Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde von Linchan ================================================================================ Kapitel 20: Freundschaft ------------------------ Wenn die Pause begann, ertönte ein schrilles Klingeln im ganzen Schulgebäude. Die Kinder waren es langsam gewohnt, aber dennoch erschraken einige jeden Tag beim Klingeln, einer fiel regelmäßig vor Schreck aus seiner Bank. „Nichts passiert, nichts passiert,“ murmelte der Junge im Aufstehen und putzte sich den Staub von der Hose, während die Klasse schallend lachte und Frau Kalih seufzte. „Schon gut,“ sagte sie, „Raus aus der Klasse jetzt, ich schließe ab. Spielt draußen, bis die Pause vorbei ist, dann machen wir weiter mit den Zahlen von zehn bis zwanzig.“ Johlend stürzten die meisten aus der Klasse, einige ließen sich mehr Zeit. Draußen war es sehr kalt geworden, deswegen achteten Lehrer an den Türen des Gebäudes darauf, dass alle Kinder auch warm eingepackt waren, wenn sie hinaus rannten, um zu spielen. Es hatte keinen Schnee, aber dafür Frost gegeben. Draußen heulten zwei kleine Mädchen, weil die Wippe festgefroren war und sich nicht bewegen ließ. „Jetzt müsste man Feuer machen können,“ orakelte Kannar schlau, der mit Puran in der Nähe des Gebäudes blieb, weil es dort windgeschützt war. „Wobei das bei dem Wind nicht so leicht wäre, glaube ich. Verflixt, diese alberne Mütze ist grausig und kratzt!“ Er kratzte sich genervt am Kopf und rückte seine Wollmütze zurecht. Die Mütze war eine Kuriosität an sich, furchtbar gestrickt und mit einem albernen Bommel oben drauf. „Ich hasse die Mütze,“ erklärte Kannar seinem Freund bedauernd, „Meine große Schwester hat sie gemacht, ich trage sie nur, weil ich meine Schwester nicht verletzen will, ich hoffe, sie lernt bald ordentlich stricken und macht mir eine bessere.“ Puran gluckste. „Ich hab keine große Schwester, die für mich strickt,“ meinte er, „Meine Cousine ist noch zu klein zum Stricken, die veräppelt nur alle und tut so, als könne sie nicht sprechen.“ „Wie seltsam.“ Die Unterhaltung der beiden wurde unterbrochen, als plötzlich lautes Lachen ertönte und sie herum fuhren. Puran war es schon gewohnt, dass die Leute lachten, und glaubte zuerst, sie meinten ihn, aber als er sich umdrehte, sah er auf einer Mauer seinen dicken Banknachbarn sitzen, vor dem zwei andere Jungen aus der Klasse blöd gackernd herum rannten, der eine hatte ein Stück Brot in der Hand. „Komm doch her, Dicker, und hol's dir zurück!“ grölte er dabei, ehe er johlend davon rannt, quer über den Hof, „Fang mich doch, hol dein Brot, Klopsi!“ „Das ist gemein!“ jammerte der Dicke unglücklich und fuhr sich furch die blonden Haare, „Gib mir mein Brot zurück, iss dein eigenes!“ „Du musst es dir schon holen!“ gackerte der andere und rannte weiter, sein Freund lachte mit und folgte ihm. „Genau, fang uns doch, Klopsi!“ „Wieso seid ihr so hässlich zu mir, ich hab euch doch gar nichts getan!“ beschwerte Klopsi sich gekränkt. „Weil du, öh, fett bist!“ gluckste der eine, und der andere lachte: „Genaaau! Und weil du nie zaubern kannst, weil du gar kein Magier bist, haha!“ „Genau, du Verlierer!“ Puran und Kannar sahen sich an. In dem Moment rannten die beiden Spaßvögel an ihnen vorbei, und ohne lange nachzudenken packte Puran den mit dem Brot, zerrte ihn am Ärmel seiner Jacke zurück und schubste ihn zu Boden, dabei zog Kannar ihm das Brot aus der Hand. Der Junge am Boden fing an zu schreien und zu plärren. „Ihr Drecksäcke!“ schrie er, „Ihr Missgeburten, ihr Monster!“ „Euretwegen hat Mabi sich das Genick gebrochen!“ flennte der zweite mit, „Ihr Schweine!“ „Wenn er sich das Genick gebrochen hätte, wäre er tot, du Volldepp,“ machte Kannar, der als Sohn des Apothekers natürlich Bescheid wusste. „Selber Volldepp!“ brüllte der Idiot namens Mabi Kannar an, „Mein Vati macht deinen sowas von fertig, das sag ich dir! Er schmeißt euch aus Gahti, aber wirklich!“ Mabis Vater war niemand Geringres als der Dorfvorsteher von Gahti. Als er so schimpfte, wurde Kannar tatsächlich ganz klein mit Hut und sagte plötzlich kein Wort mehr. Puran beachtete ihn nicht. „So ein Heckmeck, ist das ein Grund, anderen ihr Brot zu klauen?“ empörte er sich, „Wirklich sehr komisch!“ „Bleib fern, Monsterkind!“ schnaubte Mabi und rappelte sich hoch. Sein Kumpel versteckte sich sicherheitshalber hinter ihm, aber der Sohn des Dorfoberhauptes gab nicht klein bei. „Ich habe keine Angst vor dir, Puran, spiel dich nicht so auf!“ Puran spuckte ihm vor die Füße. „Ach, wirklich? Gut, du hast es nicht anders gewollt…“ Und plötzlich riss er die Arme in Mabis Richtung empor und brüllte: „ICH BRATE DICH MIT EINEM BLITZ!“ Wie erwartet kreischten Mabi und sein Kumpel panisch auf und rannten davon und um die Ecke des Gebäudes. Kannar lachte kurz. „Geschieht ihm recht!“ bemerkte er nickend, „So ein Idiot.“ Puran ließ die Arme sinken. Natürlich hätte er nie wirklich einen Blitz gerufen, davon abgesehen, dass er das gar nicht konnte dank der Medizin von Tante Keisha. Aber das wusste Mabi ja nicht… „Wir sollten das Brot zurück bringen,“ sagte er darauf zu Kannar, „Vergessen wir die Deppen.“ Der dicke Banknachbar druckste nervös herum und lachte dämlich, als er sein Brot wieder hatte. „Äh, v-vielen Dank!“ sagte er dann, „I-ihr wart so schnell, das ist Wahnsinn, ich hätte den nie im Leben schnappen können! Ihr seid große Klasse, a-alle beide! Danke!“ „Kein Problem, die Idioten haben doch nicht alle Tassen im Schrank,“ meinte Puran verblüfft. „Du bist Travidan, oder?“ „Nennt mich Travi,“ grinste der Dicke, „Ich stehe in eurer Schuld, ihr habt mein Leben gerettet!“ Kannar schaute komisch. „Jetzt übertreibst du aber, es war nur ein trockenes Brot…“ „Es war Essen!“ empörte Travi sich erschrocken, dass der Braunhaarige das nicht zu würdigen wusste, „Essen ist mein Leben!“ „Ah ja,“ machte Kannar gedehnt und verwundert von so viel Elan wegen eines Brotes. „Ohne Brot verhungern wir doch!“ sagte Travi verblüfft. „Sicherlich, aber ohne das eine Brot wärst du sicher nicht verhungert!“ „Doch…“ Er sah fragend auf Puran. „Du verstehst mich doch?!“ Der Junge blinzelte überrascht. „Was, ich? Äh, klar, also – ja, wieso nicht…?“ Er kratzte sich verwirrt am Kopf und Kannar jubelte plötzlich, worauf die zwei anderen ihn ansahen. „Merkt ihr das? Wir werden immer mehr, die von den anderen geärgert werden, wir gründen bald unser eigenes Dorf!“ „Oh ja,“ sagte Travi, „Das ist eine gute Idee. Und Mabi und die anderen Deppen dürfen nicht hinein, ätsch!“ „Ja, wir sind voll gut im Rennen, wenn ich groß bin, werde ich Apothekenbesitzer, ich kann euch dann Hustensaft und so verkaufen, Travi wird Müller wie sein Vater und macht uns Mehl für Brot, und Puran wird Standhalter und wird unser Chef, genau!“ „Statthalter!“ korrigierte Puran seinen Freund erstaunt. „Wie toll, jetzt müssen wir nur noch den Sohn eines Bäckers auftreiben, der uns Brot macht aus meinem Mehl,“ machte der Dicke zustimmend nickend. „Und solange wir kein Brot haben, gehe ich jagen,“ entschied Puran grinsend, „Bis ich groß bin, kann ich das so gut wie mein Vater, dann ist es gut.“ „Bringt der dir wirklich richtig Jagen bei?“ staunte sein Freund Kannar erneut, und Travi war ebenfalls neugierig. „Ich meine, so richtig…? Das ist total klasse, ich wünschte, mein Vater könnte mir das auch beibringen!“ „Ram macht das schon ganz allein,“ schnaubte Puran, „Der erlegt schon ganz alleine Rehe im Wald, da werde ich es wohl auch können. Du sicherlich auch, soll ich Vati mal fragen, ob ich dich mitnehmen darf? Er hat sicher nichts dagegen.“ „Das wär total klasse!“ rief der Heilerjunge aufgeregt und er zerrte den neu dazu gewonnen Freund Travi am Ärmel, der an seinem Brot kaute, „Kommst du auch mit?“ „Ich?“ mampfte der Junge, „Ich kann nicht rennen, das ist nichts für mich!“ „Das bringen wir dir schon bei, ist nicht schwer,“ gluckste Kannar zuversichtlich, „Du gehörst doch jetzt zu unserem tollen Dorf! – Sag mal, Puran, wie nennen wir das Dorf dann? Du bist der Chef, dann heißt es eben Puran-Dorf.“ „Quatsch!“ empörte der Schamane sich, „Wir… nennen es…“ Er grübelte und sah dabei abwechselnd Kannar und Travi an; dann hatte er keine Lust mehr, nachzudenken. „Wir nennen es Brot, so.“ „Brot?!“ rief Kannar. „Oh ja, herrlich!“ grölte der Blonde begeistert. „Puran, wir können ein Dorf nicht Brot nennen… wir könnten den Namen ja etwas abändern!“ „Brot ist gut!“ sagte Travi, „Nicht ändern.“ „Na gut, wir nennen es Broti,“ bestimmte Puran, „Und wir sollten Brot ehren, wir haben durch Brot einen neuen Freund bekommen und außerdem kann man es essen, Brot verdient viel Ehre! Deswegen nennen wir das Dorf nach Brot, und damit es nicht so seltsam klingt, heißt es Broti.“ „Ja, das ist gut. So machen wir es.“ Jetzt war Winter, im Winter war nicht die richtige Zeit zum Jagen. Die meisten wilden Tiere hielten Winterschlaf oder verkrochen sich die meiste Zeit des Tages in ihrem Unterschlupf. Als im Wintermond Schnee über Dokahsan fiel, hatte sich das Thema komplett erledigt. „Rehe bleiben vielleicht hier oben und ernähren sich von Baumrinde,“ erklärte Tabari, „Aber die großen Herden ziehen während der Schneezeit fort und kehren im Frühjahr zurück, um ihre Jungen zu gebären, wenn das Land wieder grün ist.“ Vor ihm saßen jetzt drei sehr andächtige und aufmerksame kleine Jungen und sahen ihn gespannt an. „Und was machen wir dann jetzt, Vati?“ fragte einer von ihnen, der sein Sohn war, und Tabari nahm seinen Speer und klopfte gegen den Schaft. „Lernen, wie man Speere macht, denn ohne Speer ist das Jagen mühsam. Für uns Magier allerdings gibt es immer die Ausweichmöglichkeit, mit Schneidezaubern zu werfen, aber das ist nicht gut, das vergeudet so viel Blut und ist schmerzhafter für die Beute.“ „Wozu macht man es dann?“ wunderte Kannar sich, der neben seinen beiden Freunden auf dem Boden der Stube von Lyras Anwesen hockte. Travi war viel zu beschäftigt damit, sich umzusehen in dem riesigen Raum mit all seinen uralten Verzierungen, der edlen Aufmachung und den teuren Möbeln, die sich sein Vater vermutlich nicht mal leisten könnte, würde er seine komplette Mühle verkaufen. „Als Notlösung, wenn man seinen Speer nicht mehr hat und ein wilder Büffel genau auf einen zu rast, kann man sich mit so einem Zauber das Leben retten,“ meinte Tabari, „Als ich klein war, ist mir das mal passiert, ich wäre beinahe von den Hörnern des Büffels aufgespießt worden, an jenem Tag hat mir meine Katura das Leben gerettet.“ „Katura?“ fragte Travi verpeilt, und Kannar gluckste. „Der Windzauber unter den Grundzaubern,“ erklärte er, „Es gibt einen Schneidezauber, Sura, aber Katura funktioniert, wenn man es gut beherrscht, stärker als Sura. Kommt darauf an, in welchem Element man begabt ist; bei mir als Heiler ist das an sich egal, ich soll ja im Heilen begabt sein, aber für Schwarzmagier ist das sehr wichtig.“ Puran zog die Beine an und machte ein verbiestertes Gesicht. Kannar kannte sich gut aus mit Magie. Er hasste das Thema, er redete nie über Zauber. Er wollte schließlich selbst nicht zaubern, es war ihm völlig egal, was die anderen von Elementen redeten. Nein. Wenn ich anfange, zu zaubern, werde ich letztlich doch ein Monster wie Großvater! Das darf ich niemals zulassen… ich werde nie im Leben Magier sein! schwor er sich verbiestert. Tabari wechselte das Thema weniger deswegen, weil sein Sohn es nich mochte, sondern mehr wegen Travi, der als Nichtmagier damit nicht anfangen konnte. Er warf jedem Jungen einen kleinen, hölzernen Stab zu. „Ihr seid noch nicht stark genug, einen richtigen Speer wie meinen zu tragen oder zu werfen, die Dinger sind sehr schwer und es erfordert viel Kraft im Arm. Solange ihr noch Kinder seid, bekommt ihr eine Art Kinderspeere, nenne ich es mal. Eure Schäfte sind etwa halb so lang wie meiner.“ „Das ist total aufregend,“ freute sich Kannar und fing an, im Sitzen hin und her zu wackeln, „Aber wir haben keine Spitzen!“ „Eine Speerspitze zu machen ist ein großes Stück Arbeit, Jungs,“ belehrte Tabari die drei ernst, „Wir üben das über den Winter, wo wir ohnehin nichts anderes zu tun haben.“ Kannar und Travi waren zum ersten Mal im Lyra-Schloss an jenem Tag. Nalani war sehr glücklich darüber, dass ihr Kind doch Anschluss in der Schule gefunden hatte und Freunde mit nach Hause brachte. „Stell dir einmal vor, was Kelar gesagt hätte, würde er noch leben,“ sagte sie zu Sukutai, mit der sie in der anderen Stube saß und Tee trank (wobei sie selbst Kaffee aus Yiara trank). Alona krabbelte vor sich hin brabbelnd um den Sessel herum, auf dem ihre Mutter saß, und noch jemand saß bei den Frauen – das Dienstmädchen, das vor einigen Wochen ein gesundes Kind zur Welt gebracht hatte. Das Baby lag in einem kleinen Korb, den Nalani der Frau geschenkt hatte, neben dem Sofa. In dem Korb hatte Puran auch einst geschlafen, das niedliche kleine Baby der Dienerin durfte ihn jetzt haben. „Was?“ machte Sukutai, und Nalani seufzte. „Kelar wollte Puran doch zu seinem ultimativen Erben erziehen, und was bringt der Junge nach Hause? Einen Nichtmagier und einen Heiler, Kelar hätte diese Freunde sicher nicht gut geheißen.“ „Und auch nicht, dass wir mit einer Dienerin Kaffee trinken,“ grinste Sukutai, worauf die Dienerin erschrak. „Keine Angst, wir haben dich gern bei uns! Wir Mütter müssen doch zusammenhalten! Wenn dein Söhnchen älter ist, kann es mit Alona und Puran spielen. Nicht, Alona? Du spielst dann mit dem Dienerkindchen.“ Alona hörte auf, zu krabbeln, erhob sich und sah auf das Baby im Korb. „Na ja,“ sagte sie arrogant, und die Frauen fingen an zu lachen. „Alona… was heißt denn hier Na ja?“ hakte Sukutai streng nach, „Sieh mich bitte an.“ „Na ja,“ wiederholte das Mädchen störrisch und sah die Mutter aus ihren grünen Augen an. „Ich spiel‘ nicht mit Jungs.“ „Ach, pfui,“ sagte Sukutai entrüstet, während Nalani und die Dienerin wieder kicherten und letztere allen neuen Tee oder Kaffee einschenkte. Vom Flur her ertönte lautes Lachen und viel Gepolter, was die Frauen aufsehen ließ, und Alona rannte plötzlich johlend zur Tür, weil sie wusste, dass ihr Cousin und seine neuen Freunde nach oben kamen. „Ah, wie war das, sie spielt nicht mit Jungs?“ murmelte Nalani, „Na, was in ein paar Jahren daraus wird, wissen wir ja.“ „Wir müssen unbedingt Pläne schmieden für unser Broti,“ sagte Kannar wichtig, während er mit den zwei anderen die Treppe hinauf polterte. Da sie nicht den ganzen Tag über Speerspitzen machen konnten, gönnte der Hausherr ihnen eine Spielpause; sie waren ja noch Kinder. „Wir haben immer noch keinen Bäckersohn gefunden,“ seufzte Puran, „Aber hört mal, unser Küchenjunge ist jetzt Vater, dem seinen Sohn könnten wir nehmen, der kann ja von seinem Vater lernen, wie man die Küche macht, da lernt er bestimmt auch backen.“ „Unser Küchenjunge?“ staunte Travi, „Ihr habt einen richtigen Diener, einen lebenden?“ „Was denn sonst, die Torfkopf, einen toten etwa?“ schnaubte Kannar. „Du liebe Güte, ihr habt einen echten, lebenden Diener, kann er auch sprechen?“ Puran lachte blöd. „Äh, natürlich…?! Wir haben viele Diener…“ „Habt ihr es gut, ich bin meinem Vater sein Diener,“ stöhnte Travi, „Ich muss immer Mehlsäcke ziehen und so! Kann ich einen von euren Dienern haben?“ „Vielleicht, ich frag Mutti nachher mal – aber an sich gehören die Diener meiner Großmutter, ich müsste sie fragen, ob sie einen abgeben mag. Aber meine Großmutter kann gerade nicht, die hat auch Besuch.“ „Ach, Mist,“ seufzte Travi, „Dann fragen wir sie später. – Nanu, wer ist denn das?“ Er zeigte nach vorn, wo Alona auf die Jungen zu getrottet kam. „Meine Cousine,“ seufzte Puran, „Sie ist zwei und heißt Alona!“ „Was spielt ihr?“ fragte Alona ihren Cousin strahlend, als sie bei den Jungen ankam. Kannar klärte sie auf: „Wir spielen nicht, wir halten Rat über unser neues Dorf Broti.“ „Broti?“ „Ja, wie Brot.“ „Ihr könnt ein Dorf nicht Broti nennen,“ behauptete Alona. Puran schob sie weg von seinen Freunden. „Spiel allein, in Broti dürfen keine Mädchen wohnen,“ sagte er, „Oder?“ Kannar und Travi waren ganz seiner Meinung. „Genau, das wird ein Jungsdorf,“ sagte Kannar wichtig, „Wenn du dich in einen Jungen verwandeln kannst, kannst du auch da wohnen.“ Alona grübelte. „Nee, das geht gar nicht,“ bemerkte sie schlau. „Ja, deswegen ja.“ Kannar gluckste und die zwei anderen lachten, bevor sie das kleine Mädchen stehen ließen und davon rannten. Ehe er ging, tätschelte Puran seiner kleinen Cousine tröstend den Kopf. „Wenn ich Geburtstag habe, darfst du mich mal besuchen,“ versprach er, „Nicht weinen, Alonachen.“ Sie schmollte und stierte ihn grimmig an. „Zu meinem Geburtstag darfst du nie wieder kommen!“ brüllte sie dann verärgert, ehe sie zurück zu ihrer Mutter stampfte. Ach, wie dramatisch. „Und?“ Zoras Chimalis drehte argwöhnisch den Kopf in Richtung des Fensters, vor dem die Vorhänge zugezogen waren. Die schweren, alten Vorhänge tauchten das Schlafzimmer in ein trübes Dämmerlicht. Er lag nackt auf dem Bauch im Bett und drehte den Kopf zu seiner hübschen geliebten, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob und daran zog. Salihah saß aufrecht an ihr Kissen gelehnt neben ihm und trank aus ihrem Glas ihre ewige Medizin, bis er ihr genervt das Glas aus der Hand zog. „Hör auf, dich zu zu dröhnen, und antworte lieber. Hast du was gesehen, Salihahchen?“ „Nimm mir nie, hörst du, nie mein Laudanum weg!“ schnappte sie verärgert und griff nach dem Glas, das er ihr abermals vor der Nase wegzog und sie dabei grimmig ansah. „Du kannst es haben, wenn du was gesagt hast, sei nicht so verantwortungslos. Ich habe kein gutes Gefühl.“ „Du hast nie ein gutes Gefühl!“ schnaubte sie ärgerlich und riss ihm dann im Gegenzug die Kippe aus dem Mund, worauf er hustete. Sie zog selbst an seiner Zigarette, zog die nackten Beine an und lehnte den Kopf stöhnend in den Nacken, als sie den Rauch in die Luft pustete. „Doch manchmal hab ich das,“ entgegnete er mit einem zweideutigen Grinsen, und als sie ihn anlinste, wurde das Grinsen und breiter und er beugte sich herüber, um ihren nackten Oberschenkel zu küssen. Sie schlug ihm gegen die Stirn. „Geh weg und schleim dich nicht ein, du Lustmolch, gib mir meine Medizin, dann kriegst du deine Zigarette zurück.“ „Behalt die Kippe, ich hab genug,“ grinste er feixend, Salihah brummelte etwas Unverständliches vor sich hin. „Respekt gegenüber älteren, Zoras Chimalis,“ warnte sie ihn, „Ich bin immer noch älter als du und das ist mein Bett, benimm dich.“ „Habt ihr in diesem Bett Tabari gezeugt?“ „Nein, das war unter einem Feigenbaum in der Pampa. Wir waren auf dem Weg an die Front und da überkam es uns, oder besser gesagt mich, da haben wir es in einem Gebüsch getrieben.“ „Eben war es noch unter einem Feigenbaum,“ machte er verdattert. „Das Gebüsch war unter einem Feigenbaum.“ Zoras räusperte sich. Dann verdrängte er die unsinnigen Gedanken an Kelar, in dessen Bett er jetzt unverschämt bei seiner Frau lag. Während sie stur seine Zigarette rauchte und er ihr Laudanum weg stellte, wurde er wieder ernst. „Rede mit mir,“ verlangte er und rollte sich auf die Seite, um mit ihren langen, schönen Haaren zu spielen. „Was siehst du, Salihah?“ „Nichts,“ murmelte sie mit noch immer in den Nacken gelehntem Kopf, wobei sie Rauch ins Zimmer blies. „Ich spüre dasselbe Unheil wie du, aber mein Augenlicht wird schlechter.“ „Das wird es seit Jahren,“ sagte er verblüfft. „Und du bist noch nicht blind.“ „Ich dachte, mit Kelars Tod würde sich alles ändern,“ gestand sie, „Ich habe mich geirrt. Das ist selten vorgekommen in meinem Leben und deswegen nagt es extrem an mir. Ich bin stolz und perfektionistisch, Liebster… ich kann mir keine Irrtümer leisten. Noch immer… ist diese Unruhe da…“ Zoras sagte lange nichts. Er spielte nur mit ihren Haaren, bis sie die Kippe auf einem Teller auf dem Nachttisch neben sich ausdrückte und sich wieder hinlegte, sich an seine nackte Brust kuschelnd. Sie genoss die vertraute Wärme, seine sanfte Umarmung und das Gefühl seiner Lippen, die ihr Ohr kitzelten, als er sie dort küsste. „Denmor ist wie vom Erdboden verschluckt,“ meldete er dann, und die Frau sah vorsichtig hinauf in sein hübsches Gesicht. Er sah immer noch jung aus, aber seine Züge waren härter und ernster geworden. Es war so viel geschehen, seit sie ihm zum ersten Mal so ins Gesicht gesehen hatte… damals war er noch ein Junge gewesen und hatte sie fassungslos angestarrt, während sie sich ausgezogen hatte, sich über ihm bewegt hatte, um das Feuer zu entfachen und seine allererste Flamme zu schüren. Es waren schöne, so ferne Erinnerungen, und es kam ihr vor, als wäre sie plötzlich um Jahrhunderte gealtert und all das so weit weg, so lange her… „Besorgt dich Denmor, Liebster?“ fragte sie sanft und begann, seine Brust zu streicheln und seinen Hals zärtlich zu küssen. Er seufzte. „Ich hatte böse Träume… ich dachte manchmal, Denmor zu sehen, aber es war so schnell vorbei, dass ich es nicht wirklich sehen konnte. Die Geister sind unruhig, es ist, als… wäre Kelars Regime noch nicht vorüber, obwohl er tot ist. Und als erster fiel mir da Denmor ein… ich habe mit Minar gesprochen, neulich, an Meorans Prüfung, Minar hat von Denmor nichts gesehen oder gehört, und auch kein anderer des Clans. Irgendetwas haben wir übersehen, fürchte ich, aber ich weiß nicht, was.“ „Und Denmor hat damit zu tun?“ fragte die Frau, „Das glaube ich kaum. Nalani hatte neulich einen seltsamen Traum von brennenden Himmeln, aber kein Denmor.“ „Nalanis Sehkraft ist sehr weitsichtig,“ murmelte er bei sich, „Sie hat sehr gute Augen.“ Salihah sagte nichts und streichelte eine Weile sanft weiter seinen Oberkörper. Dann durchfuhr es sie wie ein Blitz und sie fuhr hoch, keuchte etwas und fasste nach ihrem pochenden Schädel. „W-was ist denn?“ wunderte er sich besorgt und setzte sich auch auf, als sie stöhnend nach ihren Schläfen griff. „Diese Kopfschmerzen bringen… mich um!“ japste sie mit seltsam belegter Stimme, und sicherheitshalber holte er ihr die Medizin zurück, die sie sich in den Rachen kippte und ihn dann aus glasigen Augen anstarrte. „Schick deine Späher aus… um Denmor zu suchen!“ verlangte sie dann, „Wenn es noch nicht vorüber ist, wenn wir irgendetwas verpasst haben, was die Geister uns nicht anvertrauen wollen, aus Denmor kriegen wir es heraus, egal, wie lange ich ihn foltern muss, ich werde ihn zum Reden bringen!“ „Foltern?“ machte ihr Liebhaber verblüfft. „Ich reiße ihm Arme und Beine aus und breche ihm alle Rippen, ich stelle seine Füße in kochendes Wasser und verbrenne ihm die Augen mit Säure, ich mache alles, was mir möglich ist, und das ist eine Menge… und unter brutalen Schmerzen wird dieser Mehlwurm mir zu Füßen kriechen und freiwillig alles ausspucken, was er von Kelar weiß… das schwöre ich, Zoras!“ Er seufzte und griff nach seiner Kleidung am Boden, um eine schwarze Feder heraus zu holen und sie mit einer flüchtigen Handbewegung in die Luft zu werfen, worauf sie sich auflöste. „Wie du willst, Seherin,“ sagte er dazu, „Du willst Denmor, du sollst ihn haben. Und er wird nicht nur kriechen, er wird nicht fähig sein, sich zu rühren vor Ehrfurcht.“ Vom Dach des Schlosses aus flatterte eine Schar Krähen auf und verteilte sich in alle Himmelsrichtungen, um davon zu fliegen. Während des heftigsten Schneefalls im Hungermond wurde die Schule kurzfristig geschlossen. Gahti war ein ordentliches Dorf und die Leute schippten pausenlos Schnee von den Straßen, aber andere Dörfer waren komplett eingeschneit und viele Kinder könnten gar nichts zur Schule gelangen, deswegen hatte man beschlossen, erst im Neujahrsmond mit dem Unterricht fortzufahren. Und die Kinder freuten sich über die freie Zeit. Oder auch nicht, wenn sie Schnee schippen helfen mussten. Als Puran zum ersten Mal Kannar in Gahti besuchte, brachte Nalani ihn am Mittag hin. Er hätte den Weg natürlich auch allein gefunden, aber die Frau fürchtete, er könnte auf der Landstraße im Schnee versinken. Tatsächlich wurden die zwei auf dem Weg durch das kleine Wäldchen beinahe von Schnee erschlagen, der plötzlich aus den Bäumen fiel, zum Glück warnten Nalanis Instinkte sie frühzeitig und sie konnte den fallenden Schnee mit einem Feuerzauber in der Luft verschwinden lassen. „Großartig, Mutti!“ lobte Puran sie begeistert von der Reaktion, und sie seufzte. „Wenn du groß bist, kannst du das auch.“ Er dachte nach und ihm fiel ein, dass er nie Magier werden wollte, deswegen protestierte er schnaubend: „Nein, ich nicht, niemals!“ Nalani antwortete nicht; sie wusste nicht, was er für eine Macke hatte mit dem Zaubern, es würde sich mit der Zeit schon geben, spätestens dann, wenn alle seine Klassenkameraden zaubern konnten würde er es auch lernen wollen, da war sie sicher. Er war erst sechs und noch zu jung zum Zaubern. Die Apotheke in Gahti, wo Kannar wohnte, war nicht weit von der Schule. Als Nalani klopfte, öffnete Kannar überschwänglich die Tür und grinste. „Hallo!“ begrüßte er seinen Freund und seine Mutter, „Schön, dass ihr da seid! Kommt rein!“ „Bitte, Kannar,“ ertönte eine genervte Männerstimme aus der Nähe, „Sag bitte, kommt doch bitte herein, ungezogener Bengel!“ Puran kicherte, während sein Freund errötete und Bitte nuschelte, ehe er Puran eintreten ließ. Nalani war im Begriff, wieder zu gehen; sie hatte ihn her gebracht und wurde nicht mehr gebraucht. Aus dem Raum neben der Tür kam ein Mann mittleren Alters, offenbar Kannars Vater, Herr Chipo. Der Heiler verneigte sich bei Nalanis Anblick. „Eine überaus große Ehre, Frau Statthalterin,“ begrüßte er sie, „Kannar, bittest du die Dame eventuell auch herein, statt mit deinem Freund abzuhauen?!“ „I-ich, hab ich doch, ich meine, äh, entschuldige, Vati…“ machte der Kleine erschrocken, Nalani winkte ab. „Schon gut, vielen Dank. Ich wollte ohnehin gehen, ich habe nur meinen Sohn her gebracht, ich hole ihn später wieder ab.“ „Doch nicht so viel Mühe!“ Kannars Vater lachte nervös, „Ich sorge dafür, dass Euer Sohn heil heim kommt, ich bin sicher, Kannar bringt ihn gern nach Hause. Oder, Kannar?“ „Und wer bringt dann ihn nach Hause im Dunkeln?“ machte Nalani verblüfft, „Das ist für mich doch keine Mühe, und nennt mich nicht Statthalterin, mein Mann ist Statthalter.“ „Und der Herr der Geister,“ addierte Herr Chipo verdutzt, „Und Ihr als Königin der Geisterjäger verdient unseren allerhöchsten Respekt, Herrin. Unser Haus ist sehr bescheiden und ich kann nicht viel anbieten außer einer Tasse Tee, aber es wäre mir eine Ehre.“ Nalani blinzelte. Was hatte dieser Typ denn für Minderwertigkeitskomplexe? Sie räusperte sich peinlich berührt von so viel Ehrerbietung; nach dem, was Kelar mit dem Land angestellt hatte, fühlte sich Respekt vom Volk falsch und schändlich an… sie willigte dennoch ein, eine Tasse Tee anzunehmen, was dem Apotheker offenbar eine große Freude machte. Ein kleines Mädchen mit Flechtezöpfen servierte artig den Tee. „Meine Tochter, Akila,“ stellte der Mann das Kind vor, „Kannars ältere Schwester.“ Nalani nickte und dankte der Kleinen lächelnd für den Tee. Das Kind strahlte ob des Dankes, sagte aber nichts und senkte ehrfürchtig den Kopf. Irgendetwas war an dieser Familie durchaus seltsam, fand die Geisterjägerin verwundert. Am Nachmittag schneite es. Nalani war längst wieder gegangen, als Kannars Vater die Kinder rief. „Der Schnee hat aufgehört, wir können jetzt Schnee schippen,“ erklärte er, „Akila, hol Mutti aus der Waschküche, wenn wir alle mithelfen, geht es schneller.“ „Wieso müssen wir jetzt sofort Schnee schippen?“ wunderte Puran sich verhalten, sein Freund seufzte. „Der Dorfchef verhaut uns, wenn wir nicht die Straße vor unserem Haus frei schippen, sagt Vati, deswegen erledigen wir es immer sofort nach dem Schneefall. – Aber, Vati, ich habe doch besuch, können wir nicht heute frei machen?“ „Unsinn, du kommst mit!“ empörte sich der Vater, „Puran ist Gast, der muss natürlich nicht. Wäre ja noch schöner, ihn arbeiten zu lassen.“ Puran seufzte. „Aber dann komme ich mir nutzlos vor, ich helfe gern, dann geht es schneller…“ „Kommt nicht in Frage,“ machte der Vater, „Du könntest dich draußen erkälten, was soll deine Mutter von uns denken, wenn sie erfährt, dass wir dich arbeiten lassen wie einen Sklaven?“ „Aber…“ „Nichts aber, bleib hier drinnen, hier hast du es schön warm. Wir sind ja gleich zurück, keine Sorge.“ Er lächelte freundlich und Puran blieb nichts anderes über, als zu gehorchen, obwohl er sich schlecht fühlte, seinem Freund nicht helfen zu können. Kannar zuckte die Achseln, während die Familie sich anzog und hinaus marschierte. In der Tür hörte Puran Kannars Schwester mit ihrem Vater sprechen. „Das ist alles so ein Aufwand, wieso lässt du Kannar nicht einfach Mabis Freund werden, damit dieser Streit mit dem Vorsteher sich erledigt, statt dich bei der Frau des Statthalters einzuschleimen, damit die den Chef verhaut, wenn er wieder droht, uns rauszuwerfen?“ „Sei still, undankbares Mädchen!“ schnaubte der Mann erbost und schlug ihr gegen den Hinterkopf, „Hinaus jetzt! Als würde ich deinen Bruder mit diesem Dummkopf Mabi spielen lassen, der bricht ihm doch eher die Knochen als dass er sein Freund würde!“ Dann fiel die Tür ins Schloss. Puran verstand das Theater nicht, während er aus dem Küchenfenster sah und die anderen beim Schippen beobachtete, Was hatte die Schwester damit gemeint, ihr Vater würde sich bei seiner Mutter einschleimen? Und was hatte das mit Mabi zu tun? Als er Kannar danach fragte, war der erstaunlich wütend, während die beiden Jungen zusammen mit Kannars großer Schwester Akila durch das Dorf zum Zentrum gingen. Die Mutter hatte ihnen Geld mitgegeben, damit sie neues Brennholz kauften, das im Zentrum auf einem Haufen lag und dort verkauft wurde. „Mein Vater schleimt sich bei niemandem ein!“ empörte der kleine heiler sich, „Er ist zwar kein Standhalter, aber er ist ein guter Mann!“ „Schrei nicht so!“ rief Akila, „Und du machst dein Maul auf, Kannar, du freust dich nur, einmal nicht nutzlos für die Familie zu sein!“ „Wovon redet ihr, wieso denn nutzlos?“ fragte Puran völlig verwirrt. Die Geschwister waren seltsam… eigentlich war Kannars ganze Familie seltsam. Irgendetwas passierte hier, das er nicht wusste und nicht verstand. Sein Freund biss sich auf die Oberlippe und sagte nichts auf die Frage. „Was ist, Kannar?!“ fuhr Puran ihn genervt an, „Du bist so komisch, seit ich hier bin, stimmt was nicht? Du bist doch sonst nicht so!“ Er wünschte sich, Travi wäre da, um ihm zuzustimmen. Leider war die Mühle seines Vaters auch eingeschneit, deswegen konnte der Dicke das Haus nicht verlassen. „Von wegen komisch!“ schnaubte Kannar beleidigt und sah erzürnt auf seine große Schwester, „Das alles nur, weil du Unsinn redest, Akila!“ „Gar nicht wahr!“ empörte sich das achtjährige Mädchen und schubste ihren Bruder in den Schnee. Darauf half sie ihm aber wieder auf die Beine und entschuldigte sich. „Ich wollte dich nicht schubsen, ich… bin nur wütend, ich finde es nicht gerecht.“ Kannar schmollte und sein Freund sagte nichts mehr. Akila wandte sich ihm zu. „W-weißt du, es ist alles wegen des Dorfvorstehers, der Vater von Mabi-… w-was machen die denn da vorne?!“ Sie unterbrach sich und zeigte keuchend nach vorn, worauf die Jungen herum fuhren. Sie hatten den Marktplatz erreicht, an dem das Brennholz verkauft wurde – oder was davon übrig war, denn auf dem Haufen waren nur noch drei Scheite. Zwei kleine Jungen waren dabei, viel Holz in eine Schubkarre zu hieven. Als die drei Neuankömmlinge näher hinsahen, erkannten sie den Rabauken Mabi und seinen Kumpel. „Was ist denn hier für ein Radau?“ fragte Akila entrüstet, als sie mit den kleinen Jungen am Haufen ankam, „Ihr seid wohl bescheuert, so viel Holz auf einmal zu kaufen und nichts für die anderen Bewohner übrig zu lassen, Mabi?!“ Der Junge drehte sich um und feixte. „Aah, die Apothekerskinder!“ sagte er, „Und das Monsterkind, uuh…“ „Sollen wir mit drei Scheiten heizen?!“ fragte Kannar ihn empört und packte ihn schon am Kragen, seine Schwester zerrte ihn aber wieder zurück. „Nicht schlagen!“ „Tss, ich bin Sohn des Dorfoberhauptes, ich kaufe Holz, so viel ich will. Weißt du was, ich kauf die drei letzten auch noch…“ Er gackerte blöd und bezahlte den Holzfäller, der den Kindern nur verwundert beim Streiten zusah. Mabi und sein Kumpel stapelten auch die letzten drei Scheite auf die Karre. Kannar schnappte nach Luft. „Das ist nicht nur gemein, das ist verboten!“ rief er, „Wenn wir nicht heizen können, erfrieren wir nachts, ihr braucht doch gar nicht so viel Holz!“ „Klar brauchen wir das, je wärmer, desto besser,“ kicherte Mabi, „Vati hat gesagt, ich soll genug mitbringen, dass es eine Weile reicht.“ „Und der Rest des Dorfes ist euch egal?! Dein Vater ist Chef des Dorfes und muss dafür sorgen, dass es allen gut geht,“ behauptete Akila richtig, „Statt ihnen das Holz zu klauen!“ Puran schaltete sich auch ein: „Hast du Idiot nicht gelernt, dass man Mutter Erde nur das nehmen soll, was man wirklich braucht? Nur, weil du es schön warm haben willst, kannst du nicht anderen das Holz klauen, die ohne vielleicht nicht den Winter überleben!“ Mabi packte den letzten Scheit weg und hob grinsend den Kopf. „Ach ja? Willst du was sagen, Monsterkind? Wo dein Großvater allen noch mehr weggenommen hat als drei Scheite Holz…?!“ Puran erstarrte und fuhr zurück. Augenblicklich dachte er an das Reh und den Wald… und Ram Derran, der am Boden kauerte mit weit aufgerissenen Augen. „Nehmt es mir nicht weg… w-wir brauchen doch etwas zu essen…!“ „Alle Rehe gehören uns, wir sind die Herrscher des Landes!“ Er trat heftig atmend rückwärts. Mabi lachte. „Ah, da kommt die Erkenntnis? Etwas spät, hast du jetzt begriffen, was für eine Scheißfamilie ihr seid?! Und die, die mit euch befreundet sind, sind doch genau solche Missgeburten…“ „Hört schon auf!“ mischte Akila sich unglücklich ein, „Mabi, kannst du uns nicht etwas Holz verkaufen? Bitte, wir erfrieren sonst!“ „Mal nachdenken… nein,“ sagte der Sohn des Oberhauptes frech, er und sein Freund fingen lauthals zu lachen an. „Ist doch gut, dann muss Vati euch nicht mehr rausschmeißen, weil ihr nur Ärger macht, sondern ihr geht freiwillig aus Gahti!“ „Niemals!“ empörte Kannar sich, „Eher ziehe ich dir die Haut ab, du unhöflicher, mieser Dreckskerl!“ „KANNAR, NICHT!“ kreischte Akila, doch zu spät, denn die Jungen fingen schon an, sich zu schlagen. Mabis offenbar stummer Freund griff ihm natürlich unter die Arme. Das Mädchen versuchte verzweifelt, einen Moment zu finden, um dazwischen zu gehen, während sich die drei im Schnee kugelten und rauften wie kleine Raubkatzen. Sie sah verzweifelt zum Holzfäller, der seine Tasche packte und nicht den Anschein hatte, sich einmischen zu wollen. „S-so helft uns doch!“ jammerte sie, „Bitte, Herr, geht dazwischen…“ „Ihr Bälger seid mir doch egal,“ brummte der alte Holzfäller, „Ich kann Kinder nicht leiden, sollen sie sich doch die Köpfe einschlagen.“ „W-was…?! Hey, d-das könnt Ihr nicht, Ihr-…! Hilfe!“ Das Mädchen schrie, aber niemand kam, während Puran sich aus seiner Starre löste und Kannar zu Hilfe kam, der allein gegen die beiden größeren Jungen kämpfen musste. „Ich warne euch nur!“ empörte er sich, „Ich kann wieder das Windmesser holen und euch zerreißen, wenn ihr nicht aufhört! Und deinen dummen Vater gleich mit, Mabi!“ „Misch dich nicht ein!“ fuhr Kannar ihn an, „Die verletzen dich noch!“ „Das ist mir doch egal, du bist mein Freund, ich lasse dich doch nicht im Stich!“ Damit packte Puran Mabis Kumpel am Kragen und zerrte ihn hoch, um ihn mit Schwung in den Schnee zu stoßen. Der Junge schrie auf, als er hart aufschlug, und Mabi ließ von Kannar ab und wandte sich wütend zu Puran um. „Von wegen Windmesser,“ spottete er, „Du kannst das gar nicht mehr, nicht?! Du hast uns letztes Mal nur veräppelt, ich glaub dir kein Wort und hab keinen Schiss vor dir, verwöhntes Prinzchen!“ „Hau endlich ab…“ stöhnte Kannar, der sich aufrappelte und sich das Blut von der Lippe wischte, „Mein Vater schlägt mich tot, wenn du auch nur einen Kratzer hast, du… bist der Sohn des Herrn der Geister!“ „Das gibt mir nicht das Recht, meinen besten Freund alleine gegen zwei kämpfen zu lassen!“ rief der andere entsetzt, während Akila hinter ihnen schrie und weinte und versuchte, irgendetwas zu tun. „Wie edel von ihm,“ spuckte Mabi, „Dann kriegt er eben auch eins auf die Fresse!“ Damit holte er aus und schlug nach Puran, der den Kopf rechtzeitig zur Seite riss und Mabi schubste, aber der riss den zweiten Arm hoch und schlug ihn mit solcher Wucht zu Boden, dass Puran auch in den Schnee purzelte und hustete. Aus seiner Nase rann Blut und wieder erinnerte er sich keuchend an Ram, der ihn ebenso verprügelt hatte. Ram… und das Monsterreh, das sich mit dem Schwarzhaarigen einen Alptraum teilen musste. Kannar zerrte ihn hoch. „Akila, bring Puran weg und ruf Vati! Die Sonne geht unter, bald wird sicher seine Mutter kommen und ihn abholen!“ „Aber ich kann doch nicht…!“ keuchte sein Freund entsetzt, als er in die Arme des älteren Mädchens geschubst wurde, das nur heulte. „Verschwinde, wenn du voller blauer Flecken heim kommst, grillt Vati mich!“ „Ja, ja,“ gackerte Mabi, der sich auch über die Lippe fuhr, „Beschütz deinen kleinen Freund, Kannar, ich weiß genau, was dein Vater abzieht! Das ist doch alles nur wegen uns! Du gibst dich doch nur mit ihm ab, weil dein Vater das von dir verlangt, weil du sonst nichts Tolles kannst! Damit dein Vater damit drohen kann, dass er Purans Eltern holt, wenn mein Vater versucht, ihn aus Gahti zu schmeißen! Du bist doch nicht wirklich sein Freund, du Hohlkopf, du bist einfach nur erbärmlich und kannst nichts außer Leuten aus Versehen die Knochen brechen, weil du zum Heilen zu dumm bist!“ In dem Moment fror die ganze Szene ein. Puran erstarrte und riss sich aus Akilas Griff los, ehe er zu Kannar rannte und Mabi anstarrte. „Du hast wohl den Schuss nicht gehört, was bildest du dir ein, sowas zu sagen?!“ rief er, „Dreckige Missgeburt!“ Er schlug nach Mabi, hatte aber Mabis Kumpel vergessen, der wieder aufgestanden war und ihn jetzt von den Beinen riss, ehe er ihm mit aller Kraft ins Gesicht schlug. Etwas brach mit einem unschönen Knacken und der Junge schrie vor Schmerz und hielt krampfhaft die Tränen zurück, die ihm unwillkürlich in die Augen schossen. Kannar trat zurück und senkte keuchend den Kopf. Puran stöhnte und hielt sich die gebrochene Nase, ehe er zitternd zu seinem Freund Kannar blickte. „Sag doch was, Kannar!“ jammerte er, „Die lügen doch, du darfst sie nicht so mit dir reden lassen…“ Kannar antwortete nicht. Puran erstarrte, als er hinauf sah und Kannar ihm den Kopf zuwandte, um ihn bitter anzusehen. „Nein…“ nuschelte er, „Das ist das Problem… sie lügen nicht.“ Puran erstarrte erneut und ignorierte plötzlich jeden Schmerz und jedes Nasenbluten und auch, dass sein ganzer Mantel schon bekleckert von Blut war. Das… war ein böser Traum. Sein erster und bester Freund erzählte ihm also… dass er gar nicht sein Freund war, sondern nur mit ihm gespielt hatte, weil sein Vater es befohlen hatte? „Unser Vater und Mabis Vater können sich nicht leiden,“ erklärte Kannar aufgelöst, „S-sie streiten und hauen sich u-und der Chef droht, uns aus dem Dorf zu schmeißen, wenn wir nicht nach seiner Pfeife tanzen! U-und wenn er das tut, müssen wir zu meinem Onkel Kudan, dessen Haus ist so winzig, dass wir nie alle Platz hätten! Als ich in die Schule kam und Vati erfuhr, dass du der Sohn von Statthalter Lyra bist, wollte er, dass ich dein Freund werde, damit wir… Mabis Vater eins auswischen können und so-… i-ich hatte total Angst vor dir, aber Vati hat gesagt, wenn ich es nicht mache, lässt er mich nie wieder in sein Haus und…!“ „Genug jetzt!“ Akila war dazwischen gegangen. Sie zog ihren Bruder an der Schulter zurück. „Das reicht, es ist schlimm genug für ihn, sowas zu hören!“ Sie sah mitleidig auf den kleinen Puran, während Mabi und sein Freund amüsiert kichernd die dramatische Szene beobachteten. „Tjaaa, wird wohl nichts mit dem Bündnis mit den bööösen Lyras… jetzt muss Kannar auf der Straße schlafen, weil er seinen Freund vergrault hat, hahaha!“ Puran erhob sich und die anderen verstummten. Der Kleine zitterte am ganzen Körper, seine Kleider waren nass vom Schnee und seine Hände halb erfroren, in seinem Gesicht brannte ein grauenhafter Schmerz. Er stierte Kannar fest an und sagte lange nichts. „Dann… ging es nie um mich? Ich bin dir… scheißegal, es ging nur um deinen Vater und seinen doofen Streit?!“ „Ich hatte doch keine Wahl!“ schrie Kannar deprimiert, „I-ich wollte das doch nicht!“ „Du hast mich ein halbes Jahr lang nur angelogen und getan, als wärst du mein toller bester Freund, damit dein Vater sich ins Fäustchen lachen und Mabis Vater mit meinen Eltern drohen kann?!“ „Siehst du, Kannar, was du gemacht hast, Prinzchen weint gleich…“ sagte Mabi theatralisch und fing schallend an zu lachen, „Komm, bringen wir das Holz heim.“ „Niemand geht hier irgendwo hin!“ Die Kinder fuhren gehörig zusammen, als plötzlich aus der nördlichen Richtung Mabis Vater, der Dorfchef, und aus dem Süden Kannars Vater und Nalani auftauchten. Nalani zog ihr Kind zu sich und Akila lief mit Kannar zu ihrem Vater. „Was ist hier los?“ wollte Nalani verärgert wissen und schob ihr Kind hinter sich, bevor dem Jungen noch mehr gebrochen werden konnte. „Wer hat dich geschlagen, Puran?“ „Das war Mabi!“ petzte Akila unglücklich und klammerte sich an ihren Vater, „Er hat die ganzen Holzscheite geklaut, Vati, und er und sein Freund haben sich mit Kannar und Puran geschlagen!“ „Gar nicht war, du Hure!“ rief Mabi, bekam von seinem Vater eine saftige Ohrfeige und erntete von Nalani einen wütenden Blick. „Wie kannst du es wagen?!“ blaffte der Dorfchef seinen Sohn an, „Sprich nicht so mit einem Mädchen! Und wieso hast du ihn geschlagen?!“ „Kannar hat angefangen!“ schnaubte Mabi, „Und Puran hat ihm geholfen, deshalb hab ich ihm eine verpasst! – Seine Nase hab ich übrigens nicht zerdeppert, das war er!“ Er zeigte auf seinen eigenen Freund, der nur blöd guckte. „Ist doch egal!“ jammerte Puran und drückte sich unglücklich an Mutter schwarzen Umhang, „L-lass uns einfach nur heim gehen, Mutti… ich will nie wieder hierher.“ Nalani sah ihn verblüfft an und Kannars Vater warf einen beunruhigten Blick auf seine Kinder. „Was ist hier los?“ fragte er dann auch grimmig und sah Kannar an, „Hast du angefangen, du Idiot?“ „I-ich, er hat das Holz geklaut und…“ „Geklaut, ich hab's gekauft, du Arschsack,“ lachte Mabi höhnisch und bekam einen weiteren Schlag von seinem Vater. „Diese Worte! – Chipo, über dieses Massaker reden wir noch!“ „Lass uns gehen, Mutti,“ murmelte Puran leise und nahm Nalanis Hand, „Es… wird kalt…“ Nalani seufzte. Ja, er war ganz durchnässt, es wurde Zeit. Aber so, wie es aussah, müsste sie noch nach Tuhuli zu Keisha mit ihm… Sie wandte sich also nach Norden und an den Dorfchef. „Könnte ich mir ein Pferd aus dem Dorf leihen, um ihn nach Tuhuli zu unserer Hausärztin zu bringen, Dorfoberster?“ „Natürlich,“ sagte der Dorfchef, dann grinste er zu Kannars Vater, „Du bist doch heiler, Chipo! Bist du zu dumm, eine gebrochene Nase des Freundes deines Sohnes zu heilen?“ Nalani drehte sich auch um – ja, richtig, der war ja auch Heiler! Das ersparte eventuell den weiten Weg… Herr Chipo enttäuschte sie. „Ich bin Apotheker, kein Arzt. Meine Heilkunde beschränkt sich, so fürchte ich, auf Miniatur-Reparaturen und Herstellung von Medizin. Ich kann ein Schmerzmittel anbieten, Herrin…“ „Das bringt‘s nicht,“ machte Nalani, „Danke, aber dann gehe ich doch nach Tuhuli. – Willst du dich nicht von deinem Freund verabschieden, Puran?“ Puran sah hinter ihrem Umhang hervor verbiestert auf Kannar, der leichenblass und deprimiert schaute. Purans grüne Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Das ist nicht mehr mein Freund,“ schnappte er grantig, ehe er seiner Mutter voran Richtung Norden taumelte, alle Schmerzen ignorierend. Nalani blieb mit dem Kind über Nacht bei Chimalis‘ in Tuhuli. Keisha konnte Purans kleine Nase wieder heilen, aber bis der Schmerz ganz weg wäre, würde es etwas dauern, erklärte sie. Nalani war erstaunt, Salihah gar nicht vorzufinden, die doch sehr oft in Tuhuli war. „Nein, Zoras ist gar nicht im Land,“ erklärte Keisha ihr, als sie spät abends in der Stube saßen und Tee tranken. „Wie, nicht im Land?“ „Nicht in Dokahsan,“ erläuterte die Heilerin, „Er wollte nach Pinhu und vielleicht auch ins Hochland oder ins Gebirge von Kadoh, er sucht nach Denmor.“ „Denmor?!“ keuchte Nalani entsetzt und verschüttete beinahe ihren Tee. „Was will er denn von dem?!“ „Keine Ahnung, er hat nichts gesagt, Nomboh ist auch leicht angenervt, weil der Herr sich einfach aus dem Staub macht und das Anwesen und die Verwaltung des Clans uns überlässt, ohne zu sagen, wieso. Ich hab irgendwie das Gefühl, das mit Denmor ist nur eine faule Ausrede.“ „Wieso Ausrede? Wohin sollte er gehen, ohne dass ihr es wissen sollt? Dass er Salihah besucht, verschweigt er euch doch wohl nicht mehr, das weiß doch jeder Depp inzwischen, außer Tabari vielleicht, aber zu Salihah ist er ja auch nicht gegangen…“ „Über Salihah sagt kein Mensch was,“ meinte die Heilerin, „Natürlich wissen das alle, selbst die kleine Ruja hat das schon kapiert, und die ist erst zwölf!“ Sie trank einen Schluck. „Nein, die Sache ist die… niemand spricht es aus, aber wir alle haben so das Gefühl, dass Zoras anfängt, seinen Posten als Clanführer Stück für Stück an Meoran abzuschieben… Meoran ist der einzige männliche Nachkomme und deswegen natürlich der Erbe des Clans. Natürlich ist Meoran längst alt genug für die Verantwortung, aber es ist ja nicht so, dass Zoras alt und klapprig am Stock geht, er wird doch erst vierzig, liebe Güte. Nomboh meint, er hätte einfach nach all dem Schlamassel keine Lust mehr auf seinen Posten und die Verantwortung. Du kennst ihn ja, er… ist kein Typ dafür, von früh bis spät hier parat zu sein und Dinge zu verwalten, er tut das genug im Rat der Geisterjäger, erst war es, weil Kelar seine Aufgaben als Führer des Rates vernachlässigt hat und jetzt, weil Tabari noch nicht drin ist in der Verantwortung. Zoras kann nicht ewig am selben Ort bleiben, er… braucht diese ewigen Reisen, vielleicht ist es weniger, um Denmor zu suchen, sondern mehr als Erholung gedacht… wir alle verübeln ihm das keineswegs, aber er hätte ruhig ehrlich mit uns reden können!“ Nalani seufzte nachdenklich. Sie fragte sich, was wohl mit Denmor sein sollte. Sie hatte ewig nicht von Kelars Handlanger aus dem Emo-Clan gehört… der lebte noch? Sie müsste Salihah danach fragen… was immer Zoras in Anthurien und den Bergen tat, sie würde es wissen. Selbst dann, wenn er es ihr nie gesagt hätte. Puran träumte einige Nächte später von dem Monster-Reh. Es sah ihn an aus toten Augen und bewegte sich kein Stück. Dann hopste es mit einem Mal davon, als er sich auf es stürzte und seinen kleinen Speer danach warf. Er verfehlte das Reh, aber Ram Derran, der plötzlich aus der Finsternis auftauchte, erlegte es mit einem gekonnten Speerwurf und streckte es nieder. „Verlierer,“ sagte der Schwarzhaarige Junge mit den giftgrünen Augen. Dann warf er plötzlich seinen blutigen Speer direkt auf Puran zu, dabei lachte er gehässig. „Ich bringe dich um, Lyra!“ „Nein!“ schrie der Junge und fuhr keuchend aus dem Schlaf hoch. Er hatte sich irgendwie auf die Kante seines Bettes gewälzt und fiel jetzt nach dem plötzlichen Aufsetzen mit lautem Gepolter aus dem Bett zu Boden. Da lag er eine Weile keuchend auf dem Rücken und kämpfte gegen den Schwindel, der ihm plötzlich kam und die Sicht vor seinen Augen für einen Moment verdunkelte. Er sah noch immer das Reh, das ihn anstarrte… das er immer noch verfehlte. Als er sich benommen aufsetzte und das Zimmer verließ, um sich im Bad etwas zu Trinken zu holen, wo immer ein Kübel mit Wasser stand, erschrak er sich beinahe zu Tode, als im Bad plötzlich jemand war. Doch ehe er aufschreien konnte, erkannte er schon, dass es nur seine Großmutter war, die auf einem Schemel neben der Badewanne saß, den Kopf in den Händen vergraben. Sie bewegte sich nicht und schien ihn nicht zu bemerken, auch nicht, als er näher heran schlich und sie vorsichtig antickte. Schlief die hier im Sitzen auf dem Schemel? Er erinnerte sich, dass sie einmal in der Küche mit dem Kopf auf dem Tisch geschlafen hatte, das war nicht lange nach dem Tod seines Großvaters gewesen; damals hatte er es nur mitbekommen, weil er von dem Gemecker seines Vaters darüber aufgewacht war, der die Großmutter offenbar schlafend in der Küche gefunden hatte. Irgendetwas hatte er von Wein geredet, der plötzlich restlos leer gewesen war, und Großmutter hatte dann, als Tabari sie geweckt und hinauf getragen hatte, sehr seltsame Lieder gesungen und seltsamerweise schallend gelacht, als sie vom Ende der Welt geredet hatte. Puran fragte sich, ob er seine Eltern holen sollte. Aber zuerst versuchte er, sie anzusprechen. „G-Großmutter?“ Und er erschrak sich beinahe erneut zu Tode, als sie mit einem Mal den Kopf hoch riss und ihn aus vernebelten, entsetzlichen Augen anstierte, dabei keuchte sie heftig. „Du bist wach… Puran…?“ stöhnte sie, aber ihre Stimme klang fremd und nicht wie ihre eigene. Puran erschauderte. Das hatte er schon mal erlebt… wenn sie so seltsam war, war sie in der Geisterwelt mit der Seele, dann sah sie Bilder und hörte Stimmen… „Großmutter, wieso sitzt du hier?“ wollte er wissen, und der Schleier vor ihren Augen lichtete sich. Plötzlich sah sie ihn normal an, aber sie sah todkrank aus. Sie war leichenblass und dünn geworden über den Winter. „Hast du… was gesehen, Großmutter?“ flüsterte er heiser, und Salihah vergrub stöhnend den pochenden Kopf in den Händen. Es schmerzte so abscheulich und grauenhaft, dass sie nicht hatte schlafen können. Sehen…? Der war gut… sie sah gar nichts, nicht den Hauch eines Bildes, und das seit zwei Tagen. Das beunruhigte sie extrem, und jetzt war Zoras nicht einmal da, bei dem sie sich ausheulen könnte. Sie konnte nicht Nalani mit ihrem Kummer belasten, Nalani war jung und hatte viel zu tun. Sie selbst wurde alt… das merkte sie jetzt, wo sie offenbar komplett erblindet war im Inneren. Und keine Spur von Denmor. „Wieso bist du denn auf?“ fragte sie ihren kleinen Enkel also zurück, ohne zu antworten, und er scharrte mit dem nackten Fuß auf dem Steinboden herum. „Ich… hatte wieder so einen Traum.“ Salihah sah ihn eine Weile an. Dann nahm sie ihn plötzlich in den Arm und strich ihm sanft über den Rücken und den Hinterkopf. „Du hast… oft solche Träume… immer denselben, habe ich recht? Denselben, der sich ändert, je nachdem, was du fühlst und was dich beschäftigt…“ Sie schob ihn wieder etwas von sich weg, was er bedauerte, da er in seiner Nervosität ihre Nähe und Wärme genossen hatte. Sie strich ihm mit den eiskalten Händen über die Wangen und sah ihm lange lächelnd ins Gesicht. „Lass dich ansehen, mein hübscher kleiner Enkelsohn… äußerlich hast du die Augen deines Vaters… aber deine innere Sehkraft ist sehr stark. Das hast du wohl von deiner Mutter. Ich… sehe Großes in dir, Puranchen… ich weiß, du fürchtest die Magie, ich weiß auch warum.“ Er erstarrte. Sie wusste das alles? Einfach so…? Sie sah seine Gedanken. „Ich bin Seherin, mein Kleiner. Ich sehe Dinge, die Menschen denken… Dinge, die Menschen fühlen… Dinge, die sie gedacht haben und manchmal auch Dinge, die sie… eines Tages denken werden. Du, Junge… bist nicht dazu bestimmt, dein Leben lang wegzulaufen. Du bist… dazu bestimmt, ein großer Mann zu sein. Fürchte dich nicht vor den Träumen… sie zeigen dir nur den richtigen Weg. Du merkst es… ja schon selbst, nicht wahr?“ Das Kind senkte benommen den Kopf. „Aber… ich fühle mich zu klein dafür…“ Der Bruch mit Kannar war nicht leicht. Puran und er mieden sich den Rest des Winters, wenn sie sich in der Schule begegneten. Travi konnte sich nicht entscheiden, zu wem er halten sollte, aber da Kannar nicht mit ihm redete, entschied er sich schnell für seinen Banknachbarn. „Ich verstehe das nicht,“ sagte der Dicke immer wieder, selbst im Frühjahr noch, während er mit seinem Freund Puran auf dem Schulhof saß und den anderen Idioten beim Spielen zusah. Sie hatten beide keine Lust, etwas zu spielen. Travi war kein Freund von viel Toben, er saß lieber in Frieden irgendwo, aß und spielte dabei Mühle oder Dame. Jetzt hatten sie weder Lust auf Dame noch auf Mühle. „Ich meine… ich verstehe das nicht!“ „Ja, Travidan, ich weiß!“ schnaufte Puran genervt, „Das sagst du seit dem Winter zum dreihundertsten Mal! Vergessen wir Kannar, den Idioten, am besten, wir reden nie mehr über ihn!“ „Und nach Broti darf er auch nicht,“ entschied Travi beleidigt, „Der redet mit mir nicht mehr, dabei hab ich nichts getan – na ja, du auch nicht…“ Der Braunhaarige seufzte. Plötzlich entdeckte er Kannar am Ende des Hofes. Er übte an einem morschen Stock das Heilen und zerbrach ihn dabei aus Versehen – wie immer. Er sah eine Weile zu dem kleinen heiler herüber, der keinen Moment aufsah, wie er alleine da hockte und mit seinem Stock oder dessen Resten spielte. Irgendwie wollte er jetzt hinüber gehen und fragen, ob sie nicht einfach wieder wie früher Freunde sein könnten… aber irgendwie stellte sich da sein Stolz in den Weg. Kannar hatte ihn belogen und die Freundschaft war geheuchelt gewesen. Der heiler wollte doch in Wahrheit gar nichts von ihm wissen; von Travi anscheinend auch nicht. Puran fragte sich grimmig, wie er sich hatte in jemandem so derartig täuschen können. Die Enttäuschung und der Zorn über Kannar verschafften ihm eine unangenehme Übelkeit, und er erhob sich murrend, entschuldigte sich bei Travi und ließ ihn dann alleine, weil er plötzlich das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen, und das nicht auf Travis Füße tun wollte. Als er das Schulgebäude erreichte und an der Seite entlang in Richtung Hinterhof gehen wollte, wurde ihm mit einem Mal schwarz vor Augen. Er strauchelte, hielt sich noch benommen an der Wand fest und keuchte dann, als die Bilder zurückkehrten. Das tote Reh. Das Lachen seines Großvaters, Ram Derrans Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen, dazu unpassend seine vor Hass verzerrte Stimme. „Ich bringe dich um, so… wie ihr Schuld seid am Tod meines Bruders!“ Puran keuchte. Sein Kopf schmerzte. Als er sein Augenlicht wieder hatte, hockte er auf allen Vieren am Boden, am ganzen Leibe zitternd. Das Übelkeitsgefühl war immer noch da, aber anders als zuvor, und er hob stöhnend den Kopf, als er registrierte, dass jemand vor ihm stand. Er blickte hinauf in Ram Derrans hasserfülltes Gesicht. „Was ist?“ grunzte der Schwarzhaarige und pustete sich mürrisch ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, „Hat dich was überfahren? Ich würde es ehren, das Ding, dass es getan hat, glaub mir.“ Puran stöhnte, setzte sich hin und fuhr sich zitternd mit den Händen durch die Haare. Nein, mit dem Idioten wollte er sich gerade nicht auseinandersetzen. „Hau ab, Ram!“ „Ist das dein reich hier, Prinz Lyra?“ schnaubte der Ältere und trat nach ihm, „Du hast wohl ein Rad ab! Ich bin, wo ich sein will, und fertig.“ Der Braunhaarige sah empor und stöhnte erneut ob der Kopfschmerzen, als das Bild des Rehs und des verschreckten Rams erneut vor seinen Augen aufflackerte. „Das Reh…“ stöhnte er benommen, und Ram, der gerade kommentarlos weitergehen wollte, hielt an und sah plötzlich entsetzt auf ihn herab. „W-was… was ist mit dem Reh passiert… i-n dem Winter…? Sag es mir…“ Dann wurde er gepackt und am Kragen hoch gerissen, ehe er sich versah, rammte der ältere Junge ihn wütend brüllend gegen die steinerne Mauer neben ihnen und drückte mit den Händen wutentbrannt seine Kehle zu. „Das wagst du zu fragen?!“ schrie er ihn an, „Wie kannst du nur, du elender Lügner, du abscheuliche Missgeburt, du weißt genau, was damit war! Du weißt genau, was dein Hurensohn von Großvater damit gemacht hat! Ich verzeihe euch das niemals, Puran, niemals! Abscheuliche Bestie, sprich nie wieder von Rehen in meiner Gegenwart, oder ich schlage doch tot!“ Damit stieß er den Jungen erneut gegen die Mauer, ehe er ihn losließ und dann davon trottete. Puran stöhnte und sank wieder zu Boden, vor seinen Augen flimmerte die Welt. Was war hier los? Wieso hassten diese Leute ihn alle, abgesehen von Travi ausnahmslos alle? Was hatte er je getan? Plötzlich kam in ihm eine unglaubliche Wut auf, und er begriff es kaum selbst, als er plötzlich wieder auf die Beine sprang und blindlings losrannte, zurück zum Hof, Ram hinterher. Der Schwarzhaarige drehte sich perplex um, als der Kleinere plötzlich keuchend und japsend hinter ihm stand und ihn aus vollem Hals anbrüllte: „ANTWORTE, DU MISTKERL, STATT LEERE VERSPRECHEN ZU MACHEN!“ Ram fuhr zurück vor Schreck über den plötzlichen Ausraster, den er definitiv nicht erwartet hatte; aber er fasste sich schnell wieder. „Das war kein leeres Versprechen, ich schlag dich gerne auch jetzt tot!“ fuhr er ihn an, dann schlug er mit der Faust nach ihm. Puran wich rechtzeitig aus, duckte sich und bekam Rams Handgelenk zu fassen, daran riss er ihn wütend nach vorne und schlug ihn schneller zu Boden als der andere gucken konnte. Ram hustete und spuckte keuchend Blut, als er am Boden lag und sich schnell wieder aufrichtete. Er fuhr sich über die Lippen und wischte das Blut an seinem Ärmel ab, ehe er Puran vor die Füße spuckte. „Anfängerglück,“ grunzte er, dann stürzten sich die Jungen wutentbrannt aufeinander. Puran war es nur recht, dass Ram ihn erschlagen wollte, sollte er es doch versuchen… es war ihm plötzlich egal, ob er die Antwort auf seine Träume fand; plötzlich waren das Reh, die Schreie und das entsetzte Gesicht vor seinen Augen verschwunden. Stattdessen war da nur noch Zorn, nur noch Wut auf diese verfluchte, dreckige Welt voller Mistkerle, voller Lügner, die ihn nur verletzen konnten… er würde es ihnen heimzahlen, einen nach dem anderen, als nächstes war Kannar dran, dann Mabi und sein affiger Freund… oh ja, die ganze Klasse, auch die Mädchen, jeder einzelne von diesen abscheulichen Würmer würde bluten! Die geisterstimmen kamen in seinen Kopf und übertönten plötzlich das Rauschend es Blutes in ihm, das Pochen seines Schädels und die Schreie um ihn herum. „Großvater konnte auch Bilder sehen und Stimmen hören und Windmesser rufen…“ „Ja, das konnte er, auch als Kind schon. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen dir und ihm…“ Der Junge erstarrte in dem Moment, als das Bild vor seinen Augen schwarz wurde und er plötzlich inne hielt, Ram vergessend. „Kelar… hat niemals nicht gewollt, dass es wieder passiert. Du bist ein guter Mensch… anders als Kelar.“ Das nächste, was er wahrnahm, waren grauenhafte Schmerzen am ganzen Körper. Er lag auf der Erde auf dem Rücken und starrte keuchend durch mit Blut verklebten Augen in den Himmel. Als er es wagte, den Kopf anzuheben, wurde der Schmerz quasi unerträglich und er schrie auf – dann sah er Ram, der ebenfalls auf dem Boden saß und sich japsend das blau geschlagene Auge rieb. Zwischen ihm und Puran stand jemand. „Jetzt ist aber genug! Lass meinen Freund in Ruhe, oder… oder ich breche dir alle Knochen, darin bin ich nämlich Mister, wenn ich schon nichts anderes Tolles kann!“ Puran erstarrte bei der vertrauten Stimme. Als er mühsam den Kopf hob und sich aufsetzte, erkannte er Kannar, der mit ausgebreiteten Armen vor ihm stand, ihm den Rücken kehrend. Er keuchte leise. „W-wieso…?“ Kannar drehte schnaubend den Kopf und wurde rot. „Denkst du, ich lasse meinen Freund im Stich?“ nuschelte er, „Wir reden, wenn du wieder heil bist…“ „Schon wieder ihr zwei,“ schimpfte die Direktorin erbost, „da es offenbar keine Möglichkeit gibt, euch beide auseinander zu ziehen, werdet ihr ab heute jedes Mal härter bestraft, wenn ihr euch wieder prügelt! Das ist ja furchtbar! Eine Stunde Nachsitzen, alle beide, keine Widerrede.“ Ram und Puran würdigten sich keines Blickes, während eine Heilerin sie wieder zusammen flickte. Puran schwindelte noch immer. Die Antwort für den Traum hatte er immer noch nicht… jetzt verblasste das Bild des Rehs vor seinen Augen, das wieder aufgetaucht gewesen war, als letztes verschwanden die roten Augen, die ihn seit Monden verfolgten und nicht losließen. In der Tür standen auch Kannar und Travi. „Mir ist vollkommen egal, wer wen gehauen hat und warum,“ sagte die Direktorin wütend, „Hauptsache, ihr macht es nicht wieder. Ist das klar? Auf dem Schulgelände benehmen wir uns ordentlich und gesittet, Ram und Puran, verstanden?!“ „Ja, Frau Direktorin,“ sagten sie missmutig im Chor. „Sehr schön, dann verschwindet, sobald die Heilerin fertig ist. Wir sehen uns heute Mittag zur Strafarbeit. An sich darf Kannar gleich mitmachen, der hat auch mitgemacht, wenn auch nur sporadisch.“ „Na toll,“ seufzte Kannar, widersprach aber nicht weiter. „Wieso hast du das gemacht?“ murrte Puran, als sie am Nachmittag endlich mit der Strafarbeit fertig waren und er mit Kannar als letztes den Hof verließ. Ram war längst weg – umso besser, dachte der Junge sich. „Was ist eigentlich passiert?“ Kannar verknotete etwas verlegen seine Finger. „Ich wollte sagen… e-es tut mir leid, was im Winter in Gahti war!“ kam dann. „Es ist wahr, dass mein Vater daran Schuld ist, dass ich… dich angesprochen habe, alleine hätte ich mich das nie getraut-… aber als wir und Travi dann so zusammen gespielt und Jagen geübt haben, hat… d-das total Spaß gemacht, und… ich hab das nicht gemacht, weil mein Vater es wollte, sondern, weil ich… gern dein Freund bin!“ Das letzte war mehr genuschelt und Puran verstand es nicht, weil der kleine Heiler sich verlegen weggedreht hatte. Verdammt, wie unmännlich, schimpfte Kannar sich selbst. „Was hast du gesagt?“ wollte sein Freund verwirrt wissen, und Kannar schnappte nach Luft. Musste er das noch mal sagen? Das war peinlich genug, so herum zu sülzen! Aber jedes Wort war ernst gemeint… Er gab sich also die Mühe und sagte es lauter. „Ich möchte, dass wir Freunde sind! W-wenn du mir verzeihst, heißt das…“ Puran schnaubte. „Und dieses Mal sagst du das nicht, weil dein Vater dich sonst verprügelt?“ kam dann schnippisch. „Nein… dieses Mal sage ich es, weil ich es so will!“ Der Braunhaarige kratzte sich am Kopf. Dann seufzte er und lächelte. „Also… wenn du es ehrlich meinst, freut es mich sehr – Travi sicher auch. Und jetzt erzähl, was mit Ram passiert ist, ich weiß nur, dass ich plötzlich am Boden war…“ Der Heiler hustete. „Du warst ganz komisch und plötzlich hast du dich nicht mehr bewegt, da hätte Ram Derran dich beinahe zu Tode geschlagen, deshalb… deshalb habe ich ihn aufgehalten, ihm voll in die Fresse gehauen und, ähm… ja, dann saß er und dann war es vorbei.“ Puran blinzelte. „Ich war… komisch?“ murmelte er benommen, und plötzlich erinnerte er sich an die Bilder und an die Stimmen, die ihn verfolgt hatten. „Du bist anders als dein Großvater. Du bist ein guter Mensch…“ Er blieb stehen und fasste nach seinem Kopf. „Da… vorhin…“ keuchte er apathisch, „I-ich… hab gar nicht darüber nachgedacht, was ich tue, ich… hab mich einfach auf ihn gestürzt… ich fürchte, die anderen Leute haben recht, ich bin wirklich ein Monster!“ Kannar sah ihn ungläubig an. „So ein Blödsinn,“ schnappte er, „Du hast ihn ja nicht getötet!“ „Aber vielleicht hätte ich es aus Versehen getan, wenn du nicht gewesen wärst!“ schrie Puran panisch, „I-ich, e-es ist nicht gut, wenn Travi und du meine Freunde seid! Vielleicht bringe ich euch aus Versehen um!“ „Wir haben keine Angst vor dir,“ grinste der Heiler zuversichtlich und wollte Puran auf die Schulter klopfen – aber Puran wich zurück und schnappte verzweifelt nach Luft. „I-ich, nicht anfassen…“ stammelte er, „Es ist zu gefährlich, es… ist vielleicht besser, wenn wir uns nie wieder sehen…“ Er hörte nicht, was Kannar versuchte, auf ihn einzureden. Alles, woran er denken konnte, war dieser ungezügelte Hass, den er auf Ram Derran verspürt hatte, auf die ganze Welt… derselbe Hass, den sein Großvater einst auf die Welt gehabt haben musste. Dann hieß das, er wurde trotz der Medizin immer mehr wie er…? Das darf ich nicht zulassen, ich darf nicht so werden! Niemals! Er stolperte rückwärts, plötzlich ergriffen von einer kalten, grausamen Furcht vor sich selbst oder dem, was irgendwo in ihm lauerte, wie es aussah; dieses Monster, das sein Großvater auf ihn übertragen hatte, das er den Rest seines Lebens mit sich herum tragen müsste, bis es ihn eines Tages verschlang… Er sah den Himmel über sich Feuer fangen und ein tiefes Grollen aus der Erde ließ ihn zu Boden stürzen. Seine Großmutter hatte gelogen; er würde kein großer Mann, sondern ein Ungeheuer werden! „Puran!“ Er riss keuchend die Augen auf, als jemand seinen Namen rief. Er lag wieder am Boden, über sich sah er Kannars Gesicht; und nicht nur das. Seine Mutter war gekommen. Ihre Hand fuhr über seine Stirn. „Das ist nicht gut,“ bemerkte sie, „Diese Visionen machen dich krank, mein Kind, du fieberst…“ „I-ich, er ist plötzlich neben mir zusammengebrochen…!“ stammelte Kannar, Nalani beruhigte ihn. „Hab keine Angst. Das wird schon wieder. Ich bringe dich heim und mein Kind nach Tuhuli. Ich hab mich gefragt, wieso er nicht heim kam…“ „W-wir hatten Strafarbeiten wegen, äh, eines Streits…“ machte Kannar mit piepsiger Stimme vor Schreck über so viel Aufregung. Was passierte mit seinem Freund? Wieso sah er überhaupt so seltsame Bilder und hörte Stimmen, die niemand außer ihm hören konnte? Sicher, er als Schwarzmagier konnte seltsame Sachen, aber an sich hatte Kannar gelernt, Visionen wären nur etwas für Erwachsene… Nalani nahm ihr keuchendes, zitterndes Kind auf die Arme, ehe sie mit seinem Heilerfreund in Richtung Apotheke eilte. Tabari erwartete seine Frau am Schlosstor, als sie mit dem fiebernden Kind auf den Armen nach Hause kehrte. Vom Tragen ermüdet überreichte sie ihm ihren Sohn. „Ins Bett,“ war alles, was sie sagte, „Rasch, Tabari.“ „Was hast du mit ihm gemacht?“ wunderte der Blonde sich besorgt, „Er hat Fieber…“ „Jetzt bring ihn hoch, ich bin völlig erschossen, ich bin von Gahti bis hierher zu Fuß gerannt mit ihm!“ Tabari gehorchte netterweise und brachte das Kind hinein. Eine Dienerin brachte kalte Lappen, die Nalani dem Kind auf die Stirn legen konnte, während Tabari und Salihah stirnrunzelnd in der Tür des Kinderzimmers standen. An Salihahs Bein klebte die kleine Alona, die sich langweilte. „Ist er krank, Onkel?“ fragte sie Tabari. Der Blonde seufzte. „Ich weiß auch nicht…“ „Er ist auf der Straße zusammengebrochen,“ erzählte seine Frau besorgt, „Sein Freund hat erzählt, es hätte wieder eine Schlägerei mit dem Derran-Jungen gegeben…“ Salihah unterbrach sie. „Es ist keine sinnlose Schlägerei, die ihm Fieber verschafft, es ist sein überlasteter Geist, Nalani. Du solltest das besser wissen und nicht dumm herum raten…“ Alle verstummten und während Puran benommen die Augen aufschlug und nur die Hälfte von dem mitbekam, was um ihn herum geschah, sah seine Mutter alarmiert auf. „Wovon sprichst du?“ fragte sie Salihah kalt. „Dein Kind sieht Visionen und hört Stimmen, falls es dir entgangen ist,“ machte Salihah verblüfft über die Frage, „Er ist erst sechs und viel zu jung, um die gewaltige Macht seiner Gaben erfassen zu können, und ihr gebt ihm Blocker, Keisha und du… ihr solltet wissen, dass die dauerhafte Unterdrückung seiner geistigen, hervorragenden Instinkte dazu führt, dass sein Geist eines Tages explodiert, wenn man so will, oder, Nalani?“ Tabari erstarrte. „Mein Sohn explodiert?!“ „Oh nein,“ machte Alona schockiert, „Machen wir eine Bestattung?“ „Dachtest du, ich bemerke die Blocker nicht, die du ihm ins Wasser mischst, Nalani?“ fragte Salihah langsam und betrachtete ihre Schwiegertochter, „Nalani… sieh mich an. Dachtest du, ich kenne das nicht selbst? Ich sehe Bilder, seit ich geboren wurde, man hat bei mir ebenso versucht, mich von der Last zu befreien und dem ein Ende zu setzen mit Blockern, insgesamt haben… die es nur schlimmer gemacht und wer weiß, vielleicht verdanke ich den Medikamenten von damals meine heutige Migräne.“ „Deine Migräne ist nur Abhängigkeit von Opium,“ sagte Tabari kopfschüttelnd. „Ach, fahr mir nicht dazwischen, oder muss ich garstig werden?!“ fauchte sie und er hielt den Mund. Ja, wenn man sie darauf ansprach, rastete sie meistens aus; es war ein hoffnungsloses Unterfangen, sie von dem Laudanum weg zu bekommen, hatte der Blonde gemerkt. Kiuk und er hatten einmal versucht, alles Laudanum zu verbrennen, damit Salihah keins mehr hatte, das war eine Katastrophe gewesen; die Frau war vollkommen ausgerastet und hätte in ihrem Wahnsinn ob der fehlenden Droge beinahe die Pferdeställe niedergebrannt. Zum Glück hatte Kiuk eine Flasche sicherheitshalber aufgehoben und sie damit rechtzeitig besänftigt. Seitdem versuchte niemand mehr, ihr das Laudanum wegzunehmen, nicht einmal Zoras Chimalis schien sich das zu trauen, der oft zu Besuch gewesen war in den letzten Monden. „Deswegen bekommt er Fieber, sein Körper und sein Geist sind nicht gut genug aufeinander eingestimmt, um den Blockern standhalten zu können,“ erklärte die Frau in dem Moment, als Nalani aufstand. „Wieso weißt du von all dem?“ fragte die Jüngere und schnappte unwillkürlich nach Luft, „Ich habe doch extra darauf geachtet, dass-…“ „Dass was? Ich bin die Seherin, denkst du, mir entgeht irgendetwas in diesem Schloss?“ schnaubte Salihah und hob kühl den Kopf. „Ich hätte dich für vorausschauender gehalten, Tochter.“ Nalani senkte verbittert den Kopf. Ja, und das mit Recht. Was war mit ihr los? Sie fasste bebend nach ihrem Kopf und wandte sich dann zum Fenster, den anderen den Rücken kehrend. „Vergib mir,“ murmelte sie dabei, „Ich… weiß doch nicht, was ich tun soll, Salihah. Wenn ich zulasse, dass die Instinkte zurückkehren, geschieht ein fürchterliches Unglück, du weißt doch, was an Purans erstem Schultag war! Wir sind die Statthalterfamilie und verantwortlich für das Volk! Was Kelar vergessen hat, sind die Menschen, es ist unsere Pflicht, sie an erste Stelle zu stellen, vor uns selbst und unsere eigenen Kinder. Ist es nicht so?“ Salihah und Tabari sahen sich an. Dann war es der Mann, der zu seiner Frau ging und ihr tröstend durch die schwarzen Haare strich. „Quäl dich nicht,“ murmelte er, „Deine Aufgabe ist nicht das Volk, sondern das Kind. Ich bin… der Statthalter, und nicht du, Nalani. Wie ich gesagt habe, du… kannst nicht alles in der Hand halten. Du kannst nicht das Volk und dein Kind zugleich lieben und versorgen. Dafür sind… wir ja zwei.“ Er grinste sie an, sobald sie den Kopf zu ihm drehte, und seufzend entfernte sie seine Hand von ihrer Schulter und drehte sich wieder zu ihm um. Sie setzte sich wieder auf die Bettkante und wechselte den Lappen auf Purans Stirn. „Und was soll ich machen, Salihah, wo du doch alles weißt und siehst?“ Die Ältere überhörte die schnippischen Bemerkungen. „Was immer Keisha und du dem Kind gebt, Nalani… hör damit auf, so schnell wie möglich. Wenn ihr so weiter macht, wird er nur öfter Fieber bekommen und seine Instinkte sind hinterher vielleicht für immer gestört.“ Nalani sah ihren Mann an. „Und was, wenn wieder so etwas passiert?!“ Es war nicht Nalani, die das fragte, sondern Puran, der plötzlich wieder wach war und entsetzt hinüber zu Salihah starrte. „Mutter sagt selbst, w-wir können das nicht kontrollieren, wenn ihr es nicht könnt, wie soll ich es alleine können, ohne Medizin bin ich doch verloren, Großmutter! I-ich werde ein Monster werden!“ Er setzte sich keuchend auf, worauf Nalani ihn sanft wieder ins Bett drückte. „Du bleibst artig da, du bist krank!“ befahl sie streng. Puran stöhnte. Sein Kopf schmerzte… „Es ist mir egal, ob ich davon krank werde, Großmutter, ich möchte kein Monster sein wie Großvater!“ Salihah schnitt ihm das Wort ab. „Dann verleugnest du also deine Gaben, gaben, die selten sind und die dich dazu privilegieren, der Erbe dieser Familie zu sein?“ schnaubte Salihah ungewöhnlich kalt, „Die Geister werden dir zürnen, Puran, das ist nicht der Wille von Vater Himmel und Mutter Erde. Die Geister suchen sich andere Wege in deine Seele, wenn der normale Weg blockiert wird. Und vielleicht wirst du daran sterben und deine Eltern damit todunglücklich machen, willst du das?!“ Puran schnaubte. „Ich bin weder ein Erbe noch ein Magier noch sonst irgendwas, ich… ich will doch nur, dass es aufhört!“ „Es wird dein Leben lang nicht aufhören, solange du davonläufst und nicht deinem Schicksal ins Auge siehst!“ fuhr Salihah ihn barsch an, das Kind fuhr erbleichend zurück ob ihres Zorns. Was war los…? „Wir alle müssen uns einmal unseren Ängsten stellen, früher oder später, auch du wirst es müssen, spätestens dann, wenn deine liebe Mutter, die dich viel zu sehr umhegt, dich nicht mehr beschützen kann, Puran! Wir alle werden geboren und sterben durch den Willen der Geister, du kannst dich nicht gegen ihre Bestimmung wehren, du wirst es noch lernen!“ „Mutter, das reicht!“ rief Tabari plötzlich dazwischen, worauf sie verstummte. Er seufzte, als sie ihn finster ansah. „Schrei meinen Sohn nicht an, wenn du schlechte Laune hast, lass sie an etwas anderem aus!“ Puran sagte nichts und klammerte sich an seine Mutter, die neben ihm saß. „Sei vorsichtig, Herr der Geister,“ sagte Salihah zu Tabari, ehe sie aus der Tür ging und die verwirrte Alona dabei mit hinaus schob. „Du weißt, was deine Aufgabe ist. Dann werde ihr gerecht, sowohl als Ratsführer als auch als Vater.“ Damit ging sie und ließ die kleine Familie zurück in Purans Zimmer. Der Junge sah verzweifelt seine Mutter an. „W-wenn ich keine Medizin mehr bekomme… dann wird es schlimmer, sicherlich!“ stammelte er, „Ich… ich würde furchtbare Sachen tun…!“ „Du wirst nichts dergleichen tun, mein Sohn,“ widersprach Tabari ernst, „Du hast seit dem Tag nämlich gelernt, stehen zu bleiben… und nicht wegzurennen, nicht wahr? Die Geister sind nicht böse. Sie wollen dir helfen dabei, deinen Weg zu finden.“ „Und wenn sie den falschen Weg für mich gewählt haben? Einen bösen Weg?!“ empörte Puran sich panisch. Nalani starrte ihn an. „Puran! Wieso sollten die Geister so etwas tun?! Sie irren sich nicht, Sohn. Du musst dich nicht vor ihnen fürchten.“ Der Junge drehte verbissen den Kopf weg, als ihm erneut schwindelte. „Vielleicht nicht vor allen,“ brummte er missmutig, ohne den Rest seiner Gedanken auszusprechen. Sie wussten nichts. Sie hörten vielleicht nicht des Großvaters Lachen in der Nacht, wie sollten sie es wissen? „Du kriegst deine Medizin noch eine Weile,“ versprach Tabari da und riss das Kind so aus seinen Gedanken, „Wir können dir das nicht geben, bis du alt genug für eine Lehre bist. So, wie es aussieht, würde es vorher deinen Geist zerschmettern. Du wirst sie kriegen, bis du lernst, mit der Grundmagie umzugehen.“ „Aber…?“ machte Nalani verblüfft, Tabari jedoch sah sie ebenfalls schweigend an, worauf sie den Kopf wegdrehte. Sie hasste es, wenn er plötzlich versuchte, sich durchzusetzen; aber sie fügte sich gehorsam, wenn er sie auf diese Weise ansah. Als der Vater sich zum Gehen wandte, fuhr Puran keuchend wieder hoch, bis er saß. „Fein!“ schnappte er, „Dann werde ich niemals Magie lernen!“ ___________________ spääät x____x halb vier morgens und alles in ordnung... *sing* xDD Fillerkapi in dem nichts passiert. egaaahl! xD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)