Die Kinder der Schatten ihrer Selbst von Queen_Of_Wands ================================================================================ Kapitel 1: A few steps away from home ------------------------------------- Ihre Schritte hallten von den kalten Hauswänden wieder. Ein tiefer Kratzer zog sich über ihre rechte Wange. Der Schmerz brannte auf ihrer blassen Haut, doch für sie war das schon lange Alltag. Aber hatte sie jemals erwartet, ihr Leben würde einfach werden? Hatte sie je an eine schöne, heile Welt geglaubt? Nein. Seit sie sich erinnern konnte, war ihr Leben die Hölle gewesen. Immer war sie alleine gewesen, niemand hatte sich verantwortlich gefühlt. Und so hatte sie sich Trost und Halt gesucht. Trost im Rausch, Halt im Schmerz. Sogar die Leere in ihrem Kopf und die Einsamkeit hatte sie mit Stimmen gefüllt. Irgendwann hatten dann selbst ihre Verwandten sie abgeschoben. Sie hatte alles verloren, doch niemanden hatte es gekümmert. Langsam, ganz langsam war ihre Welt zerbrochen. Niemand hatte hingesehen und heute starrten sie alle entsetzt und voller Abscheu an, wenn sie sie sahen. Sie sahen nur die Hülle, das Äußere, doch das genügte ihnen schon. Langes, schwarzes Haar, totenbleiche Haut, dunkel umrandete Augen, aufgeschnittenen Arme, ein halb langes Gothic-Kleid. Leerer Blick, leicht geöffneter Mund, spröde Lippen, ungepflegte Nägel. Sie war für die Gesellschaft eine unheimliche und abstoßende Erscheinung. Sie hatte es so gewollte, hatte sich mit der Zeit immer bewusster abgegrenzt. Ihre Füße trugen sie fast selbstständig zu dem Kiosk, wo sie immer rumlungerte, wenn sie es bei Ben nicht mehr aushielt und der Friedhof ihr keine Befriedigung mehr brachte. Klackernd landeten die Münzen aus Harus Hand auf die hölzerne Theke. Der Mann dahinter holte nur schweigend zwei Flaschen aus dem Kühlschrank hinter ihm. Zitternd griff sie danach. Ihr Blick flimmerte leicht, der Mann im Kiosk blickte teilnahmslos, er war ihr seltsames Verhalten bereits gewohnt. Vor einem halben Jahr war sie zum ersten Mal bei ihm aufgetaucht, vollkommen fertig, psychisch am Abgrund. Sie hatte ihn angefleht, nicht auf ihr Alter zu achten und ihr doch etwas zu verkaufen. Damals hatte er sie auf vierzehn oder fünfzehn geschätzt. Dürr, verängstigt und zerbrechlich wie ein kleines Kind. Nun wusste er es besser und konnte ihr den leichteren Alkohol ohne Bedenken verkaufen. Er blickte ihr hinterher, als sie wieder in die Dunkelheit verschwand. Auch wenn er nicht der Typ war, der anderen große Gefühle entgegen brachte, tat die Sechzehnjährige ihm Leid. Was war ihr nur zugestoßen? Die eine Flasche in der Hand saß Haru am Rande des Lichtkreises einer Straßenlaterne. Den Rücken an die unebene Hauswand gelehnt, nahm sie einen tiefen Schluck. Dann noch einen. Jeder Schluck trug sie weiter von den Erinnerungen fort. Doch sie spürte seine Berührungen immer noch am ganzen Körper. Die Demütigung seinerseits war zu groß gewesen, als dass sie sie einfach so würde vergessen könnte. Er ließ sie leiden, liebte ihr verzweifeltes Wimmern und Flehen und doch kam sie immer wieder zu ihm zurück. Sie kroch zu ihm, weil sie nichts anderes hatte, weil Ben das einzige war, woran sie festhalten konnte. Sie gab sich ihm immer wieder hin, weil es ihr ein Gefühl von Alltag gab. Es war ein grausamer Alltag, doch es war wie eine Sicherheit für Haru. Das war ihr Leben und ihre Normalität. Noch einen Schluck. Langsam stellte sich die geliebte und gleichzeitig so verhasste Taubheit ein. Sie brachte ihr Trost und Vergessen. Allerdings würde sie erneut das Messer ansetzten müssen, um ihr wieder zu entkommen. Gedankenverloren strich sie über ihren vernarbten Unterarm. Wie oft hatte sie sich schon bluten sehen? Zu oft und doch nicht häufig genug. Die Stimmen in meinem Kopf schreien auf mich ein. „Warum hast du das getan?“ Ich weiß es nicht. Es kommt immer wieder über mich. Immer wieder, ich kann nichts dagegen machen. Aber ich will es auch nicht. Es ist gut so, wie es ist. Ich werde nichts daran ändern, denn es hilft mir. Es ist mein Halt, ich habe sonst nichts anders. Es heißt immer, im Tod ist man alleine. Doch ich bin jetzt schon allein, war es schon immer. Leben oder Tod? Freude oder Schmerz? Himmel oder Hölle? Ist das nicht egal, wenn man sein ganzes Leben lang eine Verstoßene gewesen ist? Langsam erhob sie sich. Die jetzt leere Flasche ging auf dem Kopfsteinpflaster klirrend zu Bruch. Die andere Steckte Haru in die halb geöffnete Handtasche. Sie befand sich nicht weit von „zuhause“ weg und sie überlegte, ob sie nach ihrer überstürzten Flucht nun dahin zurückkehren sollte. Aber warum sollte sie es nicht tun? Irgendwann würde sie sowieso wieder vor sich selbst in seine Arme flüchten, also, warum nicht gleich? Die Zeit spielte keine große Rolle mehr. Tag und Nacht unterschieden sich kaum noch. Immer dieselbe Leere, derselbe Hass auf sich und ihren Körper. Wann würde er endlich vergehen? „Nie“, flüsterte sie in die Nacht, die sie umgab. Sie setzte sich langsam in Bewegung. Ihr leicht keuchender Atem blies kleine Wölkchen in die eiskalte Luft und doch war die Kälte der Umgebung nichts gegen die Kälte in ihrem Inneren. Sie zitterte und sah, wie sich eine Gänsehaut über ihre Arme und Beine zog. Sie brauchte nicht auf ihre Schritte zu achten, ihr Körper suchte von ganz alleine nach der Wärme in Bens Haus. Die einzige, die sie jemals einigermaßen hatte genießen können. Trotz der Verzweiflung, die sie mit diesem Ort verband. Warum hält man an etwas fest, was einen immer wieder verletzt? Warum lässt man sich immer wieder ins Gesicht schlagen, obwohl man in Deckung gehen könnte? Warum tat sie es? Du tust es, weil du nicht kämpfen willst. Du willst die Niederlage, die unweigerlich kommen wird, nicht sehen. Du läufst lieber mit geschlossenen Augen ins Verderben, als dass du deine Fehler einsiehst. Denn du würdest dein eigenes Spiegelbild nicht mehr ertragen, wenn du wüsstest, dass du schwach bist. Ja, genauso war es bei ihr gewesen. Bis sie ihre Schwäche erkannt hatte, bis sie bemerkt hatte, dass sie nur vor ihrem Leben weggelaufen war. Und jetzt konnte sie nichts mehr tun, als das Leben so zu nehmen, wie es war. Kapitel 2: Scars on his lips ---------------------------- Soaa^^ das Kapitel ist von meiner geliebten ...^^ Ich denke, man merkt, wie sich unsere beiden Schreibstyle voneinander unterscheiden...tjaaa xDDD Viel Spaß beim lesen, das Doro ________________________________________________ Viele sagen, reiche Leute müssen glücklich sein. Viele von denen, die ihr Geld nicht über alles stellen und damit nicht prahlen sind das auch. Doch man spricht da meist nur von den Erwachsenen. Aber das gleiche steht doch auch im Bezug zu den Kindern? Man sagt doch, wohlhabende oder gar reiche Kinder sind alle glücklich aber erst dann zufrieden, wenn sie das kriegen, was sie wollen und bis dahin strampeln und trampeln sie einfach ein wenig rum. Hinter diese Klischees will aber kaum einer sehen, denn dann würden sie bemerken, dass solche Kinder in den meisten Fällen überhaupt nicht diesen Vorstellungen entsprechen. Kinder reicher Eltern sind oft einsam. Wieso wohl? Weil die Eltern nie Zeit haben? Weil sie keine Freunde aus den normalen Reihen der Gesellschaft haben? Weil sie oft nicht mal eine öffentliche Schule besuchen? Alles zusammen ergibt ein Faktor, aber da ist trotzdem jemand, der da ist. Entweder ein Kindermädchen, die Lehrer und gegebenenfalls mal ein gleichaltriger Bekannter aus den höheren Kreisen. Aber wünscht sich das ein Kind? Nein, nicht wirklich, denn die Einsamkeit kommt nicht von außen, sie herrscht von innen. Jemand, der keine Liebe von seinen Eltern erfährt, sondern nur betreut wird, von einem dieser Babysitter oder einem Privatlehrer, der ist durchaus einsam. Doch äußern sich die dadurch entstandenen Probleme des Kindes stets anders. Wenn die Eltern aber nicht nur keine wirkliche Liebe für das Kind empfinden sondern auch noch Angst vor ihrem eigen Fleisch und Blut bekommen, je älter es wird, desto schlimmer wird die Folter für das Kind, das sich doch so nach Liebe und Geborgenheit sehnt und irgendwann gibt es auf, sieht ein, dass es nicht erwünscht ist und geht dann seinen eigenen Weg, reißt die Ketten durch, die das Kind zu Hause halten und ab dann ist es frei...frei, aber nicht befreit von sich und der zerstümmelten Psyche, die den Eltern zu verdanken ist. Sasha ist so ein Kind, das keine Bindung zu irgendetwas hat. Die Mutter, nie da, früher wie jetzt. Immer nur unterwegs, bei Dreharbeiten, denn sie war ja eine herausragende Schauspielerin. Eine Frau, für die die Arbeit wichtiger gewesen war, als ihr eigenes Kind. Sobald wie möglich hatte sie das Kindermädchen eingestellt, damit sie weiter arbeiten konnte und ihr war egal, was mit ihrem Kind war. Aber diese Gleichgültigkeit hatte sich im Laufe der Jahre geändert, eben auch, weil sich ihr Sohn so drastisch veränderte. Der Vater, nicht viel besser, als die Mutter. Der ach so tolle und gefragte Architekt. Während seine Ehefrau weg war, machte er mit anderen Frauen rum, egal ob diese liiert waren oder nicht, ob sie Kinder hatten oder überhaupt keine wollten. Wälzte sich durch fremde Betten und es war ihm schnuppe, wie es Sasha ging. Dieser verbrachte seine Zeit einsam in seinem für ihn viel zu großen Zimmer, vollgestopft mit Spielzeugen, die seine Eltern und seine Freunde ersetzen sollten. Anfangs war Sasha das sogar recht, ab und an spielte er mit dem Kindermädchen, das sich ansonsten nur vor den Fernseher hockte und Chips in sich hineinschaufelte und das dafür noch Geld bekam. Selbst das war ihm vorerst egal gewesen, doch mit zunehmendem Alter verschloss sich Sashas Gemüt und es endete damit, dass er schon mit 10 Jahren in irgendeiner Ecke seines Zimmers saß und einfach nur ins Leere starrte, doch auch das war seinen Eltern egal, sie kümmerten sich lieber um ihren eigenen Dreck als um ihn, wahrscheinlich auch, weil er ihnen damals schon Angst machte- obwohl es ihre eigene Schuld war. Ab und an hatte er am Fenster gesessen und hinaus geschaut. Er hatte sämtliche Passanten um das, was sie hatten, beneidet. Selbst wenn sie aus den ärmsten Verhältnissen stammten, so waren sie wenigstens nie alleine, weil sich doch jeder um jeden kümmerte. Wenn seine Eltern nicht da waren, verließ er das Haus, setzte sich auf eine Bank im Park und beobachtete weiter. Blanker Zorn überkam ihn, wenn er hörte, wie Eltern nach ihren Kindern riefen, wenn diese übermütig umhertollten. Wenn seine Eltern nach ihm riefen, was schon selten vorkam, dann war dies in einem seltsamen Ton, so als würden sie sich dagegen sträuben, ihren Sohn zu sich zu rufen. Er bekam immer mit, wie Kinder die Aufmerksamkeit ihrer Eltern auf sich zogen, mit den simpelsten Mitteln, doch wenn er das versuchte, stieß er nur auf Abneigung, etwas was seine Seele zerfraß. Also griff er, als er wieder einmal alleine zu Hause war, in den Badezimmerschrank seines Vater, holte dort die Rasierklingen raus und setzte sich in den Eingang des Hauses, setzte mit jeder verstrichenen Viertelstunde die Klinge an und zog sie sich über den Unterarm, solange, bis sein Vater nach Hause kam. Doch anstatt dass er voller Sorge zu seinem Kind stürzte, stand dem nur die blanke Wut ins Gesicht geschrieben und dann flog auch schon die erste Ohrfeige.... Wie viele Ohrfeigen hatte er bisher eingesteckt? Er hatte sie nie gezählt, doch er wusste, wenn sein Vater ihn schlug, dann hatte er Sasha bemerkt, das war das einzige was zählte. Sasha wollte gar nicht mehr von seinen Eltern geliebt werden, nein er wollte einfach nur bemerkt werden und das wurde er nur, wenn er mit drastischen Mitteln dafür sorge. Je öfter er die Rasierklinge ansetzte, genauso oft wurde er angeschrien und geschlagen, bis es zu seinem Alltag wurde. Immer öfter verließ er das Haus, rutschte in der Gesellschaft tief ab und hatte nur Glück, dass er irgendwann auf Marco gestoßen war, der ihn zumindest aus den tiefsten Regionen wieder herausgezogen hatte. Seitdem lebt er in einer schwarzen, düsteren Welt und in einer noch düstereren, die sich seine Gedanken schimpft. Sasha kehrt nur noch nach Hause zurück, um angeschrien und geschlagen zu werden. Irgendwann hatte er sich ein Blatt Papier geschnappt und darauf geschrieben was er dachte, über sich, über seine Eltern, über die Welt, dann hatte er sich ein Messer aus der Küche geholt und es sich an der Wange angesetzt, hatte gezogen und der beißende Stahl hatte die Haut locker durchtrennt. Das Blut tropfte auf seine geschrieben Gedanken und immer wieder setzte er das Messer an, bis sein Gesicht blutüberströmt und das Geschriebene durch das Blut nicht mehr lesbar war. Das feuchte Papier hatte er zerrissen und weggeworfen, bevor er hinunter gegangen war und seinem Vater damit zeigte, was er getan hatte. Entsetzt darüber, was Sasha mit sich angestellt hatte, hatte sein Vater zum ersten mal wirklich begriffen wie krank sein Sohn eigentlich war, doch der Architekt war viel zu stur und zu verblendet um zu wissen, wessen Schuld das eigentlich war. Er hatte Sasha ins Krankenhaus gefahren und ihn anschließen zu einem Psychater geschickt. Doch Sasha schwieg. Er sagte nichts. Nie ein Wort. Es hatte lange gedauert, bis er wieder nach Hause konnte. Aber Sasha war nicht wirklich zu Hause. Sein wirkliches zu Hause waren seine Gedanken, in denen er Zuflucht suchte um der Realität zu entschwinden. Was ist ein Mensch ohne Familie? Was ist ein Mensch ohne Freunde? Was ist ein Mensch ohne Liebe? Was ist ein Mensch mit verstümmelter Seele? Die Antwort ist einfach: Der Mensch an sich mag vielleicht nach außen hin leben, aber innerlich ist er tot und das haben die zu verschulden, die ignoriert haben, wie der Mensch stirbt, die die Zeichen nicht gesehen haben, dass etwas nicht in Ordnung war, jemand, der nicht da war, als er gebraucht wurde. Sasha ist tot, er hat nur ein paar Halme, die ihn noch am Leben erhalten und bisher hat er noch sorgsam darauf geachtet, diese nicht auch noch zu verlieren... im Strom seiner endlosen Gedanken. Kapitel 3: Nowhere to run ------------------------- Endlich einmal alleine sein in dem dunklen, warmen Nest, dass sie sich in ihrem Inneren geschaffen hatte. Einmal, ein einziges Mal, wollte sie eine Stille genießen können, die nicht voller Angst war. Angst davor, unfreiwillig mit sich selbst konfrontiert zu werden. Mehr wünschte sie sich doch gar nicht. Doch wirkliche, absolute Einsamkeit war etwas, das sie schon viel zu lange nicht mehr kannte. Sie würde sie auch jetzt nicht finden. Sie würde heute Abend gar keine Ruhe mehr finden. Das war ihr spätestens bei Bens schallender Ohrfeige klar geworden. Sie hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen, der ihr eindeutig gezeigt hatte, dass sie es noch bereuen würde, vor ihm geflohen zu sein. Vielleicht nicht heute, hatte er doch erst vor einigen Stunden seine Wut an ihr ausgelassen in dem er sie auf seine Art und Weise gedemütigt hatte. Aber vielleicht morgen…oder übermorgen. Sie starrte in den großen Spiegel, der fast die gesamte Rückwand des großen, dunklen Zimmers einnahm. Die schweren, schwarzen Vorhänge waren diesmal nicht zugezogen. Früher hatte sie nicht in den Spiegel sehen können, ohne dass sich die Stimmen sofort bemerkbar gehabt hätten. Auch wenn die Stimmen immer vorwurfsvoller geworden waren, konnte sie ihnen nun mehr entgegen setzen… zumindest versuchte sie sich das in diesem Moment einzureden. Sie war nicht stärker geworden und die Stimmen auch nicht schwächer. Sie hatte einfach nur aufgehört, sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ihr Schicksal aufzulehnen. Sie hatte in Wirklichkeit aufgegeben und ging nun einen einfacheren Weg. Sie führte den Kampf nicht mehr gegen etwas, auf das sie keinen Einfluss hatte sondern nur noch gegen sich selbst. Sie versuchte, die Augenblicke des Schmerzes erträglicher zumachen und hatte sich dabei doch nur selbst in eine masochistische, innerlich zerbrochene Hülle verwandelt, der ihr Leben eigentlich egal war. Obwohl sie atmete und ihr Herz schlug, war das, was man Menschlichkeit und Sozialverhalten nannte, in ihrem Herzen schon längst gestorben. Es gab nur eine einzige Person, die diese Dinge und das Gefühl der Geborgenheit wieder in ihr wachrief und wie eine schwache, schon bald wieder erlöschende Flamme zumindest für diesen einen Moment in ihr aufgewühltes Herz setzte-und diese Person war ganz sicher nicht Ben. Haru drehte die Rasierklinge zwischen ihren bleichen Fingern. Tränen rollten ihr nun über die Wangen und sie hatte Angst. Angst vor ihrem Leben und Angst vor den tiefen, dunklen Weiten ihres eigenen Geistes. Schon jetzt bemerkte sie das leise Flüstern, mit dem sich die Stimmen ankündigten. Sie schluckte, dann setzte sie die scharfe Klinge an ihre blasse Haut. Fast augenblicklich lief ihr hellrotes, warmes Blut über den Unterarm- für sie eine der wenigen Dinge, die ihr unumstößlich zeigten, dass sie wirklich noch am Leben war. Immer und immer wieder zog sie das scharfe Metall durch das weiche Fleisch. Der Schmerz war erlösend, aber nur für einen kurzen Moment. Jemand, der ihre zerschnittenen und vernarbten Arme gesehen hätte, hätte sich wohl gefragt, wie sie überhaupt noch eine unversehrte Stelle fand, die sie mit ihrem Angriff gegen sich selbst verunstalten konnte, fand. Doch sie tat es. Viel zu oft, immer wieder. Ihr Kopf lehnte an der Spiegelscheibe. Das Blut lief ihr über die Unterrame aber auch über ihre Hände und die Finger. Die Rasierklinge fiel zu Boden, als sie unkontrolliert zu zittern begann. Vorsichtig, unsicher, hob Haru die Hand. Mit ihrem Zeigefinger schrieb sie ihren Namen in blutigen Lettern auf den Spiegel. Sie starrte ihr „Werk“ aus ausdruckslosen Augen an und wieder stellten sich ihr die immer wiederkehrenden Fragen: Wer war sie eigentlich? Was machte sie hier noch? Warum war sie überhaupt noch am Leben und nicht schon tot, obwohl sie das mehr als alles andere herbeisehnte? Sie zuckte mit den Achseln. Sie würde schon noch früh genug sterben. Das einzige, dessen sie sich noch sicher sein konnte. Ein Versprechen der Welt und das einzige, das ihr diese Gesellschaft gab. Ein Versprechen, dessen Erfüllung so sicher war, wie das Amen in der Kirche. Jener Kirche, die so mitleidig auf die „Sünder“ ihrer Welt blickt, den Wunsch ihnen zu helfen vorheuchelt und sie in Wirklichkeit in aller Öffentlichkeit verflucht. Doch das ist nicht nur ein Problem der Kirche, sondern der ganzen zerrütteten, verfaulten und stumpf gewordenen Menschheit unserer Zeit. Im nächsten Moment öffnete sich die Zimmertür mit einem leisen Klacken. Ben trat herein, ging einige Schritte in den Raum hinein, bevor er stehen blieb. Seine Nasenlöcher weiteten sich kaum merklich, er starrte unbewegt auf Haru runter. Dann schüttelte er bedauernd und verständnislos den Kopf. Zwar hätte sie es vorhersehen können, doch in ihrem Zustand konnte sie kaum einen Schritt weit denken. So zuckte sie noch heftiger zusammen, als der Schmerz hervorgerufen hatte, als sein Fuß sie in die Seite traf. Als sie aufblickte stand er direkt über ihr. Dann bückte er sich, griff ihr unter die Arme und zog sie in die Höhe. „Du hast mal wieder maßlos übertrieben“ Ein schwaches Schulterzucken war ihre einzige Antwort. „Komm mit“ meinte Ben knapp und bestimmend. Mit diesen Worten zog er die zitternde, stolpernde Schwarzhaarige hinter sich her. Zuerst wusste Haru gar nicht, was er jetzt mit ihr vorhatte, bis sie realisierte, dass er sie ins Bad schleppte. Kaum dort angekommen, drückte er sie auf den Rand der Badewanne. Dann holte er Watte aus dem Schrank und tränkte diese mit lauwarmem Wasser. Dann setzte er sich neben sie, nahm ihren linken Arm in die Hand und begann ihn abzutupfen. Die Sechzehnjährige machte große Augen, als sie zuerst auf seine Finger und dann in sein Gesicht sah. So besorgt um sie war er nur selten. Doch dann sah sie die wahre Fürsorge in seinen Augen, die nicht geheuchelt war und nicht auf etwas hinauslief, was ihr gar nicht gefiel. Doch es war ihr eigentlich egal. Er hielt sie doch nur am Leben, weil sie zu so etwas wie seiner persönlichen Mätresse geworden war, die er für seine Zwecke missbrauchen konnte, wie er es wollte, weil sie von ihm abhängig war. Kaum hatte das Blut aufgehört zu laufen, hatte er sich noch einmal abgewandt und war nun dabei ihr saubere Verbände um den linken Unterarm zu legen. Auf den rechten, an dem sie sich nur einen einzigen Schnitt zugefügt hatte, der aber trotzdem stark geblutet hatte, klebte er ohne ein weiteres Wort einfach nur ein Pflaster. Haru starrte auf die verarzteten Gliedmaßen hinab, doch sie fühlte nichts dabei, als eine seltsame Leere, die langsam aber sicher von ihr Besitz ergriff. Die in jeden Winkel ihres Körpers kroch und sie fast vollkommen ausfüllte. Verzweifelt klammerte sie sich an den einzigen Halt, der ihr in diesem Moment zur Seite stand. Ihre Finger krallten sich so fest in Bens Hemd, dass der Verband an ihrem linken Arm sich augenblicklich rot färbte, da der Druck, den sie damit aufbaute, das Blut wieder aus den Wunden presste. Ein Zucken ging durch ihren Körper, gefolgt von einem Schluchzen. Dann brach die Schwarzhaarige in unkontrolliertes Schluchzen aus. Sie hatte schon wieder verloren. Wieder war ihr die ganze Situation aus den Händen geglitten. Sie hatte es schon wieder nicht geschafft, ihr Leben, das wie eine Glasstatuette auseinander gebrochen war, wieder zusammenzusetzen. Nicht einmal in kleinen Teilen. Ben fuhr ihr langsam mit den Fingern über den Rücken, seine andere Hand lag in ihren Haaren-und diesmal ließ sie seine Berührungen zu, auch wenn sie fast immer auf mehr hinausliefen. Sie ließ es zu, dass er ihr so nahe kam wie sonst eigentlich niemand und das, obwohl sie es eigentlich nicht wollte. Doch das war ihr jetzt egal, sie würde alles zulassen, solange es ihr zumindest eine kurze Erlösung von ihrem jetzigen Zustand versprach… Kapitel 4: Moth to the flame ---------------------------- Regen trommelte gegen die Fensterscheibe. Draußen war es so düster, dass das Zimmer nur mit schwachem Zwielicht, das durch die Scheibe drang, beleuchtet wurde. Trotzdem dachte er gar nicht daran, das Licht einzuschalten. Die Dunkelheit hatte etwas beruhigendes an sich. In ihr kannte er sich aus, denn was hätte dunkler sein können, als seine Gedanken? Sasha stand von seinem Bett auf, klappte das Buch zu, das er grade gelesen hatte und stellte es ins Regal zurück, der einzige Gegenstand in seinem Zimmer, in seinem Leben, in dem Ordnung herrschte. Die Buchrücken kündeten von düsteren Themen, etwas, was seine Eltern nie verstehen würden,...wie auch, sie verstanden ihn ja nicht mal. Das hatten sie noch nie getan und das würde sich auch nie in seinem Leben ändern. Sie beließen es einfachhalber bei dem „normalen“ Alltag, ohne sich ansonsten groß um ihn zu kümmern. Es interessierte sie nicht mal groß, dass er nicht mal mehr zur Schule ging. Sie wussten es zwar, doch sie ignorierten diese Tatsache, genauso wie sie zu leugnen bereit waren, dass sie überhaupt einen Sohn hatten. Doch es machte ja keinen guten Eindruck, wenn man den eigenen Sohn ins Kinderheim abschob oder dem Jugendamt übergab, vor allem weil beides so seine Konsequenzen für sie hatte. Er seufzte, ließ sich auf der Fensterbank nieder und starrte nach draußen, mit der Stirn gegen die Scheibe gelehnt. „SASHA!“ Die ätzende Stimme seines Vaters riss ihn aus den Gedanken. Was war jetzt schon wieder? Wichtig würde es nicht sein. Wahrscheinlich wieder irgendetwas banales,..oder sein Vater wollte einfach nur wieder seine Wut an ihm auslassen, wie immer, wenn irgendwas nicht so lief, wie er es geplant hatte. Das war ja schon nichts Neues mehr, das ging schon seit Jahren so. Es war einfach besser, die Prügel zu kassieren, gar nichts dazu zu sagen und dann wieder im Zimmer oder nach draußen zu verschwinden, dann hatte er danach wenigstens seine Ruhe. Noch ein paar Minuten lang sah er den Regentropfen zu, wie sie sich wie die Lemminge in die Pfützen auf den Straßen stürzten, bevor er aufstand, zur Tür schlurfte, gerade als sein Vater zum zweiten Mal nach ihm brüllte. „Was?!“ meinte er, als er die Tür geöffnet hatte, gerade mal so laut, dass sein Vater ihn hören konnte, was diesen wohl noch wütender machte. Es gab nichts, was seinen Vater noch weiter auf die Palme bringen konnte, wenn der eh schon aufgebracht war, als Sashas ruhige Art. Noch nie hatte er sich über die Aggressionen seines Vaters aufgeregt und das war wohl der springende Punkt und somit auch ein Grund für die Ohrfeigen, die er täglich bezog...ihm war es sowieso egal. Ein kurzer Augenblick des Schmerzes. Das war nicht im Gegensatz zu den Schmerzen, die er wirklich litt. „KOMM SOFORT RUNTER!“ tobte sein Vater weiter. Sasha fragte sich nicht mal, warum der immer noch schrie. Er hätte ihn auch gut hören können, wenn er leiser gesprochen hätte. Aber das war eben so eine Macke von seinem Vater. Lieber groß rum pöbeln, damit man groß und mächtig wirkte und genau das war es, was sein Vater nie war und sein würde. Er war eine kleine Persönlichkeit, die sich eben besser fühlte, wenn andere unter seinem ständigen Rumgeschreie zusammenzuckten. „Ist ja gut...“ murmelte Sasha, kam die Treppe schlurfend hinunter und blieb vor seinem Vater stehen, der am Fuße der Treppe gewartet hatte. In seinen Augen funkelte die blanke Abneigung gepaart mit einer immerwährenden Wut, die sich nur gegen seinen eigenen Sohn richtete. Sein Vater konnte es einfach nicht ertragen, ihn anzusehen, ohne darüber wütend zu sein, wie der Bengel aussah. Was er in der Erziehung falsch gemacht hatte, war ein überflüssige Frage, das wusste Sashas Vater selbst. Ein paar Sekunden schwiegen die beiden sich an, dann atmete der Vater einmal tief durch, damit er der Verlockung weiter rumzuschreien, widerstand. Wenn man es genau nahm, war das Gespräch sogar normaler verlaufen als sonst. Er hatte zwar wirklich eine Ohrfeige kassiert, als er, nach der Meinung seines Vaters, mal wieder Frech geworden war, doch zu weiteren Handgreiflichkeiten war es nicht gekommen- ein Wunder. Jetzt saß Sasha auf der Couch, dazu verdonnert unten zu bleiben, sein Vater hatte sein Zimmer abgeschlossen (nicht, dass er nicht wüsste, auf welchem anderen Weg er in sein Zimmer kam). Seine Eltern wollten ausgehen, auf irgendein Fest und wie in letzter Zeit häufig wurde ihm verboten, das Haus zu verlassen oder irgendwelchen Unsinn anzustellen. Auch den Grund dafür konnte Sasha sich erahnen. Seine Eltern glaubten nämlich, dass er sich jede Minute irgendetwas antun könnte und würde. Das entsprach sogar der Wahrheit. Sein Zustand stand immer auf Messers Schneide...und auch das konnte man wortwörtlich nehmen. Aber es war nicht so, als ob sich seine Eltern darüber Sorgen machen würden. Nein. Die Sorge galt der Schlechten Publicity. Wenn die Presse erfuhr, dass der Sohn eines angesehenen Architekten und einer großartigen Schauspielerin sich selbst umgebracht hatte oder nur kurz davor gewesen war, dann würde das so prunkvolle Leben fürs Erste vorbei sein. Nicht nur das. Es würden bestimmt auch irgendwelche Ermittlungen laufen und dann würden sich alle Beweise gegen die Eltern richten, denn die hätten so etwas locker verhindern können. Dann war´s das auch mit den großen Ansehen seiner Eltern. Alleine deswegen hatte Sasha schon öfter an Selbstmord gedacht. Nur damit er seinen Eltern Schaden zufügen konnte, so wie sie es immer mit ihm taten. So saß er also da, von allem fern, womit er sich hätte verletzen können. Wenn auch nur zum Teil. Seine Eltern hatten eben keine Ahnung, mit welchen Gedankengängen sich ihr Sohn umwarb oder was für Bücher er manchmal las. Er könnte sich auch locker umbringen, indem er eine Batterie aus der Fernbedienung aufknackte und den Inhalt einfach wie Alkohol wegkippte. Das wäre sogar mal etwas, was spektakulärer war, als sich vom Laster überfahren zu lassen oder von einer Brücke zu springen. Der Gedanke wurde verworfen. Es gab wichtigeres, um das er sich zu kümmern hatte, als seinen eigenen Tod. Obwohl er sich sicher war, dass er nie eines natürlichen Todes sterben würde, aber auch nicht umgebracht. Sasha war eben schon länger der Überzeugung, dass er sich schlichtweg selbst das Leben nehmen würde. Momentan war ihm einfach nicht danach. Es gab da immerhin zwei Personen in seinem Leben und das waren eben nicht seine Eltern. Man konnte aber auch nicht sagen, es wären Freunde...Freunde hatten Spaß zusammen. Freunde erzählten sich Witze. Freunde gingen zusammen Eis essen oder so etwas. All das, würde Sasha wohl kaum mit den beiden Personen machen können, weil sie eben genauso schlecht mit dem Leben dran waren wie er. Eine von den beiden Personen hatte es leichter etwas leichter, aber die andere Person hatte es vielleicht sogar noch schwerer als Sasha. Genau deshalb konnte er nicht einfach den Löffel abgeben. Sie waren zwar keine wirklichen Freunde, aber eben eine Zweckgesellschaft. Eine Stunde verstrich. Die nächste folgte. Schließlich hielt es Sasha, der sich bis dato keinen Zentimeter weiter gerührt hatte, nicht mehr auf der Couch. Er stand also auf, durchsuchte die Schränke nach etwas, womit er die Wohnungstür knacken konnte und fand tatsächlich ein Taschenmesser, weit unten in einer vollgestopften Schublade. Wie unachtsam sein Vater doch war. Wenn schon nicht mit Batteriesäure, dann halt mit einem Messer, schoss es ihm unweigerlich durch den Kopf. Doch auch dieser Gedanke wurde weggeschoben, auch wenn die Klinge, die er rausgezogen hatte, eine sichtliche Faszination auf ihn ausübte. Mit dem Messer war es einfach, das Schloss der Wohnungstür zu knacken. Bestimmt wussten seine Eltern nicht mal, dass er überhaupt in der Lage war, sich so aus seinem Gefängnis zu befreien. Das war auch ganz gut so. Sicherlich würden sie sich fragen, wo er abgeblieben war, wenn sie nach Hause kamen und ihn nicht im Wohnzimmer vorfinden konnten. Sie würden das Haus durchsuchen, sein Vater würde tobend seinen Namen rufen, aber trotzdem nicht fündig werden. Wenn Sasha dann nach Hause kommen würde, dann würde ihm sein Vater wohl oder übel den Kopf abreißen oder ihn zumindest so eine verpassen, dass er davon ein Veilchen überbehalten würde...und wenn schon. Sasha war´s egal, solange er bis dahin nicht eingesperrt im Wohnzimmer hockte. Kaum draußen ließ er die Tür ins Schloss zurückfallen. Die Tür hatte er angelehnt, das Messer zurück in die Schublade getan, damit seine Eltern nicht rausfinden konnten, wie er raus gekommen war. Erst dann hatte er das verhasste Elternhaus verlassen und fand sich in angenehmer, kühler Dunkelheit wieder. Motten schwirrten um eine Straßenlaterne nahe des Hauses. Das Licht hatte sie angezogen. Ein Licht, was sie töten würde, wäre da nicht das Plexiglas um die Lampe herum. Wäre es nicht so, dann würden die Motten sterben, weil sie einfach verbrennen würden an der heißen Glühlampe. Allerdings gab es dann doch noch einige Motten, die Abstand hielten, so als wüssten sie, was passieren könnte, wäre das Glas nicht da. Eigentlich konnte man die Motten mit Sasha vergleichen. Sie wussten, dass das, was sie anzog durchaus im Stande war, sie zu töten. So ging es Sasha eben auch, nur dass das Licht bei ihm ein Messer sein würde...oder eben ein Seil...egal was...es musste sich nur selbst damit umbringen können. Kapitel 5: A jail called life ----------------------------- Wann hatte es angefangen? Wann hatte sie begonnen, sich in sich selbst zurück zu ziehen? Warum war es überhaupt so weit gekommen? Was war Schuld? Der Tod ihrer Eltern? Die Tatsache, dass sie schon im Kindergarten eine Außenseiterin gewesen war? Dass niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte? War sie so abgerutscht, weil alle sie gemieden hatten? Aber hatten sie sie nicht gemieden, weil sie bereits so abweisend, still und zurückgezogen gewesen war? Wann hatte es also begonnen? Sie wusste es selber nicht. Sie wusste nur, dass zu viele Komponenten zusammen gekommen waren. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Hätte sie das gewollt, hätte sie nicht so dicht gemacht, dann hätte sie den Psychiatern zugehört. Zittrig fuhr Haru sich über die Augen, um die Gedanken loszuwerden. Sie brauchte jetzt Ablenkung. Ben hatte sie tatsächlich in Ruhe gelassen und so wurde dieses eine Mal der Schmerz und die Selbstvorwürfe nicht von neuerem Schmerz und aufkeimendem Ekel überschattet, sondern sie musste sich mit ihren Problemen ohne fremde Hilfe herumschlagen. Damit, was sie getan hatte und was sie fast getan hätte, hätte Ben sie nicht daran gehindert. Sie hörte, wie der Regen gegen die Fensterscheibe klopfte, ging unsicher herüber und öffnete das Fenster. Der Wind, der aufkam, drückte die Fensterflügel nach innen und Haru hatte nicht die Kraft, aber auch nicht den Willen, sie davon abzuhalten. Wasser lief an den Scheiben entlang und tropfte auf den Boden ihres Zimmers. Sie streckte den Kopf hinaus in die Dunkelheit. Die Tropfen klatschen ihr ins Gesicht und liefen ihr durch die Haare und mit einem Mal wusste sie, was sie machen musste, um wenigstens für kurze Zeit ihrem vernarbten und zerrüttetem Selbst zu entkommen. Doch als allererstes musste sie hier wieder raus. Sie warf einen letzen Blick auf den blutverschmierten Spiegel, auf dem noch immer ihr Name zu lesen war. Das Blut machte nur zu gut deutlich, wer sie war. Ja, sie lebte, aber auch nicht mehr. Sie hatte nie mehr gewollt, aber um einiges weniger. Einfach nur die Augen schließen, einschlafen und nie mehr aufwachen und somit dieser Welt entfliehen. Unwiderruflich und für immer frei sein. Frei von sich selbst und von den Leuten, die dachten, sie könnten verstehen. Haru floh förmlich aus ihrem Zimmer, ließ somit auch die Gedanken hinter sich, die sich in ihrem Geist bildeten und bereits eine Gestalt einnehmen zu begannen, die sich nicht sehen wollte. Sie riss die Tür auf und erst als sie wieder hinter ihr zuschlug, fühlte sie sich wieder einigermaßen frei, doch noch nicht genug, um sich wohlzufühlen. Sie stolperte die Straße entlang, ohne ein Ziel, zumindest keines, was ihr bewusst war. Ihr Unterbewusstsein wusste nämlich nur zu gut, wer die einzige Person war, die ihr jetzt Linderung verschaffen konnte- nur dadurch, dass sie einfach da war. Genau dorthin trugen ihre Beine sie nun, ohne dass Haru darauf achtete. Der Regen durchweichte ihre Kleidung, es war ihr egal. Wie lange war sie durch die Straßen geirrt? Sie wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Vergessen, einfach nur vergessen, was passiert war, was das Schicksal ihr angetan hatte. War das denn so schwer? War das denn wirklich zu viel verlangt? Was hatte sie getan, dass sie so bestraft wurde, für etwas, was sie nicht verbrochen hatte. Gab es überhaupt einen Grund, oder war es einfach nur die Willkür einer grausamen Wahrheit, die sich zufällig die Leute aussuchte, die sie verdeutlichen sollten um somit zu zeigen, dass es diese Wahrheit, die sich wie ein seltenes Krebsgeschwür durch die Gesellschaft fraß, gab? Als Haru ihr Ziel erreichte, atmete sie schwer. Sie begann nun wieder zu zittern, doch sie wusste, dass sie es geschafft hatte. Sie erkannte die Silhouette, die gerade aus ihrem Haus trat. Natürlich tat sie das. Die Person, die sich dahinter verbarg, war schon zu häufig ihre Anlaufstelle gewesen, wenn es ihr wirklich dreckig gegangen war, als dass sie sie jemals vergessen würde. Sie wollte es auch nicht, denn das würde bedeuten, dass wirklich niemand mehr da war, um sie aufzufangen, um sie aufzuhalten, wenn der Wind sie mal wieder davontrug, wie einen Schmetterling, der zu leicht war, um dem Sog zu entkommen, zu schwach, um sich gegen den Wind zu stemmen. Dann wäre derjenige nicht mehr an seiner Seite, der sich als einziger wirklich um ihre Probleme zu kümmern schien, dem es wirklich naheging und der versuchte, ihr zu helfen und ihre Seele weiterhin zusammenzuhalten, damit sie nicht vollkommen zerbrach. „Sasha…“ sie hauchte den Namen fast nur, war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte. „Sasha“, diesmal war sie laut genug, damit er sie bemerken musste, das wusste sie, doch er drehte sich nicht zu ihr um, schien sie gar nicht wahrzunehmen. Alles was er tat, war den Motten bei ihrem Tanz um das Licht zuzusehen. Er schien sogar zu ignorieren, dass es in Strömen regnete. Oder bemerkte er auch das nicht, genauso wenig wie sie? Sie machte noch ein paar Schritte auf ihn zu, überwand die Distanz zwischen ihnen und griff ihn dann am Arm, um ihn daran zu sich herumzudrehen. Noch einmal sagte sie seinen Namen. Als er ihr endlich ins Gesicht blickte, blitzte etwas in seinen Augen auf. Es war, als brauchte er ein paar Sekunden, um sie zu erkennen, doch dann verschwand der misstrauische Ausdruck auf seinem Gesicht. Man konnte zwar nicht wirklich sagen, dass er erleichtert oder erfreut wirkte, auch nicht, dass die Spannung aus ihm wich und doch war es mehr, als sie von ihm bekam, wenn er in sich selbst abgerutscht war. „Ach du bist´s“ meinte er nach einiger Zeit, die Haru wie eine kleine Ewigkeit vorkam. „Ich dachte, mein Vater wäre schon wieder zurück“, man hörte seiner Stimme nicht an, ob es ihn gestört hätte, wenn es so gewesen wäre, denn er sprach mit dem von ihm gewohnten monotonen und desinteressierten Tonfall, den er recht häufig an den Tag legte. Sie schaute ihm in die Augen und ihr Blick reichte aus, um ihm zu erklären, was los war und warum sie zu ihm gekommen war. Genau so reichte auch ein Blick von ihm, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Kommentarlos packte er sie am Arm und zog sie mit sich. Sie stolperte hinter ihm her, doch er ließ nicht locker und verlangsamte sein Tempo auch nicht. Haru blieb also nichts anderes übrig, als ihm bedingungslos zu folgen, doch das war nichts, was sie störte. Erst, als sie vor dem großen, eisernen Tor standen, blieb er stehen und ließ sie los. Dann drückte er die schweren Torflügel auseinander und trat auf den Schotterweg, auf dem sich kleine Pfützchen gebildet hatten. Haru folgte ihm geschwind, überholte ihn und begann fast augenblicklich wie ziellos durch die Gräber hindurch zu wandeln. Sasha sah ihr gedankenverloren hinterher. Ja, sie gehörte wirklich hier hin. Auch wenn ihre Absätze tief in den schlammigen Boden einsanken, wirkte es, als würde sie über die Erde schweben. Wie ein Geist, der sein Grab nicht wiederfand. „Wie es wohl wäre, nun da unten zu liegen“, die Schwarzhaarige starrte auf eines der Gräber. Ihr Blick war sehnsüchtig und zweifelnd zugleich. Irgendwann würde sie selbst dafür sorgen, dass man sie beerdigte. Sie würde nicht warten, bis das Schicksal ihr diesen Gefallen tat. „Es wäre sicher besser, als noch viellänger hier zu verweilen“ kam Sashas Antwort etwas verzögert, als hätte er darüber nachgedacht, ob es klug wäre, das auszusprechen. Doch in Wirklichkeit hatte er einfach nur wenige Sekunden gebraucht, um sich nach ihren Worten wieder mit eigener Kraft ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Er sah, dass Haru weitergegangen war und mit zielgerichteten Schritten ein ganz bestimmtes Grab aufsuchte. Sasha hatte mit einem Mal das ungute Gefühl, genau zu wissen, welches das war und er sollte Recht behalten. Vor dem Grab ihrer Familie sank das Mädchen auf die Knie und begann wieder zu zittern. Er war ihr gefolgt und stand nun hinter ihr. Er lauschte ihren Worten, als sie mit brüchiger Stimme zu erzählen begann. „Ich werde sie niemals vergessen. Genauso wenig, wie den Tag, an dem sie starben. Ich träume immer noch davon. Es ist der einzige Alptraum, den ich habe, doch er ist schlimmer als alles, was ich mir vorstellen kann und er kommt immer und immer wieder… Ich habe meine Familie geliebt. Ich liebe sie immer noch. Meine Eltern…meine Schwester. Ich hätte alles getan um sie zu beschützen, ich wäre für sie gestorben. Doch an jenem Tag war ich nicht da, um den Tod von ihr fernzuhalten. Doch in meinen Träumen hasse ich sie alle, weil wegen ihren Tod das aus mir geworden ist, was ich bin.“, ihre Stimme brach, sie schluchzte und Tränen rannen über ihr Gesicht. Sasha ließ sich neben ihr nieder, umarmte sie von hinten. Dankbar drehte Haru sich um und klammerte sich an den 17-jährigen. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor sie weitersprach. „Was habe ich denn getan? Was habe ich falsch gemacht? Warum, Sasha, warum? Ich…ich will doch nur ein ganz normales Leben. Warum kann ich nicht sein, wie alle anderen?“ Sasha schwieg. Was sollte man dazu auch großartig sagen? Außerdem wusste er, dass sie eigentlich keine Antwort erwartete. Er wusste auch, dass ihre klaren Momente, in denen sie sich ihrer Selbst voll und ganz mit jeder Faser ihres Seins bewusst war, die schlimmsten waren. Er fühlte sich kurz hilflos, doch dieses Gefühl verblasste sehr schnell wieder. Erst jetzt fiel ihm der Verband an ihrem linken Arm auf, der vollkommen durchnässt und ebenso rot war. Er nahm ihren Unterarm in die Hände und strich darüber. Ein Teil des durch den Regen wieder aufgeweichten Blutes blieb an seinen Fingern kleben, doch es kümmerte ihn nicht. Haru starrte gebannt auf seine Hände und für einen kurzen Moment schoss ihr der Wunsch durch den Kopf, er möge nicht mehr aufhören, denn seine Berührungen taten ihr gut. Doch der Gedanke verschwand so schnell wie er gekommen war und sie konnte ihn nicht richtig fassen. Sasha nahm sie noch etwas fester in den Arm, doch seine Gedanken schweiften ab, trieben davon, wie Asche im Wasser. Er konnte ihr eigentlich gar nicht helfen, nicht auf die Art und Weise, dass normale Menschen es „Helfen“ nennen würden, und das wusste sie. Genauso, wie er es wusste und auch nichts anderes von ihr erwartete, war er sich doch darüber im Klaren, dass keiner der beiden jemals in der Lage sein würde, aus seinen eigenen Gedanken zu entfliehen und somit würde ein Teil der Hilfe immer auf Eigennutz basieren. Niemals würden sie dem anderen nur um dessen Willen zur Seite stehen. Doch wenn du weißt, dass du ohne den anderen nicht leben kannst und wenn du weißt, dass es ihm genau so geht- was spielt das dann noch für eine Rolle? Ist es dann nicht egal, warum er dich, dein zerbrochenes Herz und deine gespaltene Seele zusammenhält, solange er es überhaupt tut? Wenn er dich nicht alleine lässt und dich immer wieder davor bewahrt, in dir selbst unterzugehen, in dem schwarzen Strudel aus Verzweiflung und Selbstzweifel, brauchst du dann einen Grund, warum er es macht? Brauchst du eine Erklärung für die Routine, die er in dein Leben gebracht hat? Die Routine, die dafür sorgt, dass du immer wieder zu ihm zurückkommst? Willst du die Erklärung überhaupt wissen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)