Schwarze Federn von ChiisaiYume ================================================================================ Kapitel 1: Die Wanderung ------------------------ „Das war echt knapp!“, sagt Makoto, „beinahe hätte sie uns gehabt!“ „Ja. Schon verblüffend, wie schnell so eine fette Alte sein kann, wenn sie wütend wird.“ Ich kichere aufgedreht vor mich hin. Makoto ist mein bester Freund und wir kennen uns schon seit ich das erste Mal das Haus verlassen habe. Ich bin zu Hause geboren weil ich zu früh zur Welt gekommen bin und nach zwei Wochen, ich lag gerade im Garten, kam ein Junge auf mich zu. Das war Makoto. Er war damals noch drei Jahre alt und sehr neugierig. Wir sahen uns eine Weile an und dann hat Makoto in meinen Kinderwagen gegriffen und mich an die Wange gestupst. Heute sagt Makoto, das sei das erste Mal gewesen, dass er mein Kichern gehört hat und er sei damals schon verzaubert gewesen. Jetzt sind wir gerade vor einer der Verkäuferinnen davon gerannt. Sie hat uns verfolgt, weil wir ihr ein Laib Brot gestohlen haben. Aber wie immer haben Makoto und ich sie ausgetrickst. Das machen wir jedes Mal. Wir sind schon richtig berüchtigt in unserem Viertel. „Hey! Ignorierst du mich? Hallooooo, Mizuki!“ Makoto wedelt mir mit der Hand vor der Nase herum. „’tschuldigung! Ich war wieder am Träumen!“ Schon wieder beginne ich zu kichern. Makoto sagt immer, ich sei der fröhlichste Mensch aller Zeiten und ich könnte wohl jeden zum Lachen bringen. „Unser Festmahl ist angerichtet!“, verkündete jetzt Makoto. Er hat das Brot, etwas Fleisch und Käse auf die Wiese gelegt, auf der wir gerade sitzen. Wir zwei machen immer alles zusammen. Er ist für mich wie eine Familie. Meine richtige Familie ist ein Wrack. Geschwister habe ich keine. Mein Vater hat mich und meine Mutter kurz vor meiner Geburt verlassen, weil er keine Kinder wollte und meine Mutter ist ständig besoffen, Kettenraucherin und kann mir nichts bieten. Daher habe ich immer selbst für mich gesorgt. Aber meist bin ich sowieso bei Makoto gewesen und er hat sich immer um mich gekümmert. Einer plötzlichen Eingebung folgend beuge ich mich zu ihm hinüber und umarme ihn. „Ich hab’ dich so lieb!“ Doch Makoto stösst mich einfach von sich weg und sagt: „Lass das!“ Ich bin verwirrt. Warum macht er das. Früher war das immer in Ordnung. „Wir sind doch Freunde, oder?“ „Ja, klar!“, antworte ich sofort. Das ist doch wohl keine Frage! „Eben. So was tut man nicht, wenn man befreundet ist.“ „Aber das haben wir doch als Kinder auch immer gemacht!“, protestierte ich. „Schon. Aber jetzt sind wir keine Kinder mehr. Du bist siebzehn. Ich bin schon zwanzig. Das Umarmen bedeutet jetzt etwas Anderes als damals.“ „Ach so.“ Ich glaube, jetzt verstehe ich, was er meint, „Aber für mich ist das noch lange kein Grund es nicht zu tun. Du bist mir wirklich total wichtig und ich finde, das muss man sagen. Du hast immer so viel für mich getan. Für mich ersetzt du meine ganze Familie. Du bist für mich wie die Luft zum Atmen, echt!“ „Verstehe…“, sagt er nur. Den ganzen Nachmittag ist die Stimmung irgendwie bedrückt. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was ich wohl falsch gemacht haben könnte. Aber, ehrlich gesagt, mir fällt nichts ein, was ihn so tief verletzt haben könnte. Als ich zu Hause ankomme, ist die ganze Wohnung verraucht. Ich huste ein paar Mal. Weil ich so viel weg bin, habe ich mich noch immer nicht daran gewöhnt. Ich gehe in die Küche und trinke Wasser direkt aus der Flasche. Ich höre Gekicher aus dem Wohnzimmer. Als ich nachschaue, sehe ich meine Mutter, eine halbleeren Weinflasche in der Hand, die von einem fremden, sturz betrunkenen Mann von hinten umarmt wird. Er hat einen Drei-Tage-Bart und abstehende Ohren. Die beiden schaukeln hin und her. Meine Mutter trägt nur noch ihren BH und einen ultra kurzen Mini. Ohne mich bemerkbar zu machen, drehe ich mich um und gehe den Flur entlang. Ich will nicht hier sein, wenn’s zur Sache geht. Aber vor der Tür bleibe ich stehen. Meine Hand ist schon am Türknauf, drückt ihn aber nicht hinunter. In solchen Situationen gehe ich normalerweise immer zu Makoto. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich bei ihm wirklich willkommen bin. Also gehe ich in mein Zimmer. Eigentlich ist es mehr eine Abstellkammer mit einem Bett und einem Schrank darin. Ich habe nicht viel Platz, aber da ich seltener zu Hause bin als Mama nachts allein, macht mir das nichts aus. Ich lasse mich auf’s Bett fallen und verschränke meine Arme unter meinem Kopf. Ich döse leicht weg. Doch schlafen kann ich nicht, weil ich meine Mutter und ihren ‚Freund’ höre. Ein Klopfen lässt mich aufschrecken. Ich sehe zum kleinen Fenster und dahinter entdecke ich Makotos Gesicht. ‚Tut mir leid!’, schreibt er auf die beschlagene Scheibe. Ich stehe auf und laufe zu ihm hin. Er geht zur Seite. Ich öffne das Fenster und strecke die Arme hindurch, dann den Kopf. Ich spüre, wie er meine Oberarme ergreift und zieht. Ich zwänge mich durch den Fensterrahmen und falle direkt auf Makoto drauf. Wie immer. Das Fenster ist extrem klein und deshalb brauche ich immer seine Hilfe, wenn ich raus will ohne das Zimmer zu verlassen. Makoto lacht unter mir und ich rolle von ihm runter. „Was ist denn bei dir wieder los?“, fragt er mit einem Seitenblick zum Zimmer meiner Mutter. „Das Übliche. Diesmal ist er wenigstens grösser als sie.“, antworte ich ihm achselzuckend. Es interessiert mich nicht besonders, was meine Mutter treibt. „Und das stört dich echt nicht? Klar, man sollte meinen, dass du dich dran gewöhnst. Aber echt, geht dir das nicht komplett durch den Strich?“ „Klar find ich’s scheisse, aber was soll ich schon tun? Soll ich zu meiner Mutter gehen und sagen: ‚Mama, hör bitte damit auf, weil ich das echt dämlich finde und der Meinung bin, dass das weder für mich noch für dich gut ist.’?“ „Nein, natürlich nicht, aber…“ „Vergiss es! Wenn’s ihr so gut geht, soll sie doch. Sie bedeutet mir nichts.“ Damit gehe ich die Strasse entlang, weg von dem Gebäude, dass ich schon immer als mein Gefängnis empfand. Makoto holt mich schnell ein und legt mir einen Arm um die Schultern. „Das wegen heute Nachmittag tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich war mir nur nicht sicher, ob du vielleicht jemanden hast, den du … na, du weißt schon…“ Ich bleibe wie angewurzelt stehen. „Du denkst, ich bin verliebt?!“ Er senkt schuldbewusst den Kopf. Ich beginne zu lachen. „Das … das ist das schrägste, was du je von dir gegeben hast, echt! Ich … und verliebt. Das wär, als wenn meine Mom sich für’s Kloster anmelden würde! Hast du sie noch alle???“ Ich lache lauthals und er grinst. Alles ist wieder in Ordnung. Aber das bringt mich auch auf eine Frage. „Sag mal, hast du denn jemanden, den du liebst?“, frage ich neugierig. „Also, ehrlich gesagt, da ist schon jemand.“ Sofort macht sich Eifersucht in mir breit. Ich will ihn nicht teilen. Niemals. Mit niemandem. Als er meinen Blick sieht, hebt er abwehrend die Hände und sagt: „Hey, keine Angst, sie ist nicht in mich verliebt. Sie will nichts von mir. Aber ich denke, das geht vorbei. Ich hab’ ja schliesslich dich. Du bist schon mehr als genug!“ Ich lächle dankbar. „Hätte mich auch gewurmt, wenn ich dich mit jemandem hätte teilen müssen. Und, ganz ehrlich, ich hoffe, du vergisst sie bald! Du gehörst mir!“, setze ich noch spielerisch hinzu. Aber eigentlich meine ich es ernst. Er ist mir so wichtig. Ich will ihn nicht verlieren. „Morgen ist es also soweit.“, stellt Makoto fest. Er hat recht! Das hatte ich vollkommen vergessen. Morgen ist die Wanderung. So nennen wir es, wenn die jungen Raben an unserer Stadt vorbeiziehen. Jedes Jahr zur gleichen Zeit fliegen auf der ganzen Welt junge Raben durch alle Städte der Welt. Es ist Sitte – und das ist überall auf der Welt gleich –, dass jeder und jede Siebzehnjährige einen dieser Raben einfangen und ihn aufziehen muss. Es mag seltsam klingen, aber es ist tatsächlich so, dass jeder Mensch auf den Tag genau ein Jahr nach dem Tod seines Raben stirbt. Und jeder trägt, nach dessen Tod, eine Schwanzfeder seines Raben bei sich. Ich freue mich schon lange darauf, meinen Raben zu fangen. „Ja, morgen ist es endlich soweit. Wenn ich ihn gefangen habe, komme ich sofort zu dir, versprochen!“ „Das hatt’ ich mir schon gedacht!“, lacht Makoto. Wir sind bei der Weise angekommen und setzten uns hin. Mittlerweile ist der Mond aufgegangen und die Sterne leuchten vom Himmel. Ich lasse mich nach hinten sinken, ins weiche Gras und versuche mich zu entspannen. Es fällt mir leicht, denn ich fühle mich neben Makoto geborgen wie sonst nirgends. Er legt sich neben mir ins Gras und sieht mich an. „Warum starrst du mich so an? Die Sterne sind doch viel schöner.“, sage ich zu ihm. „Nein, da irrst du dich.“, flüstert er leise, „Du bist viel schöner.“ Ich erröte. Warum sagt er das zu mir? Ich verstehe es nicht. Und ausserdem stimmt das nicht einmal. Ich bin nicht schön. Ich habe stinklangweiliges, schwarzes Haar, das ich mir immer auf Hüfthöhe schneide. Es ist steckengerade und wellt sich nur immer am Ende, bei den Spitzen, ein bisschen. Meine Haut ist blütenweiss und meine Augen sind hellblau. So hellblau, dass es fast weiss wirkt. Und gross bin ich auch nicht, knapp einen Meter 60. „Erzähl keinen Schwachsinn! Wie kann ich schöner sein als das hier?“ Ich mache eine Handbewegung, die den ganzen Nachthimmel einschliesst. „Ich weiss es nicht.“, erwidert er nachdenklich, „Aber wenn du lachst ist es … so wundervoll. Ich weiss auch nicht!“ „Ehrlich gesagt, zum ersten Mal verstehe ich dich nicht. Es ist seltsam, aber trotzdem fühle ich mich dir so nah wie nie zuvor.“ Mein Herz pumpt unter meinen Rippen. Ich drehe mich zu ihm um und zucke kurz zurück. Ich hatte nicht erwartet, dass er so nah ist. Er lehnt seine Stirn an meine und sieht mir in die Augen. Das hat er früher oft getan, wenn er wollte, dass ich ihm verzeihe. „Es tut mir leid. Das ist alles meine Schuld. Heute stimmt irgendetwas nicht. Irgendwas ist anders. Aber ich mag dich immer noch wie früher. Es hat sich nichts geändert. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“ „Es gibt nichts zu verzeihen.“, sage ich nur. Sein Atem streichelt mein Gesicht. Es kitzelt. Ich beginne zu kichern. Dann zu lachen. „Tut mir … leid!“, bringe ich heraus, „Aber … dein Atem … hat mich … gekitzelt.“ Er lächelt. Ich kugle mich vor Lachen. So bin ich eben. Wenn ich einmal zu lachen begonnen habe – und das passiert mehr als oft – kann ich einfach nicht mehr aufhören. Wir schlafen beide auf der Wiese. Ich träume. Ich träume oft. Und in letzter Zeit ist es immer derselbe Traum. Ich stehe im Nichts. Das denke ich auf jeden Fall. Alles um mich herum ist weiss. Es gibt einen dunklen Punkt und darin leuchtet der Vollmond. Dann fallen, ganz langsam, um mich herum Federn, schwarze Federn. Sie fallen immer schneller, legen sich auf mir ab. Verdecken mir die Sicht, machen meine Glieder schwer und träge. Ich kann den Mond nicht mehr sehen. Aber ich empfinde ein irrsinniges Verlangen danach. Silbernes Licht dringt auf einmal durch den Vorhang aus schwarzen Federn und danach ist alles weg. Ich bin wieder im Nichts. Aber diesmal ist es schwarz… Schweissgebadet wache ich auf. Ich schreie, ich kann nicht regelmässig atmen. „Alles in Ordnung? Wieder der Traum?“, fragt Makoto neben mir. „Ja, aber diesmal war es so intensiv, so real.“ Er nimmt mich in den Arm und wiegt mich hin und her. „Es ist vorbei“, flüstert er dabei. Er weiss, wie viel Angst ich vor diesem Traum habe. Ich grinse breit. Er sieht es nicht, weil er mich noch immer umarmt. Dann stosse ich ihn weg und sage: „Lass das!“ Ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er dasitzt, mit verwirrter Miene, bis ihm klar wird, was ich mache und er anfängt zu lächeln. „Du solltest dich beeilen!“, sagt er plötzlich und deutet zum Horizont, wo einen schwarze Wolke am morgendlichen Himmel fliegt. „Oh, verdammt!“, murmle ich und rapple mich hoch. Ich laufe über die Wiese, weiss das Makoto direkt hinter mir ist. „Ich warte hier.“, sagt er, als wir am Ende der Wiese ankommen. „In Ordnung“, rufe ich über die Schultern und renne weiter. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Auf der Hauptstraße wimmelt es von Gleichaltrigen. Einige unterhalten sich angeregt, andere stehen einsam an einer Hauswand und wieder andere stehen in grossen Gruppen zusammen und warten einfach nur. Als ich den Kopf hebe, wird es plötzlich dunkel. Die Raben fliegen knapp einen Meter über dem Boden. Das Gekreische ist ohrenbetäubend. Alle bücken sich. Auch ich. Ich halte mir die Hände schützend über den Kopf. Der Wind, den sie erzeugen weht meine Haare auf. Ich beginne zu lachen. Schon wieder. Jetzt wedle ich wild mit meinen Händen in der Luft herum, um einen Raben zu fassen zu bekommen. Einmal erwische ich einen Flügel, aber ich lasse wieder los, weil ich sonst den Raben verletzt hätte. Aber sonst bekomme ich nichts zu fassen. Rund um mich herum höre ich enttäuschte Rufe, weil einige Andere auch keinen schnappen konnten, aber auch begeisterte, weil Einige schon einen Raben fangen konnten. Plötzlich sind sie wieder weg. Ich sehe mich um. Anscheinend hat jeder einen Raben. Nur ich nicht. Ich konnte keinen fangen. Aber irgendwie kann das nicht sein. Jeder fängt seinen Raben. Das ist einfach so. Fast so wie ein Naturgesetz. Ich setze mich in eine dunkle Gasse, stütze meinen Kopf in meine Hände. Von der Hauptstrasse her höre ich die Freudenrufe. Auf einmal höre ich etwas rascheln. Ein Wimmern. Es kommt von weiter hinten. Weiter in den Verzweigungen der Gassen. Mir läuft es kalt den Rücken runter. Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei, aber trotzdem stehe ich auf und gehe weiter hinein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)