Chroniken des gefallenen Engels von uron (Der Exodus) ================================================================================ Kapitel 2: I. Kapitel - Erinnerungen (2. Teil) ---------------------------------------------- Er fiel. Lenuis Angriff hatte ihn unverhofft getroffen und über den Rand des Abgrundes gestoßen. Doch als er seine Schwingen ausbreiten und zurück zu Agento und der Göttin der Finsternis gleiten wollte, versagten sie ihm den Dienst. Sie hingen steif und vollkommen unbeweglich an seinem Rücken. Jegliches Gefühl war aus ihnen gewichen. Was war geschehen, als ihn die mannsgroße Kugel aus schwarzer Energie getroffen hatte, die Agento doch so mühelos abzuwehren vermochte? Dass der einstige Schüler seinem Meister schon lange überlegen war, hatte das Halbblut bereits mehr als einmal eindrucksvoll und gleichsam brutal demonstriert. Noch nie war es einem Feind gelungen, Agento zu besiegen. Der Zorn in ihm – sein innerer Dämon – war zu mächtig. Hatte sich Vargas überschätzt, als er sich zusammen mit Agento und Eria Lenui gestellt hatte? Hatte er seine eigene halbgöttliche Stärke überschätzt? War sein Schicksal bereits vorherbestimmt? Die Dunkelheit um ihn nahm immer mehr zu, je tiefer er fiel. Das Geschrei der gegeißelten Seelen wurde immer lauter und geisterhafte Hände schienen ihn immer weiter hinab zu ziehen. Der Abgrund hatte Vargas fest umklammert und würde ihn nun nie wieder frei geben. Doch was passierte mit einem lebenden Wesen, das in diesen Höllenschlund gestoßen wurde? Würden die gepeinigten Seelen das Fleisch von seinen Knochen reißen und so seine Seele aus seinem Körper zerren? Er wusste es nicht. Seit mehr als fünfhundert Jahren kannte er, ein Sendbote der Götter, die Antwort auf eine Frage nicht. Ungewissheit breitete sich in ihm aus. Doch mit jedem Augenblick, den er weiter in die Dunkelheit gezogen wurde, wich diese Ungewissheit, einer viel stärkeren Emotion. Angst. Noch nie hatte sich Vargas vor etwas gefürchtet. Doch die beängstigende Umgebung des Höllenschlundes lehrte selbst ihn das Fürchten. Die unmenschlichen Schreie der Seelen, die er nun immer deutlicher erkannte, all die gequälten Gesichter. Sowohl Scheusale als auch Menschen, Zwerge und sogar einige Elfen, die für immer hier gefangen waren. Ihre leeren schwarzen Augenhöhlen fixierten ihn und ihre bleichen transparenten Hände griffen nach ihm, umarmten ihn und zogen ihn weiter nach unten. Jeglicher Versuch sich aus der eisigen Umarmung zu befreien scheiterte und auch die schwarz gefiederten Schwingen vermochte er nicht zu entfalten. Wie lange würde dieses Martyrium noch weiter gehen? Existierte überhaupt ein Grund am Ende des schier unendlich Langen Abgrundes? Weitere Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Weitere Ungewissheit, die schon bald zu Angst wurde. Vargas spürte es kaum, doch sein ganzer Leib zitterte und zahllose silbern glitzernde Tränen flogen unmittelbar über ihm. Es schien als fielen sie langsamer als er selbst und in wenigen Augenblicken sah es sogar so aus, als würden sie nach oben schweben. Dann endlich schienen die Götter ein Einsehen mit ihm zu haben. Seine Körper wurde schlaff und seine Lieder schwerer. Die Müdigkeit des Kampfes mischte sich mit der Ohnmacht der Furcht. All die Schreie, um sich herum, nahm er nicht mehr war, als wäre er taub. Ein letztes Blinzeln schlug die verbleibenden Tränen aus den Augen und in diesem Moment erkannte er etwas. Ein geflügelter Schatten, der unbeschreiblich schnell auf ihn herab stürzte. War dies der Engel des Todes, der ihm die Erlösung bringen und seine leibliche Qual beenden würde? Nein. Erkannte er und streckte die Hand dem Schatten entgegen, ehe ein gleißender violetter Blitz den gesamten Abgrund zu erhellen schien und die gepeinigten Seelen vom stürzenden Körper des Sendboten vertrieb. Vargas war unfähig die Augen länger offen zu halten, das grelle Licht blendete ihn zu sehr. Stattdessen rief er so laut er es vermochte einen Namen „Agento!“ Schweißgebadet erwachte Vargas aus seinem Traum. Er hatte noch einmal jene Augenblicke erlebt, nach dem er in Lenuis Abgrund gestoßen wurde. Doch diesmal erwachte er nicht in dem zerstörten Dûragnur, sondern in einer einfachen fremdartigen Behausung. Die Wände waren aus Sandstein und unmittelbar über dem Fußboden und knapp unter der Decke zierten seltsame rotfarbene Malereien die Mauer. Zu verschwommen war sein Blick um genaueres zu erkennen. Sein Blick glitt weiter durch den Raum. Unmittelbar neben ihm brannte ein Lagerfeuer, das in dem dunklen Zimmer die einzige Lichtquelle war. Erschrocken wollte sich Vargas aufsetzen, als er erkannte, dass an dem Lagerfeuer ein Mensch saß, der ihn genau beobachtete. Seine Haut war dunkler als die eines Menschen aus Wellharim und hatte einen bräunlichen Teint, wie er sie nur von den Nomaden aus Iriniham kannte. Seine Kopfbedeckung ähnelte ebenfalls denen die er von dem Wüstenvolk kannte, ein einfacher Turban aus Stoff, sowie ein um den Hals geschlungenes Tuch, um sich gegen Sandstürme zu schützen. Die Kleidung des Fremden schien im spärlichen Licht des Feuers dunkelrot und wies nur wenig aussagende Verziehrungen auf. Doch so sehr er äußerlich den Nomaden auch ähnelte, etwas unterschied ihm deutlich von ihnen. Doch was? Langsam erhob sich der Fremde und ging vorsichtig zu dem Sendboten, der bei seinen Versuch sich Aufzusetzen kläglich gescheitert und wieder zurück auf sein Lager gefallen war. „Ihr müsst euch schonen, Fremder.“, sagte er mit einem Vargas gänzlich unbekannten Dialekt, der so fremd war, dass der Sendbote in seinem geschwächten Zustand Mühe hatte, ihn überhaupt zu verstehen. „Wer weiß wie lange Ihr schon unter dem Sand begraben lagt, ehe Euch das Asza heraus sog und ich Euch schließlich fand.“ Vargas verstand nicht. Was war ein Asza? Dieses Wort hatte er noch nie gehört, auch wenn es eine gewisse Wortverwandheit mit dem Begriff Asabii aufwies, dem echsenartigen Händlervolk, welches ebenfalls durch die Wüste streifte und Handel mit den angrenzenden Reichen trieb. War ein Asza vielleicht ein Asabii und wurde in der Kultur des Fremden nur anders bezeichnet? Oder war es vielleicht etwas gänzlich anderes? „Was… ist ein…“, noch ehe der Sendbote seine Frage stellen konnte wurde er unterbrochen. „Ich sagte bereits, dass Ihr Euch schonen sollt! Ihr solltet jetzt nicht so viel reden und vor allem euren Verstand einige Stunden oder gar Tage Ruhe können. Die Sonne vermag es den Geist eines Lebewesens sehr rasch zu verwirren, wenn man ihr zu lange ausgesetzt ist.“ Vargas erkannte in den gut gemeinten Worten des Fremden eindeutig Zurückhaltung. Es war offensichtlich, dass der Fremde seine Neugier kaum zügeln konnte, zum Wohle seines Schützlings aber im Zaum hielt. Vargas gehorchte und ließ sich wieder in die weichen Kissen fallen. Er hörte, dass der Fremde einen Topf auf das Feuer stellte und darin etwas zum Kochen brachte. Der Sendbote betrachte weiter die Malereien an den Wänden. Jetzt, wo sein Blick klarer wurde, erkannte er selbst im Halbdunkel des Raumes, dass es sich um vereinfachte Darstellung von Menschen und verschiedensten Bestien handelte. Bestien, die er noch nie zuvor gesehen hatte und die ihm lieber fern bleiben sollten. Gewaltige Echsen und Skorpione, Riesige Würmer und Wesen, die aus purem Wüstensand zu bestehen schienen. Was sind das für Wesen? Während Vargas weiter überlegte, kam der Fremde wieder auf ihm zu, eine dampfende Steinschüssel und einen hölzernen Löffel in den Händen. „Hier, Ihr solltet etwas Essen! Euer Körper wirk ausgezerrt, fast so als hättet Ihr Wochenlang fasten müssen.“ Vargas bestätigte die Feststellung des Mannes nur mit einem leichten Nicken und setzte sich dann auf. Er verzichtete es, sich an die kalte Wand anzulehnen und beugte sich stattdessen leicht nach vorn über. Als er die gereichte Schüssel entgegennahm und ihren Inhalt erblickte stieg in ihm Übelkeit auf und verwundert sah er zu seinem Gastgeber, der sich gerade daran machte, seine Kopfbedeckung abzuwickeln. Das Fleisch, welches in der trüben Brühe schwamm, hatte eine gräuliche Färbung, die teilweise ins Grüne überging und Vargas entfernt an einen verwesende Kadaver erinnerte. „Guhna.“, erklärte der Fremde knapp. „Keine Angst es ist nicht verdorben. Ihr Fleisch wird nur sehr dunkel, wenn man es kocht und scheint für einen Fremden nicht besonders appetitanregend auszusehen.“ Da er erkannte, dass Vargas noch immer nur skeptisch mit dem Löffel in der Fleischbrühe herumrührte fuhr er fort. „Manchen ist ihr Fleisch zu zäh und zu bitter, aber es ist sehr nahrhaft und versorgt Euch mit allem was Ihr zum Überleben benötigt!“ Nachdem er die Kopfbedeckung sorgfältig abgewickelt und zu einer einfachen Rolle zusammengerollt hatte, nahm er sich ebenfalls eine Schüssel und füllte sie mit dem unbekannten Eintopf. Vargas wollte besser gar nicht wissen, was ein Guhna war. Da der Fremde ohne zu zögern den Löffel in seiner Schüssel versenkte und mit dem dunklen Fleisch gefüllt zu seinem Mund führte, entschloss auch der Sendbote von der Speise zu kosten. Vorsichtig suchte er sich das kleinste Stück heraus, lud es auf seinen Löffel und führte ihn zögernd zu seinen Lippen. Widerwillig öffnete er die Kiefer und kostete von der Mahlzeit. Wie bereits vorgewarnt, hatte das Fleisch einen zähen und äußerst bitteren Geschmack und Vargas würgte den Fleischbrocken ungekaut hinunter. „In ein paar Tagen gibt es Asza.“, erwähnte der Mensch beiläufig, der genüsslich seine Brühe schlürfte, da er scheinbar alle Fleischbrocken herausgefischt hatte. „Ich denke das wird Euch besser schmecken. Aber im Moment kann ich euch nur Guhna anbieten.“ Entschlossen stellte Vargas die Schüssel vor sich auf den Boden und hoffte sich inständig zu irren, dass ein Asza mit einem Asabii verwandt sei. Fast schon sarkastisch stellte er sich selbst die Frage, wie er die nächsten Wochen ohne Nahrung überleben sollte, auch wenn er es schon jetzt einige Zeit aushielt. Kopfschüttelnd betrachtete der Fremde die abgestellte Steinschüssel. „Ihr müsst etwas essen. Sonst werdet Ihr hier nicht lange überleben!“ mahnte er den Sendboten mit ernsten Blick. „Wenn Ihr schon nicht überleben wollt, dann gewährt mir wenigstens die Höflichkeit und schätzt meine Gastfreundschaft und eure Rettung!“ Das spöttische Grinsen verriet Vargas, dass das Gesagte nicht vollkommen ernst gemeint war, dennoch nahm er die Schüssel auf und löffelte sie widerwillig aus. Schon nach dem vierten Bissen hatten sich seine Geschmacksnerven an das fremdartige Fleisch gewöhnt. Als er das leere Behältnis wieder auf den Boden stellte, erhob sich sein Gastgeber und verbeugte sich knapp vor seinem Gast. „Ich bin Khalish el Habdin. Ihr seid Gast in meinem Haus solange Ihr wünscht und so lange könnt Ihr Euch meiner Gastfreundschaft gewiss sein.“, erklärte der Mann, der nun endlich einen Namen hatte. „Mein Name ist Vargas.“, erwiderte der Sendbote trotz des noch immer geltenden Schonungsgebotes. „Und ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft und vor allem für meine Rettung.“ „Für Eure Rettung solltet Ihr Euch eher bei Skarr bedanken, er hat Euch gefunden, ich habe Euch nur aufgelesen und hier her gebracht.“, erkläre Khalish weiter. „Ich werde Euch nun weiter schlafen lassen. Morgen werdet ihr Gelegenheit bekommen, Euch bei Skarr zu bedanken.“ Ohne weitere Worte verließ der Dunkelhaarige den Raum und ließ Vargas allein am knisternden Feuer zurück. Jetzt wo der Sendbote allein war, entschied er sich, seine Kleidung teilweise abzustreifen und nach seinen Schwingen zu sehen. Die dunklen Flügel lagen wie seit seinem Sturz in den Abgrund, steif am Körper an und es gelang ihm nicht, sie zu entfalten. Er spürte sie nicht einmal mehr. Wie Fremdkörper wuchsen sie aus seinem Rücken, doch Teil seines Körpers schienen sie nicht länger zu sein. Prüfend fuhr er mit der linken Hand über das zerzauste Gefieder. Auch diese Berührung spürte er nicht. Seufzend streifte er sich wieder seine Kleidung über und lies sich in sein Nachtlager sinken. Bald darauf schlief er ein. Sein Verstand jedoch blieb weiter aktiv und bescherte ihm einen Alptraum nach dem anderen. Immer wieder fiel er in den Abgrund und wurde tiefer und tiefer hinab gezogen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)