Vergessene Träume von emhumphrey (OneShot) ================================================================================ Kapitel 1: OneShot ------------------ Vorsichtig drücke ich die alte morsche Eichenholztüre hinter mir in das verrostete eiserne Schloss und lausche dem leichten, metallenen Knirschen, als die Tür dann endlich einschnappt. Ich weiß genau, hier draußen hört mich keiner, schon gar nicht um diese Uhrzeit, und doch bin ich so vorsichtig, als würde es um meine Freiheit gehen. Es ist kurz vor Mitternacht. Es ist still um mich herum, so still, dass man sogar die Erde atmen hören könnte. Das dunkelgrüne Moos unter meinen bloßen Füßen quietscht leise, als ich drauf trete. So als würde die Luft daraus herausgepresst. Diese kleine alte Hütte, tief verborgen in unserem riesenhaften Wald, genau diese Hütte ist für mich mein Rettungsanker. Diese Hütte und die kleine Lichtung über ihrem dunklen Ziegeldach bedeutet Vergessen für mich. Vergessen aller Sorgen und Nöte, Ruhe und Zeit für Gedanken. Gute Gedanken. Diese Hütte ist meine Freude. Es ist mein ganz eigener Ort, mein kleines Land für mich allein, meine Freiheit. Diese Hütte ist mein inneres Licht. Für mich, Hikari Yagami! Dieser kleine Flecken Wald nur für mich allein ist mein einziges, großes Geheimnis. Nein… nein… nicht mein einziges… Ich weiß ganz genau, mein großer Bruder Tai würde niemals verstehen, dass dieses kleine Fleckchen für mich Ruhe und Frieden bedeutet. Dass es die quälende Dunkelheit aus meinem Herzen vertreibt. Dass hier, ganz genau hier, meine Gedanken und meine Träume verborgen liegen. Dass mein ganzes Herz an dieser baufälligen Hütte hängt, hat noch einen ganz anderen, ebenfalls völlig geheimen Grund. Und diesen Grund, den hat noch niemals jemand aus meinem Mund vernommen. Er ist mein größtes Geheimnis. Noch größer als diese Hütte. Eigentlich… eigentlich gehören diese beiden Geheimnisse zueinander, so wie Licht und Dunkelheit… Ich habe hier in dieser Hütte meinen Traum gelebt. Einen Traum, der vor einem halben Jahr noch Wirklichkeit war, real und greifbar, und jetzt wieder ein Traum ist. So nah bei mir und so weit von mir entfernt. Mein Herz schmerzt leicht, als ich daran denke, dass ich meinen Traum verloren habe. Und dass er noch immer in mir wohnt und mir die Kehle zuschnürt, so dass ich nicht mehr atmen kann. Dieser Traum hieß Joe Kido. Er war der schönste und zugleich schmerzhafteste Traum meines bisherigen Lebens, und die Erinnerung an ihn überflutet mich wie ein Schwall kaltes Wasser. So beharrlich wie die Dunkelheit versuchte, mein Licht auszulöschen und mich zu einem der schweigenden, langsam verschwindenden Schatten in der Digiwelt zu machen, so sehr habe ich Joe geliebt. Auf meine ganz eigene Weise. Joe hat die Dunkelheit in meinem Herzen langsam vertrieben, jeder einzelne Kuss von ihm hat mein Licht in mir erweckt, es angefacht und mich zum Brennen gebracht. Er hat dafür gesorgt, dass mein Licht mich nicht verlässt. Mich niemals verlässt. Das klingt völlig verrückt, ich weiß. Aber es hat mir so viel bedeutet, dass Joe mich wahrgenommen hat. Früher, als ich gerade erst Gatomon kennen gelernt habe und zusammen mit den anderen in die Digiwelt gekommen bin, da habe ich Joe zum ersten Mal richtig wahrgenommen. Aller-dings erst wie eine Art Bruder, weil er so alt war wie Tai. Aber er war komplett anders! Vernünftig, nicht so aufbrausend, ruhig… Er hat sich immer über alle anderen Sorgen gemacht, ganz genau wie ich. Er war derjenige, der am meisten auf die anderen geachtet hat, wenn auch nicht durch Kampf. Joe wollte alle beschützen. Das hat mir so imponiert! Er war stark damals, zwar schüchtern und manchmal kopflos, aber er war stark. Ganz anders als ich. Ich fühlte mich damals als nutzloses Anhängsel der Gruppe, besonders als ich krank wurde und nichts, gar nichts tun konnte um zu helfen. Sogar T.K konnte mehr tun als ich. Heute komme ich mir nicht mehr ganz so als Anhängsel vor und ich glaube das liegt vor allem an meinem Traum. An Joe. Dass er mir das Gefühl gegeben hat, dass ich etwas wert bin, dass ich wirklich dazugehöre. Ich lehne mich vorsichtig mit dem Rücken an die morsche Holztür der Hütte und richte mei-nen Blick über meinen Kopf durch die Baumwipfel gen Himmel. Tausende, abertausende Sterne funkeln in ihrer ganz eigenen Weise da oben im Himmel, leuchten gemeinsam mit dem Mond und machen die Nacht hell. Die Dunkelheit weicht ein wenig von mir, um mich herum wird es heller. Ein leichter Wind weht, streicht sanft und behutsam über die Wipfel der Bäume, bewegt sie sachte und flüstert mir Namen ins Ohr. Meinen Namen. Ich existiere immer noch. Aber das was ich verloren habe, und was mir am Wichtigsten war, das existiert nicht mehr, denn das Leben ist grausam. Damals, als ich gerade in die fünfte Klasse gekommen bin, und Joe auf eine andere Schule gegangen ist, da habe ich angefangen, mich zu fragen was er wohl über mich denkt. Erst langsam und unbewusst stellte sich diese Frage, aber dann kam sie immer häufiger. Ich versuchte, mich erwachsener zu benehmen, wann immer ich an seiner Seite war, und ich versuchte, öfter mit ihm in Kontakt zu treten. Heute muss ich darüber lachen, wie laienhaft ich es angestellt habe, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich weiß nicht ob es mir gelungen ist, zu zeigen dass ich da bin, oder ob er mich endlich bemerkt hatte. Und dann… nach drei endlos langen Jahren, ich war gerade fünfzehn geworden, da hat er mich um ein Treffen gebeten. Allein. Er war schüchtern, gar nicht so heiter und entspannt wie ich ihn kannte. Trotzdem wurde er immer wichtiger für mich, an einem einzigen Nachmittag. Wir sind in den Wald hinaus gegangen, genau zu dieser Hütte, die mir an jenem Tag wie ein verwunschener Ort erschien, von jeglicher Dunkelheit befreit. Joe hat irgendwann vorsichtig seine Hand ausgestreckt und meine berührt, zaghaft und vorsichtig, und seine Berührung hat einen Wärmeschauer über meinen Rücken gejagt. Hand in Hand sind wir zu dieser Hütte gegangen, er hat die Tür geöffnet und mich hinein gebeten, so als hätte er mich in sein wirkliches Haus eingeladen. Es war ein wenig dämmrig in dieser Hütte. Und warm. Joe hat sich hinter mich gestellt und dann, mit einer einzigen, fließenden Bewegung, hat er mich an sich gezogen und zwischen uns war alles geklärt. Da fing mein Traum erst an. Ich hatte nicht begriffen, dass das mein Traum sein könnte, nach dem ich schon so lang suchte. Und es dauerte lange, bis ich wirklich begriff, dass ich verliebt war. Ein langes halbes Jahr waren wir glücklich. Aber heimlich. Keiner hatte jemals von uns erfahren, weder Sora, noch Mimi, ich habe nicht einmal meiner besten Freundin Yolei jemals von uns erzählt. Nicht einmal Tai. Es war eine glückliche Zeit. Joe hat, wie schon gesagt, die Dunkelheit vertrieben und mir die Sicherheit gegeben, die ich brauchte. Er hat mich aufgerichtet und mir Selbstbewusstsein gegeben, die Schlagfertigkeit die ich brauchte, und die Bestätigung, dass ich ein Mensch bin. Er war mir nahe. Und er war wichtig für mich. Viel zu wichtig… Und dann… es war ein heißer, trügerischer Sommertag, da ist es passiert. Ich kam gerade aus der Schule und musste wie immer in Richtung des Westend-Viertels laufen und kurz davor abbiegen. An diesem Tag habe ich meinen Traum verloren. Joe stand gegenüber auf der anderen Straßenseite und winkte mir zu, warf mir mit seinen Händen einen Kuss über die Straße. Vorsichtig wie immer überquerte er die Straße. Er war fast drüben. Fast. Was dann passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch an einen lauten Knall und den leisen, auf der Zunge ersterbenden Aufschrei Joes. Dann schien die Zeit mit einemmal still zu stehen und es war mir, als beobachtete ich das alles nur als unbeteiligter Zuschauer, der zwar neugierig, aber nicht betroffen war. So leer war ich. Ein Auto hatte ihn ausradiert. Es hatte meinen Traum mit einem einzigen Druck auf ein Gaspedal einfach ausgelöscht. Ich kann mich noch ganz genau an den Schmerz erinnern, als meine Beine mir endlich wieder gehorcht haben, als ich an den Unfallort gelaufen bin. Seine Brille lag neben seinem mittelblauen Haar, verbeult und zerbrochen, er selbst war ein Wrack. Und doch hat er noch geatmet. Flach und wenig. Seine Hand hat sich vorsichtig an meine herangeschlichen und mir einen letzten Hauch Wärme mitgegeben. Ich beugte mich zu ihm herunter, der Autofahrer stand hinter uns, fassungslos und fertig, und rief verzweifelt um Hilfe. „Kari-chan…“ Ich höre heute noch den Widerhall seiner allerletzten Worte und sehe heute noch sein letztes leichtes Lächeln vor mir, so deutlich als wäre es gestern gewesen. Dabei ist es schon ein halbes Jahr her. Joes und mein Geheimnis war unsere Liebe. Mein Traum. Und wie, wie heißt mein Traum jetzt? Langsam fröstelt es mich. Die Dunkelheit wird wieder dichter. Mein Licht wird schwächer, die Erinnerung quält mich immer noch. Es schmerzt immer noch so sehr, dass ich ihn verloren habe. Und doch fühle ich mich seltsa-merweise nicht mehr so allein. Als hätte der aufkommende Wind seine Wärme zu mir getragen, mich umfangen und mir die Tränen fortgewischt. Joe… Ich werde ihn niemals vergessen. Aber ich muss leben… für ihn und für mich. Es ist Zeit vergangen. Viel Zeit. Ich weiß nicht wie viel Uhr es ist, ob der neue Tag schon angebrochen ist. Die Erinnerung an ihn hat mir jedes Zeitgefühl genommen, und mir doch etwas geschenkt. Sicherheit. Ich weiß er kommt nicht zurück. Und ich kann ihn auch nicht halten. Aber jetzt… seit gerade eben weiß ich plötzlich, dass er trotzdem immer da ist. Unwillkürlich muss ich lächeln. Und der Widerhall seiner Worte klingt in meinen Ohren. „Kari-chan…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)