel an sich selbst gehegt. Hatte ihn das so mitgenommen? Verwirrt zerwuschelte er sich seine Haare mit beiden Händen, als ihm einfach zu viel einfiel, das er falsch gemacht hatte. Er stand auf und versuchte sich abzulenken, indem er auf seine Tochter hinab schaute, deren Brust sich hob und senkte. Sie verzog die Augenbrauen im Schlaf und erinnerte ihn an den entsetzten Ausdruck auf Christinas Gesicht, nachdem er sie in der Bibliothek stehengelassen hatte. Warum dachte er schon wieder über das Mädchen nach?! Das war nicht zum Aushalten! Natürlich war er wütend, aber das würde morgen verflogen sein. Trotzdem beschäftigte ihn der verletzte Ausdruck ihrer Augen. Insgesamt war er viel zu gefangen in dieser Sache, er hatte nicht bemerkt, wie die Zeit verflog, wann immer er und sie zusammen waren. Sie war seine erste Schülerin, vielleicht nahm ihr Schicksal ihn deshalb mit und es störte ihn, dass sie, obwohl sie einen Traum hatte, nicht genug Ehrgeiz besaß, danach zu greifen. Aber warum hingen seine Gedanken die ganze Zeit an den Freistunden, die sie gemeinsam in der Bibliothek beim Lernen verbrachten. „Du hast sogar vergessen, dass die Reinblüter das Sternenfest gefeiert haben. Man hat dich dort vermisst, Timothy!“, jammerte sein schlechtes Gewissen. „Außerdem hast du dich immer noch nicht um die Angelegenheit mit dem Schulleiter gekümmert, Timothy. Du solltest die Einladungen der neuen Schüler schreiben!“, erinnerte ihn die hinterhältige Stimme in seinem Kopf. „Aber warum ich? Kann er die nicht selber schreiben?!“, antwortete Timothy sich selbst und rieb sich die Schläfen. Er war gestresst und übernächtigt, er brauchte dringend eine Mütze voll Schlaf. „Aber, aber, mein Guter! Er will sich doch nur um dich kümmern! Wie herzlich der Gute doch ist!“, schnurrte sein Gewissen. Timothy schüttelte den Kopf und war erstaunt, als außer ein paar Gedanken an Bücherduft nichts zurückblieb. Hatte er das gerade geträumt oder hatte er wirklich Selbstgespräche geführt? Er wurde noch verrückt! Frische Luft, das war seine Rettung! Er sah noch einmal nach seiner Tochter, bevor er sich einen Umhang überzog und aus dem Büro huschte. Das Eingangsportal und sämtliche anderen Portale, die auf das Schulgelände führten waren abgeschlossen, seit geraumer Zeit war das ein Ritual Hogwarts’. Wo sollte er also hingehen? „Das Dach ist bestimmt verschlossen, da bleiben also nur noch die Balkone“, murmelte er und entschloss sich, den nächstgelegenen aufzusuchen. Damit würde er aber an die Stelle seines nachmittäglichen Streits zurückkehren, praktisch der Tatort, weil dieser in der Bibliothek lag. Dennoch ging er die Treppen zum Dritten Stock hinauf und schließlich auch die zum Vierten. Als er das Schloss der Bibliothek im Vierten Stock als, natürlich, geschlossen antraf, seufzte er. Doch es hinderte ihn nicht: Es war ein einfaches Schloss, denn wer würde nachts auf die Idee kommen, in die Bibliothek zu gehen? Außer natürlich ein paar Schüler, die in die Verbotene Abteilung wollten, dort trafen sie dann aber auf ein weitaus schwierigeres Schloss. „Alohomora!“, flüsterte er und es sprang auf. Zufrieden sah er sich um, es gab dem ganzen das bestimmte Gefühl nach Geheimnistuerei und Verbotenem, wenn er sich heimlich irgendwo hineinschlich. Dann zwängte er sich durch einen kleinen Spalt und schloss das Portal hinter sich, bevor er den vertrauten Duft einsog. Ja, so ließ es sich leben! Nun unvorsichtiger durchschritt er die Regalreihen und blieb am Tisch stehen, an dem er und Christina gemeinsam gesessen hatten. Es war ihr Tisch, dort saßen sie immer. Beinahe lachte er ironischerweise los, schnaubte dann jedoch nur und wandte sich um. Er ging die Tischreihen entlang und schließlich auf die Fensterfront zu, die durch ein einziges bodenlanges Fenster unterbrochen wurde – darin war eine gläserne Tür. Timothy sperrte diese auf und betrat den Balkon. Es wehte ein leises Lüftchen und er genoss die Frische und Klarheit der Nacht. In der Ferne erklang der Ruf einer Eule – oder mehreren. Irgendwo heulte ein Wolf, doch er war weit entfernt. Das Zirpen der Grillen, die den ganzen Sommer über den Tag musikalisch untermalten, war beim Einbruch der Dunkelheit erstorben und somit war nun wirklich alles ruhig. Seine Umgebung wurde nur durch seinen Herzschlag und Atem unterbrochen, die beunruhigend laut klangen. In solchen Nächten dachte er oft nach, die meiste Zeit an Joanna. Er musste beim bloßen Gedanken an sie nicht mehr weinen, aber das bedeutete nicht, dass er ihren Tod überwunden hatte. Sie fehlte ihm, auch wenn er nicht sagen konnte, warum er sich deswegen so schrecklich fühlte. Er hatte immer gedacht, dass es nicht wahr sein könne, was die Leute sagten: „Es ist, als fehle dir ein Teil deiner selbst!“ Und doch war es so – genau so und nicht anders. Dann schweiften seine Gedanken zur Schule zurück, die schon beinahe leer war. Nach zwei Wochen hatte man die Schlaueren nach Hause geschickt und die Dümmeren für die nächsten zwei Wochen bestärkt. Einige Lehrer, deren Kurse auf einen Schüler geschrumpft waren, hatten somit ihre Ferien eingeläutet und das Lehren ihres Schulfaches den Tutoren aufgehalst. Sie würden erst Ende August wieder auftauchen, vielleicht früher, wenn sie verantwortungsbewusst waren. Immerhin war Hogwarts im August ja „geräumt“, schülerfrei. Als die Brisen stärker und kälter wurden, erschauerte Timothy und tauchte aus seiner Gedankenwelt auf. Verwundert über den Wetterumschwung überlegte er kurz, wie spät es war. Als er die Uhr aus seiner Tasche holte und darauf sah, war er geschockt. Wo war bloß die Zeit geblieben?! Hatte er wirklich so lange hier draußen gestanden? Timothy wandte sich um und verließ den Balkon, bevor er die Tür nach draußen wieder verschloss und entspannt die Tischreihen zurückging. Wieder heftete sein Blick sich auf den Tisch, an dem seine Schülerin und er gesessen hatten. Schließlich blieb er wieder stehen und seufzte ergeben. Egal, wie sehr er sich ablenkte, am Ende kehrten seine Gedanken ja doch wieder zu ihr zurück. Während er so nachdachte, vernahm er ein Rascheln. Unter Umständen hätte er es als Einbildung oder Ratte abgetan, aber Mademoiselle Lycra war pingelig genau und verscheuchte letztere immer sehr wirkungsvoll. Auch einbilden konnte er sich das Geräusch nicht, es war einfach zu real, um Traum zu sein. Als es erneut ertönte, begann sein Herz laut zu schlagen. Eine ähnliche Szene hatte er schon einmal gesehen: Er stand an einer Wand und sah um die Ecke, suchte nach Feinden, als ein Rascheln hinter ihm ihn noch rechtzeitig warnte, dass er Besuch bekam. Damals hatte er sich geistesgegenwärtig noch retten können, doch dieses Mal war er wie versteinert. Die nackte Panik stieg in ihm auf und kalter Angstschweiß ließ einen Schauer über seinen Rücken fahren. Mühsam ruhig drehte er sich um und hätte beinahe aufgeschrieen, als er in die glänzenden Augen eines Menschen blickte – eines ihm bekannten Menschen. „Miss Blake!“, stieß er hervor und die Erleichterung überschwemmte ihn. Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, dachte er jedoch nach. „Was tun Sie hier?“, fragte er vorsichtig, darauf bedacht, keinen Streit hervorzurufen. „Nichts“, murmelte sie ausweichend und starrte zu Boden. „Nichts?“, hakte er nach und wollte schon wieder beleidigt klingen, als er ihren peinlich berührten Gesichtsausdruck bemerkte. „Na ja, nichts halt“, grummelte sie und senkte den Blick noch weiter. „Ach, wirklich?“, meinte er nur belustigt und setzte sich in Bewegung. Sollte sie doch schweigen, wenn sie wollte. Er hatte heute eh keine Lust mehr, sich mit ihr zu streiten oder mit ihr zu schimpfen, weil sie des Nachts unterwegs war. „Ist die Tür offen?“, hörte er ihre Stimme und drehte sich mit einer fragenden Miene um. „Ja, wieso?“ „Ich wurde eingeschlossen“, nuschelte sie betreten und ging langsam hinter ihm her. Timothy zog erstaunt die Augenbrauen hoch und lächelte dann verständnisvoll. „Keine Angst, sie ist offen. Sie kommen noch ins Bett“, fügte er hinzu. „Danke und … Entschuldigung“, flüsterte sie, als sie nach seinem Hemd griff und sich unsicher an ihm festhielt. „Entschuldigung akzeptiert, ich hoffe, das kommt nicht wieder vor“, flüsterte er genauso leise und blieb in der Nähe der Tür stehen, um sich zu seiner Schülerin umzudrehen. Sie hatte geweint, ihre Augen waren geschwollen und dennoch schien sie so auszusehen, als hätte sie noch nicht genug. „Warum waren Sie überhaupt hier?“, fragte er neugierig und sie zuckte leicht zusammen. Ein peinliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, bis sich das Mädchen entschloss, doch noch zu antworten: „Lernen …“ Timothy war zunächst erstaunt, lächelte jedoch, bevor er ihre Haare verwuschelte und sie aus der Bibliothek führte. Dort verabschiedete er sich mit weitaus besserer Laune als zuvor und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Büro und seiner Tochter – und einer Mütze voll Schlaf. Christina war nach der Versöhnung irgendwie wieder ins Lernen hineingeraten und schaffte es nun weitaus besser, sich Dinge einzuprägen – glücklicherweise, denn sie wollte nicht noch einen Streit heraufbeschwören. Inzwischen konnte sie auch mehrere Sachen gleichzeitig: Lernen und dabei Timothy Wenham beobachten. Im Moment stand dieser etwas abseits in einer Bücherregalreihe und zog ein Wälzer nach dem anderen hervor, nur um sie kopfschüttelnd gleich wieder wegzustellen. Irgendwann schien er den Richtigen gefunden zu haben und kehrte an ihren angestammten Tisch zurück, an dem er sich auf seinen Stuhl gegenüber von Christina fallen ließ und begann, vorsichtig darin zu blättern. „Sie wollen also Ärztin werden?“, fragte er beiläufig und las interessiert eine Textstelle. „Ja“, antwortete sie lediglich und schrieb weiterhin an einer Hausaufgabe, die ihnen die Zaubertranklehrerin aufgedrückt hatte. Diese war zwar nicht gerade kompliziert, aber nahm verdammt viel Zeit in Anspruch. „Doktoren werden für das Gebiet des Vereinten Königreichs in Shiredome ausgebildet. Das ist Ihnen klar, oder?!“, führte er an und schaute sie nun direkt an. Christina nickte bloß und hob nicht einmal ihre Augen von den Papieren und der Feder, die eilig darüber kratzte. Würde sie aufsehen, womöglich noch seine Augen erblicken, dann würde sie vergessen, was sie sagen wollte und peinlich herumstottern. Also unterließ sie das und konzentrierte sich lieber weiter auf ihre Aufgaben. „Nach Shiredome zu kommen ist wirklich Glückssache. Egal, wie gut man ist, passt man dort nicht hin, wird man auch nicht angenommen. Das ist der kleine, aber feine Haken an der Sache“, murmelte Timothy mehr sich zu als ihr. Sie schrieb das Wort zu Ende und setzte einen Punkt, bevor sie erleichtert seufzend ihre Hand schüttelte. „Aber ich werde alles versuchen. Wenn ich nicht hier angenommen werde, versuche ich es eben in Frankreich!“, erwiderte sie und sah ihn entschlossen an. Als er nun aufblickte, verkroch sich all ihr Mut in der hintersten Ecke ihres Seins und ließ sie mit wackeligen Knien zurück – ein Glück, dass sie saß! Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, als er sagte: „Nun, dann werden wir es schon irgendwie schaffen, Sie zum Doktor zu machen.“ Sie nickte bloß, eingeschüchtert von seinem Lächeln und auch fasziniert. Wie herrlich es war, eine umschwärmte Person direkt in der Nähe zu haben! Dieses ständige Hochgefühl ließ sie einfach nicht los, weswegen sie es sicherlich vermissen würde, sobald sie nach Hause ging – das sollte in ein paar Tagen geschehen, genauer: vier! Dann war auch die vierte Woche der Nachhilfekurse vorbei und sie musste zurück zu ihren Eltern. „W-was arbeiten Sie eigentlich?“, nuschelte sie stotternd und lief leicht rosa an. „Ich bin Professor“, sagte er amüsiert und setzte einen fragenden Ausdruck auf. Anscheinend hatte sie die Frage falsch gestellt. „Ich meine, was haben Sie studiert und danach gearbeitet?“ Er zog die Augenbrauen hoch und sein Blick wanderte aus der Fensterfront am Kopfende des Tischs. Verträumt ließ er wohl einige Erlebnisse Revue passieren und riss sich offensichtlich widerwillig nach einigen Minuten von ihnen los. „Ich habe, wie Sie sicherlich wissen, auch in Shiredome studiert, genauer gesagt: in Nova, dem …“ „Blauen Haus, ja, ich weiß“, unterbrach sie ihn eifrig. „Meine Karriere war mehr der Politik zugewandt und ich habe als Hauptfach „Botschaft“ studiert. Danach habe ich eine Weile als Botschafter einer bestimmten Organisation gearbeitet …“, fügte er an und wurde leiser gegen Ende hin. Er schien etwas zu verheimlichen, doch es war nicht schwer, zu erraten, was es war. „Der Reinblüter?“, fragte sie hastig und sah ihn an. Gleichzeitig hob er erstaunt den Kopf und musterte sie misstrauisch. „Woher wissen Sie davon?“ „Ich habe … die Zeitung gelesen“, flüsterte sie. „Nun ja, das war zu erwarten. Genauer gesagt bin ich eigentlich der Botschafter der „Gesellschaftlichen Vereinigung für magische Reinblüter“, kurz: gVmR. In der Umgangssprache nennt man das den Reinblut-Rat“, ergab er sich schließlich und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Christina überlegte. „Meine Eltern haben mir davon erzählt. Der Reinblut-Rat ist praktisch das Ministerium nur für Reinblüter. Es ist in Edinburgh, nicht wahr?“ „Woher wissen Sie davon?“, wiederholte er erstaunt seine Frage von zuvor. Christina lächelte verschmitzt, antwortete jedoch nur: „Meine Eltern wissen einfach alles!“ „Woher wissen Ihre Eltern, dass der Reinblut-Rat in Edinburgh residiert?“, fragte er nun etwas schärfer nach. Er hatte für diese kleinen Spielchen keine Zeit. War es unter den Hexen und Zauberern bekannt, wo die Reinblüter sich aufhielten? Wenn ja, gab es dann auch keinen Schutz mehr – einen Schutz, indem sie sich eigentlich sicher wähnten. Christina verzog das Gesicht und sah sich um. Es war später Nachmittag, weswegen niemand in der Bibliothek war. Die meisten Schüler tobten draußen herum oder lernten im Büro ihres Tutors. „Um ehrlich zu sein“, fing sie an und beugte sich über den Tisch, damit sie ihm zuflüstern konnte: „Meine Eltern sind reinblütig.“ „Was?!“, rief Timothy aus und schlug sich eine Hand vor den Mund, bevor er sich ebenfalls über den Tisch beugte und zu flüstern begann: „Kenne ich die beiden?“ „Ich denke schon. Sie sind nicht unberühmt, wenn ich das so sagen darf.“ „Wie meinen Sie das?“ Christina druckste noch etwas herum und schaute wieder misstrauisch umher, bevor sie mit den Augen den Raum absuchend wieder zu sprechen begann: „Mein Vater heißt Jaques Bernard und meine Mutter Mary Mercery.“ Timothys Augenbrauen schossen sofort in die Höhe und interessiert weiteten sich seine Augen. Natürlich hatte er von den beiden gehört. Sie hatten damals einen riesigen, öffentlichen Skandal hervorgerufen und die Vorhut sämtlicher, reinblütiger Protestaktionen gegen die einschränkenden Regelungen des Ministeriums gebildet. Man hatte den Reinblütern damals nämlich verboten, sich selbst Ehepartner zu suchen. Das Ministerium hatte dem St. Mungo Hospital befohlen, Fruchtbarkeitstests mit den Reinblütern durchzuführen, um sie in drei Stufen einteilen zu können: unfruchtbar, fruchtbar und sehr fruchtbar. Dadurch hatte es sich das Recht genommen, den Reinblütern vorzugeben, wer auf ihrer Stufe zu ihnen passte. Als Beispiel dafür galten damals Jaques Bernard und Mary Mercery. Der junge Franzose gehörte zu den „sehr Fruchtbaren“, während die junge Engländerin zu den „Unfruchtbaren“ gehörte. Beide waren sich näher gekommen und hatten sich verlobt, das Gesetz verlangte von ihnen jedoch, sich zu trennen, da sie auf unterschiedlichen Stufen standen. Die „sehr Fruchtbaren“ sollten immer nur „sehr Fruchtbare“ heiraten, so konnte man den Fortbestand der Reinblüter sichern, das gleiche galt für die „Fruchtbaren“. Die „Unfruchtbaren“ waren diejenigen, die impotent – zeugungsunfähig – oder einfach zu schwach für eine Geburt waren. Mary Mercery war eine kränkliche Frau gewesen, der man davon abgeraten hatte, Kinder zu bekommen – also war sie „unfruchtbar“ und sollte somit mit einem anderen „Unfruchtbaren“ verheiratet werden. Dadurch konnte man verhindern, dass das Potential eines Ehepartners, der fruchtbarer war als ein unfruchtbarer, verloren ging. Also waren die beiden Liebenden gegen das Gesetz miteinander durchgebrannt und bis heute wusste niemand, was aus ihnen geworden war – wie gesagt: bis heute. „Du bist die Tochter von …?“, keuchte er und starrte sie an. „Ja, meine Eltern haben damals den Reinblut-Rat in Frankreich dazu überredet, einen großen Aufwand und einen Regelbruch zu begehen, damit man meine Geburtsregistration in die Akten des französischen Ministeriums schmuggelte. Es wäre beinahe schief gegangen, aber gute Beziehungen haben uns gerettet. Also bin ich registriert, nur kennen tut mich keiner.“ „Das ist ja …“, empörte sich Timothy über den letzten Satz von Christina und wollte sich gerade beschweren, als sie weiter sprach: „Es ist in Ordnung! Wirklich! Man gewöhnt sich daran, offiziell nicht zu existieren. Das erspart einem eine ganze Menge. Natürlich weiß der englische Reinblut-Rat von mir, man hat es ihm aus Frankreich gemeldet, also ist es nicht so schlimm. Dennoch lassen sich meine Eltern zur Sicherheit nur selten auf Reinblut-Parties sehen. Sollte jemals herauskommen, dass die beiden ein Kind zusammen haben, gibt es mächtig Ärger.“ „Ich kenne das Gesetz ziemlich gut, ich musste viel damit arbeiten. In einem solchen Falle verlangt das Ministerium das alleinige Sorgerecht dieses „Bastard-Kindes“, wie sie es nennen. Dadurch kontrollieren sie dessen Zukunft und schaffen ein exemplarisches Beispiel, mit dem sie den Rest der Reinblüter verschrecken – in dem Sinne töten sie es also“, sagte er entsetzt und musterte sie. Sie war blass, das war ihm vorher nicht aufgefallen und ihre Augen erzählten von vielen schmerzhaften Erfahrungen. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er fürsorglich und streckte die Hand aus, bevor er ihre ergriff und sie streichelte. Er wusste, dass Mitleid hier nicht weiterhalf, doch vielleicht konnte er sie somit beruhigen, trösten. „Das brauchen Sie nicht, Sie haben bereits viel für mich getan! Wenn sie also einfach Stillschweigen bewahren, würde mir das am meisten helfen.“ „Dann werde ich das tun. Wenn Sie dennoch einmal Hilfe brauchen, können Sie mir jederzeit Bescheid geben …“, meinte er erneut. Wenigstens das wollte er ihr geben, wenn sie doch schon vom ganzen Ministerium verfolgt wurde. „Dankeschön, Professor, aber ich denke, das wird nicht sehr bald vorkommen.“ Warum erzählte sie ihm das überhaupt, sie hätte doch schweigen können? Stattdessen plauderte sie reinblütische Staatsgeheimnisse aus, die jeden in diesem Raum in Gefahr brachten, weil man ein so genanntes „Bastard-Kind“ vor dem Ministerium versteckte. Dennoch wusste sie, dass dieses Geheimnis bei ihrem Tutor gut aufgehoben war, er hatte ja selbst genügend. „Soll ich wirklich nichts tun?“, wiederholte er und eine steile Sorgenfalte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Sie fand es niedlich, dass er sich solche Sorgen um sie machte, doch eigentlich wollte sie sein Mitleid nicht. „Nein …“, murmelte sie und wurde dann hellhörig, „Oder doch!“ Fragend blickte er sie an und ließ dabei ihre Hand los, bevor er sich wieder näher beugte, um ihr Flüstern zu verstehen. „Wenn wir alleine sind, können Sie mich mit meinem richtigen Namen ansprechen. Das würde mich freuen“, flüsterte sie und sah ihn flehendlich an. Er nickte langsam und löste somit in ihr ein Feuerwerk an Gefühlen aus: Erleichterung, Freude, Zuneigung, Sehnsucht und Freundschaft. „Wie lautet er?“, hakte er nach. „Linnet, Linnet Mercery-Bernard“, brachte sie lächelnd hervor. Ja, so ließ es sich leben. Timothy sah aus dem Fenster seines Büros. Man konnte den See und die Peitschende Weide erkennen, doch beide rührten sich nicht. In der nachmittäglichen Sonne wehte nicht einmal das leiseste Lüftchen. Es war ziemlich warm, schon den ganzen Tag. Das Schloss lag still gegen den klaren, hellblauen Himmel. Mit den Fingerspitzen seiner linken Hand fuhr Timothy über das Glas, das seine Fenster verschloss. In seinem rechten Arm wand sich Josephine und befreite sich, bevor sie ebenfalls hinausschaute. Sie wirkte schon seit ein paar Stunden aufgewühlt. Schlafen wollte sie nicht, Hunger hatte sie nicht, nur mit dem Weinen konnte sie nicht aufhören. Auch jetzt schluchzte sie wieder und er wusste nicht, was er tun sollte. Sie wollte nicht spielen, das hatte sie ihm vor einigen Minuten mehr als deutlich gezeigt, nachdem sie ihr Spielzeug beleidigt weggeworfen und laut geweint hatte. „Was ist denn, Schatz? Hm?“, sachte wiegte er sie hin und her, während sie die Hand nach dem Fenster ausstreckte und die Scheibe betastete. Sie gab einen undefinierbaren Quietschlaut von sich und instinktiv drehte Timothy sich um, doch dort stand niemand. Wer denn auch? Hogwarts war im August von allen Schülern befreit worden, man hatte schließlich auch als Lehrer Ansprüche auf Ferien. Auch Linnet war, wenn auch mehr als unglücklich, mit dem letzten Express nach London King’s Cross gebracht worden. Sie hatte sich mehrmals überlegt, sich zu verstecken und dadurch hier bleiben zu können, aber Timothy hielt das für keine gute Idee und hatte sie nach Hause zu ihren Eltern geschickt. Seitdem quengelte Josephine aber ununterbrochen herum. Wahrscheinlich genau deswegen. „Du vermisst sie, hm? Sie kommt in vier Wochen wieder, du wirst schon sehen! Das geht ganz, ganz schnell“, flüsterte er ihr zu und küsste sie auf die Wange. Mit einem Lächeln, das Seppi erwiderte, blickte er hinaus auf die Ländereien von Hogwarts. Wie anders sein Leben wäre, würde Joanna noch an seiner Seite sein. Sie würde sich um Seppi kümmern, die dann auch eine richtige Mutter hatte und er würde abends heimkehren, natürlich von der Arbeit, mit ihnen essen und dann mit seinen beiden Frauen gemütlich auf dem Sofa liegen. Warum bloß war diese Sache ihm passiert? Warum gerade Joanna und ihm? Timothy fluchte innerlich wütend und schmiegte sich enger an Josephine. Daran ändern konnte er nichts, das war ihm klar, aber akzeptieren würde er es nie. Weil er sich so sehr gewünscht hatte, endlich eine richtige Familie zu haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)