Jeder für sich von -Sanna- ================================================================================ Kapitel 4: Vergessener Zwilling ------------------------------- Unser letzter Auftritt in New York rückte immer näher und ich wurde mit jedem Tag nervöser wegen diesem Termin. Dieses Konzert sollte etwas ganz Besonderes werden, das hatte ich mir fest vorgenommen. Es sollte das beste Konzert werden, was wir je gegeben hatten. So wie damals... Ich schüttelte den Kopf. Um in Erinnerungen zu schwelgen hatte ich wirklich keine Zeit. Heute Abend war ein Konzert in San Fransisco und davor hatte ich noch einiges zu erledigen. Ich musste mit David sprechen, er machte Druck, da ich schon seit längerer Zeit nichts Neues an Texten zustande gebracht hatte. Dabei stand das nächste Album schon in den Startlöchern und hatte noch nicht annähernd genug Songs. Es stimmte, ich hatte schon längere Zeit überhaupt nichts mehr geschrieben. Mir fehlten einfach Zeit und vor allem gute Ideen. Ich war damit beschäftigt...andere Dinge zu tun. Ich griff nach meiner Kleidung und zog mich an. Prüfend sah ich mein Spiegelbild an. Na ja... Dünn war ich noch nicht. Noch lange nicht. Ich seufze leise. Dass mein Zwilling nun von dieser Sache wusste, war mir gar nicht lieb. Hätte ich doch nur gesagt, mir sei schlecht. Ich war zu dumm. Ich kannte Tom gut genug, um zu wissen dass er mich nicht mehr damit in Ruhe lassen würde. Im Moment ließ er sowieso niemanden in Ruhe. Ewiger Kämpferinstinkt. Manchmal nervte das wirklich. Natürlich...irgendwo war es schon verständlich. Aber im Moment könnten wir wirklich alles gebrauchen – nur niemanden der in offenen Wunden herumstocherte. Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel und verließ dann mein Zimmer. Ob es auffallen würde, wenn ich nichts aß? Wenn ich nur niemandem begegnen würde, dann... „Hey Bill.“, Tom kam um die Ecke gebogen. Der hatte mir grade noch gefehlt... „Hi.“, antwortete ich knapp. „Alles klar bei dir?“, fragte mich mein Bruder und sah mich an. Ich seufzte. Ich war wirklich nicht in Stimmung für so etwas. „Das weißt du selbst gut genug.“, antwortete ich also. Ich hörte ein trauriges Seufzen und spürte leichte Gewissensbisse. Doch schnell verdrängte ich diese Gefühle wieder – wie praktisch doch meine perfekte Schauspielerkunst war. Ich konnte nicht nur den Rest der Welt überzeugen, nein ich überzeugte meistens auch mich selbst. Als ob es mir schlecht gehen würde. Absolut lächerlich. Ich hatte keine Probleme in meinem Leben, alles was ich tat war nötig, um unseren Erfolg als Band aufrecht zu erhalten. Dass Tom das nicht verstehen konnte, war wirklich schrecklich. Mein Bruder verstand überhaupt nichts mehr von mir. Er sollte mich einfach nur in Ruhe lassen, aber natürlich würde er das nicht tun. Bildete er sich etwa immer noch ein, er müsste allen helfen? Das war doch mehr als lachhaft. Niemand hier hatte Probleme! Niemand... Das Konzert in San Fransisco war nicht wirklich gut gewesen, was vor allem an Georg gelegen hatte. Dieser Idiot hatte wirklich jeden zweiten Ton verhauen! Wütend betrat ich meine Umkleide und bereitete mich auf das Interview vor, was wir nach diesem Konzert noch geben sollten. Hoffentlich würde sich Georg da ordentlich aufführen, was würde das denn sonst für einen Eindruck machen! Es war wirklich verantwortungslos, was meine Bandkollegen wieder einmal taten. Lag ihnen denn überhaupt nichts mehr an der Musik? Eine halbe Stunde später saßen wir also in irgendeinem Club vor dem amerikanischen Reporter, der – glücklicherweise – der deutschen Sprache mächtig war. „Wie läuft es bis jetzt auf Ihrer Welttournee?“, war die erste Frage. Meine Güte, dieser Kerl hatte wirklich einen starken Akzent. War ja schrecklich. „Super.“, antwortete ich sofort, „Das ist das Beste, was wir bis jetzt gemacht haben!“ Ich bemerkte einen zweifelnden Blick von Tom. Na ganz toll! Hoffentlich hatte der Reporter das nicht gesehen. „Ist es nicht sehr...“, der Mann überlegte kurz, er schien nach dem passenden Wort zu suchen, „Sehr anstrengend?“ „Klar ist es das.“, antwortete wieder ich, „Aber trotzdem macht es unglaublichen Spaß! Wir waren noch nie in so kurzer Zeit an so vielen fantastischen Orten.“ Es war eigentlich immer so, dass ich die Interviews führte – die anderen drei würden doch sowieso nur Mist erzählen, der unserem Image schadete. Da war es besser wenn ich das übernahm. Nachdem der Mann noch einige Fragen gestellt hatten – größtenteils Standardfragen, die uns bis jetzt so gut wie jeder Reporter gestellt hatte – bedankte er sich und verließ uns. „Das Beste, was wir je gemacht haben?“, fuhr Tom mich an, sobald die Tür sich geschlossen hatte, „Das war wohl die größte Lüge, die du je gesagt hast!“ Was sollte das denn nun wieder?! „Krieg dich mal wieder ein, Tom!“, sagte ich wütend, „Das war eben genau das was der Typ hören wollte!“ Doch mein Bruder schnaubte nur ärgerlich und stand auf. „Und genau deshalb hättest du es nicht sagen sollen!“, rief er, „Denn das hier ist nicht das Beste, das hier ist das Schlimmste was wir je getan haben!“ Jetzt reichte es aber endgültig! „Was willst du damit sagen!“, erwiderte ich wütend. „Ich will euch verdammt noch mal sagen, was für eine gequirlte Scheiße das alles hier ist!“, Tom redete sich richtig in Rage, „Seid ihr vollkommen blind?! Unser Erfolg, unsere Musik machen uns kaputt! Wir machen uns kaputt!“ „Du übertreibst, Tom.“, versuchte ich ihn wieder zu beschwichtigen, „Ich versteh ja, dass das ein bisschen anstrengend...“ Doch Tom unterbrach mich: „Ein bisschen anstrengend?!“, schrie er mich an, „Es ist Wahnsinn!“ „Es ist nichts, was wir nicht schaffen können!“, erwiderte ich, „Tom, du bist mein Zwilling. Wir haben doch bisher alles geschafft. Du bist nur erschöpft, vielleicht ist das Ganze einfach zu viel Stress für dich. Wir können doch David fragen, ob er uns noch einen Tag frei gibt.“ Für einen Moment schwieg Tom und sah mich an. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es nicht nur ein wenig Stress war, was Tom zermürbte. Es war mehr, so viel mehr. Für eine Sekunde spürte ich das Zwillingsband zwischen uns, spürte den Schmerz in meinem Bruder. Dann erlosch es. „Nein Bill.“, sagte Tom dann und senkte den Blick, „Wir sind keine Zwillinge mehr. Schon lange nicht mehr.“ † Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)