Cruel Nature von Rhyo ================================================================================ Kapitel 38: Vier Fronten ------------------------ Vier Fronten „Was ihr da macht, wird Emily gar nicht gefallen“, schmunzelt der Vampir, der Yuri und Luna einige Meter gegenüber steht. Er ist ziemlich groß, und sowohl sein Mantel, sein Hemd und seine Hose als auch sein Hut sind rabenschwarz. Bewaffnet scheint er allerdings nicht zu sein. „Wer ist dieser Kerl?“, murmelt Luna und sieht zu Yuri, doch diese ist beinahe erstarrt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie den Vampir an. „Du bist doch...“, keucht sie leise, und der Mann grinst: „Nun, meine Damen, ich denke, ihr kommt hier nicht mehr lebend heraus...“ Zornig blickt das Fuchsmädchen ihn an: „Du bist dieser Mistkerl! DU!!! DU hast meinen Freund auf dem Gewissen!“ Er lacht. Luna sieht erschrocken erst zum Vampir und dann zu Yuri: „Was? Das war er?“ „Ich erinnere mich an dich, Mädchen. Warst das nicht du damals in diesem Café? Du hast ein... recht auffälliges Merkmal, weißt du das?“ Hämisch grinst er, als er auf ihre Fuchsohren deutet. Yuri funkelt ihn böse an. „Ich stelle mich mal vor; Ich heiße Decay. Ich bin Emilys rechte Hand und habe hier bei den Cursers eine hohe Stellung.“ „Deine Stellung interessiert uns nicht die Bohne!“, sagt Luna sauer. „Sollte sie aber“, erwidert er; „Es macht doch viel mehr her, von einem hochrangingen Vampir abgeschlachtet zu werden als von einem der Niederen...“ Grinsend hebt er seine Hände und betrachtet sie entzückt: „Wisst ihr, ich bin kein Fan vom schnellen Töten. Ich mag es, wenn meine Opfer vor dem Ende noch einmal richtig leiden, wenn sie fühlen, wie langsam aber sicher jede Zelle ihres Körpers abstirbt. Wenn sie qualvoll um den Tod betteln, wenn sie begreifen, dass es keine Hoffnung mehr für sie gibt...“ „Hör auf, Müll zu reden!“, faucht Yuri ihn an, und Luna fragt: „Welche Fähigkeit hast du?“ „Wieso sollte ich dir das sagen?“, schnaubt er, aber dann überlegt er es sich anders: „Naja, es macht keinen Unterschied. Ihr sterbt, ob ihr es jetzt erfahrt oder nicht. Meine Haut erzeugt Gift, und wenn ich euch damit berühre, infiziere ich euch damit. Dann heißt es bald: 'Ciao Bella!'“ „So... hast du Vigor also getötet?“, flüstert Yuri und ihr kommen die Tränen bei den Gedanken an ihn. „Wenn mein Gift in eine offene Wunde gelangt, ist es noch viel wirksamer!“, lacht Decay. Luna hat genug: „Du musst uns berühren, damit du deine Kraft einsetzen kannst. In dem Fall wirst du einfach nicht an uns rankommen!“ Sie hebt ihren Bogen und setzt einen Pfeil ein, doch noch ehe sie dazu kommt, ihn zu spannen, sprintet Decay plötzlich mit nach vorne ausgestreckten Armen auf Luna zu. Diese ist durch das Halten des Bogens nicht mehr beweglich genug, um auszuweichen, aber Yuri reagiert schnell genug und schubst sie ziemlich unsanft auf dem Boden, was jedoch zur Folge hat, dass Luna Decays Attacke entgeht, und dessen Hände gegen die Kellerwand knallen. Genervt schüttelt er seine Hände ein paar mal und wendet sich dann Yuri zu: „Willst du zuerst sterben?“ Das will sie definitv nicht, aber sie musste Luna retten. Decay steht direkt vor ihr. Schnell geht sie einen Schritt zurück und greift nach der Sprühdose Weihwasser in ihrer Hosentasche. Doch noch bevor sie es gegen ihn einsetzen kann, schlägt er es ihr gekonnt aus der Hand, sodass die Dose zu Boden fällt. Als Luna das sieht, erinnert sie sich daran, wie sie Numb besiegt haben, und zückt ihr eigenes Weihwasser, womit sie hastig die Spitzen ihrer Pfeile einsprüht. Damit wird sie ihn sicher besiegen können. Decays Hand nähert sich Yuris Gesicht, doch sie zückt den Elektroschocker und verpasst der Hand einen Stromschlag, der sich gewaschen hat. Schmerzerfüllt schreit er auf und taumelt ein paar Schritte zurück, wobei ihm sein schwarzer Hut vom Kopf fällt und das dunkelgraue Haar darunter freilegt. „Du Mistvieh!“, grunzt er, als er die Brandwunde auf seiner Hand untersucht. Yuri findet das gar nicht nett, aber seine Unachtsamkeit kommt ihr gelegen; Sie macht einen großen Sprung auf ihn zu und versucht, ihn mit dem Elektroschocker einen Stromschlag direkt am Hals zu verpassen, der ihn endgültig außer Gefecht setzen sollte. Aber Decays Reaktion ist trotz seiner Verletzung nicht schlecht: Mit Gewalt reißt er Yuri das Gerät aus der Hand und verpasst ihr damit einen brutalen Schlag auf den Kopf, der sie quietschend zu Boden gehen lässt, wo sie regungslos liegen bleibt. Nun wendet er sich von ihr ab und geht auf die panische Luna zu, doch die hatte inzwischen genug Zeit, ihren Bogen perfekt auf Decay auszurichten: Sie schießt einen in Weihwasser getränkten Pfeil ab, der dem Vampir in der linken Schulter stecken bleibt. Zuerst schreit er wie am Spieß, woraufhin Luna erleichtert den Bogen sinken lässt und zu Yuri blickt, die langsam wieder zu sich zu kommen scheint. Decay stöhnt auf und tut dann etwas, mit dem niemand gerechnet hätte: Er packt den Pfeil, der in seinen Körper steckt, und zieht ihn mit aller Kraft heraus. Unter Schmerzen gelingt es ihm, und eine Menge Blut läuft aus der tiefen Wunde. Er zerbricht den Pfeil, wirft ihn weg und versucht zu lachen: „Dafür bin ich immer noch zu robust, Fräulein!“ Voller Aggressionen stürmt er auf Luna zu, die nur schockiert dasteht – bis die am Boden liegende Yuri ihr zuruft: „Luna, das Weihwasser! Sprüh es ihm ins Gesicht!“ Eilig hält sie die Sprühdose vor sich, doch zu spät. Decay schlägt sie ihr einfach aus der Hand, und kaum liegt sie an Boden, tritt er mehrmals darauf, bis sie zerbricht und das restliche Weihwasser hinausläuft. Er holt wieder zu einem Angriff aus, doch diesmal wirft Luna sich zu Boden und schnappt sich die andere Sprühdose, die Yuri vorhin fallen gelassen hat. Anstatt sie selbst zu benutzen, wirft sie sie Yuri zu und springt sofort wieder auf. „Dich kann ich auch so fertig machen!“, sagt sie selbstsicher und verpasst Decay mehrere Karateschläge, mit dessen Kraft er nicht gerechnet hat. Ein Kinnhaken gefolgt von einem Tritt in den Bauch – Lunas Kampftechnik scheint perfekt. Decay spuckt Blut und seine Gegnerin setzt zum finalen Angriff an, doch gerade diesen wehrt er ab, indem er sie rechtzeitig am Handgelenk festhält. Lachend schnappt er sich auch noch ihr anderes Handgelenk und drückt sie an diesen an die Wand. Gegen diese Stärke kann Luna nicht viel ausrichten. Jetzt fängt er an, sie mit seinen Händen zu berühren: Zuerst an den Oberarmen, und dann am Hals. Luna schreit und versucht, ihn abzuschütteln, doch sie scheitert. Dann spürt sie, wie die von ihm berührten Stellen anfangen zu schmerzen, und es wird von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Zufrieden lässt Decay sie los, woraufhin sie stumm zu Boden sackt – Das Gift zeigt Wirkung. Lachend dreht der Vampir sich von ihr weg und geht nun auf Yuri zu, die sich in der Zwischenzeit hochgerappelt hat. Die Sprühdose mit dem Weihwasser hält sie in der rechten Hand. „Nimm das, du Arsch!“, ruft sie und versucht, ihm die Sprühdose an den Kopf zu schleudern, so, wie sie es damals bei Epheral getan hat. Damals hat es funktioniert, doch Decay ist schneller und fängt die Dose geschickt ab. Lachend donnert er sie in die nächste Ecke des Raumes. „Wie dumm von dir“, grinst er; „Nun wird dich das gleiche Schicksal wie dein Freund ereilen...“ Yuri sieht ihn zornig an, doch sie bewegt sich nicht vom Fleck. Sie setzt auch zu keinem Angriff an, sondern sie steht nur da und ballt ihre Hand zu einer Faust. Scheinbar will sie es Decay einfach machen. Mit einer schnellen Bewegung greift er nach ihrem Handgelenk, ähnlich, wie er es bei Luna getan hat, doch anders als bei ihr lässt er es eine Sekunde danach sofort wieder los. Erschrocken blickt er auf seine schmerzende Hand: „Was... Was hat das zu bedeuten?“ Ein weiteres Mal versucht er, das Fuchsmädchen zu berühren, doch wieder zieht er seine Hand zurück und schreit auf. „Was soll das...? Ich verstehe das nicht!“, hustet er. Auf Yuris Gesicht bildet sich ein breites Grinsen: „Während Luna dich da vorne beschäftigt hat, habe ich meinen gesamten Körper mit dem Weihwasser eingesprüht. Was ich dir eben an den Kopf geworfen habe, war nichts mehr als eine leere Sprühdose.“ Entsetzt starrt Decay sie an. Yuri springt ihn geschickt an und zwingt ihn in eine Umarmung. „Ich habe mal gehört, man soll seine Feinde lieben. Und obwohl du Vigor getötet hast, hab ich dich so sehr lieb, dass ich dich direkt mal umarmen muss.“ Verzweifelt versucht Decay, sich aus der Umarmung zu befreien, doch das Weihwasser entzieht ihm die nötige Kraft dafür. Er zittert am ganzen Körper: „Mein... Mein Gift wird dich dahinraffen!“ Yuri schüttelt heftig den Kopf: „Wusstest du das nicht? Weihwasser negiert die Fähigkeiten von Vampiren. Mit anderen Worten, mein 'Gift' neutralisiert deins.“ Decays Körper erschlafft mit der Zeit, seine schmerzerfüllten Augen werden leer, und schließlich fällt er um, als Yuri ihn endlich loslässt. „Ich glaube nicht, dass du jetzt immer noch so angetan vom langsamen Sterben bist“, sagt sie abschließend. Dann läuft sie zu Luna, deren Augen geschlossen sind. „Luna!“ Yuri drückt sie an sich und fühlt erleichtert, dass sie noch atmet. „Schnell, wir müssen dich zu Raito bringen“, beschließt sie und hievt Luna unter Anstrengung auf ihren Rücken. „Zum Glück bist du so klein, sonst könnte ich dich nicht tragen...“, seufzt Yuri. „Wer ist hier klein...?“, murmelt Luna. Miho und Stephan umarmen sich innig, doch während sie sich gegenseitig in die Augen blicken, erstirbt Stephans Lächeln recht schnell: „Hast du geweint?“ Er muss es an ihren rot unterlaufenen Augen sehen, denn Miho trägt gerade kein Make Up, das verlaufen könnte. Aber ihr Aussehen war ihr bis gerade sowieso nicht besonders wichtig. „Ähm, ja...“, sagt sie bedrückt. „Warum? Sag mir, was los ist.“ Nur will sie das nicht. Erstens kann sie nicht darüber sprechen, dass ihr bester Freund ermordet wurde. Und zweitens fürchtet sie, dass Stephan einfersüchtig werden könnte, wenn er weiß, dass sie wegen einem anderen Mann weint. Die Sorge ihres Gegenübers jedoch zwingt sie beinahe dazu, ihm alles zu sagen. Sie vertraut ihm doch... Sie muss Stephan vertrauen. Und überhaupt, die Wahrheit ist doch immer der bessere Weg. Sie drückt sich ein bisschen von ihm weg und atmet tief durch: „Du erinnerst dich doch noch an Desmond, oder?“ „Ja, natürlich“, gibt er zurück. „Er... Er ist gestorben...“ Besorgt will Stephan sie wieder in den Arm nehmen, doch sie winkt ab: „Ist schon gut... Ich schaffe das schon... Aber ich hoffe, du denkst nichts falsches...“ „Was soll ich denn falsches denken?“, lächelt er sie an, was Miho ungemeine Erleichterung bringt. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange und flüstert: „Danke. Du bist toll.“ Dann geht sie in Richtung Flur: „Ich werde mir mal das Gesicht waschen. Setz dich doch solange. Und den Mantel kannst du auch ausziehen.“ Während Miho sich im Badezimmer das Gesicht wäscht, kann sie die Dankbarkeit ihres Herzens gegenüber Stephan regelrecht fühlen. Wenn er nicht da wäre... Da möchte sie nicht einmal drüber nachdenken. Sie stellt das Wasser aus und nimmt sich ein Handtuch, mit dem sie ihr Gesicht abtrocknet. Dann merkt sie, dass im Türrahmen der von ihr offengelassenen Tür jemand steht. Zuerst erschrocken stellt sie fest, dass es nur Stephan ist. „Was ist los? Ich komme sofort“, sagt sie und hängt das Handtuch wieder auf. „Sag mal Miho, du warst doch vor kurzem noch bei Desmond. Weißt du nicht, wer ihn getötet haben könnte?“ „Angeblich war es Shou, seine Freundin. Aber das glaube ich nicht, wir haben sie doch kennengelernt. Sie hat ihn auf jeden Fall geliebt, das... hat man gemerkt.“ Nervös macht sie der Gedanke, dass bald wahrscheinlich die Polizei vor ihrer Tür stehen wird und sie als Zeugin vor Gericht aussagen muss. Wenn sie bedenkt, dass erst heute Abend die Meldung vom Mordfall im Radio kam, könnte sie schon morgen mittag von den Beamten befragt werden. Moment mal, bei dem Gedanken an das Radio fällt Miho etwas auf: „Stephan... Woher weißt du, dass er umgebracht wurde? Ich habe... dir doch nur gesagt, dass er gestorben ist.“ Er zieht seine Augenbrauen hoch, bleibt aber stumm. Der Gedanke, dass etwas nicht stimmt, dass er davon gar nicht wissen kann, drängt sich ihr immer weiter auf. „Stephan...“, flüstert sie; „Warum... hast du immer noch deinen Mantel an...?“ Plötzlich grinst er: „Du fragst, warum ich noch meinen Mantel trage? Ganz einfach – Meine Hosentaschen bieten nicht genug Platz für das hier!“ Und er zieht eine schwarze Pistole aus seiner Manteltasche und richtet sie auf Miho, die sich abrupt schreiend auf den Boden wirft. Gerade noch rechtzeitig, denn er lässt mehrere Schüsse fallen, die jetzt aber nur den Spiegel in tausend Scherben zerspringen lassen. Der jungen Frau bleibt der Atem weg. Das darf nicht sein... So schnell sie kann kriecht sie unter seinen Beinen durch und rennt aus dem Badezimmer. Wenn sie geradeaus läuft nach draußen, hat er noch genug Zeit, sie von hinten zu erschießen, also biegt sie links ab ins Wohnzimmer, wo sie die Tür zuknallt und abschließt. Schwer atmend sackt sie neben dem Schrank zu Boden. Was ist los mit Stephan? Er hat versucht, sie zu töten... Nein, er versucht es sogar immer noch, er ist ganz sicher noch im Haus. Die Angst treibt ihr Schweißperlen auf die Stirn. Warum ausgerechnet er? Und warum ausgerechnet sie? Warum... ausgerechnet jetzt? „Miho... Miho, komm raus!“, hört sie Stephan rufen, auch wenn sich seine Stimme irgendwie anders anhört. Ängstlich steht sie auf und rennt zum Telefon, doch als sie den Hörer abnimmt, bekommt sie nicht einmal ein Freizeichen: Das Telefon ist tot! „Scheiße!“, ruft Miho und ihr kommen die Tränen; Stephan poltert mit unglaublicher Wucht mehrmals gegen die Tür. Kurz bevor er sie aufbrechen kann, läuft sie panisch in die Küche und drückt ihren Körper dort an die Wand. Nicht ohne vorher noch die elektrische Bombe auf dem Esstisch mitzunehmen... Mit lautem Krachen fliegt die Tür schließlich aus den Angeln und sogleich fallen ein paar Schüsse an alle möglichen Stellen des Raumes. Mihos Herz pocht unaufhörlich, ihr ist schon schlecht davon. „Miho, Schätzchen... Wo bist du? Komm raus, ich liebe dich doch...“, flötet der Bewaffnete höhnisch. Sie ist kurz davor, aufzugeben, aber sie muss an ihre Brüder denken, die sie noch brauchen. „Du liebst mich nicht! Du willst mich töten!“, ruft sie, nachdem sie all ihren Mut zusammengenommen hat. Sofort hört sie Schritte in ihre Richtung. Unter Todesangst rennt sie in die Ecke des Raumes, wo auch der Kühlschrank steht. Stephan erscheint in der Küche und richtet seine Pistole wieder auf sie: „Richtig...“ „Warum?“, stöhnt sie; „Wir waren doch glücklich... So muss... es doch nicht enden...“ Grinsend starrt er sie an: „Oh, wie ich das liebe. Genau wie Desmond. Der hat auch ähnlichen Stuss gelabert, und vor allen Dingen hatte er genau den selben Blick wie du gerade.“ Desmond? Er spricht von Desmond? „Oh mein Gott... Du hast ihn... also getötet...“ „Tja, war halt mein Auftrag“, sagt er schulterzuckend. „Aber wie... Wegen dir wurde Shou unschuldig verhaftet... Wieso...?“ Sie versteht fast gar nichts mehr, aber klares Denken fällt ihr auch ziemlich schwer, wenn sie weiß, dass sie jeden Moment erschossen wird. „Stephan...“ „Ich bin nicht Stephan“, lacht er. Miho kann nicht glauben, was sie da hört, doch plötzlich beginnt sich Stephans gesamter Körper in tiefes Schwarz zu tauchen, seine Form verschwimmt und verzerrt sich, bis sie sich nach ein paar Sekunden wieder festigt und schließlich die Gestalt wieder Farben annimmt. Vor ihr steht nicht mehr Stephan, sondern ein junger Mann mit langen, silberfarbenen Haaren und tiefroten Augen. Wegen dem makellos weißem Gesicht und den weiblichen Gesichtzügen würde Miho die Person vielleicht sogar für eine Frau halten, doch der Körperbau beweist das Gegenteil. Er trägt jetzt auch andere Sachen, nämlich ein weißes Unterhemd und eine schwarze Shorts. Aufgehört, sie mit der Waffe zu bedrohen, hat er trotz allem aber nicht. Verblüfft von der Verwandlung und auch so nahe des Nervenzusammenbruchs wimmert Miho: „Wer... Wer bist du...?“ Ihr Gegenüber lacht höhnisch: „Ich heiße Cyst. Mitglied der Curser-Gesellschaft. Ich werde von der werten Königin als Spion eingesetzt. Nachdem dein Bruder ihr seine Kräfte übertragen hat, setzte sie mich darauf an, diese Familie zu beobachten.“ „Aber wieso...?“, keucht sie. „Weil wir wussten, dass er mit Raito in Kontakt steht, den wir ja finden wollten. Und der beste Weg, mich in euren Alltag zu integrieren war es, sich als dein Liebhaber auszugeben. Mein Plan.“ „Aber was ist mit Stephan?!“ Cysts Finger kommt dem Abzug der Pistole immer näher: „Stephan gibt es gar nicht, du kleine Schlampe. Er ist nichts weiter als eine Illusion, die ich mir ausgedacht habe! Oder hast du jemals seinen Ausweis gesehen? Warst du jemals in seiner Wohnung? Jemals einen seiner Angehörigen kennengelernt? Ich hasse dumme Menschen wie dich, die einfach nie ihren Kopf anstrengen.“ Miho weiß: Jetzt oder nie. So zügig es geht reißt sie die Tür des Kühlschranks auf, Cyst lässt ohrenbetäubende Schüsse fallen, doch die dringen nicht durch die Kühlschranktür, hinter der Miho in Deckung geht, sondern prallen aus nächster Nähe ab und fallen auf dem Boden. Spontan greift sie in den Kühlschrank hinein, nimmt eine große Salatschüssel heraus und wirft sie über ihren „Schutzwall“. „Au...“, hört sie eine Mädchenstimme rufen. Verwirrt kommt sie hervor und sieht Shizuka, die auf dem Boden sitzt und sich den Kopf reibt, an dem die Schüssel sie wahrscheinlich erwischt hat. Dessen Scherben liegen nun fast überall in der Küche verstreut. „Shizuka!“, ruft Miho besorgt, doch die Angesprochene steht grinsend auf und offenbart ihre Pistole: „Reingefallen!“ Sie schießt, und obwohl Miho versucht, auszuweichen bekommt sie einen Streifschuss am rechten Oberarm ab. Brennender Schmerz durchzuckt ihren Arm und sie hält die blutende Stelle verkrampft fest. Noch ein bisschen besser gezielt und sie wäre tot gewesen, aber sie hat keine Zeit, sich darüber zu freuen, noch am Leben zu sein. Schwer atmend läuft sie aus der Küche, durch das Wohnzimmer in den Flur. Sie könnte jetzt die Haustür raus und fliehen, doch sie weiß, dass sie das nicht darf. Anscheinend kann Cyst jede beliebige Gestalt annehmen. Sie darf nicht zulassen, dass er sie auf diese Weise durcheinander bringt. So hat er Desmond umgebracht, und so wird er noch mehr Menschen umbringen, wenn sie nichts dagegen tut. Deswegen fummelt sie sich die elektrische Bombe aus der Hosentasche und versucht, sie einzuschalten. Doch wie funktioniert das? Shizuka hat es auch nur per Zufall geschafft, indem sie wahllos an den Schaltern herumgespielt hat. „Bist du weggerannt?“, ruft Cyst aus dem Wohnzimmer, und Miho versucht panisch, ihn hinzuhalten, während sie das Gerät aktiviert: „Nein! Aber bitte sag mir, warum du Desmond umgebracht hast! Was hat er denn schon getan?“ „Hat mehrere Gründe. Er hat sich mit euch gegen uns Cursers verbündet, das ist Grund eins. Der zweite Grund ist, dass ich es nicht zulassen durfte, von dir versetzt zu werden. Wie soll ich euch denn ausspionieren, wenn du mir wegläufst, zu ihm?“ Miho weiß wovon er spricht, nämlich vom letzten Sonntag, an dem sie mit Desmond zu ihm nach Hause gefahren ist, um das Missverständnis aufzuklären. „Ich bin euch an jenem Tag gefolgt“, haucht er; „Ich habe, nachdem ich dich aus dem Haus habe kommen sehen, deine Gestalt angenommen und mich an den Wissenschaftler rangemacht. Vor den Augen seiner Freundin! Das war köstlich!“ „Was?!“, schreit Miho entsetzt; „Das ist ja widerlich! Wie konntest du?!“ Dass er in ihrer Gestalt solche abstoßenden Dinge tut, würde sie am liebsten gar nicht glauben. „Es ist spaßig“, korrigiert Cyst sie; „Sie ist dann heulend weggelaufen... Naja, ich habe mich kurz danach nochmal verwandelt und zwar in sie. Als seine Freundin habe ich ihn getötet.“ Das erklärt, warum Shous Fingerabdrücke auf der Mordwaffe waren. Sie ist wirklich unschuldig! „Das beste an der Sache war sein Gesichtsausdruck, als ich ihm in Shous Gestalt weißmachte, ich hätte dich ermordet. Natürlich eine glatte Lüge, aber ich wollte mich halt amüsieren. Doch nun wird es keine Lüge mehr sein...“ „Danke, dass du mich nicht dumm sterben lässt“, lächelt Miho; Sie hat es endlich geschafft, die Bombe zu aktivieren. Sie steht schnell auf und sieht ins Wohnzimmer. Fast schon hat sie erwartet, dass Cyst genau vor ihr steht. Aber es ist Keisuke, ihr Bruder, der sie einen Meter vor ihr ratlos ansieht. Miho zögert. Aber das darf sie nicht, die Zeit läuft, in ein paar Sekunden wird die Bombe hochgehen! Es ist nicht ihr Bruder, es ist dieses Ekel von Cyst... Sie geht schnell ein paar Schritte zurück und will gerade die metallene Bombe auf ihn werfen, da sagt er: „Was machst du nur, Schwester?“ Daraufhin lässt Miho sie fallen. Sie kann es nicht, sie kann einfach nicht. Auch wenn sie weiß, dass es ein Mörder ist, der nur wie ihr Bruder aussieht. Was immer sie tut, sie bringt es nicht über das Herz. Keisuke, beziehungsweise Cyst fängt an, zu grinsen und hebt schnell seine Pistole, mit der er auf Miho schießt. Zumindest versucht er es, aber zu ihrem Glück hat die Waffe keine Munition mehr. Ohne zu zögern läuft Miho weiter in den Flur bis zur Treppe, und kurz danach explodiert die Bombe und reißt den ganzen Flur in Stücke. Die Fensterscheiben zerspringen, der Holzboden fängt Feuer, die Wand zum Wohnzimmer reißt komplett ein und Cyst wird einige Meter zurückgeschleudert. Anscheinend besaßen die Bomben alle unterschiedliche Sprengkräfte, zumindest ist die Verwüstung im Garten weitaus schlimmer ausgefallen als hier. Der Flur und das Wohnzimmer wird in Rauch gehüllt, aus den Fenstern steigt ebenfalls Qualm auf. So würde bald die Feuerwehr kommen. Miho rennt die Treppe hoch bis in ihr Zimmer und macht die Tür zu. Abschließen kann sie nicht, weil sie den Schlüssel erst suchen müsste, aber sie geht schon mal hinter dem Stuhl an ihrem Nähtisch in Deckung. Cyst ist ein Vampir, von der Druckwelle eben wird er sich schnell erholen. Hoffentlich verschwindet er, wenn die Feuerwehr kommt... Miho laufen Tränen über die Wangen. Sie kann immer noch nicht fassen, was eben passiert ist. Ein paar Minuten sitzt sie schluchzend nur da, ohne, dass etwas passiert. Cyst ließ sich zwar nicht blicken, aber die Feuerwehr auch nicht... Miho ist nervös, doch sie traut sich nicht aus ihrer Position heraus. Dann hört sie plötzlich schnelle Schritte den Flur entlang. Sie macht sich bereit, denn nach ein paar Sekunden geht die Tür auf und dieses Mal ist es Alexa, die ins Zimmer kommt. „Miho, bist du hier?“, fragt sie und rückt ihre Brille zurecht. Nochmal würde sie sich aber nicht von ihm täuschen lassen. Sie springt auf, hebt mit aller Kraft den Stuhl hoch und rammt ihn gegen Alexa, die daraufhin zu Boden kracht und sich nicht mehr regt. Schwer atmend stellt Miho den Stuhl wieder ab. „Du blöder Mistkerl!“, schreit sie und will ihm gerade einen Tritt verpassen, doch sie hält plötzlich inne. Im Flur steht Cyst, in seiner normalen Vampirform. Und vor ihr liegt Alexa auf den Boden. Das heißt doch... „Oh nein!“, kreischt Miho entgeistert und beugt sich über sie. Glücklicherweise ist sie nicht tot, sondern nur bewusstlos. „Sie hat ihre Handtasche hier vergessen“, grinst Cyst; „Ich habe sie als Stephan in Empfang genommen und nach oben geschickt. Es war ja so klar, was passieren würde.“ „Wie konntest du?!“ „Bedank dich lieber bei mir, dass ich unten das Feuer gelöscht habe“, blafft er sie an; „Durch die Flammen konnte ich dir nicht so leicht folgen...“ Er kommt auf Miho zu, die reflexartig zurückweicht, immer weiter, bis sie mit dem Rücken am Fenster steht. Cyst hebt selbstsicher seine Fäuste, da ihm für die Pistole ja die Munition ausgegangen ist, und schlägt mit aller Kraft zu. Miho duckt sich mit den Händen über den Kopf weg, sodass seine Attacke die Fensterscheibe hinter ihr zerberstet. Mit solcher Schlagkraft hat sie nicht gerechnet, und dass die Hand des Vampirs nun blutet ist auch nicht wirklich ein Trost. Bevor er wieder ausholen kann, stützt Miho sich an der Fensterbank ab und springt panisch aus dem Fenster. Obwohl sie im Blumenbeet des Vorgartens anstatt auf dem harten Pflasterstein landet, stöhnt sie vor Schmerz auf, als sie unsanft unten ankommt. Alle ihre Glieder schmerzen, von der blutenden Wunde am rechten Oberarm ganz zu schweigen. Cyst schaut aus dem Fenster und lacht: „Glaub nicht, dass du mir entkommst!“ Und sein Kopf verschwindet wieder von dort. Miho weiß, dass er gerade runter kommt, also richtet sie sich so schnell sie kann auf, mit Erleichterung darüber, sich nichts gebrochen zu haben, und läuft zum Haus der Nachbarn, wo sie wie verrückt sturmklingelt. Doch es regt sich nichts. Cyst kommt gerade aus ihrem Haus und kann über Mihos Versuch, Hilfe zu holen, nur lachen: „Bei denen musst du es gar nicht erst probieren! Die, die da gewohnt haben, sind schon tot!“ Sie schreit auf, als sie das hört, zögert aber nicht und rennt mit Seitenstechen zum Haus daneben, wo sie wieder mehrere Male hintereinander klingelt, auf dass ihr jemand helfen möge. Wieder nichts. Cyst steht gelassen am Zaun und flötet: „Nee, die haben wir auch schon getötet.“ Hysterisch läuft Miho weiter; Das darf doch nicht wahr sein. Es sind keine Fußgänger draußen unterwegs, es fahren keine Autos, die Telefonverbindung ist gekappt und die Nachbarn sind alle tot?! Ihren nächsten erfolglosen Versuch kommentiert Cyst mit: „Kommen Sie doch bitte später wieder, wenn das Haus wieder von lebenden Menschen bewohnt wird.“ Er scheint ganz locker zu sein, obwohl sie auf offener Straße sind. Systematisch scheinen die Cursers die Großstadt Logaly auszurotten, und zwar so gut organisiert, dass es nicht einmal auffällt. Miho sackt vor der Haustür zusammen: Sie kann nicht mehr. Nie in ihrem Leben musste sie soviel mitmachen. Nie soviel leiden... Sie hat das Gefühl, als würde alle Welt versuchen, sie wahnsinnig zu machen. Warum nur? Was hat sie getan, um so ein Unrecht zu verdienen? Cyst tritt mit einem arroganten Grinsen an sie heran: „Na Kleine? Begreifst du es jetzt? Du hast keine Chance mehr. Es gibt kein Entkommen.“ Seine roten Augen leuchten durch die Dunkelheit. „Mach dir keine Sorgen, deine Geschwister werden dir schon bald folgen...“ Ihre Geschwister? Keisuke? Sakito? Zitternd steht Miho auf. Wenn sie jetzt aufgibt, werden die Cursers ihre Brüder töten. Tränen laufen ihr über die Wangen: „Glaubst du, das lasse ich zu?!“ Sie verpasst Cyst eine schallende Ohrfeige, welche sein Gesicht teilweise gerötet zurücklässt. „Auf einmal wehrst du dich?“ Er nagelt sie an die Haustür, doch sie tritt ihm gezielt in den Magen woraufhin er schmerzerfüllt aufkeucht. „Du hast die ganze Zeit über mit meinen Gefühlen gespielt!“, schreit sie und mäht ihn nieder. Dann springt sie auf ihn drauf: „Es gibt keinen Stephan!“ Sie schlägt ihm ins Gesicht: „Du hast Desmond getötet!!!“ Noch einmal: „Du hast Shous Leben zerstört!“ Er spuckt Blut. Ein verheerender Tritt in die Gegend seines besten Stücks: „Du hast das Haus meiner Eltern verwüstet!“ Und ein Tritt ins Gesicht: „Du drohst damit, meine Brüder zu töten!!!“ Ob Cyst nun schon ohnmächtig ist oder nicht, interessiert sie nicht. Sie schlägt immer weiter auf ihn ein: „Ich habe SO VIELE GRÜNDE, DICH ZU HASSEN!!!“ Er hustet und wimmert, doch sie schlägt ihm immer weiter ins Gesicht: „ICH HASSE DICH!!!“ Nie zuvor in ihrem Leben ist Miho so aus sich herausgekommen. Sie kocht vor Wut. Dieses grausame Monster! Sie wird es aufhalten! Diese eklige, mörderische Bestie! Nun blutet er schon fast überall, sein Gesicht ist entstellt und er bewegt sich kein Stück mehr. Für einen Moment ist Miho ganz starr: Sie hat ihn tatsächlich umgebracht. Aber wie? Was hat sie denn getan? Sie rutscht ein bisschen von Cyst weg und fasst sich an den Kopf. Was gerade passiert ist, scheint ihr wie eine Art Traum. War das wirklich sie? Hat sie das angerichtet? Sie kann es nicht glauben. Ihre Erinnerung ist schwach, obgleich es vor nicht einmal einer Minute geschehen ist. Panisch steht sie auf und rennt zu ihrem Haus zurück. Sie knallt die beschädigte Haustür zu und rennt durch den zerstörten Flur nach oben. Alexa ist verletzt, sie muss ihr helfen. Das ist jetzt am wichtigsten. Und wegen Cyst... Sie wird schon wissen, was Miho machen sollte. Sie läuft in ihr Schlafzimmer, doch Alexa liegt nicht mehr auf dem Boden: „Alexa?“ Auch im restlichen Teil des Hauses findet sie sie nicht. Ist sie nach Hause gegangen? Geschockt findet Miho ihre Handtasche im Wohnzimmer neben dem Sofa. Keisuke steht dem Kind gegenüber. Sense, um einiges jünger als er, sieht ihn voller Zorn an. Seine Hände zittern, er hat weder eine Waffe, noch sieht er besonders gefährlich aus. „Bist du hier, um mich auch zu töten?!“, faucht er ihn an und hebt kampfbereit seine Arme. Keisuke richtet ihn seinen Dolch entgegen. Um genau zu sein ist er genau dafür gekommen, sie haben gemeinsam die Villa gestürmt um die Cursers auszulöschen. Aber Sense ist doch noch ein Kind... Nervös schaut er den Kleinen an. Er kann doch nicht gegen ein kleines Kind kämpfen! Doch das wird er müssen, er wird ihn töten müssen, um die Menschheit vor dem Ende zu retten. Die Anderen kämpfen doch auch, da kann er sich doch nicht drücken? Plötzlich hallen in seinem Kopf jene Worte wieder, die einst Verena äußerte: „Du darfst nie jemanden töten, Keisuke, ja?“ Damals hat er es ihr sozusagen versprochen, und er hat nicht vor, sie zu enttäuschen. „Ich werde dich nicht töten...“, flüstert Keisuke; „Denn dann... Wüsste ich nicht, wie ich Verena in die Augen sehen sollte, wenn sie wieder am Leben ist...“ Seine Waffe lässt er ruhig sinken und steckt sie wieder ein. „Aber dafür bist du doch hergekommen?“, fragt Sense mit einem aggressiven Unterton. „Ich habe etwas sehr wichtiges vergessen, eine Abmachung, die ich mal getroffen habe...“, versucht Keisuke zu erklären, aber der Junge fällt ihm ins Wort: „Ich glaube dir nicht!“ Verwirrt schaut Keisuke ihn an. „Ich glaube dir nicht!“, wiederholt Sense; „Du bist ein Lügner, du willst mich täuschen! In Wirklichkeit willst du mich hinters Licht führen, aber ich falle nicht auf dich herein!“ Man kann ihm die Angst zwar ansehen, doch sie hält ihn nicht davon ab, auf den erstarrten Keisuke zuzulaufen und ihn springend zu Boden zu reißen. „W-warte!“, ruft Keisuke hektisch, und versucht, Sense sanft wegzuschieben, doch der lässt das nicht mit sich machen und drückt den Älteren an der Brust zu Boden. Der unbequeme Fußboden presst sich an Keisukes Rücken. Sense ist nicht besonders stark, bemerkt Keisuke; theoretisch könnte er ihn mit Gewalt von sich runterwerfen, aber wenn er das macht... Dann wird er gezwungen sein, gegen ihn zu kämpfen, denn dann wird er Sense nur bestätigen. „Bitte hör mir zu“, sagt Keisuke. Obwohl er versucht, so ruhig wie möglich zu klingen, macht sein schneller Herzschlag ihm da einen Strich durch die Rechnung. „Du willst meine Familie auslöschen...“, knurrt Sense zornig und legt seine Hände um Keisukes Hals. „Warte...“, fleht Keisuke panisch, wird aber nur wieder angeschrien: „Wieso sollte ich?! Du hast Lure und Raid umgebracht!“ „Habe ich nicht“, entgegnet er und schüttelt heftig den Kopf. „Aber deine Freunde waren es! Sie haben sie mir einfach weggenommen!“ Seine Hände liegen immernoch um Keisukes Hals, doch noch erwürgt er ihn nicht. „Weißt du, was deine Freunde alles gemacht haben?!“, keucht Keisuke; „Sie haben versucht, mich umzubringen, sie haben Personen getötet, die mir sehr nahestanden! Die euch nicht mal etwas getan haben! Und Emily...“ Als er ihren Namen ausspricht, fängt Sense plötzlich an, mit seinen Fingern gegen Keisukes Kehle zu drücken: „Wehe du beleidigst Mama!!!“ Keisuke bekommt keine Luft mehr, er muss sich wehren, wenn er es nicht tut, wird er getötet! Langsam drückt er mit seinen Händen Senses Finger von seinem schmerzenden Hals weg, schwer atmend schaut er ihm in die Augen: „Deine 'Mama' hat meine große Schwester entführen lassen. Die euch nie irgendetwas getan hat. Ich frage dich, Sense, wer will hier wessen Familie auslöschen?“ Mit einem Mal zieht Sense seine Hände zurück und schaut den unter ihm liegenden Keisuke erschrocken für ein paar Sekunden an. Dann fasst er sich mit den Händen an den Kopf und ruft zitternd: „Nein! Nein, ich kann euch nicht trauen! Was habt ihr schon für mich gemacht, ich muss Emily glauben, Emily kann ich vertrauen... Sie war immer für mich da!“ Keisuke will die Gelegenheit nutzen, um sich aufzurichten, wird jedoch schneller als er erwartet hätte wieder von Sense auf den Boden gedrückt. Ich darf mich nicht wehren..., denkt Keisuke im Stillen. Verena... Senses Körper bebt, er greift in Hosentasche des anderen Vampirs und zieht den silbernen Dolch heraus. Interessiert sieht er ihn sich an. Das geht zu weit, denkt Keisuke, und als Sense mit dem Messer ausholt reagiert er schnell und hält dessen Arm mit beiden Händen fest. Die gefährliche Waffe schwebt nicht mehr als ein paar Zentimeter über Keisukes Gesicht, doch er schafft es, seinen Arm mit aller Kraft zurückzudrücken und ihm den Dolch wieder zu entreißen. „Der gehört mir!“, sagt Keisuke sauer. Nun hat er sich doch gewehrt, aber was hätte er sonst tun sollen? Sich umbringen zu lassen, das wäre auch nicht das gewesen, was Verena gewollt hätte. Vor allem nicht mit der Waffe, die er von Raito bekommen hat. Der Blick von Sense offenbart Verachtung und Hass, aber auch Keisuke wird immer wütender. Am liebsten würde er diesem dummen Balg eine reinhauen, aber weiß, dass das unklug wäre. „Können wir das Kämpfen nicht sein lassen?“, fragt er, nachdem er es halbwegs geschafft hat, sich zu beruhigen. „Wenn du dein Messer hinlegst“, antwortet Sense zähneknirschend. Keisuke willigt ein und legt es langsam vor sich auf den Boden. Nicht mal eine Sekunde nachdem er wieder ganz aufrecht steht stürmt der Kleine wieder auf ihn zu und schlägt ihn mit seiner Faust ins Gesicht. Die Wucht des Hiebes lässt Keisuke aufstöhnen, doch das reicht, er würde nun nicht länger zögern. Geschwind duckt er sich, schnappt sich den Dolch und richtet ihn Sense entgegen: „Ich wollte dir nichts tun, aber du lässt mir keine Wahl!“, ruft er verzweifelt und schwingt seine Waffe über Senses Oberkörper, doch scheinbar ist er nicht getroffen worden. Trotzdem weicht er schreiend zurück. Schwer atmend reibt Keisuke sich die schmerzende Wange. Skeptisch betrachtet Emily Halo das in der Wand klaffende Loch, das Epheral gerade verursacht hat: „So wie es aussieht, müssen wir uns wieder ein neues Hauptquartier suchen... Diese Villa ist nicht mehr groß zu gebrauchen.“ Der Vampirjäger lacht: „Dazu werdet ihr nicht mehr kommen! Ich habe alle Vampire im Erdgeschoss ausgelöscht!“ Entsetzt schaut Emily ihn an: „WAS?! Du?! Als wäre ein Mensch dazu in der Lage!“ Epheral schnaubt, er würde ihr jetzt zeigen, dass er dazu in der Lage ist. Schnell zückt er eine Handgranate und schleudert sie in den hinteren Teil des Raumes, wo sie explodiert, sodass Emily durch die Druckwelle nach vorne geschleudert wird. Raito faltet seine Hände und schließt kurz die Augen. Ein gewaltiger, schattenartiger Löwe erscheint hinter ihm und stürzt sich in die Rauchschwaden, die Emilys Körper verdecken. Doch kaum hat sich der Nebel gelichtet, fliegt der Löwe brüllend an die Wand, woraufhin die ganze Erde kurz bebt und der Kronleuchter klirrend herunterfällt. Vor ihnen steht eine sehr zornige Emily, deren Kleid schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. „Ihr wagt es...“ Epheral lässt sie nicht aussprechen sondern zückt gleich sein Gewehr, mit dem er auf Emily schließt, doch die Kugel prallt an ihrem Kleid ab und macht kehrt: Sie erwischt den Vampirjäger im unteren Bauchbereich. Keuchend fällt dieser zu Boden. „Eine meiner Lieblingsfähigkeiten“, lächelt Emily; „Ich kann alle Arten von Projektilen, Kugeln oder Pfeilen abwehren und zurücklenken. Nur bei größeren Objekten, wie einer Handgranate, funkitoniert es leider nicht.“ Raito will seine Hände zum zweiten Mal falten, doch Emily beschwört schnell dunkle Bänder, die seine Arme fesseln. Überlegen schaut sie ihn an: „Du bist schwach geworden, Raito.“ Dann wird sie von einer großen, schwarzen Pranke zu Boden geworfen: Sie hat den Löwen vergessen. Weil Emilys Konzentration in dem Moment, in dem sie stürzt, nachlässt, lösen sich die Bänder um Raitos Arme und verschwinden. Das brüllende Ungetüm wirft sich auf die Königin der Cursers und versucht, sie auseinander zu nehmen, aber sie hebt das Tier einfach hoch und schleudert es weg. Obwohl sie aussieht wie eine zierliche Frau, hat Emily Körperkräfte wie ein Riese. Hechelnd richtet sie sich wieder auf. Plötzlich wird Raito zu Boden gezogen und zwei Sekunden später explodiert vor Emilys Füßen eine Handgranate, deren Detonation den gesamten Raum für einen Moment orangerot erleuchtet und die Vampirfrau meterweit zurückwirft. Als Raito bemerkt, von wem er zurückgezogen wurde, lächelt er anerkennend: Epheral grinst ihn an und offenbart unter seiner Jacke eine kugelsichere Weste. Er wurde also gar nicht getroffen, sondern spielte es nur vor, um der Gegnerin eine Falle stellen zu können. Als der Rauch sich ein wenig verzieht, stehen die beiden auf und sehen, dass Emily stark blutend an der gegenüberliegenden Wand gelehnt steht und das Duo mit einem verächtlichen Blick mustert. „Ihr kleinen Bastarde...“, krächzt sie und drückt sich von der Wand ab. Ihr einst schönes, schwarzes Abendkleid ist nun nicht mehr als ein verkohlter Fetzen Stoff, ihre langen, silbernen Haare sind durcheinander und teilweise versengt, und wo ihre Schuhe hin sind, kann auch niemand so genau sagen. Dazu kommt, dass sie am gesamten Körper blutende Verletzungen sowie Brandwunden aufweist. Es scheint sogar, als würde noch leichter Rauch von ihr aufsteigen. „Ich muss zugeben, ihr Vampire seid wirklich widerstandsfähig“, gibt Epheral zu; „Ein Mensch wäre an deiner Stelle schon dreimal tot...“ Emily gibt sofort kontra: „Weil ihr Menschen schwache Kakerlaken seid! Ihr seid abstoßend!“ „Du wirst es wohl nie einsehen...“, sagt Raito beinahe enttäuscht und tritt vor seinen Mitstreiter. Als er seine Hände faltet und den Kopf senkt, ertönt plötzlich ein Schrei von oben, der dazu führt, dass Raito seine Beschwörung unterbricht und ebenso wie Epheral und Emily an die Zimmerdecke schaut. Emilys Blick verändert sich von einer Sekunde auf die andere: Schaute sie eben noch verächtlich und hasserfüllt, sind ihre Augen nun erfüllt von Angst und Sorge. „Nein, Sense!!“, ruft sie schrill und wendet ihren Feinden den Rücken zu, um durch die Tür in den Flur zu hasten und von dort aus die Treppe hoch. Ohne zu zögern nehmen Raito und Epheral die Verfolgung auf, denn sie haben nicht vor, sie entkommen zu lassen. Trotz ihres stark in Mitleidenschaft gezogenen Körpers ist Emily schnell genug, um vor den beiden Männern im Obergeschoss anzukommen. Schwer atmend rennt sie geradeaus, Senses Zimmer liegt hinter der letzten Tür des Ganges. Ihre Füße schmerzen bei jedem Schritt, doch sie hat keine Zeit, sich darum zu kümmern. Nicht, wenn Sense in Gefahr ist. Sie spurtet durch die offene Holztür und bekommt erstmal einen Schreck, als sie Keisuke erblickt, der vielleicht einen Meter vor Sense mit einem Dolch in der Hand steht. „NEIN!!!“, schreit sie und hebt blitzschnell ihre Hand, ihre Augen gerichtet auf den Vampir, der gerade scheinbar versucht, ihr ihr allerletztes Familienmitglied wegzunehmen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)