Cruel Nature von Rhyo ================================================================================ Kapitel 35: Sinn und Sinnlichkeit --------------------------------- Sinn und Sinnlichkeit Die staubige, alte Holzuhr an der Zimmerwand lässt unentwegt ein lautes, fast schon nerviges Ticken ertönen. Dabei ist es gar nicht so laut. Eher die Stille, die im abgedunkelten Schlafzimmer herrscht, lässt es so wirken. Ein Junge, nicht besonders groß, ungefähr zehn Jahre alt, liegt bauchwärts auf dem Himmelbett, das von dunkelblauen Vorhängen geziert wird. Der Raum wäre komplett dunkel, wenn die weiße Lampe auf dem Nachttisch neben dem Bett nicht spärlich die Umgebung erleuchten würde. Der Junge malt mit Buntstiften ein Bild auf ein weißes Blatt Papier. In seiner Zeichnung hat er allerdings keine silbergrauen Haare und rote Augen, sondern er ist blond und seine freundlichen Augen sind himmelblau. Für einen kleinen Jungen ist das Bild nicht schlecht. Doch als er anfängt, eine Frau neben sich selbst zu malen, hält er plötzlich inne und steht auf. Traurig geht er zum Fenster. Er würde gerne hinaussehen, aber es ist sowohl von außen mit vielen Brettern zugenagelt worden, sodass kein einziger kleiner Sonnenstrahl eindringen kann. Alles nur zu meinem Schutz, überlegt der Junge, und freut sich insgeheim darüber, dass seine Familie soviel Wert auf sein Wohl legt. Ja, den Cursers ist es wirklich wichtig, Sense zu beschützen. Er trägt ein simples weißes T-Shirt, das ihm fast zu klein ist, und blaue Shorts. Skeptisch betrachtet er das unvollständige Bild, das immer noch auf dem Bett liegt. So gerne würde er es fertigmalen und dann Emily zeigen. Über ein schönes Bild würde sie sich ganz bestimmt freuen. Er spürt, dass ihm langsam schwindlig wird, also stolpert er zur Kommode und öffnet die oberste Schublade, um ein Plastikfläschchen, gefüllt mit einer tiefroten Flüssigkeit, herauszunehmen. Gerne trinkt er Blut nicht, aber er weiß, dass er es tun muss, um überleben zu können. Lieber würde er von Emily gebackene Plätzchen essen, aber es ist schon einige Wochen her, dass sie das letzte Mal für ihn gebacken hat. Von Emily wurde er schon immer gut behandelt, sie bringt ihm in Flaschen abgefülltes Blut zum Trinken, sodass er nicht raus und Menschen jagen muss, wie die anderen. Das könnte er mit seiner geringen Körperkraft auch gar nicht. Im Gegensatz zu den anderen Vampiren der Curser-Gesellschaft muss er auch keine Menschen töten, das würde ihm sowohl psychisch als physisch zu schwer fallen. Die Organisation ist mehr eine Familie für ihn, in der er das Kind ist. So ist er glücklich, und Emily ist die Person, die es ermöglicht hat. Er würde sie gerne öfter zu Gesicht bekommen, aber sie arbeitet immer so viel. Und er will sie auf keinen Fall stören, wenn sie etwas plant. Immerhin hat sie einen Traum, für den sie kämpft. Sense trinkt ein bisschen von dem Blut und legt die Flasche in die Schublade zurück. Dann geht er zur Tür und öffnet sie leise. Der längliche Flur der Villa ist totenstill und leer. Wo die anderen wohl sind? Ihm ist so langweilig... Er will nicht alleine sein. Durch den Korridor tapselnd sucht er nach Lure, denn er liebt es, mit ihr zu spielen. Die rothaarige, schöne Frau hat sich immer Zeit für Sense genommen. Sie haben gemeinsam Karten und Brettspiele gespielt. Lure sagte bei fast allen, was Sense tat, wie süß er sei und knuddelte ihn ganz fest. Dieses freundliche, warme Gefühl von Zuneigung würde er gerne wieder empfinden. Raid, der große Vampir, ist auch total nett, er setzt Sense immer auf seine Schultern und trägt ihn durch das Haus, und ab und zu bringt er auch mal Hamburger und solche Sachen für ihn mit. Obwohl er so stämmig gebaut ist, hat Sense keine Angst vor ihm, denn er stand dem Kleinen immer wie ein guter Freund mit Rat und besonders Tat zur Seite. Aber in den letzten Tagen hat er die beiden gar nicht mehr gesehen. Warum nicht? Müssen die so viel arbeiten? Er schleicht die Treppe hinunter und geht durch die Eingangshalle. Auch in der Küche findet er niemanden. Er seufzt und beschließt, es sich leichter zu machen. Langsam schließt er die Augen, atmet tief ein und tief aus, konzentriert sich auf das Vampirblut, das in seinen Adern fließt. Mit der Zeit vernimmt er die Aura von Emily und ein paar anderen Vampiren ganz in seiner Nähe. Lure und Raid sind leider nicht dabei. Wie oft er es auch versucht, er schafft es nicht, die beiden zu lokalisieren. Er öffnet die Augen wieder und geht geradeaus in Richtung Esszimmer. Als er genau davor steht, schiebt er die Tür leicht auf und wirft einen Blick hinein. Der große Raum wird mit zahlreichen Kerzen erhellt, die auf dem langen Esstisch aus Holz stehen. Am Ende des Tisches sitzt eine Frau mit langen, silbernen Haaren, die ein schwarzes Abendkleid trägt und mit vielen Accessoires aus Silber geschmückt ist. Das ist sie, Emily Halo, die Frau, die ihn einst gerettet hat. „Wir werden erst in zwei Wochen anfangen, die Extermination der Menschheit auf Gegenden außerhalb von Logaly auszuweiten“, entscheidet Emily und die anderen Vampire am Tisch nicken zustimmend. Sie fährt fort: „Wenn wir in dieser Großstadt gründlich arbeiten, haben wir später einen perfekten Stützpunkt, um gegen diese Krankheit anzukämpfen. Die Krankheit, die unseren Planeten schon vor langer Zeit befallen hat, die Krankheit Mensch.“ Wieder nicken einige der Vampire, während andere zu lachen oder zu kichern anfangen. Ein großer, in schwarz gekleideter Curser mit schwarzem Hut klatscht sogar mehrfach in die Hände, dabei hat er ein gehässiges Grinsen aufgesetzt: „Das hast du wirklich schön gesagt, Emily.“ Leicht angenehm sieht sie ihn an: „Versuch mal, dir deine Kommentare zu verkneifen, Decay. Die Dinge laufen noch lange nicht so gut, wie ich sie gerne hätte. Wir haben tiefe Rückschläge erlitten. Passt beim Erfüllen eurer Missionen gefälligst darauf auf, nicht zu sterben.“ Für diese Aussage erntet Emily nur selbstsichere und ungläubige Blicke. „Haltet euch einfach an den Plan“, weist sie die anderen mit einem tiefen Seufzer an: „Ihr kennt eure Aufgaben. Um die Manipulation der Medien kümmern sich...“ Sie wird mitten im Satz unterbrochen, denn Sense platzt herein, geht schnell auf Emily zu, und schenkt den anderen Vampiren am Tisch keine Beachtung. Sofort steht Emily auf. „Mama“, sagt Sense traurig und will seine Mutter umarmen, doch sie lässt es nicht zu. „Schatz, ich habe dir doch schon so oft erklärt, dass du das nicht machen darfst“, flüstert sie ihm ins Ohr; „Sonst entziehe ich dir doch automatisch deine Fähigkeit. Und die sollst du ja behalten, denn nur wenn wir sie als Gruppe gemeinsam nutzen, sind wir ein gutes Team.“ Sie dreht ihren Kopf zu den Cursers und befiehlt: „Abtreten, wir verschieben diese Besprechung.“ Grummelnd ziehen die Vampire sich nacheinander zurück, bis Sense und Emily alleine im Esszimmer stehen. „Aber Mama“, sagt Sense traurig; „Lure ist nicht da um mich zu umarmen. Nur du bist da.“ Emilys Miene verfinstert sich urplötzlich. Sie nimmt einen Stuhl und weist Sense an, sich daraufzusetzen, was er erwartungsvoll tut. „Mein lieber Sense, ich muss dir jetzt etwas sagen“, haucht Emily und streichelt ihm den Kopf. Sein Herz schlägt schneller, irgendetwas schlechtes wird jetzt kommen, das fühlt er. Er kennt Emily, sie ist wie seine Mutter, und wenn sie sich so verhält, dann ist etwas schlimmes passiert. Mit der Hoffnung, sich vielleicht zu irren, schaut er ihr in die Augen. Sie steht leicht gebeugt vor ihm, damit ihre Gesichter auf einer Höhe sind, und ihr glänzendes, silbernes Haar fällt ihr vorne über die Schultern. Sanft nimmt sie seine Hand und hält sie fest. Sense kann ihr Parfüm riechen, so nah steht sie bei ihm. „Es tut mir wirklich leid“, sagt Emily leise; „Aber Lure und Raid... Sie sind beide gestorben.“ Der Junge würde am liebsten aufspringen und schreien, als er das hört, wird aber von Emily zurückgehalten. „Nein!“, ruft er und seine roten Augen füllen sich mit Tränen. Die Beiden waren immer wie gute Freunde, mehr noch, wie große Geschwister für ihn. Es darf nicht sein, dass sie tot sind! Bitterlich fängt er an zu weinen und legt sein Gesicht dabei auf Emilys Schulter. Diese streichelt ihm sanft über den Nacken und versucht, ihn zu beruhigen. Seine Hand lässt sie jedoch nicht los. „Ist schon gut, ich verspreche, wir werden sie rächen.“ „JA!!!“, schreit Sense in Emilys Kleid. „Sie wurden von bösen Menschen umgebracht“, flüstert sie; „Genau deswegen müssen wir diese widerlichen Kreaturen aufhalten. Sie zerstören alles, was wir besitzen. Sie nehmen uns... unsere Familie weg...“ Für einen kurzen Moment hält sie inne, dann drückt Sense sich etwas von ihr weg und steht auf. Tränen laufen ihm über die Wangen, seine Beine zittern, doch sein Blick ist entschlossen: „Ich will es selber machen, Mama, ich will selbst die Monster zur Strecke bringen, die uns unser Leben kaputtmachen!“ Seine kleine Hand ballt sich zu einer Faust. Emily richtet sich auf und klopft ihm auf die Schulter: „Das ist sehr mutig von dir, aber ich möchte nicht, dass du in Gefahr kommst. Menschen sind dämonisch, sie machen nicht einmal vor Kindern wie dir halt. Sie haben kein Gewissen.“ „Aber...“, schluchzt Sense. „Wenn du sie rächen möchtest, dann hilf uns, den Aufenthaltsort der gegnerischen Vampire zu bestimmen. Dann werden wir zu ihnen gehen und Rache nehmen.“ Emily lächelt ihn an, worauf ihm ein bisschen wärmer wird. „Okay“, sagt er und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Er wird sie auf keinen Fall enttäuschen. Niemand wird ihm den Schmerz, den er damals erleiden musste, als seine menschliche Familie gestorben ist, ein weiteres mal zufügen. Sie hatten einen Autounfall, und nur Sense hat ihn überlebt. Aber er hat eine neue Familie gefunden, und diese will er beschützen. Seine Hand drückt die von Emily fester als zuvor, und diese gibt ihm einen leichten Kuss auf die Wange. „Mama...“, sagt er leise; „Mama, backst du mir bitte wieder diese leckeren Kekse...?“ Er traut sich nicht, sie anzuschauen, als er danach fragt. Ohne zu zögern antwortet Emily: „Aber mit Sicherheit, ich weiß doch, wie gerne du die isst. Ich mache dir sofort ganz viele. Mit Schokolade?“ Er möchte zu einer Antwort ansetzen, aber plötzlich vernimmt er eine störende Aura ganz in der Nähe. Sauer wendet Sense sich in Richtung Tür und ruft: „Wer ist da?!“ Emily greift plötzlich seine Schulter und sagt: „Gehe doch schon mal in die Küche, ich komme gleich nach.“ Etwas unsicher nickt Sense und verschwindet durch die andere Tür in die geräumige Küche der Villa. Als er verschwunden ist, geht Emily zur Tür, und bei jedem ihrer Schritte ertönen Geräusche, die ihre Stöckelschuhe auf dem Boden verursachen. Noch bevor sie dazu kommt, die Tür zu öffnen, macht die Person auf der anderen Seite sie auf. Es ist der schwarzgekleidete Mann mit dem Hut, der kopfschüttelnd vor ihr steht. „Decay“, stellt Emily gelangweilt fest; „Was willst du?“ Er schnaubt, doch er kommt gleich zur Sache: „Wie lange müssen wir diesen Bengel eigentlich noch mit Samthandschuhen anfassen?“ „Solange wie ich es sage!“, faucht sie ihn an, doch obwohl sie die Königin der Cursers und somit quasi seine Vorgesetzte ist, wirkt er ziemlich unbeeindruckt. „Er ist doch nur eine Last, das musst du zugeben“, sagt er abfällig, woraufhin Emily ihn höhnisch ansieht: „Bilde dir nicht ein, das beurteilen zu können. Er erfüllt seine Aufträge weit effizienter als ihr.“ „Seine Aufträge bestehen doch nur daraus, seine Kraft einzusetzen und Vampire aufzuspüren!“, hält Decay dagegen. Emily vergeht schnell die Lust an so einer Diskussion und sie kehrt ihm den Rücken zu. „Wie lange willst du dieses Theater noch fortführen? Wie lange noch die besorgte Mutter spielen?“, fragt er sie mit ernster Stimme. Eine Sekunde lang erwidert Emily überhaupt nichts, dann dreht sie sich blitzschnell um und verpasst Decay eine dermaßen starke Ohrfeige, dass er fast das Gleichgewicht verliert. Erzürnt blickt sie ihn an: „Sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst!“ Stumm schaut er an ihr vorbei. Emily streicht ihr Kleid glatt. Dabei erklärt sie wütend: „Jemand wie du wird nie die Liebe, die Mutter und Kind füreinander empfinden, verstehen können. Du bist doch nur eine emotionslose Tötungsmaschine, perfekt für meine Zwecke. Sense ist anders. Er hat seine Gefühle noch nicht verloren. Unsere perfekte Welt – die will ich auch für ihn. Und wehe irgendeiner von euch niederen Vampiren krümmt ihm ein Haar! Jeder, der das tut, wird von mir vernichtet, und da ist es mir egal, ob ich euch noch brauche oder nicht!“ Jetzt besieht sie sich seiner Wange, die einer deutlichen Rötung unterliegt. Während sie das tut, entschuldigt Decay sich: „Verzeih mir bitte. Ich war wohl etwas respektlos. Ich verspreche natürlich, deine Entscheidungen nicht mehr in Frage zu stellen. Selbst dann nicht, wenn sie keinen Sinn für mich ergeben.“ „Solltest du auch nicht“, erwidert Emily flott und lässt von ihm ab: „Wie der kleine schon sagte, wir sind eine Familie. Aber ich bin das Familienoberhaupt, und mein Wort ist Gesetz.“ Sie sieht ihn überlegen an. „Schon gut, ich habe es verstanden“, entgegnet Decay mit einem genervten Unterton in der Stimme; „Ich werde mir jetzt ein paar Menschen zum Auslöschen suchen.“ Emily lächelt: „Das ist doch eine gute Idee. Viel besser, als mit mir Streit anzufangen.“ Schnellen Schrittes zieht er von dannen, und Emily geht nachdenklich in die Küche, wo Sense schon auf sie wartet. „Worüber hast du mit Decay geredet?“, möchte er wissen. Seine Fähigkeit hat ihm relativ schnell verraten, wer die Person hinter der Tür in Wirklichkeit ist. Emily zögert mit der Antwort, sie geht zum Kühlschrank und nimmt Eier, Milch, Sahne und verschiedene andere Sachen heraus. „Es ist nicht wichtig gewesen“, sagt sie leise. „Okay.“ Sense gibt sich damit zufrieden und schaut ihr gespannt beim Zubereiten des Teigs zu. Stumm rührt sie darin herum, bis er dick genug ist, um ihn in die richtige Form für Plätzchen zu bringen. Langsam wird die Stille Sense unangenehm, denn normalerweise spricht Emily sehr viel während sie etwas zu Essen zubereitet. Aber nun wirkt sie irgendwie verändert. „Mama, es ist doch alles okay, oder?“, fragt er besorgt. Sie geht zu ihm hin und fährt ihm durch das silberne Haar: „Aber natürlich. Mach dir doch keine Sorgen um mich. Eher sollte ich fragen, wie es dir geht. Immerhin bin ich deine Mutter.“ Freudig springt er auf und würde ihr am liebsten um den Hals fallen, doch er weiß, dass er es nicht tun darf: „Du bist immer so lieb zu mir, Mama! Danke dafür, besonders jetzt, nach dem Tod von Lure und Raid... Da... Da brauche ich das! Solange du bei mir bist, ist alles gut. Bitte versprich mir, versprich mir, dass du immer da sein wirst und nie weggehst oder ums Leben kommst!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)