FH Blues von Schabi ================================================================================ Final Fantasy VIII - FH Blues "Was für eine merkwürdige Stadt." Selphie Tilmitt lehnte sich auf das Geländer des Docks und stützte ihren Kopf in die Hände. Ihr Blick schweifte über den Hafen von Fisherman's Horizon und weiter über die kleinen Häuser nahe des Mittelpunktes der Siedlung: die Solarzellen und das Haus des Bahnhofsvorstehers. Am Horizont türmten sich dunkle Wolken auf, die im Laufe des Tages vielleicht Regen bringen würden. In den letzten Tagen hatte es schon öfter danach ausgesehen. Trotzdem wehte ein lauer Wind und die Sonne schien warm am Himmel. Möwen zogen ihre Kreise über den Köpfen der Arbeiter am Dock und stießen klagende Schreie aus. "Hey Kleine, kannst du mich mal durchlassen?" Selphie sprang zur Seite und ein breitschultriger Hüne, der einige Stahlrohre auf der Schulter trug, ging grinsend vorbei. "Danke. Pass auf, dass du nicht im Weg stehst. Wir wollen den Garden so schnell wie möglich wieder zum Laufen bringen." Er winkte Selphie über die Schulter zu und verschwand in einem Gewirr aus Kabeln, die wie Eingeweide aus dem Rumpf des Balamb Garden fielen. Selphie schauderte. Man hatte ihr zwar erzählt, was geschehen war, während sie mit Quistis und Irvine in der Raketenbasis gewesen war, doch so richtig fassen konnte sie es immer noch nicht. Der Garden war geflogen und hatte FH gerammt, Balamb selbst war nur knapp einer Katastrophe entgangen... Auch wenn sie den Beweis nun vor Augen hatte - den beschädigten Garden nämlich, der im Hafen von FH lag, - erschien ihr das alles immer noch wie ein Traum. Und sie wusste nicht recht, ob dieser Traum gut oder schlecht war. Denn der Anblick des Garden erinnerte sie an etwas anderes. Raketen, die sie nicht zu stoppen vermocht hatte, und deren Ziel. Ein anderer Garden, weit im Norden... Trabia. Was dort wohl geschehen war? Seufzend schüttelte Selphie den Kopf. Im Moment wollte sie eigentlich nicht daran denken. Es gab nichts, was sie tun konnte, denn bis der Garden nicht wieder flott gemacht worden war, saßen sie alle hier fest. Grübeln brachte also derzeit gar nichts. Sie würde Squall nach Trabia fragen, wenn sie wieder unterwegs waren. Von einem der unteren Docks erklang ein Fluch. Selphie lehnte sich über das Geländer und entdeckte Xell und Irvine, die sich wild gestikulierend miteinander unterhielten. Sie konnte nicht verstehen, worum es ging, doch Irvine deutete irgendwann nach oben und erstarrte förmlich, als er Selphie über sich erblickte. Sie winkte ihm zu und das schien die Sache noch schlimmer zu machen, denn er tippte nur kurz an seinen Hut, packte Xell am Kragen und zerrte ihn mit sich außer Sichtweite. "Warum stehst du hier eigentlich ganz allein herum?" Quistis trat neben Selphie und blickte auf FH, das ihnen hier oben praktisch zu Füßen lag. "Ich dachte, du wolltest dir die Bühne im Schulhof ansehen?" "Da war ich schon." Selphie zog sich am Geländer hoch und setzte sich darauf. "Nichts mehr zu retten, alles zerstört. Dabei hatten wir uns so viel Mühe gegeben." "Tja." Quistis klopfte Selphie auf die Schulter. "Sieh das Ganze doch mal so: Wir befinden uns im Krieg, da wäre ohnehin nicht die Zeit für ein Schulfest gewesen. Ist zwar schade drum, aber man kann leider nicht alles haben." Selphie seufzte. "Du hast recht. Ja, leider, hast du. Aber trotzdem... Es ist wirklich schlimm zu sehen, wie einfach alles in Trümmern liegt. Alles, woran man gearbeitet hat. Und wir hätten das Fest ja auch immer noch verschieben können. So wird es allerdings ewig dauern, die Bühne wieder aufzubauen." "Das ist doch gar nicht deine Art, alles so schwarz zu sehen, Selphie. Was ist los mit dir?" "Was soll sein?" Selphie sah hinüber zum Garden und runzelte die Stirn. "Ein bisschen deprimierend ist das alles hier schon..." Quistis folgte ihrem Blick und seufzte. "Selphie, dass das alles nicht einfach werden würde, war wohl jedem von uns klar. Und wenn du nicht damit zurechtkommst... Aber du bist ein SEED und dessen musst du dir bewusst sein. Versuch einfach, dir nicht alles so zu Herzen zu nehmen." "Du hast leicht reden! Sie haben Trabia in die Luft gesprengt und wir sind schuld daran! Wäre der Anschlag auf Edea nicht so furchtbar daneben gegangen, dann wäre jetzt alles in Ordnung, meine Freunde hätten nicht sterben müssen. Und noch dazu... Nicht nur, dass Trabia in Trümmern liegt, auch hier habe ich alles verloren, was mir wichtig war. Alles ist futsch." Für eine Weile war nur das Rauschen des Meeres und das Hämmern der Arbeiter im und am Garden zu hören. Selphie starrte auf ihre Fußspitzen, während Quistis erst einige Male schwer schlucken musste, ehe sie wieder etwas sagen konnte. "Das ist nicht wahr", brachte sie schließlich mühsam hervor. "Die Sache mit Trabia war nicht unsere Schuld, nicht unsere und nicht deine. Du weißt außerdem gar nicht, wie es dort aussieht, vielleicht haben sie es auch geschafft. Und hier... Hier hast du doch nicht alles verloren!?! Ich meine, die Bühne, die lässt sich wieder aufbauen. Aber das Wichtigste ist doch, dass du uns hast. Xell, Rinoa, Squall, Irvine und ich, wir sind doch deine Freunde! Und uns hast du nicht verloren." "Nicht alle, nein." Selphie ließ sich vom Geländer gleiten und sah wieder hinunter zu den Docks, wo Xell und Irvine gestanden hatten. "Nicht alle", wiederholte sie leise und wischte sich die Tränen aus den Augen. Quistis strich Selphie übers Haar. "Was du brauchst, ist Ablenkung. Hier beim Garden herumzusitzen ist nichts für dich. Weißt du was? Ich sollte eigentlich runter in die Stadt, um Squall zu suchen. Direktor Cid möchte ihn sehen. Aber ich habe noch einige Sachen im Garden zu erledigen, also wie wär's, wenn du Squall suchst? Du hast dir FH noch gar nicht angesehen, so weit ich weiß, und ich denke, das wäre eine ganz gute Gelegenheit. Was sagst du dazu?" Erleichtert darüber, vor diesem unangenehmen Gespräch flüchten zu können, stieß Selphie sich vom Geländer ab und zwang sich zu einem Grinsen. "Klaro! Eilbote Selphie ist unterwegs!" Sie salutierte und lief los. Der Weg von den Docks bis in die Stadt war lang und verwinkelt. Einige Male wusste Selphie nicht ganz genau, wohin sie sich wenden sollte, schließlich war sie diesen Weg erst einmal gegangen. Und da war sie so müde gewesen, dass Xell sie am liebsten getragen hätte. Als sie endlich den Fahrstuhl erreichte, war sie verwirrt und außer Atem. Der junge Mann, der die Maschine oben bediente, grinste sie listig an. "Na, willst du nach unten?" "Wenn's da in die Stadt geht..." erwiderte Selphie hoffnungsvoll. "Dann bist du hier genau richtig." Der Mann machte eine einladende Handbewegung. "Stell dich rauf und ich mach den Rest. Und eh du dich versiehst, bist du mitten in FH." Er legte einen Hebel um, als Selphie die Plattform betreten hatte, und die Apparatur setzte sich dröhnend in Bewegung. Selphie sah den geduckten Häusern der Stadt nachdenklich entgegen. Wo sollte sie Squall am besten suchen? Er mochte sich vielleicht bei den wichtigen Leuten aufhalten, immerhin gab es viel zu bereden. Und wer war wichtig in dieser Stadt? "Wie komme ich zum Haus des Bahnhofsvorstehers?" Selphie musste brüllen, um gegen den Lärm des Fahrstuhls noch verstanden zu werden. Der Mann oben wurde langsam immer kleiner. "Geradeaus!" schrie er zurück und machte eine entsprechende Geste. Selphie winkte zurück und warf dem Mann eine Kusshand zu. Langsam kehrte ihre gute Laune zurück. Es mochte viele widrige Umstände in dieser Welt geben, doch Quistis hatte recht gehabt: Sie hatte hier immer noch ihre Freunde und die würde sie nicht verlieren. Und was den einen anging, bei dem sie sich nicht sicher war... Darum würde sie sich noch kümmern. Um einige Dinge würde sie sich kümmern müssen, doch um dies als erstes. Als die Plattform stoppte, lief Selphie grinsend weiter. Dieser Tag konnte vielleicht noch sehr interessant werden. Das Haus des Bahnhofsvorstehers lag inmitten der Solarzellen in der Mitte der Stadt. Die ganze Anlage erinnerte im Aufbau an ein Amphitheater und an ihrem Boden herrschte eine drückende Hitze. Selphie, die den ganzen Weg bis hierher gerannt war, schleppte sich nun völlig fix und fertig zu dem kleinen Holzhaus hinüber und klopfte an die Tür. Als niemand reagierte, trat sie kurzentschlossen ein. Sie fand sich in einem kleinen Raum wieder, der mit scheinbar nutzlosem Gerümpel vollgestopft worden war. Es roch nach Staub und die Luft war trocken. Zur Linken führte eine Treppe nach oben. "Hallöle!" Selphie ging ein paar Schritte vor und blieb an der ersten Stufe der Treppe stehen. "Squall?" Von oben waren leise Stimmen zu hören. Selphie lief die Treppe hinauf - und prallte jäh zurück, als Irvine über das Geländer sah. Sie brauchte nur eine Sekunde, um sich wieder zu fangen, doch Irvine hatte ihren Schrecken sehr wohl bemerkt und grinste sie unverschämt an. "Hast du mich gesucht?" "Ich habe eine Nachricht für Squall", bemerkte sie trocken. "Ist er hier?" Irvine warf einen Blick über seine Schulter und schüttelte dann den Kopf. "Sieht nicht so aus. Aber ich bin hier." Selphie seufzte. "Na, wie schön für dich." "Suchst du Squall?" Xell trat an die oberste Stufe und sah zu Selphie herab. "Sagt mal, habt ihr hier eine Versammlung, von der ich nichts weiß? Was treibt ihr denn alle hier?" Xell deutete vage hinter sich. "Wir müssen was mit dem Chef hier klären. Nichts Wichtiges. Aber zurück zu Squall: Der ist beim alten Bahnhof. Aber Rinoa ist ihm schon nachgelaufen, ich weiß nicht, ob ich an deiner Stelle -" "Und tschüß!" Selphie winkte Xell zu und verließ das Haus. "Was hecken die beiden bloß aus?" Der Weg zum alten Bahnhof war lang, aber nicht kompliziert. Man brauchte eigentlich nur den Gleisen zu folgen - in FH gab es ohnehin keine Straßen, sondern nur Gleise. Früher einmal war dies die einzige und wichtigste Verbindung nach Esthar gewesen, doch heutzutage waren die Gleise tot und Esthar... Esthar vermutlich auch. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass da irgendwas faul ist." Die ganze Zeit, seit sie das Haus des Bahnhofsvorstehers verlassen hatte, dachte Selphie darüber nach, was Xell und Irvine wohl von ihm wollten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand den beiden einen offiziellen Auftrag gegeben hatte. Jedem, nur nicht denen. Das passte nicht. Aber was dann? Was hatten sie vor? Selphie erreichte den Bahnhof und rannte die Treppen hinauf. Sie brauchte nicht lange zu suchen, um Squall zu finden. Er stritt sich wieder einmal mit Rinoa und zwar so laut, dass Selphie ohne Probleme zu den beiden fand. "Ähem... Entschuldigung?" Rinoa, die Squall gerade eine Standpauke gehalten hatte, unterbrach ihren Vortrag und drehte sich verdutzt um. Als sie Selphie entdeckte, heiterte sich ihre düstere Miene etwas auf. "Selphie! Was machst du denn hier?" "Ich soll Squall holen. Direktor Cid möchte ihn sehen und..." Squall setzte sich in Bewegung und ging wortlos an den beiden Mädchen vorbei. Rinoa sah ihm nach und stemmte die Hände in die Hüften. "Na, das ist doch mal wieder typisch für ihn! Ständig dieses coole Getue. Was will er denn damit bezwecken, außer mich auf die Palme zu bringen?" "Ich glaube gar nicht, dass er irgendwas bezwecken will. So ist er eben." Selphie drehte sich um und ging gemessenen Schrittes aus dem Bahnhof hinaus. Rinoa ging neben ihr und brummte leise etwas vor sich hin. "Du, Rinoa, kann ich dich mal was fragen?" Selphie sah konzentriert auf ihre Schuhe, schon zum zweiten Mal an diesem Tag, wie sie bemerkte. "Ja, was denn?" "Weißt du, was Xell und Irvine vorhaben?" Rinoa blieb stehen und sah Selphie verdutzt an. "Vorhaben? Wieso, was sollten sie denn vorhaben?" "Also weißt du auch nichts davon?" Das erstaunte Selphie, denn sie hatte gedacht, dass Rinoa jemand war, der wirklich immer über alles Bescheid wusste, was die anderen so trieben. Anscheinend doch nicht... "Nein. Von was denn? Was ist denn los?" "Das wüsste ich ja auch gern", seufzte Selphie und kratzte sich am Kopf. "Irvine geht mir schon den ganzen Tag aus dem Weg. Dann hat er sich unten an den Docks mit Xell getroffen und als ich eben im Haus des Bahnhofsvorstehers war, da hab ich die beiden auf frischer Tat ertappt!" Die beiden Mädchen stiegen die Treppe vorm alten Bahnhof hinab und Selphie kickte einen Stein vor sich her. "Auf frischer Tat ertappt? Wobei?" "Wie sie irgendwas mit dem Chef hier besprochen haben. Ich sag dir, die hecken was aus. Ich weiß nur nicht, was." Wütend auf sich selbst, weil sie sich dumm und unwissend vorkam und zudem ihre eigene Neugier nicht mehr unter Kontrolle hatte, verschränkte Selphie die Arme vor der Brust. "Es kann doch wohl nicht angehen, dass diese beiden blöden Kerle Geheimnisse vor uns haben!" "Na, na, na!" Rinoa versuchte, ernst zu klingen, doch auf ihrem Gesicht lag ein breites Grinsen. "So kenne ich dich ja gar nicht." Selphie antwortete nicht. Tief in ihr brodelte eine Art von Wut, die sie zuvor nicht gekannt hatte. Doch viel schlimmer noch war die Scham, die sie empfand, weil Rinoa sie durchschaut zu haben schien. Verlegen drehte sie sich weg und ging zu den Gleisen hinüber, die zu den Docks führten. "Kommst du mit zum Garden oder möchtest du noch hier bleiben?" Es war ein plumper Versuch, vom Thema abzulenken, doch Rinoa ging darauf ein. Ihr Blick verriet allerdings, dass sie nichts von diesem Gespräch vergessen würde. Sie hüpfte die paar Stufen zu Selphie hinauf, hakte sich bei ihr ein und begann ein Lied zu pfeifen, als die beiden ihren Weg antraten. Die Sonne berührte schon das Meer am weiten Horizont, als es an der Tür zu Selphies Quartier klopfte. Noch ehe sie dem Besucher den Eintritt erlauben konnte, wurde die Tür aufgerissen und Xell kam herein, die Lippen ein dünner Strich, die Augen groß und sorgenvoll. Selphie setzte sich sofort auf - sie hatte auf ihrem Bett gelegen - und griff nach ihren Schuhen. Die Zeiten waren unruhig. Etwas musste geschehen sein. "Was ist passiert?" fragte sie, während sie in ihren rechten Stiefel schlüpfte. Eigentlich wollte sie es nicht wirklich wissen, doch Xell machte ihr Angst mit diesem Ausdruck in seinen Augen und Angst zu haben war nichts für Selphie. "Du musst unbedingt mitkommen", antwortete Xell, griff nach Selphies Arm und zog sie nach vorn. Sie stolperte, den linken Schuh halb am Fuß, halb in der Hand, und wäre beinahe gefallen, hätte Xell sie nicht aufgefangen. "Los, beeil dich! Es ist wichtig!" Es war fast ein kleines Kunststück, wie Selphie sich im Laufen anzog, ohne hinter Xell zurückzubleiben. Die beiden liefen durch die große Halle des Gardens. Einige Schüler, die ihnen im Weg standen, sprangen entsetzt zur Seite, um Platz zu machen, andere sahen ihnen nur verdutzt nach. Als Xell endlich anhielt, reagierte Selphie nicht schnell genug und rempelte ihn von hinten an. "Pass doch auf, wo du hinläufst!" Xell schüttelte die rechte Faust und seufzte dann. "Wir sind da." "Da?" Selphie runzelte die Stirn. "Du meinst, du wolltest mich hierher bringen? Das ist doch..." Sie trat einen Schritt vor und deutete entrüstet auf den Eingang zum Schulhof. "Du platzt bei mir herein, jagst mir einen riesigen Schrecken ein, hetzt mich durch den gesamten Garden - und das nur, um mich zum Schulhof zu bringen?" Xell nickte. "Das kann ja wohl nicht wahr sein!" Selphie trat durch das Tor. "Okay, und was soll ich hier?" "Genieß ein bisschen die Aussicht!" Xell drehte sich um und ließ davon. "Aber... Xell! Warte!" Wie lange Selphie wie ein begossener Pudel dagestanden und Xell nachgesehen hatte, konnte sie im Nachhinein nicht mehr sagen. Sie wusste nur noch, dass sie sich schrecklich auf den Arm genommen fühlte. Schließlich drehte sie sich um und ging die Treppe im Hof hinunter. Wo sie schon einmal hier war, konnte sie auch gleich nachsehen, ob man zumindest schon den Blindgänger aus der zerstörten Bühne entfernt hatte. Als Selphie die Bühne erreichte, zeigten sich bereits die ersten Sterne am Himmel. Im Licht der Dämmerung sah die Bühne noch schlimmer aus als am helllichten Tag. "Klasse", seufzte Selphie und trat nach einem herumliegenden Stück Holz. Ausgerechnet an diesen Ort, der für sie der Mittelpunkt der Katastrophe war, musste Xell sie bringen. Als wäre nicht alles schon schlimm genug. Wenn sie daran dachte, wie viel Zeit sie in den letzten Wochen an diesem Ort verbracht hatte, wurde ihr ganz anders. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. "Warum?" murmelte sie und ballte die Hände zu Fäusten. "Warum muss all das geschehen? Wir bekämpfen uns gegenseitig, nur weil eine Frau ihre Macht erweitern will. Weil eine Person zu gierig ist... Es muss doch einen Weg... einen Weg geben, wie man all das verhindern kann!" Ein Geräusch ließ Selphie aufhorchen. Sie blickte sich suchend um und entdeckte eine dunkle Gestalt, die an der rechten Seite der Bühne stand und zu dem Mädchen herüber sah. Noch bevor Selphie reagieren oder etwas sagen konnte, trat die Gestalt aus den Schatten und entpuppte sich als die Person, die sie als letztes an diesem Ort erwartet hätte. "Ich hätte es verhindern können." Irvine starrte auf die Trümmer. Er hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, so dass seine Augen nicht zu sehen waren. Selphie schluckte, Und das sehr schwer, denn so hatte sie den sonst so lässigen Schützen noch nie gesehen. Ihr Herz schlug schneller, als er auf sie zukam. "Ich weiß, dass du viel Kummer hast. Das tut mir leid, denn ich bin daran schuld. Hätte ich den Schuss nicht in den Sand gesetzt, hätte ich keine Angst bekommen, dann wäre alles anders gekommen." Irvine wandte den Blick von Selphie ab. "Ich bin schuld an all dem hier und ich weiß nicht, wie ich es wieder gutmachen kann." Selphie stockte der Atem. Wie konnte er so reden? Abgesehen davon, dass von seinem sonstigen Gehabe nichts mehr geblieben war, war es völliger Schwachsinn, dass er sich die Schuld für alles gab. Das konnte er doch nicht tun! "Dich trifft überhaupt keine Schuld!" Selphie trat zwei Schritte vor, bis sie genau vor Irvine stand und sah ihn wütend an. "Wie kannst du so etwas sagen? Wir alle haben unser Bestes gegeben und es war nicht genug. Aber dass du dir selbst einen Strick aus deiner Angst drehst, ist falsch und vollkommener Unsinn! Diese Schwächen sind doch nur menschlich, du bist keine Maschine. Ich hätte vermutlich auch Skrupel gehabt, den Schuss abzugeben. Wir sind Söldner, aber keine Meuchelmörder. Und wer weiß... Vielleicht wäre alles noch viel schlimmer geworden, wenn du Edea erschossen hättest. Wir wissen doch gar nicht, ob nicht vielleicht noch mehr hinter all dem steckt." Als Irvine nicht reagierte, griff Selphie nach seinem Hut und zog ihn von seinem Kopf. Mit der rechten Faust berührte sie sein Kinn. "Kopf hoch! Es kann alles nur noch besser werden." "Meinst du das ernst?" Selphie grinste. "Natürlich! Bei all den schlimmen Dingen, die mir passiert sind, gebe ich die Hoffnung nicht auf. Und das solltest du auch nicht tun." "Vielleicht..." Irvine drehte sich um und sah zu den Sternen hinauf. "Vielleicht hast du recht. Weißt du... Ich bin froh, dass Rinoa dieses Treffen eingefädelt hat." "Rinoa?" Selphie trat neben Irvine. "Aber warum?" "Weil ich mit dir reden wollte." "Das hättest du doch auch viel einfacher haben können. Warum bist du nicht einfach zu mir gekommen?" "Nun... ich..." Irvine druckste herum und holte ein paar Mal tief Luft, bevor er antwortete. "Ich hatte einfach Angst. Dass du mir Vorwürfe machen würdest oder so. Auch wegen Trabia." Selphie brauchte nur eine Sekunde, um die Zusammenhänge zu erkennen. "Das heißt, dann bist du mir aus dem Weg gegangen, weil du dich schuldig gefühlt hast? Mehr steckte nicht dahinter?" "Nein. Was sollte denn dahinter stecken?" "Ach, schon gut." Selphie lächelte und setzte sich Irvines Hut auf. Sie fühlte sich plötzlich sehr wohl. Aber eine Frage beschäftigte sie dann doch noch. "Und was... Was hast du mit Xell beim Bahnhofsvorsteher gewollt?" "Die Bühne." Irvine deutete hinter sich. "Wir dachten, wir könnten dir eine Freude machen, wenn wir sie wieder aufbauen. Aber die Leute aus FH sind so sehr mit der Reparatur des Gardens beschäftigt, dass sie leider niemanden mehr für uns abstellen können." Selphies Grinsen wurde breiter. "Das ist schon in Ordnung. Ich bin froh, dass ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Geht es dir jetzt wieder besser?" Irvine nickte und Selphie stieß ihn sanft in die Rippen. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander und sahen auf das Meer hinaus. Am Horizont zeugte nur noch ein blasser roter Streifen davon, dass die Sonne erst kürzlich untergegangen war. Über den Rest des Himmels hatte sich bereits das schwarzblaue Tuch der Nacht gelegt, auf dem die ersten Sterne wie Diamanten schimmerten. "Ich habe da was läuten hören." Irvine sah sich um, als hätte er Angst, dass ihn jemand belauschen könne. "Direktor Cid möchte Squall zum Schulsprecher ernennen." "Was?" Selphie war völlig überrascht. "Im Ernst?" "Ich hab es von Quistis erfahren. Aber es ist wohl noch nicht spruchreif. Bitte sag es niemandem, ja?" "Versprochen." Schweigen. "Aber wenn es soweit ist... Irvine, mir ist gerade etwas eingefallen." "Und was?" "Wie wäre es, wenn wir das Schulfest nachholen? Und gleich eine Feier für Squall daraus machen?" "Meinst du, das ist eine so gute Idee?" Selphie stemmte die Arme in die Seiten und legte den Kopf schief. "Zweifelst du etwa daran? Meine Ideen sind immer gut! Also..." Im Rausch ihrer neu erwachten Unternehmungslust zählte Selphie all die Dinge auf, die ihr gut und wichtig erschienen. Sie plante und plante und Irvine stand grinsend neben ihr und hörte zu. Irgendwann nahm er sie dann am Arm, forderte seinen Hut zurück und zog sie mit sich zurück ins Innere des Gardens. "Selphie, ich glaube, wir werden ein gutes Team bilden." Tatsächlich wurde Squall kurz darauf zum Schulsprecher ernannt. Selphie und Irvine organisierten eine Bühne in FH, trommelten den Rest der Truppe zusammen und stellten kurzerhand eine Band auf die Beine. Am Abend des Festes dann kümmerte sich Rinoa um Squall, während die anderen sich nach ihrem Auftritt zerstreuten und eigenen Gedanken nachhingen. Selphie und Irvine hatten sich auf den Weg zum Hafen gemacht. "Danke, dass du mir geholfen hast." Selphie saß auf einem Poller und ließ die Beine baumeln. Irvine lehnte unweit von ihr an einem Pfeiler. "Alleine hätte ich das niemals geschafft." "Dafür ist es ja auch ein voller Erfolg geworden. Ich wusste gar nicht, dass du so gut Klavier spielen kannst." Selphie grinste. "Es gibt viele Dinge, die du nicht über mich weißt." "Das glaube ich dir gerne. Aber es gibt auch viel, was du noch nicht über mich weißt." "Ach ja?" Selphies Neugier regte sich. "Und was wäre das?" "Ein Beispiel?" Selphie nickte. "Zum Beispiel, dass ich gerne mehr über dich erfahren würde. Viel mehr." Irvine räusperte sich und schwieg dann beharrlich. Selphie fühlte sich plötzlich sehr verlassen. Sie spürte, dass sie rot wurde und dankte allen Mächten dafür, dass es dunkel war. Hatte er das wirklich ernst gemeint? Und vor allem: Wie war es gemeint gewesen? Weil sie nichts zu sagen wusste, wuchs sich die Gesprächspause zu einem peinlichen Schweigen aus. Nur das Rauschen der Wellen war zu hören. Und für Selphie bestand ihre Welt gerade nur noch aus dem eigenen Herzschlag. "Ach so", krächzte sie schließlich und wünschte sich, dass jemand sie aus dieser Situation befreien würde. "Das ist das erste Mal, dass ich so etwas möchte." Irvine schien nicht gewillt, das Thema fallen zu lassen. "Das kaufe ich dir nicht ab." Selphie hatte ihre Stimme wiedergefunden. "Du bist doch so ein Frauenheld!" "Oh ja, natürlich, ich vergaß." Die Ironie in Irvines Stimme klang beinahe ein wenig zu scharf. "Weißt du, dass das immer nur alle von mir denken? In Wirklichkeit bin ich gar nicht so. Natürlich macht es Spaß, so auf das weibliche Geschlecht zuzugehen, aber wer meint so was denn wirklich ernst? Nein, ernst ist es mir nur mit einer." Selphies Herz schlug noch schneller. Im nächsten Augenblick würde es zerspringen, das fühlte sie. "Und was... willst du jetzt tun?" Ihr Mund war trocken. Und dann, im nächsten Moment, war er neben ihr und sie fühlte seine Lippen auf ihrer Wange. "Den Blues vorhin, den habe ich nur für dich gespielt." Und das war der Moment, indem ihr Herz zu schlagen aufhörte. Sie schnappte nach Luft. "Das ist... äh..." "Tut mir leid." Irvine zog sich wieder zurück. "Ich wollte dich nicht überfallen. Es ist nur..." Er brach ab und verlor sich in einer nichtssagenden Geste. "Irvine..." Selphie starrte auf das dunkle Wasser unter ihr. "Es ist ja nicht so, dass ich das nicht möchte. Aber zur Zeit... Ich glaube, das ist ein bisschen viel." Irvine nickte. "Schon klar. Also, falls wir das überleben sollten... Räumst du mir dann eine Chance ein?" Selphie lächelte. "Irvine, du wirst jede Chance kriegen, die du willst. Es sei denn..." "Was?" "Es sei denn, du vergeigst auch den nächsten Schuss auf Edea." ENDE by Yumi Miyazaki 2001 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)