Sein Leben von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Sein Zimmer ---------------------- Sein Zimmer sah genau so aus, wie sie es vermutet hatte. Weder besonders groß noch klein. Ein modernes Mobiliar. Weiß gestrichene Wände, ein dunkelgrüner Teppich. Das bedeutete nicht, dass es unpersönlich eingerichtet war. Keinesfalls steril. Die Wand war weitestgehend unbedeckt, nur das Siegerfoto der Mannschaft vom Finale und wenige Familienfotos überdeckten die strahlend weiße Farbe, die noch ein wenig frisch war und dementsprechend roch. „Neu renoviert?“ Nicht, dass es sonderlich interessant wäre. Viel mehr eine rhetorische Frage. Tia wusste, dass Rocket ihr vor kurzem so etwas angedeutet hatte. „Vor drei Tagen“, antwortete er lächelnd. Und etwas stolz. „Ganz alleine?“ „So schwer war es nicht.“ Was sollte das für eine Antwort sein? Sie wollte nicht weiter darauf eingehen. Rocket war einfach kein großartiger Kontaktmensch. Und um ehrlich zu sein, war es ihr ganz recht, ihn größtenteils für sich zu haben. Ein freundliches, fast schon zu höfliches Lächeln und die Sache war erledigt. Tia sah sich weiter um. „Möchtest du vielleicht etwas trinken? Oder essen... Wir haben bestimmt noch Kuchen da...“ Rocket brach nach Abwinken Tias ab. „Danke, nein.“ Und sie bereute es schon Augenblicke später. „Ist es okay, wenn ich mir kurz was hole?“ Wieso fragte er so was? Und wieso war er immer noch so unsicher? Es entsprach zwar nicht unbedingt ihrem Geschmack, rücksichtslos und egoistisch mit anderen Menschen umzugehen, aber musste es denn das komplette Gegenteil sein? Selbstlos und immer darauf bedacht, es den anderen recht zu machen. Früher oder später würde dies eh nicht mehr funktionieren. Wieso musste er sie nun um Erlaubnis bitten? „Natürlich.“ „Okay. Du kannst dich solange hier umsehen.“ Tia wartete noch auf einen Satz wie „Nicht an die Schränke gehen.“, doch er folgte nicht. Sie besaß in dieser Hinsicht also zumindest sein Vertrauen. Eine anständige Freundin hätte sich sicher aufs Bett gesetzt und gewartet, höchstens die Fotos noch genauer betrachtet, doch in manchen Situationen war Tia weit davon entfernt, anständig zu sein. Dazu schien ihr die nur einen Spalt geöffnete Kommode neben dem Kleiderschrank zu verlockend. Und als nächstes Opfer würde dann besagter Kleiderschrank dienen. Doch was sie sah, konnte ihr nicht einmal ein müdes Lächeln abringen. Ein Stapel perfekt nach dem Datum sortierter Fußballzeitschriften, zwischen denen Tia auch nichts „anderes“ finden konnte. Daneben ein paar Botanikbücher und wohl das ganze Zeug, das Rocket für die Schule gebraucht hatte. Als sie sich erneut umschaute, fiel ihr auf, dass sich in diesem Raum kein Bücherregal befand. Sie erinnerte sich sofort an zuhause, wo es ein vollständiges Bibliothekszimmer gab, in dem sie schon den einen oder anderen Tag hatte verbringen müssen, um sich Bücher über das „sittliche Benehmen eines Mitglieds der gehobenen Gesellschaft“ anzutun. So viel zu interessanten Geheimnissen ihres Freundes. Auch der Kleiderschrank war wohl der Inbegriff von Schlichtheit und Normalität. Hier hatte sie jedoch auch nichts anderes erwartet als legere Alltagskleidung. Hier ein paar Jeans, da ein paar lockere T-Shirts, ein Anzug, wahrscheinlich für festliche Anlässe. Keine Totalausfälle, aber auch nichts Besonderes. Für einen Moment schoss Tia das Wort „langweilig“ durch den Kopf, hätte sich direkt danach aber am liebsten gleich weh getan. „Nicht allzu spannend, oder?“ Ein kurzes Zusammenzucken. Sie hatte ihn nicht reinkommen hören. „Doch, doch. Schon...Irgendwie.“ Er versuchte zu lächeln, während er den Kleiderschrank wieder schloss. Sie hatte für seinen Geschmack vorerst genug gesehen. Nun doch etwas eingeschüchtert schaute sie auf den Boden. „Ist schon in Ordnung“, meinte er schließlich, „Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet.“ Sie sah überrascht auf. Rocket stellte sein Wasserglas auf der freien Schreibtischfläche ab und setzte sich auf den davor stehenden Stuhl. Dabei deutete er aufs Bett. „Du kannst dich gern setzen, wenn du möchtest.“ Was Tia tat, war eine Mischung aus Kopfnicken und Kopfschütteln. Wieso war der Umgang der beiden beizeiten immer noch so hölzern? Ihr war klar, dass sie sich nicht unbedingt in- und auswendig kannten, dass es vieles gab, was sie nicht übereinander wussten. Doch anstatt zu etwas Reizvollem entwickelte sich die Atmosphäre immer mehr in eine verhaltene und distanzierte Richtung. Ohne weiteres hätte sie sich jetzt auf dem bequem aussehenden Bett niederlassen können, doch es fehlte etwas. Eine Bedingung. „Nur, wenn du zu mir kommst.“ Noch vor nicht allzu vielen Wochen hätte sie es sich niemals vorstellen können, solch einen Satz von sich selber zu hören. Im Moment war es für sie das Normalste der Welt. Und es fühlte sich gut an. Besonders viel Genugtuung verschaffte ihr allerdings der Gesichtsausdruck des Jungen, an den sie diese versteckte Forderung stellte. All die Unsicherheit, die Schüchternheit und die Unentspanntheit mit der sie ihn kennen gelernt hatte, spiegelten sich auf seinem Gesicht wieder. Und es folgte das Unerwartete. Ein Lächeln? Sie beobachtete, wie er aufstand und sich zu ihr bewegte. Obwohl es Tia durchaus erfreute, merkte sie, dass sie auf einmal nicht mehr so entspannt war, wie sie es vorgehabt hatte. Neben ihr sackte das Bett ein unbedeutendes Stück nach unten. „Sicher, dass du nichts haben möchtest?“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Unschlüssig, was er damit anfangen sollte, blieb Rocket erst einmal sitzen. „Meine Eltern haben gefragt, ob du zum Abendessen bleibst.“ Tia sah auf. „Was hast du ihnen gesagt?“ „Vorsichtshalber ‚Ja’“, antwortete Rocket und wieder bemerkte sie die Unsicherheit in seiner Stimme. In seinen Gesten. In seinem Blick. „Wieso hast du dir diese Farben ausgesucht? Sie passen nicht zu dir“, Tia deutete mit ihrem Zeigefinger zuerst auf die Wand und dann auf den Teppich, „zumindest nicht das Weiß.“ „Vielleicht sollten wir erst einmal diskutieren, ob Weiß wirklich eine Farbe ist“, erwiderte Rocket mit hochgezogener Augenbraue. Unerwartet. „Natürlich ist Weiß eine Farbe, Rocket. Immerhin...du weißt schon, das Licht uns so... Nein, sollten wir wohl eher nicht“, beendete Tia möglichst schnell ihren Erklärungsversuch. Es geschah nicht häufig, dass er sie in Verlegenheit brachte. Meistens war es umgekehrt. Normalerweise war er derjenige, der mit seinen Sätzen kämpfen musste. Doch zum Glück hielt dieses Unterlegenheitsgefühl nicht lange an. „Vorher war die Wand beige. Aber man hat sie eh kaum gesehen, weil hier alles vollgehangen war. Der Teppich war schwarz und das hat irgendwie nicht zusammengepasst. Außerdem hat man sich eingeengt gefühlt.“ Als würde es sie interessieren. Natürlich war es schön, Dinge aus Rockets Leben zu erfahren. Doch im Moment gab es so vieles anderes, worüber sie reden konnten ohne beim Thema Farbkompatibilität hängen zu bleiben. „Es gefällt dir also nicht sonderlich?“ Seine Frage riss sie aus ihren Gedanken. Und der beleidigte Unterton erleichterte ihr die Antwort nicht. „Das ist alles so normal“, meinte sie schließlich, „Es ist wirklich schön hier, aber...“ Sie konnte nicht sagen, was ihr fehlte. Doch irgendetwas fehlte nun einmal. Rocket sah sie fragend an. „Ist ja auch egal“, murmelte Tia. „Wolltest du eigentlich heute mit uns essen?“ Die Ungeschicktheit, mit der er versuchte, aus dieser unangenehmen Situation zu entkommen, löste etwas in ihr aus, es brachte Tia zum Lächeln, genauso wie ihre Antwort ihn. „Sehr gern.“ Es war nicht ihre Absicht, etwas zwischen sich zu erzwingen. Einem festen Plan zu folgen, nach dem sie sich richten mussten. Stattdessen genoss sie den langsamen Entwicklungsprozess ihrer Beziehung. Wozu auch jegliche Eile? Einfach nur dazusitzen, sich anzusehen, zu lächeln und sich dabei langsam näher zu kommen. Und wen sollte es interessieren, wie es hier aussah? Was nützte wem eine Diskussion darüber? Sie konnte die Augen schließen und genießen und sie war automatisch glücklich. Und wenn sie sie wieder öffnete und in seine Augen sah, sowieso. Wen interessierte eine schlichte, weiße Wand, wenn es um jemanden ging, den man... na ja... liebte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)