All You Wanted von Nikolaus (Taichi x Yamato) ================================================================================ Kapitel 1: I Wanted To Be Like You (Yamato) ------------------------------------------- ~ Yamatos POV ~ Meine hastigen Schritte hallten in dem leeren Flur und ich hatte das Gefühl, dass neben mir noch ein Dutzend andere Personen gingen. Doch es war nur ich selbst, der durch die Gänge huschte und bei jedem verdächtigen Geräusch zusammen zuckte. Ich zog den Kopf ein, als ich laute Stimmen hörte, die näher kamen. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Ich wollte vermeiden, dass auch nur irgendjemand mich so sah; vollkommen durchnässt von dem strömenden Regen, der vor der Schule herrschte, wie als wollte der Himmel all seinen Frust über die Ozonverschmutzung auf die Welt hinab prasseln lassen. Meine Socken waren nass, wieder einmal wurde mir klar, dass ich diese Turnschuhe schon viel zu lange hatte. Aber ich konnte sie einfach nicht wegschmeißen, brachte es nicht über mich. Sie waren bequem und noch einiger maßen schön. Außerdem fehlte mir das nötige Geld, um mir jetzt neue zu kaufen. Die Stimmen kamen näher. Und jetzt erkannte ich sie. Es waren die, die ich schon so oft in meinen Alpträumen gehört hatte. Ihr Spotten, ihr hämisches Lachen. Die Stimmen, die mich jedes Mal bis aufs Blut demütigten, wenn sie auch nur einen Anlass dazu sahen, mich zu erniedrigen. Sei es, dass meine Bücher zu Boden fielen oder, dass ich die Antwort auf die Frage eines Lehrers nicht wusste. Sie nahmen alle Möglichkeiten, die sie kriegen konnten und es war ihnen egal, wie sehr es mich mitnahm. Etwas krampfte sich schmerzhaft in mir zusammen und ich sah mich nach einem Versteck um, während eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte: Wen interessiert das denn schon? Was du denkst ist nicht nur ihnen egal. „Nein“, hauchte ich leise und widersprach somit der Stimme, doch sie zeigte auch meine aufkommende Panik. Alle Klassenzimmer, an denen ich vorbei kam, waren besetzt. Es war fünfzehn Minuten nach Schulanfang, alle Schüler saßen auf ihren Stühlen und hörten aufmerksam ihren Lehrern zu. Nur ich nicht, weil ich verschlafen und Takeru seine Turnschuhe vergessen hatte. So mussten wir durch den strömenden Regen laufen. Die Stimmen meiner Peiniger wurden noch lauter, bis ich die zwei Jungen schon um die Ecke biegen sah. Panisch blickte ich mich um. Doch alles was ich sah, waren die grünen Spinte der Schule und sie konnten mir nicht den nötigen Schutz bieten. Ich straffte die Schultern, senkte den Blick und machte mich auf ihre Sprüche gefasst. Mein Herz klopfte ohrenbetäubend in meiner Brust. Das Blut rauschte in meinen Ohren und meine Arme, die krampfhaft den durchnässten Rucksack umklammerten, zitterten. Ein Zeichen der Schwäche und sie würden es sofort bemerken, ich wusste es. „Na, was haben wir denn da?“, hörte ich den einen schon sagen und spürte, wie ihre Präsenz näher an mich heran rückte. Die Präsenz von etwas Undefinierbarem, etwas Bösem und doch gleichzeitig, auf verwirrende Weise, Gutartigem. „Prinzesschen!“ Ich wollte den Blick nicht heben, sie nicht anschauen, doch unwillkürlich huschten meine Augen nach oben, blieben an dem blauen Saum des Sport-T-Shirts hängen. Adidas. Das war seine Lieblingsmarke und fast sein ganzes Kleidersortiment war von diesem Verkäufer. Sein ständiger Begleiter bevorzugte eher Puma und seine raubtierartige Gestalt, wurde durch den Spitznamen, den er dieser Vorliebe zu verdanken hatte, nur noch verstärkt. Fast schon sanft fixierte mein Gegenüber mein Kinn und zwang mich, zu ihm hoch zu sehen. Der harte Blick aus braunen Augen traf auf meinen. Wie aus Reflex zuckte mein Körper zurück, doch mit einer simplen Geste, verhinderte der Junge, dass ich davon lief. „Du scheinst in den Regen geraten zu sein“, meinte Shusuke Sakaki schmunzelnd. Seine schwarzen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht, in mir stieg der Gedanke auf, dass es heute wahrscheinlich noch keine Bürste gesehen hatte. Sein Freund, Yuri Aron, mit dem wasserstoffblonden Haaren und den grünen Augen, musterte mich abschätzend, wie als wäre sein Interesse heute an mir nicht so groß, wie sonst. Ich konnte nur hoffen, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag. Ich war schon oft genug in diesem Jahr zu spät zum Unterricht erschienen, ich konnte es mir nicht erlauben, nun auch noch fast die gesamte erste Stunde zu verpassen. „Sieht so aus“, antwortete Yuri nach einer Weile für mich und grinste. Meine Hoffnung verpuffte, wie eine große, schillernde Seifenblase, die kurz vor ihrem großen Traum, endlich in den Himmel zu steigen, von einem spitzen Ast durchstochen wurde und kläglich zerplatzte. „Und zu spät bist du auch noch.“ Diese Worte richteten sich wieder an mich, doch ich konnte nichts erwidern. Meine Kehle war plötzlich staubtrocken. „Das ist aber nicht fein“, sagte Shusuke. „Herr Heiji hat uns gerade ins Sekretariat geschickt, um deine Eltern anzurufen. Er hat sich schon Sorgen um dich gemacht.“ Er spuckte diese Worte förmlich aus. Ich wusste wieso. Herr Heiji hatte einen Narren an mir gefressen, da ich der einzige Schüler in seiner Klasse war, der den Stoff verstand und dazu noch in der Lage war, im Unterricht mitzudenken. Natürlich legte ich nicht großen Wert darauf, des Lehrers Liebling zu sein, doch den Mut, um zu ihm zu gehen und ihm zu sagen, dass er aufhören sollte, mich zu bevorzugen, besaß ich nicht. Genauso wenig, wie die Courage, etwas gegen Shusukes nächsten Vorwurf zu erwidern. „Wie oft lässt du ihn ran, hm? Wie oft hat er dich schon in deinen kleinen Arsch gefickt, damit du eine gute Note bekommen hast?“ Mein Körper zitterte unkontrolliert und der Griff um meinen Rucksack wurde stärker. Ich wünschte, ich könnte mich gegen ihn wehren, doch er war stärker und in der Überzahl. Gegen ihn hatte ich keine Chance, doch ihm und Yuri war ich haushoch unterlegen. Natürlich stimmte es nicht, was er sagte, aber ich schwieg weiterhin. Es stachelte Shusuke nur noch mehr an, wenn ich protestierte. Wenn ich versuchen würde, ihn zu treten und zu schlagen. Noch nie hatte ich etwas dergleichen gewagt, aber das eigenartige Glitzern in seinen Augen war Beweis genug. Er labte sich an meinen innern Qualen, genauso wie es sein Freund Yuri tat. Mir wurde übel und nur mit Mühe konnte ich ein Würgen unterdrückten. Shusuke löste seine Finger von meinem Kinn und entfernte sich einen Schritt von mir, mit angeekeltem Gesicht, wie als hätte ich diese anzüglichen Worte ausgesprochen und nicht er. „Schlampe“, murmelte er leise und fuhr sich durch die Haare. Einen Augenblick starrte er mich fasziniert an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht auf und er kam wieder auf mich zu. Hastig wich ich zurück. Spürte Yuris stählernen Körper in meinem Rücken und wusste, dass ich nicht fliehen konnte. Wieder stiegen die Stimmen in meinem Kopf empor und ich hörte ihr Lachen, ihr Schreien und ihre Worte. Es waren die Stimmen von Yuri und Shusuke. Bei einer ihrer Taten. Wenn sie mich nach der Schule hinter die Schule zerrten und Shusuke seinen Frust an mir ausließ. Ob es ihm danach wirklich besser ging, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich jedes Mal damit zu kämpfen hatte, nach Hause zu gehen und die blauen Flecken vor meinem Bruder zu verstecken. „Wir sollten dich vielleicht mal daran erinnern, dass dir dein toller Liebhaber nicht immer helfen kann.“ Er lächelte. Ich wusste, dass Herr Heiji mir nicht immer helfen konnte. Er half mir nie. Die Vermutung, dass ich mit ihm schlief, war falsch, doch ich sagte nichts. Sie würden mir nicht zuhören. Außerdem konnte ich es in ihren Augen sehen, dass ich sie sowieso nicht aufhalten könnte. „Shusuke?“ Erschrocken zuckte ich zusammen und Shusuke ließ ruckartig von mir ab, stieß mich von sich und ich prallte hart mit dem Rücken gegen die Wand. Yuri war nicht mehr hinter mir. Vor meinen Augen flimmerte es und einen Moment, konnte ich nur bunte Punkte sehen, wie ein Mann im Delirium und wusste nicht, wem die Stimme gehörte, die mich so eben gerettet hatte. Ich rutschte entkräftet an der Wand hinunter und zog die Knie an, öffnete flackernd die Lider. Meine Tasche lag direkt vor mir, ich musste sie bei dem unerwarteten Stoß losgelassen haben. Hastig nahm ich sie wieder an mich, drückte sie an meine Brust, wie mein wichtiges Besitzstück. Vor mir hörte ich die Jungen reden. „Was sollte das denn werden?“ „Wonach sah es denn aus? Wir wollten nur ein bisschen Spaß haben“, hörte ich Shusuke gelangweilt sagen und Yuri murrte zustimmend. Keiner der zwei schien zu bemerken, wie ich mich hoch rappelte und meinen Retter schockiert anstarrte. Taichi Yagami stand keine fünf Schritte von mir entfernt. Seine brauen Augen weiteten sich kurz überrascht, als er sah, dass ich ihn anstarrte, dann schlich sich ein unergründliches Lächeln auf seine Züge. Es war anders, als die Lächeln, die ich bisher gesehen hatte. Es drückte keine Selbstzufriedenheit aus, keine Arroganz, keine Häme und auch keinen Spott. Ich konnte es nicht zu ordnen und wandte hastig den Blick ab. Feuchte Strähnen glitten über meine Wangen und erst in diesem Augenblick bemerkte ich, wie heiß mein Gesicht war. Meine Wangen mussten glühen. „Ein bisschen Spaß, ja?“, wiederholte Taichi leise und als ich noch einmal aufsah, sah er mich schon nicht mehr an. Es war wie eine kleine Halluzination gewesen, in der ich angenommen hatte, er sähe mich wirklich an. Er. Mich. Taichi Yagami war beliebt an der Schule, war ein guter Schüler und der Kapitän der hiesigen Fußballmannschaft. Er wurde von den Mädchen angehimmelt und von den Jungen beschrieen. Meinen Namen kannten die meisten der Schüler gar nicht, wieso sollte er mich also freiwillig ansehen? Wenn ich die Wahl hätte, würde ich auch nicht in mein Spiegelbild sehen. Möglichst unauffällig entfernte ich mich von ihnen. Ihre Stimmen wurden leiser, bis sie abrupt stoppten und mein Herz blieb augenblicklich stehen. Was, wenn Shusuke nicht vorhatte, seine Schikane einfach fallen zu lassen, nur weil der Yagami etwas dazu gesagt hatte? Ich fing an zu rennen und hatte den Eindruck, weitere Schritte hinter mir zu hören. Lauten Atem. Das Rascheln von Jeans und teuren T-Shirts. Erst als ich zitternd vor meinem Klassenzimmer zu stehen kam, wusste ich, dass ich es mir nur eingebildet hatte. Ein Anflug von Paranoia, der mich in letzter Zeit immer öfter heim suchte. Wurde ich etwa verrückt? War meine angeschlagene Psyche nun so schwer gestört, dass mich schon solche Kleinigkeiten so durcheinander brachten? Ich atmete tief ein und aus, lehnte meine erhitzte Stirn an den kühlenden Stein der Wand. Wenn ich nicht aufpasste, dann würde die Paranoia mich wirklich irgendwann beherrschen. Der Wahnsinn in jede Zelle meines Bewusstseins dringen, nur weil ich nicht fähig war, mich dagegen zu wehren. Er würde mich dazu bringen, Dinge zu tun, die ich nicht verantworten konnte. Ich musste mich um Takeru kümmern und um Dad. Diese beiden Chaoten konnte ich nicht alleine lassen, sie wussten ja noch nicht einmal, wie die Waschmaschine funktionierte. Ich musste einen Weg finden, die Umwelt noch weiter auf Distanz zu halten, als ich es ohnehin schon tat. Ich war der Meister der Masken. Und es würde mir auch eine für dieses Problem einfallen. Also reckte ich das Kinn und streckte die Schultern. Berührte die Türklinke, die sich kalt und unförmig in meiner Hand anfühlte. Dennoch öffnete ich die Türe, trat ein und musterte mit einem kühlen Blick Herrn Heiji, der vor der Tafel stand und mich überrascht anstarrte. „Wo warst du, Ishida?“, fragte er irritiert und ließ die Hand sinken, in der noch immer das kleine Stückchen Kreide zu sehen war. Auf der Tafel waren Worte in seiner krakeligen Handschrift zu erkennen. „Hab verschlafen“, sagte ich nur kühl und wusste noch im gleichen Augenblick, dass meine Maske zu mir zurück gekehrt war. Ohne die Reaktion des Mannes abzuwarten, ging ich zu meinem Platz und ließ mich auf den Stuhl sinken, zog meine Hefte hervor und fing schweigend an abzuschreiben. Ich konnte die wissbegierigen Blicke meiner Mitschüler spüren, doch keiner von ihnen würde fragen. Keiner. Herr Heiji wandte sich wortlos der Tafel zu und schrieb weiter. _ Es dämmerte, als ich nach Hause kam. Der Rucksack lastete schwer auf meinem Rücken, da ich auf dem Rückweg noch einkaufen war. Mit der schrecklichen Erkenntnis, dass der Kühlschrank daheim leer war, hatte ich die Rechnungen im Kopf überschlagen und das Nötigste eingekauft. Müde kramte ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche, brauchte allerdings etwas, bis meine zitternde Hände ihn ins Schloss stecken konnten. Der kalte Wind blies mir in den Nacken, ließ mich durch meine durchnässten Kleider hindurch frösteln und peitschte mir den Regen ins Gesicht. Eilig schlug ich die Türe hinter mir ins Schloss und atmete tief durch, während ich die Stille des Hauses in mich aufsog. Die Stille und die Dunkelheit waren mir unheimlich, ich mochte sie nicht. Und dennoch gaben sie mir das Gefühl von Geborgenheit, dass ich so in meinem Leben vermisste. Diese Gedanken verscheuchend ging ich die Treppen hoch, bis in den fünften Stock und schloss auf. Die Türe knarrte in den ihren Angeln und schon nach dem halben Weg, stieß sie gegen einen Stapel von Briefen. Mühsam drängte ich mich durch den engen Spalt, sammelte die Post vom Boden auf und stieß die Türe zu. Aus dem Wohnzimmer drang das gewöhnliche Lärmen des Fernsehers und ich konnte das Geschrei einiger verrückter Fußballfans hören. Seufzend zog ich die Schuhe aus und legte den Rucksack auf den Tisch. „Yama!“ Ruckartig schlangen sich zwei kräftige Arme um meine Brust und stahlen mir für einen Augenblick den Atem. Die Panik und die Klaustrophobie, die immer bei Berührungen jeglicher Art in mir aufstiegen, verschwanden, als ich den vertrauen Geruch wahrnahm. Mit einem Gefühl, dass Glücklichkeit sehr nahe kam, ließ ich mich nach hinten in die schützende Umarmung sinken und spürte den warmen Atem meines Bruders, der über meinen Hals strich. Zwar war Takeru zwei Jahre jünger als ich, doch schon seit ein paar Jahren überragte er mich um einen Kopf. Inzwischen war er ein wahrer Riese geworden, was ihm im Fußball mehr half, als ich je gedacht hatte. Dieses Spiel hatte ich noch nie verstanden, aber wegen Takeru sah ich mir fast jedes Spiel an. Hinter mir ertönte das leise Kichern meines Bruders. „Was ist?“, fragte ich leise. „Du schnurrst ja“, sagte er lachend. Hitze kroch meine Wangen hoch und ich wollte mich von ihm lösen, aber er wollte die Umarmung nicht beenden. Er drückte sich fest an mich und wieder wurde mir bewusst, dass er doch deutlich der Jüngere von uns beiden war. Man musste nur auf die Anzeichen achten; dieses große Bedürfnis nach Zuneigung war eines davon. Auch ich hatte es, aber diesen Gedanken hatte ich schon lange nach ganz hinten in meinem Kopf geschoben. Ich hatte bisher so gelebt und würde es auch weiterhin schaffen. Takeru hatte momentan Vorrang. „Und du bist nass“, fügte er nach einer Weile hinzu und lockerte seinen Griff etwas. Ich drehte mich zu ihm und strich mir das feuchte Haar aus dem Gesicht. „Bin in den Regen geraten“, meinte ich nur leichthin. „Halb so tragisch.“ Er ließ mich los, sah mich mit einem misstrauischen Blick an und sagte: „Geh duschen. Sonst erkältest du dich.“ „Aber ich wollte doch zuerst…“ „Geh duschen“, wiederholte er, diesmal wieder mit diesem kindlichen Lächeln auf dem Gesicht. „Und danach muss ich dir was erzählen. Ich hab wirklich jemand unglaublichen kennen gelernt.“ Strahlend lief er aus dem Raum und ließ mich verwirrt zurück. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, dass ich mir selbst nicht erklären konnte, ging ich ins Bad und schälte mich aus den nassen Sachen. Warf sie in den Wäschekorb und stellte mich unter die Dusche. Das heiße Wasser auf meiner Haut tat unglaublich gut. Es linderte die nicht sichtbaren Schmerzen und für einen Augenblick, fühlte ich mich merkwürdig entspannt. Der Stress, den die Schule und die Verantwortung, auf denen eigenen Vater und den Bruder aufpassen zu müssen, verschwand. Es war, wie als würde im Wohnzimmer kein gieriger Vielfraß sitzen, der nur darauf wartete, dass ich ihm etwas zu Essen machte. Wie als würde heute, mitten in der Nacht, nicht mein ausgelaugter und erledigter Vater nach Hause kommen und erwarten, dass ein gefüllter Teller auf dem Tisch stand und seinen Hunger tilgte. Als wäre die Seite in meinem Innern, die sich so sehr nach Aufmerksamkeit und Zuneigung sehnte und sich wünschte, auf eine der besten Universitäten Japans zu gehen, endlich verstummt und hätte sich in Dunst aufgelöst. Die blasse Haut an meinen Handinnenflächen war gerötet, als ich aus der Dusche stieg und nach einem Handtuch griff. Just in diesem Moment ging die Türe auf, ein kalter Schwall Luft schlug mir entgegen und ich band mir das große Handtuch um. Takeru stand im Raum und hatte glücklicher Weise die Türe wieder hinter sich geschlossen, auf seinem Gesicht das Grinsen eines ungeduldigen, kleines Kindes. Ich fing an, mir die Haare abzutrocknen und sah ihn auffordernd an. Er verstand. „Ich hab jemand kennen gelernt.“ „Ich weiß“, sagte ich leise und fuhr fort, mir die Haare trocken zu rubbeln. „Das sagtest du schon.“ „Er ist einfach unglaublich!“ „Das ebenfalls.“ Er zog eine Schnute, als meine offensichtlich erwartete Freude ausblieb. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, einfach so zu tun, wie als würde mich seine neue Bekanntschaft brennend interessieren, doch ich ließ ihn fallen. Takeru würde es zwar nicht merken, aber ich wollte ihm nichts vorspielen. Es war eine Sache, die blinde Welt um mich herum im Unwissenden zu lassen, eine andere jedoch, dies bei meinem kleinen Bruder zu tun. Ich war nicht der beste große Bruder, den man sich wünschen konnte und ich wusste es. Noch mehr Fehler in seinen und in meinen Augen, brauchte ich nicht. „Nun erzähl schon“, drängte ich und sein Lächeln war wieder da, die Freude entflammte in seinen Augen. Wieder überraschte es mich, wie schnell mein Bruder seine Emotionen wechselte. Und wie viele er zu zeigen fähig war. „Er ist wirklich unglaublich!“, wiederholte er und seine Stimme überschlug sich. „Ich wurde heute von so´n paar Typen in der Pause doof angemacht, aber… keine Angst, es war nichts Schlimmes. Auf jeden Fall dachte ich schon, dass ich jetzt mächtig Ärger von diesen Kerlen kriegen würde, doch dann ist dieser Junge aufgetaucht und sie haben feige den Schwanz eingezogen und sind davon gerannt, wie kleine Babys. Und dann hab ich gesehen, wer mich da gerettet hat; Yagami Taichi! Der Yagami Taichi! Oh Yama, ist das nicht toll?“ Aufgeregt sah er mich an. Ich spürte, wie mein Herz einen Augenblick aussetzte. Dann hatte ich mich wieder gefasst und drehte mich eilig von ihm weg, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte, in dem momentan mehr Unglauben und Schrecken zu sehen waren, als ich beabsichtigt hatte. Die Nachricht, dass dieser Yagami nicht nur mir, sondern auch meinem Bruder geholfen hatte, erschreckte mich. Ich würde ihm nicht danken, schließlich war er nur zufällig vorbei gekommen und wollte wahrscheinlich mit seinen Freunden reden. Dass er Takeru geholfen hatte, war etwas anderes; Takeru war beliebt und sportlich. Niemand legte sich so schnell mit ihm an. Yagami musste ihm geholfen haben, weil er es wollte. Und was mich mehr an dieser Tatsache störte, als alles andere, war, dass Takeru so begeistert von ihm sprach. Wie von einem Helden. Einem Vorbild. „Er hat einfach mit dem Finger geschnipst und sie waren weg! Einfach so!“, lachend warf er die Hände in die Luft und ahmte die Geste nach, aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie er sich ans Waschbecken lehnte und eifrig weiter erzählte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie toll das war. Und dann kam er auf mich zu und hat mich angesprochen. Mein ganzes Leben hab ich schon davon geträumt, mal mit Taichi zu reden. Schließlich ist er Schulsprecher und super in Sport und Kapitän der Fußballmannschaft und super reich! Er hat ernsthaft mit mir geredet Yama!“ „… toll.“ „Ja!“ Er schien die Unsicherheit in meiner Stimme nicht bemerkt zu haben. „Er hat sich mit mir unterhalten, wie mit ´nem guten Kumpel. Und jetzt kommt der Hammer: er hat mich zu seinem Training eingeladen! Hab natürlich zugesagt und konnte den ganzen restlichen Tag nicht ruhig sitzen, weil ich immer daran denken musste. Dann bin ich einfach runter gerannt und die anderen waren schon da – alle haben so getan, wie als wäre ich schon ewig in der Mannschaft und ich durfte sogar mitspielen!“ Der Unterton in seiner Stimme verriet mir, dass erst jetzt der wirkliche Hammer kommen würde. Dass, was ihn mehr als alles freute. Dass, was seine hyperaktiven Bewegungen rechtfertige und das aufgeregte Zupfen an seinem T-Shirt. Mein Magen krampfte sich zusammen, mein Atem wurde flach. Wieso machten mich seine Worte so nervös? Takeru atmete tief durch und sagte dann: „Er hat mich gefragt, ob ich nicht in seiner Mannschaft spielen will.“ Große, blaue Augen sahen zu mir und ich konnte sehen, dass er erwartete, dass ich etwas sagte. Etwas, dass ihn glücklich machte und ihm die Bestätigung gab für das, was er wahrscheinlich schon längst getan hatte. „… das ist wunderbar“, sagte ich leise und wandte mich von ihm ab. „Wirklich, Takeru, ich freu mich für dich. Du wolltest schon immer in die Schulmannschaft.“ „Ja, nicht wahr?“ Seine Fröhlichkeit war deutlich zu hören, also hatte ich das Richtige gesagt. „Oh, du glaubst ja gar nicht, wie glücklich mich das macht. Taichi ist wirklich jemand besonderes. Ein… ein Held, wenn man es so nimmt! Und weißt du was?“ Ich drehte mich wieder zu ihm und sah, dass er eine Augenbraue nach oben gezogen hatte, mich fordernd ansah. Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab ihn zu meinem Vorbild auserkoren!“, grinste er mich an und fing an zu lachen. Angestrengt versuchte ich mir ein Lächeln abzuringen und wusste doch, dass es kläglich aussah. Takeru schien es nicht zu bemerken. „Irgendwann bin ich einmal so gut wie Taichi und werde von allen angehimmelt“, sagte er lächelnd. Kam auf mich zu und drückte meinen nassen Körper an den Seinen. Ich war nicht fähig, die liebevolle Umarmung zu erwidern oder auch nur ansatzweise die Freude zu empfinden, die ihn momentan durchströmte. In meinem Kopf war es merkwürdig taub und ich hatte das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen fortgerissen wurde. Auf meiner Zunge schmeckte ich den fernen, bitteren Geschmack von Magensäure. Erst in diesem Augenblick schien er zu merken, dass ich nur ein Handtuch trug und gerade aus der Dusche kam. Er ließ mich los und sah mich an, musterte mich von oben bis unten. Das Lächeln um seine Mundwinkel zuckte und drohte zu verschwinden. Seine Hand fuhr hoch und strich über meinen Bauch. „Woher kommt der blaue Fleck?“, fragte er und sah mich mahnend und gleichzeitig misstrauisch an. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich in solchen Dingen nicht lügen konnte, erst recht nicht, wenn er mich so ansah. „Gestoßen“, versuchte ich es dennoch. „Woher kommt der blaue Fleck?“, wiederholte er, diesmal mit mehr Schärfe in der Stimme. „Und der an deiner Hüfte?“ „Gestoßen“, sagte ich erneut und bis mir auf die Unterlippe. Takeru glaubte mir nicht und ich war mir nicht so sicher, ob es mich glücklich machen sollte oder nicht. Schließlich hatte ich immer gewollt, dass jemand bemerkte, was die Jungen mit mir in der Schule taten, doch nun, wo ich so kurz vor der Beseitigung all meiner Probleme stand, war ich mir nicht mehr so sicher. „Yama.“ „Ich… es war nicht so schlimm, wirklich“, sagte ich leise, wusste ich doch, dass es jetzt kein Sinn mehr hatte zu lügen, da er es sowieso schon wusste. Takeru erlebte öfters Prügeleien, aber im Gegensatz zu mir, ging er als Sieger aus ihnen hervor. „Du wurdest doch heute auch blöd angemacht und…“ „Das ist etwas ganz anderes“, unterbrach er mich. „Ich kann mich wenigstens wehren und wenn es zu schlimm wird, stehen mir meine Kumpel oder Taichi beiseite. Der hat ´ne Menge Freunde, die sich ebenfalls alle sehr gut wehren können. Aber du, Yama…“ Er ließ den Satz offen im Raum stehen. Mir war klar, was er meinte. Dass ich keine Freunde hatte, musste inzwischen auch ihn erreicht haben, obwohl ich nicht mit ihm darüber sprach. Es war mir peinlich, schließlich war ich der große Bruder. Und dass ich mich nicht zu wehr setzten konnte, wusste er schon immer. Darum hasste er es, wenn ich ihm so etwas verschwieg. Aber sobald ich ihm davon erzählen würde, rannte er sicherlich zu Shusuke und Yuri und geigte ihnen deutlich seine Meinung, was mich wieder rum nur noch mehr in Bredouille brachte. Also schwieg ich zu dieser Aussage, spürte seinen Blick auf meinem Haar. Der Gedanke, dass Taichi Yagami Freunde hatte und Takeru nie solche Schwierigkeiten machen würde, wie ich es tat, schmerzte. Doch wusste Takeru das auch? Bei seiner Begeisterung für den Yagami wahrscheinlich schon. „Komm schon, wieso machst du so etwas?“ Wieder schwieg ich. Wenn ich sagte, dass ich nicht einmal wusste, weswegen diese Jungen auf mich losgingen, würde das seine Ansicht über mich nur noch verstärken. „Okay“, seufzte er leise und nahm die Hand von meiner Schulter. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er mich berührt hatte. Er entfernte sich ein paar Schritte von mir und ich hörte, wie er in dem kleinen Schrank unter dem Waschbecken kramte. „Hier“, sagte er und drückte mir eine kleine Tube in die Hand. „Ist gut gegen so was. Sie müssten bald wieder weg sein.“ Dann wandte er sich um und ging. Die Türe fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss und hallte laut in meinem Kopf wieder. Der Boden unter meinen Füßen drehte sich und ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu fallen, doch ich blieb stehen. Eine Hand an die Wand gepresst, die andere auf den Mund, um das aufkommende Schluchzen zu unterdrücken. Der Schmerz, der unter der Dusche von mir abgefallen war, kehrte mir aller Wucht zurück. Mein Herz raste und mein Atem beschleunigte sich. Ich hatte das Gefühl meine Luft zu bekommen und keuchte auf, merkte, wie heiße Ströme über meine Wangen liefen. Ungern gab ich es zu, doch Takeru hatte recht. Ich war schwach und ich würde es immer bleiben. Dieser Yagami war stark und selbstbewusst, genau das, schien Takeru an ihm zu bewundern. Meine Illusion, dass er vielleicht mich als sein Vorbild sehen könnte, war nun endgültig verschwunden, und das auch noch mit einem Grund, der sich mir wie einen Pflock in mein Herz bohrte. Wieso konnte ich nicht mehr so wie Yagami sein? Groß, gut aussehend und von allen bewundert und verehrt. Selbstbewusst und stark. Fähig, sich zu verteidigen und seiner Familie keine Last. Wieso?! Unfähig diese schmerzenden Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen, zog ich mir ein großes T-Shirt über, realisierte erst beim Blick in den Spiegel, dass es Takeru gehören musste. Kurz musterte ich mich, die geröteten Augen und Wangen, die verstrubbelten, noch leicht feuchten Haare und das schmale Gesicht. Manchen Leuten sah man ihre Schwäche nicht an, mir stand sie förmlich ins Gesicht geschrieben. Hastig sah ich in eine andere Richtung und ging aus dem Bad. In der Küche packte ich meinen Rucksack aus und fing an, meine Hausaufgaben zu machen, während ich Reis und Wasser in einen Topf schüttete und den Herd einschaltete. Danach holte ich eine Pfanne aus dem Schrank und rührte die Soße zusammen, die ich notdürftig zusammen kratzte und noch etwas Wasabi dazu schüttete. Zwar aß ich nicht gerne scharf, aber Takeru mochte es, solange es ihm nicht den Rachen verbrannte. Mit zitternder Hand rührte ich in der Soße herum, ging ab und zu, zu dem kleinen Tisch zurück und schrieb etwas in mein Heft, las die Texte im Buch. Im Hintergrund hörte ich Musik, die aus Takerus Zimmer kam und das Wasser in meinem Glas, das auf dem Tisch stand, leicht vibrieren ließ. Nach einer Weile verstummte die Musik und Takeru kam in die Küche. Ich hatte mein Physikbuch in der Hand und versuchte mir ein paar Formeln einzuprägen. Der Versuch scheiterte als ich sein besorgtes Gesicht sah. „Ist das Essen bald fertig?“, fragte er, doch seine versteckte Frage, ob es mir gut ging, konnte ich nur zu gut heraus hören. Ich lächelte ihn zögerlich an. „Ja.“ Er hob den Deckel des Reistopfes an und spähte hinein. Das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück und er setzte sich an den Tisch. Räumte nach einer Weile meine Sachen in meinen Rucksack zurück und verlangte auch mein Buch. Widerwillig gab ich es ihm und wiederholte stumm die Formeln im Kopf, während ich ihm das Essen auf den Teller lud und mich vor ihn setzte. Er hatte schon begonnen, sich eifrig den Reis in den Mund zu stopfen. „Weift du“, sagte er mit vollem Mund. „Heute hat Taichi mich und die anderen zum Essen eingeladen. Und da gab’s so was Ähnliches. Aber dein Essen schmeckt besser.“ Er grinste mich an und ich, die Stäbchen schon auf halbem Weg zu meinem Mund, hielt inne. War das ein Kompliment? Ich spürte, wie die Hitze in meine Wangen stieg und starrte hastig auf meinen Teller hinunter, nuschelte ein leises: „Danke, Takeru.“ Er schien meine Worte nicht gehört zu haben, denn er redete eifrig weiter. „Und er meinte, wenn ich Lust hätte, könnte ich ihn ruhig mal besuchen. Seiner Meinung nach, wäre ich ein netter Kerl. Und ziemlich intelligent.“ Er grinste glücklich. „Das wusstest du aber auch schon vorher“, erwiderte ich und meine Stimme klang kälter als nötig. Takeru sah mich verwirrt an. „Woher denn?“, fragte er. „Dad und ich haben dir das dauernd gesagt.“ „Also Dad hat so was noch nie gesagt“, meinte Takeru zweifelnd und ließ die Stäbchen sinken. „Und du sagst viel, wenn der Tag lang ist, Yama. Außerdem bist du mein Bruder, du siehst mich in einem ganz anderen Licht, als die anderen.“ Mein Atem setzte auf diese Aussage einen Moment aus, die nötige Sauerstoffration blieb aus und ich hatte das Gefühl, dass sich mein Kopf mit Gas füllte. Ich sah ihn misstrauisch an und zog die Augenbrauen zusammen. Doch da bemerkte ich, dass ich nicht in Ohmacht fallen würde. Dieses Gefühl war Wut. Wut, weil Takeru ganz offensichtlich dachte, dass ich unzurechnungsfähig sei. Dass Yagami besser seinen Charakter beschreiben konnte, nach einem ganzen Tag, als ich, der ihn schon sein ganzes Leben kannte. Dass Yagami zu Takerus neuem Vorbild geworden war und er nur noch von ihm redete. Meine Stäbchen vielen klackernd auf den Tisch und mit einem Ruck hatte ich mich erhoben. Takeru sah mich verwirrt an. „Yama, was…?“ „Ich geh ins Bett“, unterbrach ich ihn scharf. „Mach den Abwasch und räum auf. Wenn Dad nach Hause kommt, sollte es sauber sein. Und lass ihm etwas übrig, er hat sicherlich auch Hunger.“ „Aber Yama…!“ „Gute Nacht“, zischte ich sauer und warf ihm einen wütenden Blick zu. Takerus blaue Augen hatten sich erschrocken geweitet und mit offenem Mund starrte er mir hinterher. Und zum ersten Mal in meinem Leben, war es mir relativ egal, was Takeru dachte. Dass er aufräumen und putzen musste, obwohl er dass noch nie gemacht hatte, und sicherlich sauer auf mich war. Dass ihn mein Verhalten irritierte und er sicherlich darauf brannte zu erfahren, wieso ich so unfreundlich zu ihm gewesen war. Dass es ihm nicht passte, dass ich nicht das machte, was er wollte. Und, dass er mir vorwerfen würde, nicht so toll zu sein wie Yagami. Zugegeben, ich wäre gerne so wie Yagami. Ich wünschte mir all die Dinge, die dieser reiche Schnösel hatte und ich nicht. Dass Takeru ihn anhimmelte und mich nicht. Aber es hatte noch nie jemanden interessiert, was ich wollte. Wieso sollte es das jetzt auf einmal tun? Part I END Kapitel 2: I Wanted Everything (Taichi) --------------------------------------- ~ Taichis POV ~ „Taichi Schatz, beeil dich, sonst kommst du zu spät zur Schule.“ „Ja ja“, erwiderte ich gelangweilt und stocherte in meinen Cornflakes herum. Träge schwammen sie in der Milch und sahen schon von weitem sehr wässrig aus. Angeekelt schob ich die Schale von mir und meine Mutter nahm sie, schüttete den Inhalt weg und stellte die Schale in die Spülmaschine. Sie wischte sich ihre Finger an der hellrosa Schürze ab und lächelte mich an. Meine Mutter war ein ehemaliges Model und arbeitete nun als Redakteurin in einer bekannten Modezeitschrift. Von ihrer Schönheit und ihrer perfekten Figur hatte sie trotz des langen Büroaufenthaltes immer noch nichts verloren und einige Journalisten hasteten ihr sogar jetzt noch hinterher. Ich wusste, dass sie das glücklich machte. Und mich machte es glücklich, weil ich damit immer noch der Sohn einer berühmten Frau war. Nicht, dass mein Vater nicht genügend zu bieten hatte. Mit seiner Anwaltskanzlei vertritt er sogar die großen Stars aus Hollywood und Tokio, doch ich bekam ihn nur selten zu sehen und Anwälte waren in meiner Schule nur halb so bekannt wie Models. „Die werden es mir schon nicht krumm nehmen, wenn ich ein bisschen zu spät komme.“ „Ach, Schatz“, lächelte sie nur liebevoll und strich mir durchs Haar. Murrend schob ich ihre Hand fort. Ich mochte es nicht, von ihr wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Immerhin war ich achtzehn und könnte, wenn ich wollte, ausziehen. Sie hatte doch noch meine kleine Schwester, wieso betätschelte sie nicht Hikari? „Du solltest abends lieber weniger mit deinen Freunden feiern. Auf alle Fälle nicht bis so spät in die Nacht.“ „Ach ja? Was sollte ich denn dann machen?“, fragte ich und zog eine Augenbraue hoch. „Such dir einen netten Freund und verbring mit ihm die Abende. Das wäre sicherlich sinnvoller“, erwiderte sie achselzuckend und setzte sich vor mich an die kleine Theke. Schon wieder. Ich seufzte leise. Sie versuchte nun schon seit Ewigkeiten mich dazu zu bringen, mir einen Freund zu suchen. Ich hatte meiner Mutter nicht verschwiegen, dass ich schwul sah, darin sah ich keinen Grund. Sie hatte es positiv aufgenommen und schien es sogar richtig toll zu finden, dass ihr einziger Sohn auf Männer stand und somit unfähig war, die edlen Gene ihres Blutes weiter zu geben. Dennoch war ich mir sicher, dass dies Hikari bereitwillig übernehmen würde. „Wenn ich nicht schwul wäre, hättest du das nicht gesagt“, konterte ich grinsend. „Dann hättest du zu viel Angst, dass ich sie bei einem nächtlichen Abenteuer schwängern würde.“ „Aber ein Junge kann nun mal nicht schwanger werden“, meinte sie nur lächelnd und strich sich eine braune Haarsträhne elegant aus dem Gesicht. Ihre Finger waren lang und grazil, eigentlich nicht geschaffen für die Arbeit in der Küche, doch sie bestand darauf zu Kochen. Nur das Putzen musste unsere Hausfrau übernehmen. „Stimmt.“ „Na also. Such dir doch einen Jungen in deiner Schule, es muss doch einen Guten unter all deinen Verehrern geben.“ „Mum, die meisten wissen gar nicht, dass ich schwul bin“, erinnerte ich sie und schälte eine Banane. Knabberte kurz an ihrem milchiggelben Inhalt und schob sie mir in den Mund. „Es sind eigentlich nur Mädchen, die mir hinterher laufen.“ „Aber es muss doch einen Jungen geben, der dir gefällt“, erwiderte sie zweifelnd. „Natürlich“, sagte ich und es war noch nicht einmal gelogen. Es gab einen Jungen, der mir mehr als nur gut gefiel, aber ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt überhaupt seinen Namen zu erfahren. Außerdem bezweifelte ich, dass er sich mit mir abgeben würde und es würde meinem Ruf schaden, wenn ich es tat. „Wen denn?“, fragte meine Mutter neugierig und lehnte sich ein Stück vor, um jedes einzelne Flüstern von mir zu erhaschen. Sie war furchtbar neugierig, egal worum es ging. Hikari mochte es nicht, da sie ihre meisten Affären lieber geheim halten wollte, doch mich störte es nicht. Sie war meine Mutter, sie würde es so oder so erfahren. Und bevor sie noch einen Privatdetektiv auf mich ansetzte, konnte ich es ihr gleich sagen. „Keine Ahnung wie er heißt.“ „Ist er denn hübsch?“ „Klar, sonst würde ich nicht auf ihn stehen. Denkst du etwa, dass ich mit dem Zweitbesten zufrieden geben würde?“ Meine Mutter lachte ihr glockenhelles Lachen und warf den Kopf in den Nacken, sagte: „Natürlich nicht, Schatz. Allerdings musst doch seinen Namen wissen, sonst kannst du ihn gar nicht ansprechen.“ „Ansprechen?“, wiederholte ich perplex. „Wieso sollte ich ihn ansprechen wollen? So wie der schaut, wird er mich wahrscheinlich umbringen, wenn ich in seiner Nähe auch nur den Mund aufmache! Wirklich Mum, da behalte ich sein Bild doch lieber im Kopf und benutze es so, als dass ich das Risiko aufnehme von ihm ermordet zu werden.“ „So schlimm?“, fragte sie mitleidig. Ich schnaubte. „Weiß ich eigentlich gar nicht. Ich sehe ihn ab und zu auf dem Gang, weiß weder seinen Namen noch sonst etwas von ihm. Aber er sieht gut aus. Und ein paar meiner Freunde haben mir erzählt, dass er nicht der Freundlichste ist. Soll aber ganz gut in der Schule sein.“ „Na dann, worauf wartest du noch? Er wäre perfekt!“, lächelte sie mich glücklich an. „Er könnte dir ein bisschen in der Schule helfen und du bringst ihm bei, wie man nett und freundlich ist. Wäre das nicht ein Deal? Und falls er wirklich so schlimm sein sollte, wie du denkst, kannst du immer noch einen Rückzieher machen.“ Es war klar, dass sie Letzteres erst gar nicht dulden würde. Und ich ebenfalls nicht. Wenn ich es auf jemanden abgesehen hatte, dann wollte ich diesen jemand auch. Dennoch war ich mir nicht so sicher, ob ich es bei diesem Jungen versuchen wollte. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich bei ihm unsicherer als normalerweise. „Ja ja“, sagte ich abwesend und winkte mit der Hand der Luft herum. „Ich… geh jetzt in die Schule.“ Meine Mutter sah einen Augenblick verwirrt aus, dann wuschelte sie mir durch die Haare und ich ging aus der Küche. Im Flur schnappte ich mir meine Autoschlüssel und rief kurz nach meiner Schwester, doch sie musste schon aus dem Haus sein, denn es kam keine Antwort. Also verließ ich ohne sie das Haus und fuhr zur Schule. _ Missmutig schlug ich die Türe meines Wagens zu und sperrte ab. Ich war doch noch zu spät gekommen. Eigentlich wäre das nicht passiert, aber ich hatte nicht mit dem großen Stau auf der Hauptstraße gerechnet. Dieser hatte sich quälend langsam dahin gezogen, wie ein zäher Kaugummi, der einem nicht von der Schuhsohle weichen wollte, und dafür gesorgt, dass die Uhr nun schon viertel nach Acht anzeigte. Dazu kam der strömende Regen während der Fahrt, der sich nun glücklicher Weise eingestellt hatte. Hastig eilte ich zum Schultor, öffnete es und rannte über den Hof. Schwüle Luft waberte um mich herum, ein deutliches Zeichen dafür, dass es bald wieder anfangen würde zu regnen. Die Türe öffnete sich vor meiner Nase, als ich gerade die Hand danach ausstreckte, und mein Herz blieb stehen. In der Erwartung, einen Lehrer zu sehen, der mich nur zu gerne in die Liste derer Eintrug, die wegen Zuspätkommen nachsitzen mussten, kniff ich die Augen zusammen. „Morgen Yagami“, sagte eine tiefe Stimme. Ich öffnete die Augen und sah erleichtert zu dem Hausmeister, der mit der Zigarette im Mund und dem üblichen Lächeln auf den Lippen vor mir stand. „Morgen“, erwiderte ich und grinste. „Stau?“ „Aber so was von!“ „Na dann mach mal lieber, dass du in deine Klasse kommst“, lachte er, wie als wäre es furchtbar amüsant, dass der Kapitän der Schulmannschaft nun schon zum dritten Mal in dieser Woche zu spät kam. Ich nickte ihm nur zu und rannte durch den Gang, hin zu meinem Spind. Eilig kramte ich mein Mathebuch heraus, wobei mir einfiel, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Egal, dachte ich nur und stopfte es in meine Tasche. Meine Mathelehrerin mochte mich nicht, aber dies beruhte auf Gegenseitigkeit. Gerade als ich durch den Gang rannte, um ein mögliches Nachsitzen zu vermeiden, hörte ich Stimmen. „… nicht immer helfen kann“, sagte die Eine und nur einen Augenblick später, konnte ich Shusuke sehen, mein Sandkastenfreund und der zweite Stürmer in unserer Fußballmannschaft. Seine schwarzen Haare standen noch wirrer von seinem Kopf ab als sonst und anhand der Tatsache, dass Yuri, der Mittelfeldspieler mit den katzengrünen Augen und dem wasserstoffblondem Haar, leicht gerötete Wangen hatte, war mir sofort klar, dass die beiden gerade ein paar gemütliche Minuten in der Wäschekammer gehabt hatten. Zwar schienen Shusuke und Yuri nach außen hin etwas gegen Schwule zu haben, und ich zweifelte auch gar nicht daran, dass sie nicht wirklich etwas gegen sie hatten, doch das hinderte sie nicht daran miteinander zu schlafen. Ob sie eine wirkliche Beziehung hatten, wusste ich nicht, dafür verhielten sie sich zu unauffällig, aber es wäre vorstellbar. Shusuke ging gerade einen Schritt nach vorne, auf eine Person zu, die ich nicht sehen konnte. Aber ich konnte mir denken, was die beiden da schon wieder taten. Ihre sadistische Ader war ausgesprochen groß und zehn Extrarunden bei jedem Training schienen ihren Elan für solche Aktivitäten auch nicht zu mindern. Yuri kicherte neben ihm, das hohe Kichern eines sechzehnjährigen Mädchens, dessen Stimme noch immer etwas heiser von den vorherigen Schreien war. „Shusuke?“, sagte ich hastig und sah, wie Shusuke eine Gestalt von sich stieß, die mit einem unangenehmen Geräusch an die Wand prallte. Ich hörte ein Seufzen und zwischen den beiden Rüpeln erkannte ich ein blondes Mädchen, das entkräftet an der Wand hinunter rutschte und nach ihrem Rucksack tastete. „Was sollte das denn werden?“ „Wonach sah es denn aus?“, erwiderte Shusuke trocken, offensichtlich verärgert, weil ich ihn davon abgehalten hatte das Mädchen zu Brei zu schlagen. „Wir wollten nur ein bisschen Spaß haben.“ Yuri gab ein zustimmendes Murren von sich und verschränkte die Arme vor der Brust, seine Wangen waren noch immer leicht gerötet. Hinter ihm hatte sich das Mädchen aufgerappelt und mit leichtem Schrecken sah ich, dass es gar kein Mädchen war. Es war ein Junge. Der Junge, den ich so oft auf dem Gang gesehen und von dem ich meiner Mutter vor ein paar Minuten noch erzählt hatte. Seine goldblonden Haare hingen ihm in feuchten Strähnen ins Gesicht, welches sich sofort rosa färbte, als seine blauen Augen mich erblickten. Ich lächelte ihn an, doch er starrte nur verschreckt zurück. Etwas entmutigt wandte ich mich von ihm ab und Shusuke zu. „Ein bisschen Spaß, ja?“ Shusuke zuckte desinteressiert mit den Schultern und nickte. Kurz blickte ich noch einmal zu dem Jungen, musste allerdings feststellen, dass er schon verschwunden war. „Denkt ihr nicht, dass euer Abenteuer in der Wäschekammer schon genug Spaß war?“, fragte ich gereizt. Dass der Junge einfach so verschwunden war, gefiel mir nicht. Viel zu gerne hätte ich seine Stimme gehört, wenn er sich bei mir bedankte. Doch so wie es aussah, würde es wohl nicht dazu kommen und momentan war ich noch zu unentschlossen, ob ich darüber nun wütend oder glücklich sein sollte. „Was? Wie kommst du denn auf so einen Mist?“, fauchte Yuri und seine Wangen färbten sich dunkelrot. Noch immer war seine Stimme heiser. „Schwer die Anzeichen zu übersehen“, sagte ich und deutete auf sein Gesicht und Shusukes verstrubbelte Haare. „Falls ihr das nächste Mal in der Schule übereinander herfallt, solltet ihr einen Kamm dabei haben. Und möglicherweise etwas warten, bis ihr wieder aus der Kammer raus kommt.“ Shusuke war selbst derjenige gewesen, der mir von seiner Affäre zu dem blonden Erben erzählt hatte, aber nun sagte er: „Wie kommst du darauf, dass ich Yuri vögeln würde? Diesen Idioten fass ich nicht mal an, wenn du mir eine Millionen Yen bereit stellst.“ Yuri zuckte zusammen und warf Shusuke einen verletzten Blick zu, den dieser nicht zu bemerken schien. „Wirklich?“, fragte ich. „Klar“, sagte Shusuke achselzuckend und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Was denkst du denn? Ich bin nicht schwul. Niemals.“ Ich schwieg mich dazu aus. Allein Yuris Gezeter, dass er nachher über sich ergehen lassen müsste, würde Strafe genug für ihn sein. Schon jetzt verschränkte Yuri die Arme vor der Brust und sah Shusuke böse an, überspielte geschickt seine Verletztheit. Hastig drehte ich mich um und warf einen suchenden Blick durch den Gang, in der Hoffnung noch einmal den Jungen sehen zu können, während ich im Hintergrund schon Yuri keifen hören konnte. _ Endlich konnte ich Frau Nakata und ihren endlosen Reden über japanische Dichter und Schriftsteller entfliehen. Es war die reinste Hölle gewesen geschlagene zwei Stunden ihrem Vortrag lauschen zu müssen, in dem Wissen, dass ich heute morgen die perfekte Gelegenheit verpasst hatte, den fremden Jungen anzusprechen. Ich packte meine Sachen zusammen und verließ eilig das Klassenzimmer, bevor Frau Nakata noch auf die Idee kam, mir ein Referat über Dichter aufzudrücken und stieß prompt mit Shusuke zusammen. Seine linke Wange war rot und bei näherem Hinsehen, konnte ich den zarten Abdruck einer Handfläche erkennen. Also hatte es Ärger im Liebesparadies gegeben, wie geahnt. Doch Shusuke sagte nichts dazu, als ich ihn fragend anblickte und meinte nur: „Gehen wir runter in die Cafeteria, ich brauch was zu Essen.“ „Ist gut“, erwiderte ich grinsend. Essen gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen und selbst wenn das Essen dort unten nicht das Beste war, schlang ich es doch jedes Mal hinunter, wie das letzte Abendmahl vor meinem schrecklichen Tode. Ich hatte mir schon öfters vorgestellt, vor meinem wirklichen Tod ein Bankett zu veranstalten, damit ich nicht hungrig sterben musste. „Yuri zickt rum“, rückte Shusuke schließlich mit der Sprache heraus, als wir uns gerade an einen Tisch setzten. Toshi und Fu kamen zu uns herüber und begrüßten uns mit dem für die Fußballmannschaft typischen Handschlag. „Und das nur, weil ich das vorhin gesagt habe.“ „Weil du was gesagt hast?“, fragte Fu neugierig. „Nichts was dich angehen könnte“, fauchte Shusuke sauer. „Uh, Yuri-chan hat dich doch nicht etwa auf Entzug gesetzt Shusuke, oder?“, grinste Toshi schadenfroh, der schon lange nach Gelegenheiten suchte sich darüber lustig zu machen, dass Shusuke zwar Schwule verabscheute, es aber anscheinend selbst war. Meiner Meinung nach, kam er vielleicht einfach nicht mit sich selbst aus, doch diesen Gedanken verwarf ich jedes Mal wieder, wenn ich sein selbstverliebtes Handeln sah. Bevor Shusuke etwas auf Toshis Anspielung sagen konnte, kam Yuri zu uns ließ sich neben mich sinken, ignorierte beflissentlich die Blicke der anderen. Schweigend fing er an zu essen, hieb auf seinen Reis vielleicht etwas heftiger ein, als unbedingt nötig gewesen wäre und auch sein grimmiger Gesichtsausdruck verriet, dass er noch immer sauer war. Shusuke rutschte auf seinem Stuhl herum und schob sein Essen von sich, murmelte leise: „Kannst es haben, Tai.“ „Wirklich? Gut“, sagte ich und zog es hastig zu mir heran. Ohne Yuri anzusehen, zupfte Shusuke an seiner Serviette herum und sagte seufzend: „Sorry, Yu.“ „Fick dich“, fauchte Yuri leise und Shusuke gab ein erleichtertes Seufzen von sich. Überrascht sah ich auf, bemerkte die Blicke meiner Kameraden, die genauso ratlos schienen wie ich. War es das? Hatten sie sich mit diesen wenigen und nicht gerade sehr freundlichen Worten einfach wieder vertragen? Anhand der Tatsache, dass Yuri sich nun zwischen mich und Shusuke setzte und zuließ, dass dieser einen Arm um seine Schultern schlang, mussten wir es uns eingestehen. „Ihr seid krank“, brummte Toshi, der offensichtlich etwas Spektakuläres erwartet hatte und von dieser schlichten Entschuldigung enttäuscht war. Ich grinste nur und schaufelte weiter mein Essen in mich hinein, schließlich hatten wir heute ein großes Training vor uns und dafür musste ich fit sein. Ein lautes Geräusch aus den hinteren Ecken der Cafeteria lenkte mich nach einer Weile jedoch ab. Kurz sah ich zu meinen Freunden, doch auch sie beobachten das Geschehen hinter mir. Also drehte ich mich um und erblickte drei Jungen. Zwei kannte ich, den dritten nur vom Sehen. Mike, ein bulliger Austauschschüler aus den USA, und Hiroyuki, der Torwart meines Teams, schubsten einen blonden Jungen herum. Zwar sah er nicht schwächlich aus und wehrte sich mit Händen und Füßen, doch Hiroyuki und Mike waren in der Überzahl. Grob entwanden sie ihm seine Schultasche und warfen sie über seinem Kopf hin und her. Hinter ihnen konnte ich Herrn Heiji erkennen, doch dessen Aufmerksamkeit schien auf etwas ganz anderes an der Ausgabe gerichtet. „Hey, Mike!“, rief ich, als dieser gerade versuchte, den Blonden in den Schwitzkasten zu nehmen. Mikes Kopf ruckte hoch. „Was macht ihr da? Jüngere Schüler schikanieren?“ „Ach was“, sagte Mike nur und zuckte die Achseln. Von Hiroyuki kam der Kommentar, den ich nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag hörte: „Wir wollten nur ein bisschen Spaß.“ Wut stieg in mir auf. Darüber, dass anscheinend mehrere Leute es spaßig fanden, ihre Mitschüler herum zu schubsen und ihnen Schmerzen zuzufügen. Sie waren doch sonst nicht so, was war denn nur in letzter Zeit los? „Lass ihn los oder ich werd gleich ein bisschen Spaß mit dir haben“, rief ich sauer und hörte, wie Shusuke und Fu hinter mir zu lachen anfingen. Toshi ließ ein lautes Pfeifen hören und johlte zustimmend. Es gab mir ein gutes Gefühl von meinen Freunden so unterstützt zu werden und meine Wut verrauchte. Ich wusste, wenn jemand versuchte, sich solche Späße mit mir zu erlauben, würden sie mir helfen und umgekehrt. Mit einem unglaublich gestärktem Selbstbewusstsein beobachtete ich, wie Hiroyuki und Mike den Jungen losließen und verschwanden. Der Junge strich sich die Klamotten glatt, griff nach seiner Tasche und sah zu mir hinüber. Offensichtlich unsicher, ob er nun zu mir kommen oder einfach wieder gehen sollte. Ich nahm ihm diese Entscheidung ab, indem ich auf ihn zu kam, flankiert von Shusuke und Toshi. „Alles wieder okay?“, fragte ich und musterte ihn. Er nickte. „Danke“, sagte er lächelnd und sah bewundernd zu mir auf. Ich hatte dieses Verhalten schon öfters gesehen. „Das war wirklich nett von dir.“ „Kein Problem, er ist schließlich Schulsprecher, er muss das tun“, grinste Toshi und stützte lässig seinen Ellenbogen auf meiner Schulter ab. Ich lachte und sagte: „Stimmt. Außerdem soll man sich doch um die Zukunft kümmern, nicht wahr? Also, bock mit an unseren Tisch zu kommen und etwas über den Schock zu essen?“ „Klar!“, sagte der Junge und strahlte. „Und… oh, ich hab mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Ishida Takeru“, fügte er hastig hinzu und ich schüttelte seine ausgestreckte Hand, stellte ihm Toshi und Shusuke vor. Er folgte uns zu unserem Tisch und setzte sich neben mich. Ich nahm mir die Zeit ihn zu mustern, während er anfing, sich mit Yuri und Fu zu unterhalten. Takeru war recht groß, ich schätzte sein Alter auf sechzehn. Seine blonden Haare waren wirr, erinnerten an Shusukes Mähne und seine blauen Augen strahlten eine unbändige Freude aus, die nicht ganz zu seinen ernsten Gesichtszügen passen wollte. Der augenscheinlich muskulöse Körper war in einen hellroten Pullover und zerschlissene Jeans gehüllt. Er erinnerte mich dunkel an jemanden, doch momentan fiel mir nicht ein, an wen. Das Gespräch von Takeru und Yuri war inzwischen zu dem Thema Fußball über gegangen und es stellte sich heraus, dass Takeru Fußball nicht nur abgöttisch liebte, sondern es sogar selbst spielte. Zwar in keinem offiziellen Verein, doch die Begierde, mal an einem Mannschaftstraining teilnehmen zu dürfen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Als sich die Mittagspause dem Ende zu neigte, standen wir auf. Zusammen mit Toshi und Fu hatte ich jetzt Chemie, ein Fach mit einem netten Lehrer, das aber leider an sich schon schrecklich langweilig war. Ich beugte mich kurz noch einmal zu Takeru hinunter und sagte: „Komm nach der Schule zum Trainingsplatz. Wenn du Lust hast kannst du bei unserem Training mitmachen.“ Takeru starrte mich ungläubig an, stotterte dann vollkommen überwältigt: „Was? Oh… klar… natürlich, gerne!“ Ich grinste zu ihm hinunter und winkte ihm nur noch ein letztes Mal zu, dann machte ich mich zusammen mit Toshi und Fu auf den Weg zu Chemie. _ „Echt?“ „Ja“, versicherte ich Takeru nun schon zum sechsten Mal. „Du warst wirklich gut, Takeru. Glaub mir. Ich hab selten jemanden so spielen gesehen wie dich…“ „Danke“, nuschelte Takeru leise und lief leicht rosa an, lehnte sich tiefer in seinem Sitz zurück. Nach dem Training war die Mannschaft wie üblich in eines der vielen Schnellrestaurants Japans gegangen und hatte sich unter lautem Gegröle und missbilligenden Blicken der anderen Gäste, den Bauch voll geschlagen. Ich hatte Takeru eingeladen, aus einem einfachen Impuls heraus. Es hatte sich nicht als Fehler heraus gestellte. Takeru war ein netter Junge, er war lustig und erinnerte mich stark an mich selbst. Viel hatte er nicht von sich erzählt, aber seine große Leidenschaft für die Sportart mit dem runden Lederball war während des Abends immer offensichtlicher geworden. Als ich dann vorhin Fu zu Hause absetzte, meinte auch dieser, dass wir Takeru unbedingt in der Mannschaft bräuchten. „… und ich hätte dich gerne in der Mannschaft“, fügte ich beiläufig hinzu und hielt an einer roten Ampel. „Was?“ Große Augen starrten mich an. „Wirklich?“ „Klar.“ „Natürlich… natürlich! Liebend gern“, lachte Takeru und krallte seine Hände aufgeregt in den Sitz unter ihm. „Das ist wirklich… einfach der Hammer. Danke Tai. Das bedeutet mir echt viel.“ „Kein Problem“, erwiderte ich achselzuckend. „Allerdings solltest du dich nicht zu früh freuen, du musst erst das Aufnahmespiel bestehen, sonst wäre es unfair den Anderen gegenüber.“ Und ich hatte deutlich bemerkt, dass Yuri ihn als eine Art Konkurrenten ansah. Ob es daran lag, dass sie beide im Mittelfeld spielten oder daran, dass Shusuke immer wieder interessiert zu Takeru geblickt hatte, wusste ich nicht, aber ich wollte Yuri keinen Grund zur Beschwerde geben. Er nörgelte jetzt schon genug. „Oh, das macht nichts“, sagte Takeru, über beide Ohren grinsend. „Ist doch selbstverständlich. Ähm… hier links.“ Er deutete auf eine kleine Seitenstraße und ich bog gehorsam ab. Vor einem großen Gebäude brachte ich das Auto zum Stehen und sah mich um. Es war keine schöne Gegend, die Häuser waren grau und verdreckt, die Mülleimer quollen über. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Takeru hier lebte. „Wohnst du wirklich hier?“, fragte ich zweifelnd, aber Takeru lachte nur. „Es sieht schlimm aus, nicht? Keine Angst, unsere Wohnung ist sauberer und gemütlicher, als alles, was ich bisher gesehen habe.“ „Reinliche Mutter?“, grinste ich. „Nein“, lachte er. „Nur Yama - Yama ist mein Bruder und sorgt für alles, was mir und Dad über den Kopf steigt“, fügte er auf meinen irritierten Blick hinzu. Die Tatsache, dass er seine Mutter ausgelassen hatte, überging ich elegant. Takeru öffnete die Türe und schnappte sich seine Sporttasche vom Rücksitz. „Danke, dass du mich mitgenommen hast“, sagte er höflich und lehnte sich an den Türrahmen des Autos. „Und fürs Essen. Wann ist das Spiel?“ „Mal sehen“, antwortete ich und zuckte mit den Schultern. „Ich sag dir Bescheid, aber all zu lange kann es nicht dauern.“ „Gut.“ „Äh... Halt!“, sagte ich hastig, als mir gerade einfiel, an wen Takeru mich die ganze Zeit so erinnert hatte; der Junge von heute morgen. „Wie heißt dein Bruder doch gleich?“ „Yama. Eigentlich Yamato“, sagte Takeru perplex. „Wieso?“ „Sieht er so aus wie du?“, fragte ich und überhörte seinen Einwurf. „Ja. So in etwa. Etwas kleiner und schmaler. ´n bisschen wie ein Mädchen.“ Er machte ein erschrockenes Gesicht, wie als hätte er etwas Falsches gesagt und biss sich auf die Lippe. „Sag ihm bloß nicht, dass ich das gesagt habe“, warnte er mich hitzig. „Er tötet mich, wenn er das erfährt.“ Ich lachte laut auf. „Keine Angst. Er wird von mir nichts erfahren.“ „Wieso willst du das eigentlich wissen?“, fragte Takeru erneut und setzte sich halb auf den Beifahrersitz, die Tasche auf dem Schoß. „Kennst du ihn etwa?“ Er sagte das in einem Ton, wie als könnte er sich nie und nimmer vorstellen, dass sein Bruder so jemanden wie mich ansprechen würde. „Noch nicht“, entgegnete ich wahrheitsgemäß. „Aber bald.“ „Wenn du willst, stell ich ihn dir vor“, sagte Takeru gleichgültig, offenbar vermutete er, dass ich nur deshalb damit angefangen hatte. „Er müsste bald nach Hause kommen. Es macht ihm sicher nichts aus, wenn du bis zum Essen bleibst.“ „Nein, danke“, winkte ich ab und startete erneut den Motor. „Vielleicht ein anderes Mal.“ „Okay.“ Er schulterte seine Tasche, verabschiedete sich vor mir und rannte beschwingt die Treppe zu dem Hausblock hinauf. Einen Moment sah ich ihm hinter her, dann fuhr ich nach Hause. Während ich an einer roten Ampel wartete, setzte sich in meinem Kopf der Gedanke fest, dass ich Yamato kennen lernen wollte. Und nicht nur das. Ich wollte, dass Takeru in meine Mannschaft kam, selbst wenn er noch etwas zu jung war. Und ich wollte Yamato haben – ganz und gar. Part II END ♠ Vielen lieben Dank für die Kommentare zu dem letzten Kapitel *verbeug* Wie ihr gemerkt hat, gibt es leider keinen Wochentakt zum Hochladen. Da ich dieses Jahr meinen Abschluss schreibe, wird es wohl eher monatlich passieren Ich hoffe, das ist für euch nicht all zu tragisch. Alles Liebe, Nikolaus ♠ Kapitel 3: So I Tried To Be Like You (Takeru/Yamato) ---------------------------------------------------- ~ Takerus POV ~ „Schoko oder Normal?“ „Schoko.“ „Hier“, sagte Yamato und reichte mir die Schüssel. Die Cornflakes schwammen in der Milch und starrten mir wie braune Augen entgegen. Kurz beugte Yamato sich über den Tisch zu mir und ließ ein paar geschnittene Erdbeeren in die Milch sinken. Ich starrte sie an, beobachtete wie sie versanken und sah dann wieder zu meinem Bruder. Er hatte sich gerade seinem eigenen Frühstück zugewandt, das aus nicht mehr bestand als einem Apfel und einem Stück Toast. Er schien zu bemerken, dass ich ansah und erwiderte leicht irritiert meinen Blick. „Ist irgendetwas?“ „Nein. Nichts“, sagte ich und rührte mit dem Löffel in meiner Schüssel herum. „Ich hab dir doch erzählt, dass sie mich in der Mannschaft spielen lassen, nicht?“ „Ja“, sagte Yamato und zuckte die Achseln. „Wieso?“ „Taichi hat mich nach dir gefragt“, erwiderte ich und beobachtete seine Reaktion. Yamato erstarrte und blickte auf den Apfel in seiner Hand. Dann legte er den Apfel auf den Tisch und sah mich an. „Was hat er gefragt?“, wollte er leise wissen. Er klang nicht so, wie als ob er es wirklich wissen wollte. „Wie du heißt und wie du aussiehst“, sagte ich. Yamatos Blick wanderte zu der Wanduhr hinter mir und er gab ein leises Seufzen von sich. „Daran ist doch nichts besonderes“, meinte er dann nach einer Weile und erhob sich. Ich glaubte meinen Ohren nicht. Was war denn nicht besonders daran, wenn Taichi Yagami nach einem fragte? Ich selbst war gestern vollkommen überrascht gewesen, als Taichi das wissen wollte, schließlich war mir bekannt, dass Yamato nicht sonderlich beliebt auf der Schule war. So weit ich wusste, hatte er keine Freunde und außer ein paar Notgeilen, die unbedingt mit ihm ins Bett wollten, interessierte sich auch keiner an ihm. Also war es etwas Besonderes, wenn Taichi Yagami nach ihm fragte! „Wir sollten bald gehen, Takeru.“ Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er war gerade dabei den Rest seines Apfels zu essen und gleichzeitig die Gläser abzuwaschen. Mit einer deutlichen Geste verlangte er nach meiner Schüssel. Hastig schlang ich die Cornflakes hinunter und reichte sie ihm, er spülte sie ab und stellte sie zum Trocknen auf. Wandte sich zu mir und ignorierte meinen bohrenden Blick. „Vergiss dein Sportzeug nicht“, sagte er, während er in sein Zimmer ging und mit seiner Tasche wieder zurück kam. In der anderen Hand hielt ein dutzend Papiere, sorgfältig geordnet und zusammengeheftet. Fragend sah ich ihn an. „Das ist deine Englischarbeit“, meinte er lächelnd und drückte sie mir in die Hand. „Mir war klar, dass du das wieder nicht auf die Reihe kriegst. Und Herr Minamoto hat doch sowieso schon etwas gegen dich, da musst nicht auch noch eine Sechs bekommen, weil du deine Hausaufgaben nicht erledigt hast.“ „Ich… danke“, erwiderte ich perplex und nahm sie entgegen. Ehrlich gesagt, hatte ich diese Arbeit schon längst wieder vergessen. Die ganze Aufregung um Taichi und die Fußballmannschaft… ich hatte seit gestern nichts Anderes mehr im Kopf. „Ich hab’s total verpennt.“ Ich sah zu meinem Bruder und in seinen blauen Augen flackerte die Erkenntnis, wieso ich es vergessen hatte. Für einen Augenblick meinte ich so etwas wie Trauer aufflammen zu sehen, doch dann hatte Yamato sich auch schon wieder abgewandt und zog sich seine Schuhe an. Als er sich wieder zu mir umdrehte, lächelte er. „Kein Problem. Schließlich hab ich das alles schon mal gemacht“, sagte er, wie als wäre es das Normalste der Welt an einem Abend eine zwölfseitige Englischarbeit über das Vereinigte Königreich und seine Eroberungen zu schreiben. Natürlich, Yamato war in mancher Hinsicht zu begabt für sein Alter, aber in letzter Zeit hatte ich doch eher den Eindruck, dass er sich so in seiner Arbeit verschanzte, dass er für nichts Anderes mehr Zeit hatte. Und das nicht, weil er viel zu tun hatte. Er tat es absichtlich. Er wollte nicht über andere Dinge nachdenken, wie zum Beispiel die große Frage, was er nach der Schule machen würde. Oder die Tatsache, dass Dad degradiert worden war und wir nun noch weniger Geld zur Verfügung hatten als bisher. Wortlos schlüpfte ich in meine Schuhe und zog mir die Jacke über, reichte Yamato seine Tasche. Nach kurzem Zögern schlang ich die Arme um ihn und drückte ihn an mich. Yamato zuckte bei der Berührung kaum merklich zusammen. „Trotzdem danke“, murmelte ich. „Du hättest mich auch hängen lassen können.“ „Ach was“, sagte er lachend und löste sich von mir. Etwas zu schnell, als dass es normal gewirkt hätte. „Wieso sollte ich das tun?“ Er wandte den Blick ab und rückte seine Jacke zu Recht. „Gehen wir. Sonst kommen wir noch zu spät.“ Ich nickte. Gemeinsam verließen wir die Wohnung, Yamato schloss ab. Dad war schon seit geraumer Zeit wieder bei der Arbeit, ich hatte nicht einmal gehört, wie er kam und ging. Auf dem Weg nach unten, herrschte Schweigen zwischen uns und kurz bevor wir die Haustür öffneten, packte ich die Englischarbeit in die Tasche. Yamato beobachtete mich dabei und als ich den Blick hob, lächelte er mich an. Draußen regnete es in Strömen – schon wieder. Mein Bruder gab ein leises Seufzen von sich und zog sich die Kapuze über den Kopf. Nach einem strengen Blick seinerseits, zog auch ich mir die Kapuze über. Gerade als wir die ersten paar Schritte durch den Regen gemacht hatten, hörte ich ein lautes Hupen und wie jemand meinen Namen rief. Ich drehte mich um, sah aus den Augenwinkeln, wie auch Yamato sich umsah, und erblickte ein schwarzes Auto. Mein Herz schlug plötzlich schneller. „Wer ist das?“, fragte Yamato. „Das ist Taichi“, antwortete ich mit vor Freude zitternder Stimme. „Das ist sein Auto! O man, er ist hier! Yama, ist das nicht obercool?“ Yamato gab ein leises Brummen von sich, fügte jedoch schnell hinzu: „Wow, das ist echt toll, Takeru. Geh zu ihnen, sonst wird das Auto unnötig nass.“ Überrascht über diesen Zynismus, drehte ich mich zu ihm und sah ihn an. Sein Blick war abfällig auf das Auto gerichtet. „Du bist doch nicht etwa sauer, oder?“, fragte ich vorsichtig. Schon gestern war er sehr giftig gewesen und ich wollte vermeiden, dass wir heute wieder im Streit auseinander gingen. Yamato war der beste Bruder der Welt, doch er war die Sorte von Menschen, die man nie zum Feind haben wollte. In diesem Augenblick schien Yamato meinen Blick zu bemerken und sah zu mir hoch, auf seinen Zügen war ein liebevolles Lächeln zu sehen. Eigentlich war es dasselbe Lächeln wie immer, doch aus irgendeinem Grund, kam es mir dieses Mal anders vor. Gestellt. Erzwungen. „Was? Nein, natürlich nicht“, tat er es hastig ab und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Geh schon zu ihnen, sie warten sicher auf dich.“ Ich hob nur fragend eine Augenbraue. Yamato wandte sich ab. Hinter mir konnte ich erneut hören, wie jemand meinen Namen rief. „Jetzt geh endlich“, sagte Yamato. „Aber ich…“, fing ich an, doch Yamato unterbrach mich. „Geh, oder müssen sie dich erst holen?“ Er ließ ein Lachen hören, das genauso gut ein Knurren hätte sein können. „Du machst dir zu viele Gedanken, Takeru. Bestimmt hält dein Vorbild nicht viel davon, im Regen zu warten.“ „Ach was“, sagte ich. „Die sitzen doch im Trockenen. Hör zu, ich kann sie fragen, ob sie dich nicht auch mitnehmen wollen, Yama. Dann musst du nicht bei diesem Wetter in die Schule laufen.“ „Nein danke“, erwiderte Yamato und zog sich die Kapuze ein Stück tiefer ins Gesicht. „Wir sehen uns heute Abend, ich komm heute später.“ „Was? Wieso?“ „Dads Budget wurde gekürzt, schon vergessen?“, sagte er nur. „Bye.“ Und mit diesen Worten ging er los, ließ mich wie einen begossenen Pudel im Regen stehen. „Yama!“, rief ich ihm hinterher, aber er hörte mich nicht. Oder ignorierte mich. Mit einem leisen Seufzen ging ich hinüber zum Auto und sofort wurde mir die Türe geöffnet. Hastig stieg ich ein, hatte einen Augenblick lang ein schlechtes Gewissen, da ich mit meinen nassen Sachen sicherlich die guten Bezüge ruinieren würde, doch dann erblickte ich die Decke auf dem Hintersitz und ließ mich ohne Bedenken fallen. Toshi und Shusuke waren ebenfalls nass bis auf die Socken, nur Taichi am Steuer schien einigermaßen trocken. „Hi Takeru“, begrüßte Taichi mich und drehte sich zu mir um. Lässig lehnte er mit einem Arm auf dem Steuer, mit dem anderen stützte er sich am Sitz ab. Toshi saß neben ihm auf dem Beifahrersitz, Shusuke neben mir. Seine schwarzen Haare trieften vor Wasser und für einen Moment fragte ich mich, wo sein blonder Freund war. „Hey.“ „Das war ´ne ganz schön krasse Abfuhr“, sagte Shusuke grinsend. „Abfuhr?“, wiederholte ich verwirrt, „Welche Abfuhr?“ „Das war keine Abfuhr“, wies Taichi ihn zurecht. „Das war sein Bruder. Yamato. Stimmt’s Takeru?“ Überrascht darüber, dass er sich Yamatos Namen gemerkt hatte, stimmte ich zu. „Sah trotzdem ganz schön heftig aus“, sagte Shusuke. „Wieso hast du ihn nicht mitgebracht?“, fragte Taichi und klang dabei fast ein bisschen enttäuscht. „Bei dem Wetter läuft man doch nicht freiwillig zur Schule.“ „Er anscheinend schon“, seufzte ich und zuckte die Achseln. „Er war ein bisschen komisch, keine Ahnung was los ist. Scheint schon seit gestern nicht bei bester Laune zu sein.“ „Hört sich für mich ganz nach den Tagen an“, meinte Shusuke. „Takerus Bruder ist doch kein Mädchen!“, sagte Toshi. „Das geht gar nicht.“ „Na und?“ Shusuke zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Yuri hat auch immer so´n paar Tage, wo er schlecht drauf ist. Wie so´n Mädchen. Vielleicht hat das… äh, wie heißt er doch gleich?“ „Yama.“ „Ja, genau. Vielleicht hat Yama das auch.“ „Spinner“, lachte Taichi. „Auf solche Theorien kommst wirklich nur du.“ Er startete den Motor und fuhr los. Toshi lehnte sich auf seinem Platz zurück und sah aus dem Fenster. Ich beobachtete ebenfalls die graue Landschaft außerhalb des Autos, in der leisen Hoffnung, vielleicht Yamato zu sehen, damit er bei diesem Wetter nicht laufen musste. Doch ich sah ihn nicht. Wahrscheinlich war er durch den Park gegangen, um diese Situation zu vermeiden. Manchmal konnte ich mich über seine Sturheit wirklich nur aufregen. Also gab ich dieses Vorhaben auf und sah zu Taichi, der gelangweilt auf die Straße starrte und auf einem Kaugummi herumkaute. Lässig strich er sich durch die Haare und erwiderte grinsend meinen Blick durch den Rückspiegel. Sofort stieg mir die Hitze in die Wangen. _ „Wer kann mir jetzt die Quadratwurzel von y sagen?“ Auffordernd sah Herr Heiji in die Klasse, in der einen Hand das Mathebuch, in der anderen die weiße Kreide, mit der er gerade die Gleichung an die Tafel geschrieben hatte. Ich hätte ihm die Lösung sagen können und wahrscheinlich auch der Großteil meiner Kameraden, doch die ganze Klasse hing gelangweilt in ihren Stühlen und starrte aus dem Fenster. Bei diesem Wetter verging einem wirklich die Lust auf Unterricht. Und ich hatte noch ganz andere Gründe, weshalb ich Herrn Heiji nicht Genugtuung gönnen würde, an seinem Unterricht teilzunehmen. „Nun stellt euch nicht so an“, sagte Herr Heiji seufzend und sah sich um. Keiner meldete sich. Murrend wandte er sich zur Tafel um und schrieb selbst die Lösung an die Tafel. Mit einem hämischen Grinsen beobachtete ich ihn dabei. Bei den höheren Jahrgangsstufen war er recht beliebt, doch in meiner Klasse wurde er mehr gehasst, als Frau Nakata, die wohl den langweiligsten Japanischunterricht hielt, den ich je miterleben musste. Die meisten mochten ihn nicht, weil sie Mathe generell nicht mochten, ich hatte etwas gegen ihn, weil er Yamato anschmachtete. Es war offensichtlich, dass Herr Heiji Yamato bei jeder Gelegenheit mit seinen Blicken auszog und seine nächtlichen Abenteuerträume von meinem Bruder handelten. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehen musste, wurde mir übel. Wie konnte man als Erwachsener nur einen Jungen begehren, der vor einem Monat noch minderjährig war? „Ishida, hörst du mir zu?“ Ich hob den Kopf und sah den Mann an, der Yamato beim letzten Sommerfest versehentlich an den Hintern gefasst hatte. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass ich wirklich nicht zugehört hatte und es auch nie tun würde, solange er sich beim Gedanken an meinen Bruder einen runterholte. „Entschuldigung, Herr Heiji“, knurrte ich stattdessen widerwillig. „Ich war gerade etwas abwesend.“ „Das habe ich gemerkt“, erwiderte er schnippisch und sah mich überheblich an, wie als wäre ich es eigentlich gar nicht wert, dass er mit mir sprach. „Dennoch wäre ich sehr froh, wenn du nun an die Tafel kommen würdest und diese Rechnung machst.“ Er deutete auf die Gleichung. Mürrisch erhob ich mich und ging zur Tafel, ergriff die Kreide und fing an zu rechnen. Generell war ich sehr gut in Mathe, doch mit dem Blick dieses… Mistkerls im Rücken, konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Allein die Vorstellung, dass er Yamato mit den gleichen Augen betrachtete und sich wahrscheinlich genau einprägte, wie sein Hintern in der Hose aussah, ließ in mir den üblen Geschmack von Galle aufsteigen. Hinter mir ertönte ein missbilligendes Schnalzen. „Das ist aber nicht ganz korrekt.“ Ihr Gegaffe auch nicht. „Oh, wirklich?“ „Sieh noch mal bei der letzten Zeile nach. Da hast du dich verrechnet, Ishida.“ Ich sah auf die Stelle und musste mir eingestehen, dass er tatsächlich recht hatte. Hastig besserte ich es aus und schrieb die Lösung darunter. Herr Heiji sagte nichts dazu, also war es anscheinend richtig. Als ich wieder zurück zu meinem Platz ging, sah er mir nach und für einen kurzen Augenblick klebte sein Blick an meinen Haaren. Ich wusste sofort, was er dachte und mir wurde übel. Wie konnte der Direktor nur so einen Lustmolch auf die Schüler loslassen? Ich nahm mir vor, dafür zu sorgen, dass er gefeuert wurde. Wenn Taichi einen Lehrer nicht mochte, dann zeigte er es diesem auch und ich würde dies ebenfalls tun. Spätestens wenn er Yamato erneut an den Hintern fasste. Es klingelte laut und das übliche Rascheln setzte ein, wenn die Schüler ihre Sachen einpackten. Herr Heiji sorgte noch einmal kurz für Ruhe, indem er das für ihn typische Räuspern hören ließ, das jedes Mal so überheblich und selbstverliebt klang, dass ich ihm am liebsten die Faust ins Gesicht geschlagen hätte. „Seite 114, Nummer eins und zwei“, sagte er und klappte das Buch in seiner Hand zu. „Bis Morgen. Und ich will, dass diesmal mehr als vier Leute die Hausaufgabe vorzulegen haben. Auf Wiedersehen.“ Kaum einer erwiderte seinen Gruß. Ich packte hastig meine Sachen zusammen und stürmte aus dem Klassenzimmer. Die Mittagspause hatte begonnen und Taichi und die anderen hatten mich erneut dazu eingeladen, an ihrem Tisch zu essen. Ich empfand es als große Ehre mittags zu ihnen kommen zu dürfen und seit mich ein paar Mädchen aus meiner Klasse bei ihnen gesehen hatten, schien mein Ansehen unter meinen Klassenkameraden noch mehr gestiegen zu sein. Dieses merkwürdige warme Gefühl in meinem Magen, verdrängte die Übelkeit und ließ mich mit einem großen Grinsen zur Cafeteria rennen. Ich reihte mich in die lange Schlange bei der Essensausgabe ein und konnte schon von weitem Taichi und Toshi sehen, die zu mir hinüber lächelten und winkten. Ich winkte zurück. Gerade als ich mein Essen entgegen nahm und mich umdrehte, rempelte ich jemanden an. Das Tablett rutschte mir aus den Händen und entlud sich auf den Boden. Hinter mir ließ die Dame der Cafeteria einen wilden Fluch los und warf mir einen Lappen zu. Ich wandte mich der Sauerei auf dem Boden zu und hörte plötzlich: „Tut mir leid, Takeru.“ Verwirrt hob ich den Kopf und sah Yamato, der vor mir kniete und fast schon bedauernd auf das Essen sah. „Das wollte ich nicht.“ Ich fing an zu lachen, nahm eine Serviette und wischte Yamato die Soßenflecken von der Wange. Er sah mich irritiert an, dann blickte er hinunter auf sein T-Shirt und zog eine missbilligende Schnute. „So ein Mist“, fluchte er. „Du kannst mein Sportshirt haben“, sagte ich und deutete auf die Tasche, die neben mir stand. „Ich kann auch in dem T-Shirt Sport machen, fällt niemandem auf.“ Er lächelte, in gewissem Maße überrascht. „Danke.“ „Jetzt verschwindet schon endlich! Ihr braucht ja Jahre dafür!“, erklang auf einmal die herrische Stimme von Madam Lopéz, der rundlichen Frau, die eigentlich hinter der Essenausgabe stand. Sie kam ursprünglich aus Frankreich, doch sie arbeitete schon so lange unter all den Schülern, dass ihr vornehmer Akzent und ihre schönen Kurven seit langer Zeit verschwunden waren. „Hol dir ´was Neues zu Essen und nimm dein Schätzchen gleich mit!“ Sie deutete auf Yamato und scheuchte uns davon. Yamato gab ein drohendes Knurren von sich und ich zog ihn hastig weg. Ich brauchte jetzt keinen Aufstand von Yamato, weil Madam Lopéz ihn für ein Mädchen hielt – was zu Yamatos Missfallen, und meiner heimlichen Schadenfreude, schon öfters passiert war. Ich ignorierte sein leises Geschimpfe, während ich mir bei Madam Lopéz’ Kollegin einen ‚Nachschlag’ holte. Sie beäugte mich, wie als wäre ich einer der lästigen Nager, die nachts in den Mülleimern herumwuselten und das Essen in alle Richtungen verstreuten. Ich packte Yamato am Ellenbogen und zog ihn mit mir. Als er bemerkte, in welche Richtung ich ihn zog, blieb er ruckartig stehen. Im allerletzten Moment konnte ich verhindern, dass mir der Reis erneut zu Boden fiel. „Wir sehen uns heute Abend“, sagte er steif und wollte sich schon abwenden, doch ich ließ ihn nicht los. „Takeru!“ Ich ließ ihn erst los, als er keine Anstalten mehr machte, jeden Augenblick die Flucht zu ergreifen und fragte: „Was hast du denn gegen sie? Sie sind wirklich nett.“ „Es sind deine Freunde“, wich er mir aus und sah feindselig zu Taichi und seinen Freunden hinüber. Überrascht bemerkte ich, dass Taichi uns beobachtete. „Ich will nichts mit ihnen zu tun haben.“ „Wieso nicht? Denkst du etwa, du könntest sie mir wegnehmen?“ Ich lachte laut auf. „Jetzt spinn´ nicht rum.“ Yamato starrte mich perplex an, dann huschte Entsetzen durch seine Augen, bevor sie der Wut Platz machte. Ich brauchte weniger als einen Lidschlag um zu merken, dass ich das Falsche gesagt hatte. Yamatos kühle, abweisende, wortkarge Art war abschreckend für andere Menschen, vielleicht fanden sie ihn sogar unhöflich. Schon seit er ein kleines Kind war, hatte er Schwierigkeiten Freunde zu finden und manchmal hatte ich den Eindruck, dass er gar keine Freunde wollte – die Einsamkeit suchte und sie nicht loslassen wollte. Dennoch erzählte er nur ungern davon und es war ein unausgesprochenes Tabu, darüber zu reden. Und ich hatte gerade die Regel gebrochen. „Hör zu, Yama…“, fing ich hastig an und warf einen nervösen Blick zu Taichi hinüber, inzwischen beobachteten uns auch Toshi und Fu höchst interessiert. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Ich fasste Yamato am Arm, doch er schüttelte mich mit ungeahnter Kraft wieder ab. Aus seinen blauen Augen schossen tödliche Blitze. „Nein, ich habe keine Angst, dir deine Freunde wegzunehmen!“, fauchte er mich wütend an. „Ich kann sie einfach nur nicht leiden, okay? Ich finde sie überheblich, egoistisch, idiotisch, hirnlos, hormongesteuert, pervers, rücksichtslos und engstirnig! Und einem runden Ball hinterher zu rennen, nur um ihn in ein viereckiges Tor aus Stofffäden zu donnern, ist die dümmste Freizeitbeschäftigung, die ich je gesehen habe!“ Einen Augenblick war ich sprachlos. Yamato war nicht auf den Kopf gefallen und konnte sich gut artikulieren. Wenn wir uns stritten, zog ich generell den Kürzeren und Yamato konnte unglaublich gemein sein, wenn er wollte, weshalb ich solche Diskussionen eigentlich vermied. Aber dass er mein größtes Hobby und Berufswunsch verhöhnte, ging doch zu weit. Jetzt war er nicht mehr der Einzige, der vor Wut kochte. „Fußball ist nicht dumm!“, erwiderte ich, etwas lauter und zorniger als nötig gewesen wäre. Er schreckte leicht zurück, dann trat er trotzig einen Schritt vor. „Natürlich ist es das!“ „Nur weil du unfähig bist, einen Ball zu treffen, musst du es nicht runter machen!“, zischte ich wütend. „Fußball ist doch nur ein Mittel der Regierung, um das Volk zu unterhalten und mögliche Aufstände zu verhindern!“ Allein diese Worte bewiesen mir mehr als deutlich, dass er wirklich sauer auf mich war. Hinzu kamen die Blicke aus seinen blauen Augen, die mich förmlich aufzuspießen schienen. Aber bevor ich etwas erwidern konnte, ertönte hinter uns ein lauter Piff und jemand klatschte übertrieben. Yamato wirbelte herum und das Klatschen verklang auf der Stelle. Ich wandte mich ebenfalls um und sah Taichi, Toshi, Fu und Shusuke. Yuri fehlte. Toshi und Fu blickten verschreckt zu Yamato und ich konnte sie nur zu gut verstehen. Shusuke war sichtlich erbost, nur Taichi schien das Alles sehr gelassen zu nehmen. „Das war ein Treffer unter die Gürtellinie“, grinste er und kam auf uns zu. „Aber ich muss mir eingestehen, dass du möglicherweise gar nicht so unrecht hast…“ „Spar dir deinen Kommentar“, fauchte Yamato und packte seine Tasche, die zu Boden gefallen war. „Ich brauche keine Unterstützung von jemandem wie dir.“ Taichis Dauergrinsen schwand einen Moment, seine Augenbraue zuckte wütend. Seine große, imposante Gestalt ließ Yamato noch gebrechlicher und kleiner wirken, als er es ohnehin war. In meinem Magen machte sich erneut dieses Gefühl breit und diesmal erkannte ich es; ich hatte Angst um Yamato. Falls es zu handfesten Übergriffen kommen würde, würde Yamato haushoch verlieren. Hastig umfasste ich sein Handgelenk und zog ihn zu mir, doch als ich seinen Blick sah, ließ ich ihn schnell los, wie als hätte ich mich an ihm verbrannt. „Was soll das heißen >von jemandem wie mirvon jemandem wie mirneindas Gleiche wie immerWütender_>' (ab ** beginnt das, was ich irgendwie nicht richtig kontrollieren konnte ._.) Allerdings viel mir auch nach etlichem Kopfzertrümmern keine schöne Alternative ein. Also hab ich den fünften Versuch gelassen uu' Und mir ist aufgefallen, dass die Situation nur halb so Gänsehaut-feeling-mäßig rüber gekommen ist, wie es eigentlich wollte. In meiner Vorstellung was viel schöner... Fazit: ich bin noch etwas unbeholfen, was das Beschreiben von Körperkontakt angeht >_< Es gibt wirklich so unendlich viel, was mir an diesem Kapitel nicht gefallen hat - und natürlich auch etwas, das mir gefallen hat :D Ich hoffe, ihr seid ehrlich und sagt mir, was euch auch nicht gefallen hat. Dann kann ich so etwas in Zukunft vermeiden :) Alles Liebe, Nikolaus PS: I need a Beta-Leser. Hat irgendjemand Lust? óo Kapitel 7: And You Needed Someone (Taichi) ------------------------------------------ Special now: gebatet by ~ Taichis POV ~ Bummbumm. Bummbumm. Mein Herz klopfte. Laut. Heftig. Ohrenbetäubend. Es wunderte mich schon fast, dass weder Yamato noch Takeru es bemerkt hatten. Doch mich hinderte es auf alle Fälle daran, endlich ein zu schlafen. Alles um mich herum drehte sich, in meinem Magen kribbelte es so heftig, dass es fast schon wieder weh tat. Glücklich. Verdammt glücklich. Das war wahrscheinlich das, was meine momentane Stimmung am besten beschrieb. Selbst mit dem Herzklopfen und den wortwörtlichen Schmetterlingen im Bauch. Nie hätte ich gedacht, Yamato jemals so nahe zu kommen und dann… die Situation im Bad kam mir immer noch leicht surreal vor. Ich konnte seine kühle Haut unter meinen Fingern fühlen, sein pochendes Herz hören. Seinen bebenden Körper in meinen Armen. Den zarten Duft seines Shampoos, seinen Geruch und das alles so intensiv, wie als würde er direkt vor mir stehen. Ich seufzte und drehte mich auf die andere Seite. Das Bett roch nach frittiertem und nach etwas stechend salzigem, dessen genaue Definierung ich lieber gar nicht wissen wollte. Der Drang aufzustehen und zu Yamato zu gehen, überkam mich. Ich könnte ihm einfach sagen, dass ich es in diesem Gestank nicht mehr ausgehalten hatte und ich nicht auf dem Sofa schlafen wollte. Ob ich dann bei ihm schlafen dürfte? … wahrscheinlich nicht. Als meine Finger tiefer geglitten waren, hatte Yamato sich sofort von mir gelöst und war praktisch davon gerannt. Ihm ging das wohl etwas zu schnell, doch meine Geduld war schon zu lange auf eine harte Probe gestellt. Normalerweise nahm ich mir einfach das, was ich haben wollte. Egal wo und wann. Dass er mich so zappeln ließ, machte mich… nervös, hippelig, angespannt. Dazu noch Takerus Ausraster heute Abend… Wieder drehte ich mich herum. Von draußen tönten Schreie herein und das laute Bellen eines Hundes. Ich riskierte einen Blick aus dem Fenster und sah, dass die Dunkelheit schon nicht mehr so dunkel war, wie bei meiner Ankunft. Die Uhr musste schon die frühen Morgenstunden anzeigen. Es wäre besser für mich, wenn ich jetzt schliefe, aber ich war so unruhig, dass ich nicht einmal die Augen schließen konnte. Immer wieder sah ich das Bild eines schüchternen Yamatos in meinen Armen vor mir. Spürte, wie er sich leicht an mich lehnte. Mir wurde unglaublich warm, die Hitze kroch langsam südwärts. Hastig drehte ich mich um und schmiss die übel-riechende Decke von mir. Zwar wurde es nicht besser, aber der Geschmack von Pommes in meinem Mund, ließ mich abschweifen. Jetzt konnte ich wieder den bohrenden Hunger in meinem Magen spüren und bereute es sofort, Takeru mein Essen zugeschoben zu haben. Seit wann war ich denn auch noch so großzügig? Mist aber auch… Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein. Denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war das Zimmer hell beleuchtet und von irgendwo her drang leise Musik. Benommen drehte ich mich auf den Rücken und starrte an die weiße Decke. Ich hörte, wie jemand etwas sagte. Das Geklapper von Geschirr und das Fließen von Wasser. Mühsam richtete ich mich auf und rieb mir über die Augen. Die Müdigkeit verschwand nicht und als ich an meinem T-Shirt roch, musste ich zu meinem Verdruss feststellen, dass ich mittlerweile ebenfalls wie frittiert roch. „Morgen, Tai!“ Erschrocken zuckte ich zusammen. Diese laute Stimme am frühen Morgen tat mir nicht gut. Begleitet von einem leisen Krachen meiner steifen Knochen wandte ich mich an Takeru, der grinsend vorm Bett stand und mir eine Tasse entgegen streckte. Dankend nahm ich sie entgegen und roch an dem starken Gebräu. Kaffee, genau das, was ich jetzt brauchte. „Tut mir leid, dass ich gestern so unfreundlich war“, redete Takeru weiter und setzte sich neben mich. „Ich war einfach etwas überanstrengt. Da ist es mit mir durchgegangen.“ Ich grinste. Genau das hatte ich Yamato in der Nacht auch erzählt und genauso wie Yamato mir kein Wort geglaubt hatte, glaubte ich nun Takeru nicht. Dennoch äußerte ich mich nicht dazu, schließlich wusste ich, wieso er so ausgeflippt war. „Kein Problem.“ Ich strich mir durch das Haar, welches sich unangenehm fettig anfühlte. Also hatte das Bett nicht nur nach Pommes gerochen. „Kann ich kurz duschen?“ „Klar“, antwortete er, erhob sich und ging aus dem Zimmer. Ich folgte ihm. „Du kannst von mir was Anderes zum Anziehen bekommen, einverstanden?“ „Ja.“ „Gut. Ich leg’s dir hin.“ Und mit diesen Worten war er in seinem Zimmer verschwunden. Ich öffnete die Türe zum Bad und erblickte Yamato, der vor dem Waschbecken stand und sich die Zähne putzte. Sein kurzes, blondes Haar hatte er zu einem süßen Pferdeschwanz zusammen gebunden und einzelne Strähnen fielen ihm keck ins Gesicht. Als er mich sah, fiel ihm fast die Zahnbürste aus dem Mund. „Guten Morgen Yamato“, sagte ich grinsend und begutachtete ihn von oben bis unten. Er trug ein weites, hellblaues Shirt mit dem schwarz-weißen Bildnis eines Sonnenuntergans auf der Vorderseite. Seine sehr langen und schlanken Beine wurden nur von einer kurzen, schwarzen Boxershorts verhüllt. Sexy. Yamato errötete stark unter meinem Blick und senkte den Kopf, erwiderte allerdings nichts. Takeru kam dazu und drückte mir ein paar Sachen in die Hand. Mir fiel auf, wie klein das Badezimmer war, was ich gestern überhaupt nicht bemerkt hatte. Doch Takeru verschwand auch schon wieder und ließ mich mit Yamato alleine zurück. Yamato stand unschlüssig da, die blauen Augen auf mein Spiegelbild gerichtet. Ich lächelte. Das schien ausschlaggebend zu sein, leider in die falsche Richtung. Er drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Bad. Bedrückt sah ich ihm hinterher. Falls er sich noch an heute Nacht erinnern konnte, stieß es bei ihm nicht auf Wohlwollen. Ich zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Das heiße Wasser tat gut, es entspannte meine angespannten Muskeln und nach einer Weile konnte ich meine Finger wieder bewegen, ohne, dass sie knackten. Das Gefühl, von oben bis unten mit klebrigem Zucker eingehüllt zu sein, verschwand auch und nachdem ich mir das Shampoo aus den Haaren gewaschen hatte, konnte ich mir sicher sein, nicht wie eine Tüte Pommes zu riechen. Als ich mir die Haare abtrocknete, stieg mir ein vertrauter Geruch in die Nase. In meinem Magen begann es wieder zu kribbeln, fahrig griff ich nach einer Haarsträhne und zwirbelte sie zwischen den Fingern. Meine Haare dufteten nun genauso wie Yamatos. Grinsend zog ich mich an und schlenderte gelassen in die Küche. Yamato stand vor der Spüle, hatte das tolle Outfit leider gegen eine Jeans und einen weiten Pullover gewechselt. Takeru saß am Tisch und aß ein Toast, welches sicherlich nicht sein erstes war. Bei meinem Anblick lächelte er und deutete auf den Platz vor sich. Kurz sah ich zu Yamato, aber der schien mich gänzlich zu ignorieren. Leise seufzend ließ ich mich auf den Stuhl fallen. Takeru hob fragend eine Augenbraue, aber ich verspürte keine große Lust, mit ihm darüber zu reden. „Hier.“ Verwirrt und überrascht zugleich, sah ich auf. Eine Scheibe Toast hing direkt vor mir in der Luft und erst als ich darüber spähte, konnte ich Yamato dahinter erblicken. Er starrte an mir vorbei. „Danke.“ Kurz betrachtete ich noch seine schlanken Finger, dann nahm ich es entgegen. Takeru räusperte sich vor mir vernehmlich und hob erneut die Augenbraue. Seine Neugier war ihm an der Stirn abzulesen. Als ich ihm nicht antworten wollte, wandte er sich an seinen Bruder. „Ist alles okay, Yama?“ „Was sollte nicht stimmen?“, fragte Yamato tonlos und stellte seinen Teller neben das Spülbecken. „Ihr benehmt euch so eigenartig.“ Er sagte das ganz so, als ob erwarten würde, dass sein Bruder ihm gleich ein schreckliches Geständnis machen würde. Dachte er etwa, ich hätte Yamato flachgelegt, während er geschlafen hatte? Ich konnte nicht anders, als zu lachen. „Es ist nichts passiert“, versicherte ich ihm grinsend und biss von meinem Toast ab. „Was sollte schon passiert sein?“, half Yamato mir weiter, sein trockener Tonfall verlieh der Situation etwas ungemein Groteskes. Takeru errötete bis unter die Haarspitzen und nuschelte etwas, was sich anhörte wie: „Alles mögliche.“ Verstimmt beobachtete er, wie ich mich vor Lachen schüttelte, und aß, wahrscheinlich als kleiner Racheakt für diese Bloßstellung, mein Frühstück. Es störte mich nicht sonderlich, mein Blick haftete schon wieder an Yamatos Rückansicht. Er war damit beschäftigt, dass restliche Geschirr abzuwaschen und wartete geduldig, bis Takeru fertig gegessen hatte und er sich seinen Teller holen konnte. Ich war mir sicher, dass er sich meiner Blicke bewusst war, dennoch sagte er nichts. Als Takeru sich erhob und betont langsam aus dem Zimmer schlenderte, waren wir alleine. Sofort breitete sich ein unangenehmes Schweigen zwischen uns aus. Yamato trocknete die Gläser mit solch einer Hingabe ab, dass sie sich bald in seinen Händen auflösen mussten. Und ich knibbelte an der rot karierten Tischdecke herum, bis die einzelnen Fasern zwischen meinen Fingern hindurch glitten. Sollte ich ihn auf gestern ansprechen? Nein, lieber nicht. „Wenn du willst, nehme ich dich heute mit“, bot ich ihm stattdessen an und bemerkte erleichtert, dass er sich anscheinend nicht dazu entschlossen hatte, mich gänzlich zu ignorieren. Er drehte sich zu mir um und sah mich fragend an. „In die Schule. Dann… dann musst du nicht laufen.“ „Eigentlich hab ich nichts dagegen zu laufen“, erwiderte er monoton. Mir wurde sofort klar, dass ich ihn erst gar nicht hätte fragen müssen. Natürlich wollte er nicht, dass ich ihm wieder nahe kam, nach der Aktion von heute Nacht. Schließlich hatte ich ihn buchstäblich überfallen, wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass ich mehr wollte, als ein bisschen Sex. Oder hat es ihm gerade diese Aktion deutlich gemacht? Hatte ich mich selbst verraten? „… aber wenn es dir nichts ausmacht. Gern.“ Was?! „Oh… oh ja… ja klar! Cool“, erwiderte ich zerstreut und starrte auf die roten Fasern zwischen meinen Fingern, in dem Bewusstsein, dass mein Kopf gerade rot anlief und leuchtete wie eine Ampel. „Echt cool...“ In meinem Innern tobte es, mein Herz pochte unglaublich laut. Wahrscheinlich bemerkte ich deshalb nicht, dass er sich vor mich setzte. Doch als ich auf sah, saß er vor mir. Die blauen Augen direkt auf mich gerichtet. Hastig wandte Yamato den Blick ab und sah auf seine Finger. „Wegen gestern…“, fing er leise an. „Ich…“ „Nicht so wichtig“, unterbrach ich ihn hastig, hatte Angst vor seiner Reaktion. Was, wenn er mich gleich dafür zur Rechenschaft zog und mir klar machte, dass ich ihn nie wieder anfassen dürfte? Takeru meinte, dass dies wohl eine hohe Steigerung wäre, aber nun war ich dabei, wieder ganz nach unten zu rutschen. „Du… ich war so müde. Das kommt nicht mehr vor.“ Er nickte stumm. Kurz verspürte ich den Drang, seine schmale Hand in die Meine zu nehmen und ihm das Gegenteil von dem zu beweisen, was ich gerade gesagt hatte. Aber ich konnte nicht so mit der Tür ins Haus fallen. Ich durfte es nicht. Yamato würde es sicherlich missverstehen und mich als… notgeilen Irren abstempeln. Bei Takeru hätte ich es getan, aber nicht bei ihm. Natürlich, das ewige Hinhalten machte mich nervös, aber er war es Wert. Oder? Auf der Hinfahrt hatte es unablässig geschüttet. Das Wetter um diese Jahreszeit war schrecklich und es half nicht zur Besserung meiner Laune bei. Auch nicht das all morgendliche Zusammentreffen mit dem netten Hausmeister oder die Gegenwart meiner Freunde. Möglicherweise lag es daran, dass Yamato schon kurz nach unserer Ankunft verschwunden war. Mit einem leisen „Dankschön“ war er davon gegangen, hatte mich und Takeru im Regen stehen gelassen. Nur zu gerne hätte ich ihn meinen Freunden vorgeführt, egal ob es nun meinem Ruf schadete oder nicht. Schließlich war unser erstes Gespräch, ganz hingegen meiner Erwartungen, sehr glimpflich verlaufen und gestern war ich ihm so nahe gewesen! Ich hatte noch immer seinen unverwechselbaren Duft in der Nase, konnte seine weiche Haut unter meinen Fingern fühlen. Ob es abnormal war, dass ich mich jetzt noch so genau daran erinnern konnte? Oder hing das damit zusammen, dass ich mich wirklich verliebt hatte? „Hey, Tai, alles klar?“ „Äh... was?“ Irritiert sah ich Shusuke an, der mit einer Hand vor meinem Gesicht herum wedelte und mich anstarrte. Neben ihm standen Fu, Toshi, Yuri und Takeru. Takeru schien sich sichtlich nicht daran zu stören, dass Yamato nicht mehr bei uns war. Zu seinem Verschwinden hatte er sich nicht geäußert und als ich ihn darauf ansprach, meinte er nur, dass das eben Yamatos Art sei. Kühl, verschlossen, jeden aus seinem Leben fernhaltend. „Mann, ey“, meinte Shusuke kopfschüttelnd. „Hast du dich verknallt oder warum bist du in letzter Zeit so abwesend?“ Er hatte keine Ahnung, wie nah er der Wahrheit doch war. Aber Shusuke gehörte nicht zu den Leuten, mit denen ich über so etwas reden würde. Er konnte sich seine eigene Sexualität nicht eingestehen und war ein richtiger Schläger, wenn etwas nicht nach seinem Willen verlief. Er schikanierte jüngere Schüler und Yuri half ihm auch noch dabei. Und sie beide schlugen Yamato. Anhand von Takerus Frage, wusste ich, dass der von mir verhinderte Versuch nicht der Einzige war. Und die anderen Male waren sicherlich keine Versuche gewesen, wenn Yamato blaue Flecken davon trug. Zwar scherte es mich sonst nicht, schließlich war es ihre Sache, was sie machten, aber dieses Mal ließ blindes Unverständnis in mir hoch steigen. Geziert mit einem Hauch von Wut. „Red' keinen Mist!“, fauchte ich ihn an und schlug seine Hand weg. Verwirrt sah Shusuke mich an, auch die anderen schienen meine Reaktion nicht zu verstehen. Aber das konnte ich ja auch nicht von ihnen erwarten, sie konnten ja keine Gedanken lesen. Dennoch wollte ich mich jetzt nicht mit ihnen abgeben, es würde sicherlich eskalieren. Ich war ein impulsiver Mensch und geriet leicht außer Kontrolle. Ich wollte keinen Streit heraufbeschwören. „Ich… muss weg“, sagte ich deshalb und ignorierte ihre Blicke. Takeru und Shusuke, wie nicht anders zu erwarten, gaben sich damit allerdings nicht zufrieden. Als ich mich umdrehte und den Gang hinunter ging, folgten sie mir. Lästig, wie ein zweiter Schatten. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie unablässig auf mich einredeten und wissen wollten, was mit mir los war, spielte Shusuke die ganze Zeit mit seinem Ball und Takerus Grinsen konnte ich nicht mehr ertragen. Ich mochte beide, wirklich. Shusuke kannte ich schon seit Ewigkeiten und Takeru gehörte zu den nettesten Menschen, die mir begegnet waren. Aber jede Nettigkeit wurde irgendwann einmal nervig! „Es ist wirklich nichts!“, zischte ich sauer und blieb stehen. Die beiden hielten ebenfalls an, sahen mich fragend an. Ich konnte ihre Neugierde spüren, ihren Drang, mir den Grund für mein Verhalten aus der Nase zu ziehen. Am liebsten würde ich ihnen gar nichts sagen, aber dann würden sie nie Ruhe geben. Normalerweise war ich nett, geduldig, höflich und äußerst harmlos. Doch der Gedanke, dass Shusuke und Yuri regelmäßig Yamato… schlugen, war einfach unglaublich. Wieso konnten sie sich nicht ein anderes Opfer suchen? Und wieso sagte Yamato nichts? „So sieht es aber nicht aus“, sagte Shusuke neunmalklug. „Hm“, machte Takeru kleinlaut. „Hört zu, ich hab einfach… zu wenig geschlafen, okay?“ Ich war nicht gut im Lügen, doch ich hoffte, dass sie mir glauben würden. „Ich geh jetzt zu Nakata, schlafe ein bisschen und dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Bis nachher.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten drehte ich mich um und ging davon. Ich war ehrlich überrascht, dass sie mir nicht folgten. Doch der Unterricht würde bald beginnen und Shusuke ging in eine andere Klasse, Takeru war eine Jahrgangsstufe unter mir. Das laute Klingeln der Glocke erfüllte die Gänge und die Schüler rannten in ihre Klassen. Auf halbem Weg zu meinem, traf ich auf Toshi und Fu. Sie wollten glücklicherweise nicht erfahren, weshalb ich so unfreundlich gewesen war. Der falsche Vorsatz, im Japanischunterricht zu schlafen, wurde in die Tat umgesetzt. Frau Nakata beherrschte es wirklich nicht, eine interessante Stunde zu gestalten. Nachdem Fu und Toshi neben mir schon ins Reich der Träume abgedriftet waren, konnte auch ich mich nicht mehr dagegen wehren. Die Müdigkeit überkam mich und obwohl ich wusste, dass nun der übliche Dämmerzustand einsetzen und die Illusion der Schlaflosigkeit danach nur noch verschlimmern würde, stütze ich den Kopf auf die Arme und schloss die Augen. Frau Nakatas Stimme summte angenehm im Hintergrund und der Regen prasselte gleichmäßig gegen die Fenster. Fus warmer Atem blies gegen meinen Ellenbogen und eine Gänsehaut fuhr über meinen Körper. Es war einfach schrecklich, dass es um diese Jahreszeit selbst in den Klassenzimmern so kühl war. Da stand man ja lieber draußen im Regen und ließ sich von den Wassermassen erwärmen, als in diesem Eisschrank, in dem noch nicht einmal Unterhaltung geboten wurde. Seufzend rieb ich mit der Nase an meinem Unterarm und pustete provokant dagegen. Ob Yamato es gestern gemerkt hatte, dass ich gegen seinen Hals gepustet hatte, um seine Reaktion zu sehen? Wahrscheinlich nicht. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er angenommen hätte, ich wäre wirklich so schlaftrunken und damit unzurechnungsfähig gewesen. Mit meiner Aussage am Morgen hatte ich diesen Eindruck leider auch nicht widerlegt. Vielleicht sollte ich das noch tun? In der Pause zu ihm gehen und ihm sagen, dass ich ihn noch viel, viel, viel öfter anfassen möchte? Dass ich ihn will? Natürlich. Vermutlich würde er mich als verrückt abstempeln und danach jedes Mal vor mir flüchten. Ich hatte mir doch schon vorgenommen, ihn nicht zu überrumpeln, wieso konnte ich mich nicht daran halten? Wieso erschien mir der Gedanke so abwegig, noch so lange abzuwarten, bis Yamato es von selbst bemerkte und selbst wollte? Vielleicht wird er es nie bemerken. Konnte das wirklich passieren…? „… Tai.“ Ein leichtes Stupsen am Ellenbogen holte mich aus meinen flüchtigen Gedanken zurück. Träge öffnete ich ein Auge und sah zu Fu, der sich aufgerichtet hatte und zu mir hinunter sah. Ich verspürte nicht die geringste Lust, mich jetzt mit ihm zu unterhalten, aber anscheinend bestand er darauf. Also gut. Was man nicht alles für seine Freunde tat. „Hm?“, murrte ich. „Sag mal… zwischen dir und dem Ishida. Läuft da was?“, fragte Fu leise, damit Frau Nakata es nicht bemerkte. Falls sie überhaupt irgendetwas bemerkte, außer der bloßen Präsenz der Schüler und dem Klang ihrer eigenen Stimme. Denn im Gegensatz zu den anderen Lehrern, störte es sie nicht, wenn man schlief. Sie sah es nicht. Sie las stur aus ihrem Buch vor und blickte kein Einziges Mal auf. Selbst dann nicht, wenn sie eine Arbeit schrieben. Natürlich war das nützlich, aber mit der Zeit, wurde es einfach nur noch lästig. Fus Frage hingegen überraschte mich doch etwas. Meiner Meinung nach, hatte ich nie irgendwelche Andeutungen gemacht, dass ich Takeru mehr als einen Freund mochte. Klar, Fu wusste bescheid, dass meine Vorlieben nicht beim weiblichen Geschlecht lagen, aber dass er mich mit Takeru in Verbindung brachte, war mir dann doch ein Rätsel. „Nein“, antwortete ich. „Wie kommst du darauf? Solche wie Takeru sind eigentlich nicht mein Typ.“ Fu grinste gutmütig. „Nein, du Idiot. Ich meine nicht, TK. Ich meine den Anderen. Seinen Bruder.“ „Yamato?“, fragte ich überrascht und setzte ich mich auf. Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. „Was… wie kommst du denn darauf?“ Wieder dieses Grinsen. „Tai, ich bin nicht blind“, sagte er lächelnd und stützte den Kopf auf der Handfläche ab. „Du läufst ihm hinterher – und hey, du bist noch nie jemanden hinterher gelaufen! Also wenn das nicht eindeutig ist.“ Ich sagte nichts dazu, schließlich hatte er ja recht. Irgendwie. Normalerweise liefen sie mir hinterher und nicht umgekehrt. Obwohl ich es noch nie von diesem Standpunkt aus gesehen hatte, war es nur allzu offensichtlich, jedenfalls für Leute, die mich schon etwas länger kannten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich es selbst noch nicht einmal fertig gebracht hatte, es Yamato zu gestehen, konnte ich nur hoffen, dass nicht noch mehr Leute auf den gleichen Schluss wie Fu kamen. Ich hatte keine Lust darauf, dass Yamato von jemand anderem über meine Gefühle erfuhr. Missmutig verzog ich den Mund. Als das Schweigen anhielt und Fu nichts weiter sagte, hob ich den Blick und sah zu ihm hinüber. Fu starrte mich fassungslos an und klappte den Mund auf und zu, auf und zu. Wie ein Karpfen, der im Trockenen lag und verzweifelt nach Luft rang. „Alles okay, Fu?“ „… ja“, erwiderte er heiser und schluckte. „Aber ich dachte nicht… hey, krass. Du hast dich verknallt.“ Er stockte und rieb die Hände aneinander. „Was ist daran so besonders?“, fragte ich argwöhnisch. „Na ja, ich hätte nur nicht gedacht, dass du dich verlieben kannst, weißt du. Normalerweise hast du hier eine Freundin, dann wieder da ´nen Freund und innerhalb der nächsten Woche sind schon wieder fünf mehr auf deiner Verflossenenliste. Ich dachte schon, du bist irgendwie krank oder so, weil die Liste so lange leer blieb, aber jetzt… wieso Ishida? Ich meine… sieh ihn dir an.“ „Genau.“ „Hä?“ Verwirrt hob Fu die Augenbrauen. „Sieh ihn dir an und dann weißt du, weshalb ich auf ihn stehe“, sagte ich, etwas schärfer, als beabsichtigt. Doch wie er über Yamato gesprochen hatte, war mir unangenehm gewesen. Wie als ob Yamato eine große Spinne wäre, an die sich niemand näher als ein paar Meter heran traut. Dabei war Yamato genau das Gegenteil! Ich wusste nicht, wieso er nicht zu Top Five unserer Schule gehört; mit den Augen, den Haaren, dieser Stimme. Was war an ihm so anders, als an mir? „Ja, schon klar“, räumte Fu nach einigen Augenblicken ein. „Er ist schon… hübsch.“ „Sehr hübsch.“ „Ja, sehr hübsch. Aber er ist nun mal… anders. Ein Außenseiter. Ein Freak.“ „Yamato ist kein Freak!“ Fu schüttelte den Kopf. Ich kam mir so furchtbar unterbelichtet vor. Wie ein kleiner, dreijähriger Junge, der nicht begreifen wollte, dass Eins und Eins Zwei ergab. Was wollte er mir denn erklären? Sonst war er doch immer so gesprächig und rückte sofort mit seinem Anliegen heraus, wieso musste er es denn jetzt so umständlich machen? Seufzend fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar und sah ihn fordernd an. Fu holte tief Luft. „Tai, Takeru ist toll und Ishida ist vielleicht ganz hübsch, aber es gibt einfach Dinge die passen nicht zusammen. Er lebt in einer ganz anderen Welt und im Gegensatz zu Takeru redet er nicht gerne, ist nicht freundlich, kann nicht Fußball spielen und scheint dich auch nicht sonderlich zu mögen. Ich will dir ja nicht die Hoffnung zerstören, aber… Ishida ist nicht so wie wir.“ Er zuckte bedauernd mit den Achseln. „Was tust du, wenn er dich nicht will?“ „Das wird er nicht tun!“ erwiderte ich heftig. „Ich weiß, dass er mich mag, Fu. Außerdem kannst du das doch gar nicht beurteilen! Du weißt gar nicht, wie Yamato ist.“ „Tai, ich…“ Der Rest seines Einwandes wurde von dem lauten Klingeln der Glocke übertönt. Stühle rückten, Papiere raschelten, das Stimmengewirr erhob sich in der Klasse. Frau Nakata ordnete ihre Papiere auf dem Schreibtisch und die Schüler strömten hinaus. Ich stopfte meine Sachen in meine Tasche und rannte auf den Gang hinaus. Ich wollte jetzt weder Fu noch Toshi sehen, geschweige denn mit ihnen reden. Mit eiligen Schritten rannte ich den Gang entlang und flüchtete praktisch in den Chemiesaal. Fast hoffte ich schon, Yamato über den Weg zu laufen, um sein schüchternes Lächeln zu sehen und mich danach wenigstens etwas besser zu fühlen. Aber ich verwarf den Gedanken und mein blonder Engel blieb auch fern. Meilenweit entfernt, wie es mir vor kam. Ausnahmsweise setzte ich mich nicht neben Toshi, sondern nach vorne zu Fugaku, dem schwarzhaarigen Egomanen, der so gerne den Besserwisser spielte. Es ging schleppend voran und meine Laune sank dank Fugaku auf den Gefrierpunkt. Nie hätte ich gedacht, dass meine Laune vor Dads jährlichem Familienstreit je so schlecht werden würde. Aber heute… ich wünschte mir nichts mehr, als einfach wieder auf Yamato zu treffen. Allerdings traf ich ihn bis zu Pause nicht an. Auf dem Weg zur Cafeteria hörte ich dann seine Stimme. Leise, tonlos. Kalt. Die nächsten beiden Stimmen ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. „.. lass den Mist, Prinzessin.“ „Oder willst du, dass wir noch deutlicher werden müssen?“ „Antworte!“ „… nein.“ Ich bog um die nächste Ecke und fand mich in einem leeren Gang wieder. Hinter einer Reihe von Spinten, direkt neben der Besenkammer des Hausmeisters, standen sie. Yuri, die wasserstoffblonden Haare heute grün gefärbt. Shusuke, die dunklen Augen kalt und herablassend. Beide lächelten hämisch. Und Yamato. Die Tasche an die Brust gepresst, die blauen Augen ausdruckslos nach vorne gerichtet. Ihm war klar, was ihn erwartete und es schien ihn nicht zu ängstigen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er momentan überhaupt irgendetwas empfand. Sein Gesicht war eine Maske und seine Augen wirkten stumpf. Wie als ob es nichts gäbe, was ihn noch überraschen könnte. Kein Schmerz, der ihm zusetzen könnte. Kein Shusuke, kein Yuri. Niemand außer ihm. Mit Schrecken bemerkte ich, dass Yamatos Haltung leicht gekrümmt war. Die Kratzer in seinem Gesicht. Das dünne Blutrinnsal an seinem Mundwinkel. Übelkeit stieg in mir hoch. Sie hatten schon eindeutige Schläge ausgeteilt. Ich sah das aufgeschlagene Buch auf dem Boden liegen. Den zerknüllten Zettel. Plötzlich kam mir das Grinsen der beiden viel schrecklicher vor. Die Situation war abnormal grotesk. Yamato gab ein scheußliches Bild ab, das dunkelrote Blut auf seiner schneeweißen Haut… Shusuke machte einen Schritt nach vorne. Das schwarze Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht, die Knöchel seiner Faust knackten. Yamato zuckte kaum sichtbar zusammen, aber ich konnte es dennoch sehen. Ich wollte zu ihm rennen, ihm vor diesen beiden Idioten beschützen, aber meine Beine wollten sich nicht bewegen. Shusuke ging auf ihn zu, die Faust erhoben. Die blauen Augen weiteten sich, als sie ihren Gegner erblickten und fixierten ihn fast schon panisch. Sie waren nur noch ein paar Schritte von einander getrennt. Drei, zwei. Einer. Yamato schloss die Lider und sein Gesicht wurde wieder starr. Shusuke ließ ein frustriertes Schnauben hören. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine kleine Zornesfalte. Hinter ihm kicherte Yuri auf diese dämliche, mädchenhafte Art. Dann schlug er zu. Yamato! Ich hörte das leise Wimmern und sah wie Yamato zu Boden stürzte. Die Tasche fiel ihm aus den Händen und ihr Inhalt rutschte heraus. Bücher, Hefte, lose Blätter. Shusuke machte ein selbstgefälliges Gesicht. Ihm hatte es gefallen. Für ihn war es ein gutes Gefühl gewesen, Yamato zu schlagen. Ein. Gutes. Gefühl! „Ihr scheiß Idioten!“ Erschrocken wirbelten Yuri und Shusuke herum. Sie starrten mich ungläubig an, schienen nicht zu begreifen, weshalb ich so aufgebracht war. Aber es war mir egal. Ich wollte sehen, wie sie sich vor Schmerz am Boden wanden und um Gnade flehten. Ihre Schandtaten Yamato gegenüber bereuten und einsahen, was für absolut hirnlose Idioten sie gewesen waren. Das es ihnen nicht zustand, so etwas zu tun. Ihnen, die selbst zu dumm waren, um sich ihre eigene Homosexualität einzugestehen. Es war surreal und ich begriff es zuerst nicht wirklich. Dann hörte ich das schmerzerfüllte Keuchen von Shusuke und Yuris Wimmern. Sah meine Faust, spürte die pochenden Knöchel. Kurz wanderte mein Blick hinüber zu ihnen, verweilte allerdings nicht lange. Ich stürzte hinüber zu Yamato und ließ mich vor ihm auf die Knie fallen. Verwundert blickten die blauen Augen zu mir hinauf und ich war mir sicher, dass er mich nicht erkannte. Einen Moment fixierten sie mich, dann weiteten sie sich erschrocken. „Was… was machst du denn hier?“, fragte er mit leiser Stimme, wischte sich fahrig mit dem Ärmel über die Mundwinkel und tupfte sich über die Stirn. Ich fischte ein Taschentuch aus meiner Jacke und übernahm den Rest. Yamato zuckte bei der Berührung zusammen, wehrte sich allerdings nicht dagegen. Er senkte betreten den Blick, wie als hätte er etwas Schlimmes getan. „Geht’s dir gut?“, fragte ich besorgt. Er nickte. „Sie… ich hätte früher kommen müssen.“ „O nein, nein“, sagte Yamato beiläufig und schenkte mir sein schüchternes Lächeln. „Es war nett von dir, überhaupt zu helfen.“ „Nett?“, wiederholte ich erhitzt. „Yamato, sie haben dich zusammen geschlagen. Das war kein Zeichen von Freundlichkeit – so etwas macht man, aus Hilfe, aus Freundschaft, aus…“ Ich konnte mich gerade noch daran hindern Liebe zu sagen, schluckte diese Silbe herunter und verlor kurz den Faden. „… s-so etwas tut man einfach! Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?“ Wieder nickte er, fügte jedoch ein leises „Danke“ hinzu. Der Drang überkam mich und ich konnte es nicht verhindern. Ich schlang die Arme um seinen zierlichen Körper und presste ihn an mich. Wieder zuckte er zusammen, seine langen Finger krallten sich in meine Jacke. Er versuchte mich von sich zu drücken, ich spürte es, aber ich gab nicht nach. Nicht jetzt. Mein Herz klopfte noch immer und meine Augen brannten. Ich hatte wirklich Angst um ihn. Wegen einer dummen Schlägerei von zwei Jungen, die wahrscheinlich noch nicht einmal wussten, wie man das Wort buchstabierte. Wegen Yamato, weil er sich nicht gewehrt, nie jemanden zu Hilfe geholt hatte und es dann nicht einmal als selbstverständlich ansah, wenn man ihm half. Er zitterte, aber nach einer Weile merkte ich, dass ich es in Wirklichkeit war, der zitterte. Yamato lag vollkommen regungslos in meinen Armen, den Kopf an meine Schulter gelehnt. Sein warmer Atem strich an meinem Hals entlang, über das Schlüsselbein. Ich erschauderte, eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Es war unglaublich. Unglaublich ihn zu umarmen, ohne dass ich mich dafür als übermüdet oder unzurechnungsfähig ausgeben musste oder das er sich wehrte. Mittlerweile hatte ich nicht mehr den Eindruck, dass er mich nicht mochte. „Ich… ich bring dich um deine ganze Mittagspause“, brach Yamato leise das Schweigen und löste sich sanft von mir. Ich wollte ihn sofort wieder zu mir ziehen, aber als in seine Augen sah, ließ ich es. Er meinte es ernst. Vollkommen ernst. „Das ist doch egal“, sagte ich. Yamato wirkte verdutzt. „Aber…“, er stockte. „Wieso bist du überhaupt hier? Wieso hast du mir geholfen?“ „Was >wieso3 Noch ganz kurz zum Kapitel (da ich eh schon so viel laber): Ich weiß, an mancher Stelle ist es furchtbar kitschig. Ich bin deswegen schon gespannt auf eure Meinung! :D Mal sehen, ich hoffe, die Geschichte wird nicht allzu rosa, sonst müsst ihr mich echt in wachrütteln *lach* Alles Liebe, Nikolaus PS: Meine beiden Betas nicht zu vergessen, ihr seid natürlich auch erste Sahne xD Kapitel 9: So I Took Your Hand... (Yamato/Taichi) ------------------------------------------------- Gebatet by & ~ Yamatos POV ~ Es war ein Moment gewesen, der mich zu Fall gebracht hatte. Ein Moment, in dem ich die Kontrolle verloren und die Dunkelheit hatte siegen lassen. Ein Moment, den ich mein ganzes Leben lang bereuen würde. Ich hatte schon immer gewusst, dass ich anders als die anderen Kinder war. Nicht nur deswegen, weil wir weniger Geld hatten oder ich keine Freunde. Es lag an der Art, wie ich war. Die meisten Menschen um mich herum lachten und amüsierten sich, aber selbst wenn ich es versuchte, hatte es keinen Sinn. Es gab in meinem Innern die Sperre, die ich nie überwinden konnte. Meine Mutter hätte es fast einmal geschafft die Schranken einzureißen. Bei ihr hatte ich mich wohl gefühlt, musste keine Angst davor haben, dass öffentlich zur Schau gestellte Emotionen Ärger hervor riefen. Sie liebte mich, einfach so. Weil sie meine Mutter war. Mein Vater hatte das nie geschafft. Für ihn war Takeru das Wunschkind. Takeru war sportlich und liebte Fußball, konnte so die Träume erfüllen, die in Dads Leben nie in Erfüllung gegangen waren. Ich war für ihn ein Klotz am Bein. Nach Moms Tod, hatte er kein Verständnis mehr dafür, dass Bildung oder besondere Talente gefördert werden mussten. Für ihn gab es nur Takeru und den kleinen, runden Ball aus Leder. Da er aber keine Ahnung von Haushalt hatte, war er auf mich angewiesen. Wenn man früher erwachsen wird, sieht man die Welt anders. Das hatte ich gemerkt. Zu dieser Zeit war mir auch immer mehr bewusst geworden, dass ich so anders war. Die Unfähigkeit, sich wirklich zu über kleine Dinge zu freuen, ehrliches Mitgefühl zu empfinden oder einmal im Leben aus ganzem Herzen die Wahrheit zu sagen. Takeru lebte als Kind weiter, während ich erwachsen werden musste. Er erlebte all die Dinge, die ich nur aus der Ferne beobachten konnte und doch versuchte ich, seine Freude zu teilen. Die Freude, die so rasch aus meinem Leben verschwunden war. Irgendwann kam mir der Gedanke, dass das Alles nicht gerecht war. Wieso musste ich mich um zwei Menschen kümmern, obwohl ich selbst nicht einmal ausgewachsen war? Wieso musste ich Dinge tun, die andere Kinder nicht tun mussten? Dad sagte immer nur, ich solle doch, bitte, endlich aufhören, mich mit anderen Kindern zu vergleichen. Wir waren eben nicht so wie sie, sagte er immer, und wir würden es auch nie sein. Ich wollte ihm nicht glauben, aber ich musste einsehen, dass er Recht hatte. Doch die Zeit der Rebellion kam und sie versiegte nie wirklich. Mit der Einsicht, dass sowieso niemand auf mich hörte, fing ich an, mein Leben in mir zu führen. Eine eigenartige Angewohnheit, die ich wohl nie richtig ablegen konnte. Ich merkte, dass es so viel einfacher war, alles für mich zu behalten, als mit jemanden darüber zu reden, der mir gar nicht zuhörte. Ich konnte nicht verletzt werden, wenn ich mich niemanden mehr öffnete. Manchmal stiegen die Zweifel in mir auf und ich versuchte, so zu sein, wie die anderen. Ich konnte nicht verstehen, weshalb Takeru und ich so unterschiedlich waren, obwohl wir doch verwandt waren. Wie konnte er so lebensfroh sein und ich solch ein Frack? Die Antwort kam nie. Aber der Schmerz wurde häufiger, kam in größeren Wellen, die über mir zusammen schlugen und mich erbarmungslos unter sich begruben. Nie war ich fähig, ihnen auszuweichen. Es kam der Moment, in dem wir in der Schule das Thema Suizid durchgenommen hatten. Bis dato fand ich solche Handlungsweisen idiotisch, kindisch und ohne jeglichen Sinn. Was sollte es einem schon helfen, wenn man sich selbst verletzte? Danach sah die Welt doch genauso aus, wie davor auch. Es hatte keinen Sinn! Aber die Einstellung blieb nicht. Als ich das erste Mal das glänzende Blut fließen sah, fühlte ich mich gut. Besser als ich es mir vorgestellt hatte. Es war eine Erleichterung und all die angestauten Emotionen, die dafür sorgten, dass ich unkonzentriert und nervös wurde, schwammen in einem roten Fluss hinaus. Über die Ellenbeuge, hinab in die Dunkelheit. Ich stand am Rand meines Seins, manchmal mit einen Fuß über der Klippe, mal einen Schritt davor. Diese Verletzungen waren unschön, sie hinterließen Narben und wenn das Gefühl der Erleichterung verschwand, kehrte der Schmerz zurück, den ich davor nicht gespürt hatte. Aber es half. Es war der imaginäre Ansprechpartner, den ich mir gewünscht hatte und der mir immer zuhörte. Bald merkte ich, dass Takeru darauf aufmerksam wurde. Glücklicherweise fand er es nie heraus, aber an manchen Tagen waren seine Blicke so misstrauisch, dass ich Angst hatte, sie zu erwidern. Wie albern! Ich war der große Bruder und doch war ich nicht fähig, ein Vorbild zu sein. Wahrscheinlich schob Takeru mich deshalb als Solches ab. Aber die Abart, die mich von den anderen unterschied, wurde immer größer. Immer öfter hatte ich das Gefühl Stimmen zu hören, die greifbar waren und dann doch wie eiskalter Nebel durch meine Finger glitten. Ich dachte, dass ich verrückt wurde. Wirklich verrückt. Mit allem drum und dran; Schizophrenie, Borderline-Syndrom, Depression. Nie konnte ich mir sicher sein, dass ich es nicht wirklich war. Tief in meinem Innern ein gestörter Freak, dessen Ende, als Vergewaltigungsopfer in einer Seitenstraße, schon auf ihn wartete. Die Dunkelheit, an deren Abgrund ich stand, griff nach mir und zog mich hinunter. Manchmal hatte ich das Gefühl, schon längst gefallen zu sein. An anderen Tagen dachte ich gar nicht daran. Takeru war mir immer eine große Hilfe gewesen, auch wenn er es nicht merkte. Und Taichi auch. Selbst wenn nur für kurze Zeit. All das ging mir durch den Kopf, als ich auf der ledernen Liege saß und den Mann vor mir ansah. Herr Fuji. Er war groß, hatte schwarze Haare und trug eine randlose Brille auf der Nase. Die grünen Augen sahen mich wissend an, der Kugelschreiber ruhte geduldig auf dem schneeweißen Blatt. Er wartete darauf, dass ich etwas sagte, aber diese Genugtuung würde ich ihm nicht gönnen. Er war ein Psychiater – mein Psychiater, wie mir die Krankenschwester versichert hatte. Aber ich brauchte ihn nicht. Ich war kein Kontrollfreak und ich klammerte auch nicht. Ich hatte mein ganzes Leben sehr gut so verbracht, wie ich es verbracht hatte und das mit Taichi… war ein kleiner Ausrutscher gewesen. Er war mir einfach zu nah gekommen und ich hatte es zugelassen. Das würde nicht noch einmal passieren. Der Moment der Schwäche würde nie wieder kehren. Doch um zu dieser Erkenntnis zu kommen, brauchte ich ihn nicht. „Yamato, willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“, fragte er nun schon zum dritten Mal und rieb den Handballen an seinem Schreibbrett. Ein Zeichen seiner Ungeduld, auch wenn er sich als recht geduldig gab. Meiner Meinung nach, waren die meisten Leute, die therapiert wurden, viel intelligenter und wissender, als die Psychiater selbst. Denn so jemand, der nicht einmal zehn Minuten still sitzen konnte, wusste sicherlich nicht, was in mir vorging. Zudem kannte er mich nicht und konnte mich nicht beurteilen, egal auf wie vielen Seminaren er dafür war. „Ich dachte, das wüssten Sie“, wiederholte ich meine Antwort. „Natürlich weiß ich das“, sagte er und seufzte leise. Fuhr sich durch das schwarze Haar und blickte mich durchdringend an. „Aber ich würde es gerne aus deiner Sicht hören.“ „Wozu?“ „Damit ich dir helfen kann.“ „Ich brauche keine Hilfe“, antwortete ich kühl. Er lächelte leicht und setzte sich wieder aufrecht hin. „Einsicht ist der erste Weg zur Besserung, Yamato“, sagte er weise und ich konnte mir nur mit Mühe ein Schnauben verkneifen. Stattdessen erwiderte ich ungerührt: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, Herr Fuji.“ Er zog die Augenbrauen zusammen. Mir war nicht klar, ob ich ihn nun verärgert hatte oder ob er sich nur wunderte. Diese dämliche Freundlichkeit von Leuten, die in seinem Metier arbeiteten, mochte ich nicht. Wenn er mich nicht mochte, sollte er nicht freundlich zu mir sein. „Das hast du schön gesagt“, meinte er lächelnd. „Sie auch“, sagte ich. „Dennoch würde ich jetzt gerne die Geschichte hören.“ „Es ist keine Geschichte“, sagte ich und lehnte mich in auf der Liege etwas zurück. Das Gespräch würde länger dauern, das war mir klar. Selbst wenn ich nichts sagen würde, müsste ich hier bleiben. Denn er schien offensichtlich darauf zu hoffen, dass ich es von alleine erzählte. Aber weshalb sollte ich das tun? Nur damit er sich besser fühlte und einen geheilten Patienten mehr auf seiner Liste hatte? Ich war nicht krank und musste auch nicht geheilt werden. „Harry Potter ist eine Geschichte.“ „Entschuldigung, Yamato“, lächelte er und meinte wohl, dass er mich hiermit aus der Reserve lockte. „Tut mir leid. Dann erzähl mir doch einfach… was passiert ist. Den Ablauf.“ „Und wenn ich nicht will?“ „Ich will dir doch nur helfen, Yamato“, sagte er und mir viel auf, wie oft er meinen Vornamen sagte. Falls er Vertrauen schaffen wollte, schlug er fehl. Ich wollte ihm nicht vertrauen und ich wollte ihm auch nichts erzählen. „Das sagten Sie schon.“ „Dann sorge doch dafür, dass das nicht noch einmal passiert und erzähle es mir einfach.“ Nun klang er angespannt. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr und schnalzte mit der Zunge. „Dir ist bewusst, dass jede Stunde kostet?“ „Ich würde gerne gehen“, sagte ich und erhob mich. Sofort schnellte sein Kopf nach oben und ich sah die Erkenntnis in seinen Augen flackern. Die folgenden Worte bestätigten es. „Das war kein Angebot, Yamato. Du kannst noch nicht gehen. Du bist in einem sehr kritischen Zustand.“ „Ach wirklich?“, entgegnete ich und konnte es nicht verhindern, dass ich genervt klang. Die ganze Situation ging mir gehörig gegen den Strich. Ich hatte immer gewusst, dass es irgendwann so weit kommen und ich gegen meinen Willen festgehalten werden würde. Die Möglichkeit einfach davon zu rennen, würde nicht funktionieren. Ich merkte jetzt schon, wie die Wut in mir aufstieg und ich musste dagegen ankämpfen, ihn einfach anzuschreien: „Ich liege nicht in einem Krankenbett, ich kriege keine Medikamente, ich hatte keine Operation hinter mir und ich habe auch keine gebrochenen Knochen. Was ist an meinem Zustand denn bitte sehr kritisch, Herr Fuji?“ „Du hattest einen Nervenzusammenbruch, Yamato“, erklärte Herr Fuji es mir ruhig, in dem Tonfall, indem man sich auch mit naiven Dreijährigen unterhielt. Wahrscheinlich wusste er, was er damit anrichtete, aber ich zeigte ihm nicht, wie wütend es mich machte. Er wollte mich aus der Reserve locken, aber ich würde nicht reden. Und ich würde weder weinen, noch schreien. Ich war nicht krank. „Und wir haben die Narben an deinen Armen entdeckt.“ „Gehört es jetzt auch schon zur der Arbeit von Notärzten unerlaubt in die Privatsphäre des Patienten einzudringen?“ „Du hattest einen Nervenzusammenbruch!“ „Ich war ohnmächtig, Herr Fuji. Das ist etwas ganz anderes“, sagte ich zu ihm und äffte seinen Tonfall nach. „Und ich würde jetzt gerne gehen.“ „Du kannst nicht…“, das Telefon klingelte und er brach ab. Kurz warf er mir noch einen mürrischen Blick zu, dann nahm er ab und redete mit der Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Ich würde mich hier nicht festhalten lassen. Nicht gegen meinen Willen. Gab es denn niemanden, der mich hier raus holen konnte? Dad, Takeru… Taichi? Keiner der drei war hier gewesen. Als ich vor ein paar Stunden im Nebenraum aufwachte, war ich vollkommen alleine gewesen. Ich hatte eine Weile gebraucht, um wieder zu wissen, wo ich mich befand und was passiert war. Es war ein kleiner Schock gewesen, dass ich mich so hatte gehen lassen. Doch der größere Schock war das Eintreten von Herr Fuji und seine Ansage, wo ich hier war. In einem Krankenhaus mit einer extra Nervenheilanstalteinrichtung – Klapse, hätte ich gesagt, aber er umschrieb es mit diesen Worten, wohl in der Annahme, dass ich es so nicht erkennen würde. Am liebsten hätte ich geschrieen und wäre davon gerannt. Aber ich tat es nicht, sondern blieb solange stumm auf dem Bett liegen, bis er wieder ging. Letztendlich musste ich doch mit ihm reden und eine Krankenschwester hatte mich zu ihm gebracht. Ich hätte zwischendurch abhauen können. Aber ich tat es nicht. Lieber still und schweigsam, als aufsässig und auf Jahre hier. Glücklicherweise war es eigentlich nur ein Krankenhaus. Spätestens in vier Stunden musste Herr Fuji mich gehen lassen, wenn er nicht noch einen sehr triftigen Grund fand, um mich hier zu behalten. Und ich würde alles tun, damit er keinen Grund fand. „Du hast Besuch, Yamato“, sagte er zu mir, nachdem er aufgelegt hatte. Ich sah ihn an und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Dein Bruder und ein Freund. Willst du mir nicht verraten, weshalb dein Vater nicht hier ist? Schließlich muss er sich doch um dich sorgen.“ „Nein.“ „Nein?“ „Ich will Ihnen nicht sagen, weshalb er nicht hier ist“, antwortete ich und richtete den Blick auf die Tür. Dass Takeru jetzt erst kam erfreute und erboste mich zugleich. Wer der so genannte Freund war, konnte ich mir auch denken. Taichi. Dass er mich besuchte, löste ein unkontrolliertes Kribbeln in meinem Magen aus und machte mich etwas nervös. Er sollte mich nicht hier sehen, in ein und demselben Zimmer wie dieser krankhafte Psychiater, der mir diese Fragen stellte. Ich wollte nicht, dass Taichi dachte ich sei… krank. Ich war es nicht. „Yama!“ Die Türe flog auf und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Herr Fuji an seinem Schreibtisch zusammen zuckte. Takeru rannte ins Zimmer und brachte eine Welle aus Verwirrung, Sorge und Freundlichkeit mit, die mich überrollte. Ausnahmsweise machte es mir nichts aus. Ich war froh, dass er sich so darüber freute mich zu sehen. Und ich zuckte auch nicht zusammen, als er mich stürmisch umarmte. „Dir geht’s gut“, flüsterte Takeru aufgelöst. „O Gott… ich dachte schon, dass was Schlimmes passiert ist.“ Er presste mich so fest an sich, dass ich kaum Luft bekam. Vorsichtig drückte ich gegen seine Brust und er löste sich von mir. Mit vor Freude strahlenden Augen sah er mich an und lächelte erleichtert. Ich lächelte zurück, sah dann zu Taichi. Er stand im Raum und wirkte auf gewisse Weise verloren. Das breite Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden und es versetzte mir einen Stich. Seine Miene war ernst, gefasst. Wie als dachte er, ich wäre wirklich… … krank. „Hi“, sagte er leise. Ich nickte nur und wandte den Blick ab, die Lippen fest aufeinander gepresst. Wenn ich jetzt die Beherrschung verlor, wäre das für Herr Fuji ein gefundenes Fressen. Er lauerte nur darauf, dass die Maske bröckelte und er etwas fand, was er beschuldigen konnte. Aber diese Möglichkeit würde ich ihm nicht geben. Ich war der Meister der Masken. Ich stand auf und sah ihn an. Herr Fuji schien überrascht, dass ich meine Worte an ihn richtete. „Ich möchte, dass Sie raus gehen.“ „Was? Yamato…“ „Das ist ein vertrauliches Gespräch und Sie haben kein Recht mitzuhören, wenn es nicht in meinem Wohlwollen geschieht“, unterbrach ich ihn kühl und beobachtete, wie er böse den Mund verzog. „Wenn du meinst, Yamato.“ Ruckartig erhob er sich und verließ den Raum, offensichtlich darüber erbost, aus seinem eigenen Büro geworfen zu werden. Takeru stieß neben mir einen leisen Pfiff aus und stupste mich in die Seite. Er ließ die Fingerknöchel knacken und beobachtete, wie die Türe laut ins Schloss fiel. Mit dem Knallen wurde es kalt im Zimmer und ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Ich wollte nicht zu ihnen sehen. Ich war schreiend auf dem Schulhof zusammen gebrochen und landete in einem Krankenhaus. Wurde unter die Aufsicht eines Psychiaters gestellt, der glaubte, ich sei psychisch krank. Und jetzt waren sie beide hier her gekommen, in dem festen Glauben, ein seelisches Frack vorzufinden, das nie wieder die Wände dieser Einrichtung verlassen durfte. Aber ich war nicht krank. Ich hörte keine Stimmen und das mit der Selbstverletzung… das taten so viele Leute und gerade mich wollten sie dafür bestrafen? Das… das konnte nicht sein. Taichis Gesichtsausdruck war Strafe genug gewesen. Ich hatte vorhin Recht gehabt; Taichi war mir ebenfalls eine Hilfe gewesen, dem Abgrund nicht zu Nahe zu kommen. Selbst wenn nur für kurze Zeit. „Wir haben uns ganz schön Sorgen gemacht“, sagte Takeru nach einer Weile. Ich drehte mich nicht zu ihnen um, stand regungslos neben dem Sessel und starrte aus dem Fenster. Ich hatte nicht die Kraft mich umzudrehen und ihren Blicken zu begegnen. Würden sie mich verachten? Als Irren abstempeln? „Wir wussten nicht, was los war.“ „Ich auch nicht“, erwiderte ich leise. Meine Stimme zitterte. Ich war wieder dabei die Beherrschung zu verlieren. Nur für einen Moment. Und falls ich wirklich verlieren sollte, würde dieser Moment erneut alles entscheiden. Das durfte einfach nicht passieren. Für einen Augenblick presste ich mir die Hand auf den Mund und zwang mich, durch die Nase tief ein und auszuatmen. „Es war echt… grauenvoll“, redete Takeru weiter. „Du hast plötzlich geschrieen und… wir wussten nicht, was los war. Ich dachte, du… was war los?“ Er sprach nicht aus, was er gedacht hatte. Aber er musste es auch nicht. In gewisser Weise wusste ich es schon und es behagte mir nicht. Ich dachte, du bist verrückt geworden. Ich war es aber nicht und es entfachte einen kleinen Funken Wut in mir, dass Takeru dachte, er könnte es beurteilen. Diese Reaktion war übertrieben, schließlich wollte er mir nur zeigen, wie die Situation ihn verwirrt hatte, aber momentan erschien es mir die einzig richtige Möglichkeit überhaupt zu reagieren. Ich durfte keine Wut zeigen und nicht anfangen zu weinen, sonst würde Herr Fuji mich hier behalten, aber ich konnte doch… ich konnte es doch nicht einfach so hinnehmen! Und so lange es man mir nicht ansah, war es in Ordnung. Das dachte ich jedenfalls. Woher hätte ich denn auch wissen sollen, dass Psychiater immer etwas fanden, was sie einem anhängen konnten? Und sei es noch so klein. „Keine Ahnung“, wich ich einer direkten Antwort aus und hörte, wie Takeru hinter mir seufzte. „Was wollte der Mann wissen?“, fragte er stattdessen und ließ sich auf die Liege sinken, in der ich noch vor ein paar Minuten gesessen hatte. Wo Taichi war, konnte ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen. Das kleine Stück, das er immer von mir nahm und normalerweise wieder zurück brachte, wenn er wieder bei mir war, behielt er dieses Mal für sich. Ich fühlte mich klein, verletzlich und angeschlagen. „Ich sollte ihm erzählen, was passiert ist“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Und? Hast du?“ „Nein.“ „Was noch?“, wollte er wissen. Sofort wusste ich, dass ich seine Neugier entfacht hatte. Takeru würde wohl noch für immer ein kleines Kind bleiben. „Er wollte wissen, wieso Dad mich nicht besucht. Und er hat mir unterstellt, ich hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt und wäre in einem zu kritischen Zustand, um das Krankenhaus jetzt zu verlassen. Ich hab ihm nicht geantwortet“, sagte ich tonlos und beobachtete unten auf dem Bürgersteig eine Mutter, die eine Einkaufstasche trug und einen Kinderwagen vor sich her schob. Sie wuselte weiter und entschwand meinem Blick, der nun auf dem trostlosen, grauen Asphalt der Straße klebte. „Hattest du nicht einen Nervenzusammenbruch?“, fragte Takeru verwirrt. Mir wurde klar, dass die Krankenschwester ihm das wohl erzählt hatte, bevor sie zu mir kamen. Dass sie sorgsam mit mir umgehen, langsam sprechen und nicht überschwänglich handeln sollten. Idioten. „Nein.“ „Oh…“, macht er leise. „Was war es dann?“ „Ich habe kurz die Kontrolle verloren“, sagte ich und erfreute mich praktisch an dem Schweigen, das daraufhin entstand. Ich wollte mit Takeru nicht darüber sprechen, was passiert war. Er hatte Moms Tod gut weggesteckt und war immer in der Annahme gewesen, dass es sonst keine Sorgen gab und ich wollte ihm keine bereiten. Wenigstens er sollte normal leben, wenn ich es schon verbockt hatte. Nach einer Weile ging schwungvoll die Türe auf und Herr Fuji kam herein, seine schlechte Laune über seinen Rausschmiss, schien verflogen. Mit einer fließenden Bewegung setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und sah uns alle hintereinander an. Anhand von seinem Blick, der hinter mir haftete, vermutete ich, dass dort Taichi war. Einen Moment verspürte ich den Drang, mich zu ihm umzudrehen, um ihn zu sehen und zu wissen, dass er mich nicht für verrückt hielt, aber ich tat es nicht. Ich hatte zu große Angst davor, dass mich das Gegenteil erwarten würde. „So Yamato“, fing er gutgelaunt an und sah zu mir. Ich nickte stumm. „Ich habe über dich nachgedacht und über deine Worte, dein Verhalten. Du meinst du hattest keinen Nervenzusammenbruch, ja?“ „Hatte ich das nicht schon gesagt?“, entgegnete ich kühl. „Natürlich, Yamato. Das hast du schon.“ Er lächelte väterlich. In mir stieg die Übelkeit hoch. „Deiner Meinung nach hast du nur kurz die Kontrolle verloren.“ „Ich wusste nicht, dass Psychiater seit Neuestem die privaten Gespräche ihrer Patienten abhören dürfen, Herr Fuji“, sagte ich, meine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. Ich wunderte mich, dass ich so klar denken konnte. Mein normaler Hang zum Abdriften oder Abschalten bei Situationen, die mir nicht gefielen, schien hier aus irgendeinem Grund nicht vorhanden zu sein. „Wäre das für mich nicht ein Grund auf der Stelle hier raus zu gehen und sie zu verklagen?“ Er wurde weiß im Gesicht und schluckte. Er nahm meine Worte ernst und es erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung, auch wenn ich in dem geheimen Wissen war, dass ich das nie gemacht hätte und auch nie konnte. Nicht ich. „Und ich habe folgende Diagnose daraus gezogen“, redete er mit gepresster Stimme weiter, wie als hätte ich nie etwas gesagt. „Deine Depressionen sind nur allzu offensichtlich. Genauso wie dein gestörtes Sozialverhalten. Hinzu kommt das Borderline-syndrom und der Verdacht auf Schizophrenie.“ Er lächelte mich gütig an. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. „Depressionen? Gestörtes Sozialverhalten? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Doktor?“, kam mir Taichi unerwartet zur Hilfe. Seine tiefe Stimme und das, ungewohnt kalte, Lachen, schickten mir einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken. „Yamato ist nicht krank.“ „Entschuldigen Sie, aber das kann ich ja wohl besser beurteilen“, erwiderte Herr Fuji steif und richtete sich auf. „Nach einer Stunde, ja?“ „Das ist mein Beruf!“ „Ich kenne Yamato schon deutlich länger als Sie und sein Sozialverhalten ist alles andere als gestört. Zudem liegen Sie bei den Depressionen auch sehr daneben“, sagte Taichi scharf und seine Gestalt löste sich aus den Schatten. Ich zuckte zusammen, als er plötzlich neben mir stand. Ärgerte mich einen Moment später dafür schon wieder unglaublich, als ich sah, wie Herr Fuji interessiert die Augenbraue hob. „Und selbst wenn er sich ritzt – ist doch egal, oder? Wenn er es längere Zeit nicht mehr getan hat, hat er sich selbst geheilt. Ohne Ihre verdammte Hilfe, Sie Quacksalber!“ „Sie können das sehr schlecht beurteilen, Sie sind emotional in diese Sache…“ „Hören Sie doch auf damit!“, rief Taichi sauer. „Sie wollen ihn doch nur hier behalten, damit sie etwas mehr Geld bekommen und weil es sie ärgert, dass er nicht mit Ihnen redet. Sagen Sie mir nicht, ich wäre emotional in diese Sache verwickelt, wenn Sie sich selbst nicht einmal davon distanzieren können!“ „Junger Mann, jetzt lehnen Sie sich eindeutig zu weit aus dem Fenster!“ „Ach wirklich?“ „Ja!“, donnerte Herr Fuji, vor Zorn pochte eine Ader auf seiner Stirn. Ich packte hektisch Taichis Handgelenk, wollte ihn dazu bewegen, mich anzusehen und damit aufzuhören, aber er schüttelte meine Hand ab. „Sie können nicht entscheiden, was ich mit ihm mache, er ist mein Patient!“ „Ist er nicht!“ „Natürlich ist er das und ich entscheide, dass er hier bleibt!“ „Ach ja? Und weswegen? Weil Sie ihn nicht leiden können und ihn gerne ein bisschen quälen? Damit er in diesem Irrenhaus gänzlich zerbricht und Sie etwas haben, woran Sie herum kritteln können, ohne dass Ihnen jemand dazwischen funkt?!“ Taichi stützte die Hände vorne auf seinem Schreibtisch ab und sah Herr Fuji erzürnt an. Dieser blickte genauso böse zurück. Takeru war neben mir aus seinem Stuhl geschnellt, traute sich allerdings nicht an Taichi heran. Ich stand regungslos da und wusste nicht, was ich tun sollte. In meinem Innern schwankte es zwischen Entsetzen, Freude, Wut und… einem riesigen Bienenschwarm, der mich von Innen aufzufressen drohte. Ich trat von einem Fuß auf den anderen und sah zu ihnen hinüber, mein Atem war flach. „Lassen Sie ihn gehen oder ich hetze Ihnen meinen Vater auf den Hals“, drohte Taichi mit bedrohlicher tiefer Stimme, die mich an das Knurren eines Hundes erinnerte. Herr Fuji schreckte kurz zurück, dann blitzten seine grünen Augen genauso sauer wie zuvor. „Susumo Yagami, richtig?“, zischte er wütend. Taichi lehnte sich ein Stück zurück und grinste selbstgefällig. „Richtig.“ „Dann sehen wir uns vor Gericht“, sagte Herr Fuji gefasst und setzte sich wieder hin, schien uns zu ignorieren. Taichi nickte in Richtung Tür und machte Anstalten das Zimmer zu verlassen. Ich sah verwirrt zu Takeru hinüber, der ebenso wenig begreifen zu schien, wie ich. Eilig folgten wir Taichi nach draußen. Als wir uns von der Krankenschwester in mein Zimmer führen ließen, legte sich die spürbare Wut um Taichi etwas und er atmete laut aus. „Tut mir leid, dass ich so ausgerastet bin“, sagte er leise und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ich konnte einfach nur nicht mit anhören, was er über dich gesagt hat.“ Mir schoss augenblicklich die Röte ins Gesicht und der wütende Bienenschwarm in meinem Magen flog orientierungslos durch die Gegend. Ich lächelte ihn aufmunternd an und sagte leise: „Kein Problem. Ich… ich … danke.“ Er grinste, ungemein erleichtert und nur einen Moment später fand ich mich in seinen Armen wieder, die Nase gegen sein Schlüsselbein gedrückt. Kurz war ich unsicher, wie ich reagieren sollte, dann schlang ich zögernd die Arme um ihn. Die Bienen summten zufrieden. „Äh, Tai“, sagte Takeru neben uns und räusperte sich vernehmlich. Ich zuckte zusammen, aber Taichi machte keine Anstalten die Umarmung zu lösen. Über meinen Kopf hinweg sah er meinen kleinen Bruder an. „Was meinte er damit, dass wir uns vor Gericht sehen?“ Taichi löste sich nun doch von mir. Lächelte verlegen. „Mein Dad ist Anwalt. Ich hab ihn praktisch… verklagt“, erklärte er. „Was?!“, rief ich erschrocken aus. „Taichi, du kannst ihn doch nicht verklagen!“ „Wieso nicht?“, erwiderte er überrascht. „Du hast doch gesagt, du würdest es auch tun. Außerdem hat mein Dad bisher noch keinen Prozess verloren. Und das wird er auch nicht – nicht gegen so einen Idioten.“ Ich war zu verlegen, um jetzt auch noch etwas zu erwidern. Schließlich hatte er es für mich getan. In meinem Magen stieg ein unbekanntes Gefühl auf. Er hatte das für mich getan. Er hatte sich für mich eingesetzt und somit verhindert, dass der Psychiater mich für unbestimmte Zeit hier behalten hatte. Ganz ohne dabei an die Konsequenzen zu denken oder an sich. Nur an mich. Es war ein gutes Gefühl. ~ Taichis POV ~ Die Türen öffneten sich und ein Schwall kalter Luft drang uns entgegen. Hastig schloss ich meine Jacke, Yamato steckte die Hände in die Jackentaschen und zog die Schultern hoch. Einzig und allein Takeru schien gegen die Kälte immun zu sein. Er ging, wieder gut gelaunt, neben uns die Straße entlang und warf immer wieder interessierte Blick in die Umgebung. Ein kleiner Hund kam an uns vorbei und rieb sich zutraulich an Yamatos Bein, bis sein Herrchen ihn weiter rief. Takeru lachte. Wir liefen hinunter in den U-Bahnschacht und stiegen in einen der Züge ein, der Richtung Innenstadt fuhr. Yamato stand die ganze Zeit schweigend da und starrte zu Boden. Einen Moment stieg in mir der Gedanke auf, ihn zu fragen, ob ich mich nicht umsonst für ihn eingesetzt hatte, aber ich ließ ihn wieder fallen. So etwas wollte ihn jetzt nicht fragen. Er war gerade erst der Hölle entkommen, da musste ich ihn nicht wieder dran erinnern. Dennoch stand er mir etwas zu weit weg, aber ich wagte es nicht, ihn zu mir zu ziehen, da ich noch immer Takerus misstrauischen Blick vor Augen hatte, als ich Yamato vorhin im Krankenhaus umarmt hatte. Als wir wieder hinauf in die Freiheit kamen, war es dunkel. Neben mir gähnte Takeru herzhaft und ließ ein müdes Brummen hören. Kurz wanderte mein Blick hinüber zu Yamato, aber er starrte noch genauso zu Boden, wie ein paar Minuten zuvor. Er schien so sehr in Gedanken versunken, dass er zuerst gar nicht mitbekam, dass ich ihn ansprach. „Yama?“, versuchte ich es ein zweites Mal und er sah verwirrt auf. „Hm?“ „Du…“, fing ich an und stockte, als mir nicht dir richtigen Worte einfielen. Was sollte ich denn auch fragen? Ob er sich sicher war, dass er nicht doch verrückt war und in dieses Krankenhaus gehörte? Ich atmete tief ein und entschloss mich, es sanfter an zu gehen. „Stimmt es, dass du dich ritzt?“ Das war zwar nicht unbedingt die sanfte Art, die ich hatte haben wollen, aber solange Yamato in meiner Nähe war, konnte ich keinen vernünftigen Gedanken fassen. Yamato stutzte und warf einen vorsichtigen Blick zu Takeru. Dieser blieb stehen und sah seinen Bruder verständnislos und etwas misstrauisch an. Mir wurde klar, dass Takeru davon nichts wusste und ich Yamato gerade in eine große Bredouille gebracht hatte. Ich lächelte ihn entschuldigend an. „Wieso sollte er das tun?“, fragte Takeru mich scharf. „Ich weiß nicht, ich…“, fing ich unsicher an, fühlte mich furchtbar unwohl. Ich wollte die Situation nicht noch schlimmer machen, als sie ohnehin war. Glücklicherweise kam Yamato mir zu Hilfe. „Takeru, er wollte es doch nur wissen“, sagte er besänftigend zu seinem Bruder. „Schließlich hat Herr Fuji es gesagt.“ „Und, tust du es?“, wollte Takeru missgelaunt wissend. Er sagte dies in einem Ton, wie als wäre es das Dümmste, was man machen konnte, um sich selbst und seine Mitmenschen zu blamieren und entstellen. Yamato wand sich sichtlich und schüttelte dann den Kopf. Es verwunderte mich etwas, aber ich sagte nichts dazu. Takeru warf mir einen spöttischen Blick zu, schnaubte und trabte voran. Er schien damit zufrieden, doch ich hatte kurz die Angst in seinen Augen aufflackern sehen, als Yamato gezögert hatte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, schlenderte er vor uns dahin, warf immer wieder einen kurzen Blick zurück. Yamato lief dich hinter mir. Sah kurz zu seinem Bruder, dann hielt er mich am Ärmel fest und ich blieb überrascht stehen. Er räusperte sich leise und schluckte. „Sag es ihm nicht, okay?“, flüsterte er und blickte mich verzweifelt an. „Er… er weiß es nicht. Und er soll es auch nicht wissen. Takeru würde es nicht verstehen. Er… du hast seinen Blick gesehen. Er denkt, es ist idiotisch und dumm.“ Fassungslos starrte ich ihn an. Sagte er mir damit, dass er sich selbst verletzte? „Bitte, Taichi…“ Ich nickte stumm, schluckte den großen Klos in meinem Hals hinunter. Yamato lächelte mich zaghaft an und wandte sich ab, ging Takeru hinterher, der ungeduldig an der nächsten Straßenecke auf uns wartete. Als er sah, dass wir uns wieder in Bewegung setzten, bog er ab und verschwand in der Dunkelheit. In meinem Kopf ratterte es unablässig, ich hatte das Gefühl, gleich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Bevor Yamato sich all zu weit von mir entfernen konnte, griff in nach seinem Handgelenk und zog ihn zurück. Er sah mich erschrocken an. „Wie lange?“, platzte ich heraus, konnte mich nicht mehr zurück halten. Ich musste es wissen! Wenn Yamato sich wirklich selbst verletzte, dann… ich konnte mir gar nicht vorstellen, was alles in seinem Leben schief gelaufen sein musste, damit dass passiert war. Von Takeru wusste ich, dass ihre Mutter gestorben war, kurz darauf die Großmutter. Jedoch schien Takeru das alles überwunden zu haben, wieso Yamato nicht? Sie waren doch Brüder. „Was meinst du?“, fragte Yamato, sah mich dabei allerdings nicht an. Mir war klar, dass er eigentlich ganz genau wusste, was ich meinte. „Wie lange?“, wiederholte ich deshalb nur und zwang ihn, mich anzusehen. Mit zwei Fingern fixierte ich sanft sein Kinn und hob es an. Die blauen Augen huschten umher, bis sie sich auf einen fernen Punkt über meinem Kopf fixierten. „Seit ich… zwölf bin, glaub ich“, flüsterte Yamato leise. „Aber ich…“ „Wieso?“, unterbrach ich ihn verständnislos. Mittlerweile konnte ich Takerus Reaktion nachvollziehen. Es tat weh zu wissen, dass er innerlich so verzweifelt war. Takeru musste es wahrscheinlich noch viel mehr schmerzen. Er lebte schließlich schon immer mit ihm zusammen. „Es…“, er stockte und biss sich auf seine zitternde Lippe. „Es wurde zuviel. Alles… Ich hab’s nicht mehr ausgehalten.“ Er riss sich von mir los und verschränkte die Arme vor der schmalen Brust, rieb sich fröstelnd über die Oberarme und fügte leise hinzu: „Aber ich hab’s nicht mehr getan. Ehrlich.“ Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben konnte, aber ich wollte ihn zu nichts zwingen. Jedenfalls nicht hier. Zudem sah ich das Zittern seines Körpers, auch wenn er es zu verbergen versuchte, und das hatte sicherlich nichts mit der Kälte zutun. Wie als hätte er meine Gedanken gespürt, wandte Yamato sich von mir ab und straffte die Schultern. Er war stark, das musste man ihm lassen. „Gehen wir weiter, sonst muss Takeru so lange vor der Haustüre warten“, sagte er und seine Stimme war wieder gefasst. Tonlos. Ich fragte mich, ob ich zu nah an ihn heran getreten war und traute mich nicht mehr, das Wort an ihn zu richten. Wie würde ich wohl reagieren, wenn mich jemand auf dieses pikante Thema ansprechen würde? Wahrscheinlich wäre es mir unangenehm und ich wäre nicht gewillt darüber Auskunft zu geben. Dass, was Yamato mir verraten hatte, war eigentlich schon viel zu viel. Schweigend gingen wir nebeneinander her, seine Worte schwirrten in meinem Kopf herum. Als weiße Dunststreifen, die wie Wasser durch meine Finger glitten, wenn ich sie ergreifen wollte. Es waren zu viele und doch zu wenige. Es wurde alles zu viel… Alles. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Was meinte er damit? Was war in seinen Augen alles? War seine Psyche um so viel schwächer, als die von Takeru oder war Takeru einfach nur nicht so anfällig für solche Reaktionen? Hatte Yamato etwas erlebt, was Takeru nicht erlebt hatte? Die Antwort darauf fand ich nicht. Nicht nur deswegen, weil Yamato so dicht neben mir lief und ich die ganze Zeit über den Drang verspürte, nach seiner Hand zu greifen, sondern auch deswegen, weil sich etwas in mir dagegen wehrte, die Antwort hören zu wollen. Wahrscheinlich würde ich sie nicht einmal hören wollen, wenn Yamato sie mir höchst persönlich erzählte. Ich schielte zu Yamato hinüber, bemerkte, dass er meinen Blick erwiderte. Er wandte sich hastig ab, während sich ein Lächeln auf mein Gesicht schlich. Kurz warf ich einen Blick nach vorne. Dort in der Dunkelheit konnte man das große Hochhaus erkennen, in dem die beiden Ishidas wohnten. Mein Auto parkte davor und heute Abend würde ich wieder nach Hause fahren. In eine Welt ohne Yamato. Ich atmete tief durch und ergriff seine Hand. Yamato zuckte zusammen, sah mit undefinierbarem Blick zu mir hoch, dann senkten sich die blauen Augen wieder gen Boden. Lange Finger schlangen sich um die Meinen und mein Händedruck wurde zaghaft erwidert. Part IX END ♠ Nach langer Zeit endlich mal wieder was von AYW - und natürlich ein Lebenszeichen von mir :D Tut mir leid, dass es doch wieder so lang wurde, der viele Urlaub hat mich doch irgendwie fertig gemacht.... >_> Jaahh, das mit dem Anwalt war heftig, aber nach langen Gesprächen (xD), weiß ich jetzt, dass es passend war... oder was meint ihr? Und falls es noch jemandem komisch vorkommen sollte, warum Herr Fuji gleich wusste, er Taichis Vater ist: In meiner Vorstellung sieht Taichi genauso aus wie sein Dad >D Aber das kommt eh noch mal. Ich möchte mich hier noch mal dafür bedanken, dass so viele Kommentare zum letzten Kapitel eingegangen sind, das ehrt mich jedes Mal wirklich sehr - außerdem gebt ihr mir so viel Inspiration, dass ich gar nicht mehr weiß, wohin damit :D Wie immer bin ich jetzt schon ganz gespannt darauf, was ihr alle so zu dem neuen Kapitel sagt... :) Alles Liebe & einen schönen Schulanfang (wobei ich glaube, dass alle außer Bayern eh schon dran sind, oder? oô) Nikolaus PS: Und wieder ein großes DANKE an meine Erste-Sahne-Betas :D Kapitel 10: .... And We Figured Out That (Takeru) ------------------------------------------------- Gebetat by ~ Takerus POV ~ Aus irgendeinem Grund gefiel mir die Freundschaft zwischen Taichi und Yamato nicht. Die komische Vertrautheit die zwischen ihnen herrschte und die, vor allem von Taichi, an allen Enden und Ecken gezeigt und genutzt wurde. Die Blicke die sich zuwarfen und die Art, wie sie miteinander redeten. Es war nicht so, dass ich Yamato es nicht gönnte, endlich einmal einen Freund zu haben, der ihn nicht ausnutzte und sich wirklich für ihn interessierte. In gewisser Weise freute es mich für ihn. Aber eben auch nur in gewisser Weise. Wieso musste er denn auch Taichi als neuen Kumpel haben? Sie hatten sich doch gehasst, als sie sich das erste Mal gesehen hatten. Yamato hatte ihm dutzende Wörter an den Kopf geschmissen, die alles andere als freundlich gewesen waren und Taichi hatte danach ausgesehen, als ob er ihn eigenhändig würde ermorden wollen. Yamato hatte immer abfällig von Taichi gesprochen, von seiner Überheblichkeit und seinem Drang nach Aufmerksamkeit. Zwar redete er jetzt nicht mehr über ihn, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, was das bedeutete. Yamato mochte Taichi, wirklich. Taichi hatte sich schon früher ein bisschen für Yamato interessiert, natürlich. Ich war sogar wirklich überrascht gewesen, als er mich all die Dinge fragte. Es hatte mich wahnsinnig fertig gemacht, dass ich so wenige Dinge über meinen Bruder wusste und in dieses Tief war ich nur gefallen, weil Taichi unbedingt etwas über meinen Bruder erfahren wollte. Und ich war nicht so naiv wie Yamato und sah den eigentlichen Sinn dahinter nicht. Ich selbst hatte es schön öfters so gemacht, zum Beispiel als ich Kouji ins Bett kriegen wollte. Aus dem dümmlichen Grund, einmal beide Zwillinge flachgelegt zu haben. Leider war Kouji nicht so einfach darauf hereingefallen wie Kouichi und hatte mich abblitzen lassen. Doch Yamato kannte dies nicht. Er hatte keine Ahnung, er war mit seinen achtzehn Jahren noch nicht einmal aus, noch nie auf einer Feier gewesen, bei der man sich besoffen und danach haltlos gekotzt hatte. Er kannte die zahlreichen Anmachen nicht, mit der einem Frauen, und auch Kerle, an den Hintern fassten und versuchten, einen ins Bett zu bekommen. Es erschreckte mich regelrecht, dass Taichi diese primitive Methode bei Yamato anwandte und das Yamato es nicht kapierte. Wo war da die überragende Intelligenz meines Bruders? Dann war mir jedoch aufgefallen, dass die typischen Laber-nicht-sondern-schlaf-endlich-mit-mir-Blicke von Taichi sich in etwas Anderes umgewandelt hatten. Meine Angst um Yamato, dass seine erste Freundschaft in einer harmlosen Bettgeschichte enden würde, war verschwunden. Jedoch nicht gänzlich, sie hatte sich einfach in anderen Bereichen wieder ausgebreitet. In Bereichen des Neides, der Eifersucht und der Sorge. Neid, weil Yamato, obwohl er nie etwas zu den Unterhaltungen beitrug und mehr abweisend, als aufgeschlossen war, so viel Aufmerksamkeit von Taichi erhielt, den es gar nicht zu jucken schien, dass sein Gegenüber unbeteiligt ins Nichts starrte. Eifersucht, weil Taichi sich somit weniger mit mir beschäftigte und so meine Künste im Fußball von ihm nicht mehr genügend gewürdigt wurden. Es war natürlich in gewisser Weise lächerlich, aber ich brauchte es. Dad war doch nie da, um mich zu loben. Und letztendlich Sorge, weil Taichi sich so offensichtlich in meinen ahnungslosen Bruder verliebt hatte. Ich konnte es sehen, bei jedem Blick, den Taichi Yamato zuwarf. Diese bedingungslose Hingabe, egal wie unfreundlich Yamato sein würde. Yamato hingegen begriff natürlich nicht, dass er es nur noch schlimmer machte, wenn er all die Berührungen von Taichi zuließ und immer wieder auf diese Art und Weise lächelte, die Taichi sichtlich kirre im Kopf werden ließ. Ohne es mir wirklich eingestehen zu wollen, war ich auch auf Taichi etwas eifersüchtig, denn Yamato lächelte in meiner Gegenwart zwar auch, aber nicht so ehrlich und viel, wie bei ihm. Ich fühlte mich ausgeschlossen, ein Gefühl, das ich so sehr hasste. Ich hatte meine Art so geändert, dass ich keine Scheu mehr davor hatte, andere Leute anzusprechen und so oft zu lachen, bis sie einfach nicht mehr anders konnten, als mitzulachen. Ich hatte gelernt, mich innerhalb von Minuten der Situation anzupassen und mich wie ein Chamäleon unter die Masse zu mischen, ohne aufzufallen. Jetzt nützte mir diese Begabung überhaupt nichts mehr, denn die beiden hatten nur noch Augen füreinander. In Taichis Fall sehr bewusst, in Yamatos eher unbewusst. Er war es nicht gewöhnt, von einem Menschen so offensichtlich gemocht zu werden, das sah ich ihm an. Als sie während des ganzen Rückwegs vom Krankenhaus so weit hinter mir blieben, stiegen schon die schlimmsten Gedanken in meinem Kopf auf. Was, wenn die beiden dort hinten heimlich über mich tuschelten? Oder noch schlimmer: Sie küssten sich! Hastig sah ich zurück, stellte allerdings zu meiner Erleichterung fest, dass sie schweigend nebeneinander hergingen und kein Wort wechselten. Yamato schien regelrecht wütend zu sein. Zwar konnte ich es aus dieser Entfernung und erst Recht nicht bei diesem Licht genau sagen, aber wenn er so heftig auf seiner Lippe herum kaute, bedeutete es meistens nichts Gutes. Für einen Moment war ich froh, dass ich nicht bei ihnen war und drehte mich wieder um. Ich fing an, den Abend zu planen. Yamatos Nervenzusammenbruch, oder wie er es nannte, Kontrollverlust, war überraschend gekommen und hatte mich ziemlich getroffen. Ich hatte wirklich Angst gehabt, ihn zu verlieren. Die Hilflosigkeit, die ich in dem Moment verspürt hatte, als ich neben ihm stand, war schlimmer gewesen, als jedes andere Gefühl, das ich jemals empfunden hatte. Es war grauenvoll gewesen. Meine eigentlich Pläne, mit Yamato über unsere Mutter zu reden, hatte ich kurzfristig sausen lassen müssen. Ich hatte nicht angenommen, dass er schon so früh wieder bei Verfassung war. Konnten wir das jetzt nicht nachholen? Ich stockte, als ich das Hochhaus erreichte. Nur eine einzelne Laterne an der Fassade beleuchtete den Weg, ließ Bäume und Büsche lange Schatten werfen und tauchte alles in ein unheimliches Dunkel. Taichis Wagen stand auf der Auffahrt und er müsste sicherlich nach Hause gehen, er hatte erzählt, dass seine Mutter für heute Abend ein großes Essen plante. Es würde Yamato sicherlich einiges an Überwindung kosten, etwas zu erzählen, aber ich wusste, dass er eine starke Psyche hatte. Ein Grund mehr, weshalb er sich nicht selbst verletzen würde. Ich kaufte Taichi nicht ab, das er diese Frage nur gestellt hatte, weil Herr Fuji das angesprochen hatte. Er hatte so überzeugt geklungen, als… als ob er das selbst geglaubt hätte. Es befürchtet hätte. Aber Yamato tat es nicht. Yamato würde so etwas nie tun. Oder? Ich drehte mich erneut zu ihnen um, nur um feststellen zu müssen, dass sie Händchen hielten. Sie sahen sich zwar nicht an, aber Taichi machte einen unglaublich erleichterten und glücklichen Eindruck. Auf seinem Gesicht prangte ein seliges Lächeln. Yamatos Wangen waren vor Kälte und vor Verlegenheit, das war mir sofort klar, rosa angelaufen und er starrte angestrengt zu Boden, während er dicht neben Taichi ging. Die Situation war so absurd, dass ich fast gelacht hätte. Aber nur fast. „Yama, hast du die Schlüssel?“, fragte ich und versuchte, nicht allzu unfreundlich zu klingen. Ich wusste nicht genau, was diese Wut in mir hervor rief, aber ich konnte den Anblick nicht ertragen. Er war zu… perfekt. „Oh“, machte Yamato verwirrt und fing an in seinen Taschen herum zu kramen, löste dazu den Kontakt mit Taichi. Dessen Lächeln verschwand, erschien jedoch gleich wieder, als er ebenfalls das leise Klirren hörte, was Yamato zu überhören schien. Taichi griff schamlos in die hintere Hosentasche von Yamato und holte den kleinen Bund hervor. Sofort lief mein Bruder rot an und nahm den Schlüssel stotternd entgegen. „Danke… ich… hier.“ Er streckte ihn mir entgegen und ich wandte mich ab. Sie passten zueinander wie ein Ei zum Anderen. Sie ergänzten sich perfekt. Die Größe stimmte. Das Aussehen. Der Charakter. Und gerade das störte mich maßlos. Yamato wurde von Taichi verehrt, ja, geradezu angehimmelt und er merkte es nicht! Wie konnte das nur sein? Wie hatte Yamato es nur verdient, nach all den Jahren der Untätigkeit, als Außenseiter, jemand, der sich nie darum bemüht hatte, von den anderen Menschen gemocht zu werden, von jemandem wie Taichi Yagami angebetet zu werden?! Das war nicht fair. „Ich geh dann mal nach Hause“, meldete Taichi sich wieder zu Wort. Es kostete mich Überwindung, mich jetzt wieder umzudrehen, aber zu meinem Glück küssten sie sich nicht. Auch wenn Taichi so aussah, als ob er es liebend gerne getan hätte. Sein Blick blieb kurz an Yamatos Lippen hängen und ein leises Seufzen entfloh ihm. Yamato hob nur eine Hand zum Abschied und scheuchte mich dann ins Treppenhaus, ohne sich noch einmal umzublicken, während ich in der Spiegelung der Glastüre Taichis sehnsüchtigen Blick sehen konnte. Unglaublich, aber Yamato kapierte es wirklich nicht. Manchmal war ich mir nicht mehr so sicher, wer hier der Jüngere von uns beiden war. Solch eine Naivität legte ich sicherlich nicht an den Tag. Schweigend gingen wir die endlos vielen Treppenstufen hinauf. Yamato ging langsam, aber ich wusste, dass das ausnahmsweise nicht daran lag, dass er jede Art von Sport verabscheute, selbst total tollpatschig, unsportlich und faul war, sondern daran, dass er erschöpft war. Ich beobachtete ihn von der Seite und erst jetzt fielen mir die dunklen Ringe unter seinen Augen auf, die bleiche, fast schon weiß-leuchtende Haut. Würde er das Gespräch noch durchhalten, oder würde er mir jeden Moment vor Müdigkeit in Ohnmacht fallen? Als ich die Türe aufsperrte, lehnte Yamato sich an den Türrahmen und schloss die Augen, wartete geduldig, bis ich sie geöffnet hatte und hindurch getreten war. Dann erst folgte er mir, schloss sie hinter sich und legte den Riegel vor. Ich wollte gerade den Mund aufmachen und sagen, dass Dad noch nach Hause kam, da nickte er beiläufig zur Garderobe. Dort standen schon ein paar Schuhe. „Er ist schon zu Hause.“ Ich verschluckte meinen eigenen Kommentar. Mir selbst wäre das nie aufgefallen. „Willst du noch was Essen?“, fragte Yamato, während er seine Jacke auszog und aufhängte. Ich schüttelte den Kopf, erwiderte: „Nein. Taichi und ich haben was gegessen, bevor wir zu dir gekommen sind. Wir dachten nicht, dass du schon so früh wieder wach bist. Die Ärztin sagte, dass es Stunden dauern wird. Sorry. Hätten wir gewusst, dass du schon wach bist, hätten wir dir was mitgenommen.“ „Kein Problem“, sagte er leise und unterdrückte ein Gähnen. „Ich hab keinen Hunger.“ „Du hast seit… gestern Abend nichts mehr gegessen“, erinnerte ich ihn, ritt allerdings nicht weiter auf der Sache herum, als er gleichgültig mit den Schultern zuckte. Yamato war zu dünn, mir fiel es auf und er wusste es auch, aber wenn er nichts Essen wollte, konnte ich ihn nicht dazu zwingen. Er war sturer als ein Esel. Er verschwand im Bad und ich ging ins Wohnzimmer. Dort lag die Fernsehzeitung aufgeschlagen auf dem Sofa und ein dreckiger Teller, samt Besteck, stand noch auf dem kleinen Tisch davor. Also war Dad wirklich schon da. Ich rückte den Teller beiseite, legte die Füße auf den Tisch und wartete darauf, dass mein Bruder wieder kam. Lustlos schaltete ich den Fernseher ein, sah mir eine Sendung über Hunde im Tierheim, das neueste Video von Dir en Grey und eine Kochshow über die Vorteile von Wasabi an. Bis Yamato zurück kam, musste ich kurz eingenickt sein. Das vorsichtige, liebevolle Rütteln an meiner Schulter, das sanfte Streichen über meine Haare, mit dem er mich jeden Morgen weckte, und mein leise geflüsterter Name holten mich wieder in das Hier und Jetzt zurück. Ich schlug die Augen auf und sah zu ihm hoch. Er stand vor mir, in der schwarzen Boxershorts und dem großen, lila T-Shirt. Es gehörte mal mir, aber mittlerweile war es mir zu klein. „Du solltest ins Bett gehen“, sagte er leise, reichte mir die Hand und zog mich hoch. Wobei ich ihn eher zu mir herunter zog. „Yama, ich würde gerne noch mit dir über was reden“, erwiderte ich hastig, setzte mich wieder hin und drückte ihn neben mir auf die Sofakissen. Überrascht sahen mir die blauen Augen entgegen. „Worüber?“ „Über…“, ich zögerte. „Über Mum, Yama.“ Seine Lippen verengten sich zu einem dünnen Strich, ansonsten blieb sein Gesicht ausdruckslos. „Wieso?“, fragte er tonlos. „Weil… ich würde einfach gerne etwas über sie wissen wollen“, sagte ich lahm, suchte nach den richtigen Worten. Was sollte ich denn auch schon sagen? Dass ich wollte, dass er nicht weiterhin mehr wusste, als ich? Dass ich es unfair fand, dass er Mum so gut gekannt hatte und ich nicht? Dass ich ihn in gewisser Weise dafür hasste, dass er nicht selbst darüber sprach? Dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, glaubte, ein mieser Sohn zu sein, weil ich so selten an sie dachte?! Niemals. „Du hast mir nie erzählt, wie sie war. Und Dad auch nicht.“ „Dad redet nie über sie“, warf Yamato grimmig ein. „Ja, aber du auch nicht“, erwiderte ich scharf. „Ihr beide verliert nie ein Wort darüber. Aber ich würde es nun mal gerne wissen, schließlich war sie auch meine Mum. Und da ist es wohl nicht zu viel verlangt, ein bisschen was über sie erfahren zu wollen, oder?“ Eigentlich hatte ich gar nicht so wütend reagieren wollen, aber ich spürte, wie Yamato auf Distanz ging. Er schottete sich von mir ab, er wollte nicht mit mir reden. So wie immer. „Doch“, sagte er kühl und ich stutzte. „Jetzt schon. Es ist spät, ich hatte einen anstrengenden Tag und ich würde jetzt gerne schlafen. Noch… so was, kann ich nicht noch mal gebrauchen.“ Er erhob sich und wandte sich von mir ab, ging aus der Türe und ließ mich einfach hier sitzen. In mir buhlten Ungläubigkeit, Verwirrung und Wut um die Macht und am Ende, war es die Wut, die siegte. Wie immer. Wieso wollte er nicht mit mir darüber reden? War es wirklich so tragisch, dass ich erst nach etlichen Jahren nach ihr fragte? Aber sie war meine Mutter… irgendwer musste mir doch etwas über sie sagen können. Ich wollte wissen, wie sie gewesen war, was sie gemocht hatte… ob sie mich gemocht hatte. War mein schlechtes Gewissen unbegründet? Herrgott, ich wusste ja noch nicht einmal wie sie gestorben war. Dad meinte immer, es sei ein Herzinfarkt gewesen, aber an manchen Tagen, war es auch ein Gehirntumor oder ein drittes, tödliches verlorenes Kind. Yamato reagierte auf keine dieser Fragen. Wenn ich ihn darauf ansprach, verstummte er, ging aus dem Raum oder zeigte mir für mehrere Stunden die kalte Schulter. Genauso wie jetzt. Sauer setzte ich mich gerade hin, starrte auf den Fleck, an dem mein Bruder geraden noch gesessen hatte und stand dann ebenfalls auf. So einfach würde ich ihn jetzt nicht davon kommen lassen! Ich lief ihm hinterher, erwischte ihm im Bad. Er lehnte an der Wand, putzte sich die Zähne und öffnete träge ein Auge, als ich eintrat. Zwar schien er zu ahnen, was ich vorhatte, tat aber nichts, um es zu verhindern. Wieder mit geschlossenen Augen wartete er ab, bis ich etwas sagte. „Ich will es wissen.“ „Ich weiß“, sagte er leise, ging zum Waschbecken und spülte sich den Mund aus. Mit einer raschen Bewegung hatte er sich etwas Wasser ins Gesicht gespritzt und trocknete es an einem der weißen Handtücher ab. Als er wieder zu mir sah, waren die dunklen Ringe unter seinen Augen nur noch deutlicher. Plötzlich fühlte ich mich unwohl. „Dann erzähl mir was“, forderte ich dennoch, sah überrascht, dass er den Kopf schüttelte. „Geh zu Dad und frag ihn.“ „Der wird mir nie was sagen“, erwiderte ich grimmig. „Du weißt doch, wie er ist.“ „Momentan ist er angetrunken und würde dir wahrscheinlich sogar von seinen verschiedenen One-Night-Stands erzählen, wenn du’s geschickt genug anstellst“, sagte er und fügte auf meinen verwirrten Blick hinzu: „Ich hab die Bierflaschen gesehen, als ich vorhin in der Küche war. Du hast im Wohnzimmer geschlafen, ich wollte dich erst wecken, wenn ich damit fertig bin.“ Mit damit meinte er das all abendliche Putzen in Küche, Wohnzimmer und eigentlich auch in Dads Zimmer, wenn dieser nicht zufällig zu Hause war. Manchmal bewunderte ich ihn wirklich dafür. Für die Dinge, die er alle tat, ohne sich je ein einziges Mal zu beschweren, dabei warf er den gesamten Haushalt für drei Männer, von denen zwei hoffnungslose Chaoten waren. Er kochte, putzte, wusch, räumte auf, erledigte nebenbei noch meine Aufsätze, wenn ich sie mal wieder nicht auf die Reihe bekam, und schaffte es trotzdem, der beste Schüler in seinem Jahrgang zu sein. Wie machte er das nur? „Nacht, Takeru“, hörte ich noch seine leise Stimme, dann fiel die Badezimmertüre hinter ihm auch schon ins Schloss und ich stand alleine in dem kalten Raum. Die weißen Fließen mit den schwarzen Mosaiken blickten mir leblos entgegen, wie tausende Pfauenaugen. Ich wandte mich ab, starrte mein Spiegelbild an. Meine Haut war blass, die wenigen Sommersprossen um die Nase, die man sonst eigentlich nie sah, zeichneten sich jetzt deutlich ab. Auch ich sah fertig aus. Aber ich konnte nicht an Schlaf denken. Ich wollte unbedingt etwas über Mum herausfinden. Dieses plötzliche Interesse konnte ich mir selbst nicht richtig erklären. Vielleicht lag es daran, dass Taichi mich mit seinen Fragen darauf gebracht und mich der Gedanke nicht mehr losgelassen hatte. Vielleicht auch daran, dass wir letzten im Religionsunterricht das Thema Familie durchgenommen hatten und sagen mussten, was wir uns unter einer perfekten Familie vorstellten. Niemand hatte einen Dreimännerhaushalt erwähnt, in dem der eigentlich Schwächste für alle bürgen musste. Seufzend steckte ich mir die Zahnbürste in den Mund, beobachtete die ganze Zeit mein Ebenbild vor mir. Es sah zurück, traurig und niedergeschlagen. Kurz huschte ein Flimmern durch die blauen Augen, dann starrte es wieder genauso trostlos zurück, wie zuvor. Ich sah schrecklich aus. Als ich mich rasch umgezogen hatte, schlich ich mich durch die dunkle Wohnung und tastete mich zu Yamatos Zimmer durch. Unter der Türe drang schwaches Licht hervor, zeigte mir, dass er noch längst nicht schlief. Und war eine schöne Geschichte über die eigene Mutter nicht das Beste zum Einschlafen? Vorsichtig öffnete ich die Türe. Yamato lag im Bett, sah nicht auf, als ich eintrat. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, den Blick zur Decke gerichtet. Im Hintergrund lief leise Musik, die ich nicht identifizieren konnte. Das T-Shirt war ein Stück nach oben gerutscht, entblößte die blauen Flecken auf dem flachen, weißen Bauch. Ich unterdrückte die Frage, wer ihn schlug. Darauf hatte er mir damals schon nicht geantwortet und ich glaubte nicht daran, dass er es jetzt tun würde. Außerdem hatte Taichi mir versprochen, auf ihn Acht zu geben und so oft, wie die beiden einander in der letzten Zeit sahen, würde ihm sowieso nichts passieren. „Wie sah sie aus?“, fragte ich ohne Umschweife und setzte mich auf sein Bett. Er blickte ungerührt zu mir und sagte nach einer Weile: „Oma hat doch so viel über sie erzählt, wieso hast du dir das nicht gemerkt?“ „Weil Oma Dinge aus Mums Kindheit erzählt hat“, klärte ich ihn zähneknirschend auf. „Das ist etwas ganz anderes.“ „Wirklich?“ „Ja.“ Yamato setzte sich auf, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Stützte den Kopf auf den Knien ab. Seine Augen waren gen Boden gerichtet, aber er schien mir aufmerksamer als sonst. „Also gut“, sagte er leise. „Was willst du wissen?“ „Wie sie aussah“, wiederholte ich und er antwortete ohne Umschweife: „Genauso wie du. Nur mit längeren Haaren, größeren Augen und… eben als Frau.“ „Echt?“, fragte ich überrascht und verlegen zugleich. Die wenigen Fotos, die ich von ihr kannte, und die weder Dad noch Yamato zerrissen hatten, zeigten sie, als sie mit Yamato schwanger war und das auch nur aus der Ferne oder leicht verwackelt, wie das Bild auf meinem Schreibtisch. „Ja.“ „Und… was machte sie gerne so?“ „Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern“, räumte Yamato ein. „Aber ich weiß, dass sie gerne gelacht hat. Und, dass sie ganz fasziniert von deinen kleinen Füßen und Händen war.“ Seine Stimme versagte im den Dienst und er musste heftig schlucken, bevor er weiter sprach. „Sie lachte über alles. Sie war froh, dass ich so gut in der Schule war, aber…“ „Was aber?“ „Sie sagte, dass… die Pandabären nur vom Aussterben bedroht sind, weil sie immer so viel alleine sind. Wenn die Pandabären geselliger wären, hätten sie keine Probleme mit dem Überleben.“ Ich brauchte einige Sekunden um zu begreifen, was er damit meinte. Zuerst dachte ich, dass er mir eine Anekdote aus einer Geschichte zitierte, aber dann kam mir die Erkenntnis, dass Mum das wahrscheinlich im Bezug zu ihm gesagt hatte. Der Vergleich war in gewisser Weise passend. Yamato war schon immer alleine gewesen, so weit ich mich zurück erinnern konnte. Er hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem einsamen Pandabären, der alleine durch die Gegend streifte und jeglichen Kontakt mit anderen Menschen vermied. Mit gefiel diese Metapher. Nicht nur, weil ich Pandabären mochte, sondern weil es mir zeigte, dass Mum intelligent gewesen war. Sie hatte schon früh erkannt, was für ein Eigenbrödler Yamato war. „Und sie sagte, dass du den Fußball essen würdest, wenn du könntest. Oder deine Freunde. Sie war begeistert davon, was du alles lustig fandest und wen du alles geliebt hast. Sie meinte, dass du einmal sehr groß raus kommen würdest, weil die Leute so jemanden wie dich lieben. Außerdem hast du alle zum Lachen gebracht. Sie auch.“ Ich musste unwillkürlich lächeln. Mum wurde mir immer sympathischer. Es war gut gewesen, dass alles zu fragen. Es gab keine bösen Überraschungen, wie in meinen Alpträumen und Yamato brach auch nicht in Tränen aus. „Du warst in ihren Augen ein Held. Jemand, der anderen Leuten Mut machen kann. Wusstest du, dass das ein französisches Sprichwort ist? Wirkliche Helden, sind die Leute, die anderen Mut machen können. Sie hat es geliebt“, sagte Yamato tonlos und starrte auf seine Hände. „Manchmal war sie wütend darüber, weil du etwas mit deinem Fußball kaputt gemacht hattest, aber sie hat dir schnell verziehen.“ Er hörte auf zu reden und streichelte mit den Fingern der einen Hand den Handrücken der Anderen. Mir fiel auf, dass er zitterte. Ganz leicht. „Yama, ich…“, fing ich unsicher an, aber er würgte mich mit einer unwirschen Handbewegung ab. „Wenn du noch mehr wissen willst, frag mich ein anderes Mal“, sagte er und legte sich hin. Zog sich die bis zur Nase hoch und drehte mir den Rücken zu. Mit einer Hand ertaste er den Lichtschalter und löschte das Licht. Ich fühlte mich plötzlich unglaublich schlecht, das Hochgefühl schwand. Natürlich, jetzt wusste ich mehr über Mum, aber Yamato… er machte auf mich den Eindruck, dass er mir das nur erzählt hatte, weil er sich dazu gezwungen fühlte. Und, dass es ihm alles andere als leicht fiel. „Ich bin müde. Nacht.“ „Yama, ich wollte dich wirklich nicht… es tut mir leid“, sagte ich, wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Schließlich wusste ich noch nicht einmal, was genau ich falsch gemacht hatte. Vorsichtig legte ich eine Hand auf seine Schulter und streichelte über den Stoff, aber schon nach ein paar Sekunden schüttelte er mich ab. „Es muss dir nicht leid tun“, erwiderte Yamato entnervt. „Aber ich hab dir ’was erzählt und jetzt würde ich gerne schlafen. Gibt’s noch irgendetwas unglaublich Wichtiges, was nicht bis morgen warten kann?“ Die beste Antworte wäre jetzt wahrscheinlich nein gewesen. Ihn nicht noch mehr zu verärgern oder zu kränken oder was auch immer. Aber ich konnte es nicht. Trotz des schlechten Gefühls, wuchs in mir die Neugierde. Es gab so viel, was ich noch wissen wollte, aber nicht fragen konnte. Welche Frage war die Wichtigste? Hastig ging ich sie im Kopf durch, entschied mich dann. Es war sicherlich nicht das, was Yamato erwartet hatte und für diese Uhrzeit war sie sicherlich auch etwas zu unangenehm. „Wie ist sie gestorben?“, platzte ich doch noch heraus. Yamato zuckte zusammen und zog die Decke noch ein Stück höher. „Das weißt du doch“, wehrte er ab. „Nein, weiß ich nicht. War es jetzt der Herzinfarkt, der Gehirntumor oder der hohe Blutverlust, als das Baby gestorben ist?“ Ich war penetrant und ich merkte es. Aber ich hörte nicht auf. Es war mir zu wichtig. Yamato schluckte hörbar. „Das… ist doch vollkommen unwichtig, Takeru.“ „Für mich nicht.“ „Wieso? Damit du dir genau vorstellen kannst, wie sie gestorben ist? Damit das die letzten Bilder sind, die du von ihr hast?“, fauchte er mich an, zog die Beine an den Körper und fuhr die unsichtbare Mauer hoch. Er schottete sich ab, wollte nicht, dass ich erfuhr, was er gerade wirklich dachte. „Du scheinst sie doch jetzt so sehr zu mögen, mach es dir dadurch nicht kaputt.“ „Yama, an was?!“, langsam aber sicher machte mich das ganze nervös. Seine Worte trugen nicht dazu bei, dass es mir besser ging. Was war damals nur geschehen? Wieso wollte er es mir nicht erzählen? Es war mein Recht, verdammt! Ich war genauso ihr Sohn, wie er. Yamato besaß keine Sonderrechte, nur weil er als erster geboren war und sie besser kannte. Ich hatte ja nie die Möglichkeit gehabt, es zu tun. „Das ist unwichtig.“ „Nein, das ist es nicht.“ „… hör zu, ich gebe dir jetzt das Fotoalbum und dann lässt du mich mit dieser dämlichen Frage in Ruhe, verstanden?“, er richtete sich mit einem Ruck auf und sah mich an. Ich konnte seinen bösen Blick förmlich spüren, wie er mich fraß und mich zu einer kleinen Kugel zusammen schrumpfen ließ. „Welches Foto…?“, fing ich leise an, aber er ließ mich erneut nicht ausreden. „Nimmst du das Angebot jetzt an, oder nicht?“, fragte er unwirsch zurück. Als ich unsicher nickte, schlug er die Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. So sicher, wie als würde das Licht brennen, ging er im Dunkeln durch sein Zimmer und ich konnte hören, wie Schubladen heraus gezogen wurde. Yamatos alter Schreibtisch ächzte bei jeder Bewegung, gab einen lauten, kläglichen Laut von sich, als er etwas Großes darauf legte. Ich spürte, wie er auf mich zu kam und spürte einen Moment später seine langen Finger, die meinen Arm hinab fuhren und mir etwas in die Hand drückten. Ich fuhr an den Rändern entlang, merkte überrascht, dass es wirklich ein Fotoalbum war. Die dicken Seiten, die dünnen, transparenten Trennblätter und der in Leder gebundene Einband. Was da wohl drin war? Neugierig wollte ich es schon aufschlagen, doch Yamato verhinderte dies mit einem mürrischen Brummen. „Sieh es dir in deinem Zimmer an“, sagte er und kroch wieder ins Bett. „Wenn du willst, kannst du es haben.“ „Ich, danke…“, wortlos starrte ich zu der schwach umrissenen Silhouette meines Bruders, aber er regte sich nicht. Reagierte nicht auf meinen Gutenachtgruß und sagte selbst dann nichts, als ich leise die Türe hinter mir schloss und mich auf den Weg zu meinem Zimmer machte. In der Wohnung war es nun stockdunkel, da kein Licht mehr unter Yamatos Tür hindurch schimmerte und ich stieß mir mehrmals schmerzhaft das Knie. Aber ich traute mich nicht, jetzt das Licht anzumachen. Erstens würde sonst wahrscheinlich Dad aus seinem Zimmer kommen und momentan verspürte ich nicht die geringste Lust, mich mit ihm zu unterhalten. Und zweitens wollte ich das Album erst sehen, wenn ich in meinem Bett saß und genügend Zeit hatte, es zu betrachten. Leise schloss ich die Türe hinter mir, tastete mich blind zu meinem Bett und ließ mich auf die weiche Bettdecke fallen. Erst da merkte ich, wie müde ich selbst war, aber ich konnte jetzt noch nicht schlafen. Entschlossenen suchte ich nach meiner Nachttischlampe und einen Wimpernschlag später erleuchtete schwaches Licht mein Zimmer. Ich kroch unter die Bettdecke, überkreuzte die Beine und hob das Fotoalbum auf meinen Schoß. Es war ziemlich schwer. Auf dem roten Einband stand in goldenen Lettern: Natsuko Ishida (geb. Takaishi) 1960 – 1989 Es war Yamatos saubere, verschnörkelte Handschrift, das wurde mir sofort bewusst. Behutsam, wie als könnte es jeden Moment zu Staub zerfallen, klappte ich den Deckel auf und blickte auf das Deckblatt, das mit einem großen Bild einer blonden Frau verziert war. Im Hintergrund waren Sakurablüten zu sehen. Mum. Yamato hatte Recht, ich sah wirklich so aus wie sie – er natürlich auch, aber sie hatte dieses Funkeln in den Augen, was Yamato fehlte. Sie wirkte glücklich, lebensfroh. Eigenschaften, die ich leider noch nie bei meinem Bruder gesehen hatte. Überrascht stellte ich fest, dass auf den ersten Fotos ich zu sehen war. Als kleines Baby, mit winzigen Füßen und kleinen Händchen. Unwillkürlich musste ich lächeln. Unter jedes Bild hatte Yamato den Namen, das Datum und den Ort dazu geschrieben. Bei manchen fehlte der Ort, aber ich wahrscheinlich konnte er sich bei diesen nur nicht mehr daran erinnern. Die Bilder mit meiner Mum waren schön. Sie war schön. Ich war nie nah am Wasser gebaut gewesen, aber als ich auf meine Hände sah, musste ich feststellen, dass sie zitterten. Die erste Hälfte hatte ich schon fast durch, die Fotos wurden zahlreicher, immer mehr Schnappschüsse und leicht verschwommene Bilder, wie als wäre es Yamato plötzlich egal gewesen, wie sie aussahen. Hauptsache er konnte den Moment festhalten. Auf einigen erkannte ich den kleinen, lächelnden Yamato. Mal mit mir, mal mit Dad, mal mit Mum. Kurz vor dem Ende, stoppte ich. Es standen keine Titel mehr unter den Bildern und falls doch, war die Handschrift zittrig und schludrig geworden. Ich erinnerte mich an Yamatos Worte und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich die letzten Bilder noch sehen wollte. Ich atmete tief durch und schlug sie auf. Es war… nichts Besonderes. Nichts Großartiges. Auf weißem Hintergrund klebte das Bild, mit dem das Album eingeführt worden war. Die rosa Blüten im Hintergrund, das lächelnde Gesicht, umrahmt von blonden Haaren. Darunter stand nur ein Wort; Mum Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Strich, ausgehend von einem rostbraunen Fleck. Ich fuhr darüber, fühlte die raue Beschaffenheit. Der Fleck wirkte hypnotisierend, es gab nichts anderes auf dem weißen Grund. Ich konnte einfach nicht mehr wegsehen. Dennoch schlug ich es mit aller Willenskraft zu und legte es weg. Mein Atem ging flach und in meinem Kopf schwirrte es. Schlaf würde ich jetzt sicherlich nicht finden, aber ich schaltete trotzdem das Licht aus und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere, gab es irgendwann auf und starrte in die Dunkelheit. Und nach all den Jahren, in denen ich angenommen hatte, dass meinen Bruder keine Alpträume mehr quälten, hörte ich ihn im Schlaf schreien. Part X END ♠ Sorry, dass es mit dem Kapitel jetzt noch länger gedauert hat als normalerweise. Ich bin jetzt in der Übergangsklasse (was aus Bayern, wer nicht weiß, was das ist, soll fragen ;)) und da ist es momentan sehr stressig. Zudem haben wir zu W-LAN gewechselt (Yay xD) und da hatte ich eine Zeit lang kein Internet. Dafür ist es ab jetzt besser als zuvor ^-^ Thanks a lot natürlich für die lieben Kommentare zum letzten Kapitel und (um gleich mal das zu klären, was einige gestört/verwirrt/was auch immer hat ;)): Also, Herr Fuji war so unsympathisch, weil Yamato ihn so empfunden hat. Wer weiß, vielleicht fanden Takeru und Taichi gar nicht, dass er all zu unfreundlich war (das wissen wir ja nicht), aber YAMATO hat das eben gedacht - weil es aus Yamatos Sicht war. Wenn ich auktorial schreiben würde, wäre das vielleicht anders rüber gekommen. Aber dieser Erzählstil bindet sich nun mal allein an die Empfindungen EINER Person, nicht an die der anderen. Und um gleich mal sämtliche Hasstiraden gegenüber Takeru abzuwenden (denn ich mag den Süßen immer noch :D): Er war es NIE gewöhnt, teilen zu müssen. Er bekam immer alles, weil Yamato und sein Vater ihm alles gegeben haben. Und vor allem, sogar als Wichtigstes, musste er Yamato nie teilen, weil Yamato nie zuvor richtige Freunde hatte und immer nur für ihn da war. Und jetzt, wo er zu seinem Glück, sich mit Taichi angefreundet hat, verliebt sich gerade sein Idol, also Taichi, in Yamato (!). Jetzt muss er nicht nur mit der Zurückweisung von Taichi klarkommen, weil der sich lieber mit seinem Bruder beschäftigt, sondern auch mit der Tatsache, dass Yamato, der ja sonst immer nur für ihn da war, plötzlich so viel mit Taichi unternimmt. Ihn also praktisch vernachlässigt - aus seiner Sicht. Ich hoffe, das erklärt sein egoistisches und vielleicht ein bisschen trotziges Verhalten :D Ich hoffe, ihr hattet alle sehr schöne, erträgliche und vor allem friedliche Weihnachten und ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr! Alles Liebe, Nikolaus PS: Wieso weiß Takeru nicht, wie seine Mum gestorben ist? - Tja, das kommt später noch raus. Und ja, er weiß es wirklich nicht. Aber das wird alles noch aufgeklärt... :3 Kapitel 11: When The Tides Come (Yamato) ---------------------------------------- gebetat by ~ Yamatos POV ~ Gleißend schien die Sonne vom Himmel, ließ die rosa Blüten an den Bäumen aufleuchten und gab der blonden Woge um Mums Kopf einen goldenen Schimmer. Sie saß auf der Picknickdecke und malte zusammen mit Takeru in ein kleines Malbuch. Ihre Zeichnungen waren schöner, aber Takeru schien mehr Spaß an der Sache zu haben. Seine kleinen Finger umfassten fest den Buntstift und malten in weiten, kreisenden Bewegungen etwas auf das weiße Papier, während Mum sorgfältig eine Rose in die linke Ecke malte. Sie fing an zu lachen, als Dad meinte, dass Takerus Talent zum Malen genauso beschränkt sei, wie sein Talent zum Kochen. Dads Haar war an manchen Stellen grau geworden und die Geheimratsecken wurden größer. Mum meinte dazu immer, dass es etwas habe. Es verleihe ihm einen Schein von Weisheit. Er selbst mochte sie nicht, hatte es allerdings schon lange aufgegeben, sich die anderen Haare darüber zu kämmen. Zudem hatte Takeru sowieso bei jeder Gelegenheit seine kleinen Hände in seinem Haar und machte jede Mühe zu Nichte. Ich drehte mich auf den Rücken und schloss die Augen. Die Sonne schien durch meine Lider und ließ bunte Punkte vor meinem inneren Auge entstehen. Aber ich genoss die Wärme, das Gefühl, nichts zu tun zu müssen. Es war gut, so wie es war. Niemand verlangte etwas von mir und ich musste mich auch nicht an dem Gespräch von Mum und Dad beteiligen, oder mich mit Takeru beschäftigen. Nicht, dass ich nicht gerne etwas mit meinem Bruder machte, aber er war… laut. Ein kleiner Wirbelwind, den man nicht bändigen konnte. Es wurde mir manchmal einfach zu viel mit ihm. „Schatz, du bist doch nicht etwa schon wieder müde, oder?“, fragte Mum und strich mir durch das Haar. Ich konnte das Lächeln auf ihren Lippen praktisch hören. Wortlos schüttelte ich den Kopf, drehte mich auf den Bauch und sah zu ihr auf. „Willst du nicht mit Takeru etwas malen?“ „… nein.“ Sie seufzte. Nicht böse, eher so, als ob sie gewusst hätte, dass ich das antworten würde, und es sie ein bisschen amüsierte. „Soll ich dir mal was erzählen, Yamato?“, fragte sie, legte ihren Stift beiseite und ließ Takeru alleine weiter malen. Er schien sich nicht daran zu stören, war ganz bei der Sache und gab vergnügte Laute von sich. Dad beobachtete ihn mit einem seligen Lächeln. „Was?“, stellte ich die Gegenfrage und konnte meine Neugierde nicht verbergen. Mum konnte wunderschöne Geschichten erzählen. Sie schmückte sie mit allen Dingen aus, erschuf eine unglaubliche Illusion, und am Ende, hatte ich jedes Mal das Gefühl, wieder gewaltsam in die Realität zurück gezogen zu werden. „Von dem Pandabären Yama“, sagte sie und es freute mich, dass er meinen Namen hatte. Den Spitznamen, den ich anfangs überhaupt nicht gemocht hatte, war auf ihrem Einfallsreichtum gewachsen und es durften mich auch nur sie und Takeru so nennen. Sie, weil sie alles durfte, und Takeru, weil ich ihn lieb hatte und er meinen richtigen Namen öfters falsch aussprach. Dad durfte es nicht, aber ich wusste auch so, dass er niemals das Bedürfnis danach verspürte. „Ja!“ „Also gut“, sie legte sich neben mich und pflückte eine Blume aus, die sie mir in die Hand drückte. Leicht verwirrt betrachtete ich sie, behielt sie aber, weil Mum sie mir gegeben hatte. Alles was sie mir gab, hatte in irgendeiner Weise einen wichtigen Sinn und war kostbar. „Es war einmal ein kleiner Pandabär mit dem Namen Yama. Er aß den ganzen Tag Bambusblätter und wanderte alleine durch die Wälder. Manchmal traf er auf einen anderen Pandabären, aber sobald dieser sich dazu anschickte, ein Gespräch zu beginnen, ergriff Yama die Flucht. Er mochte die Einsamkeit. Eines Tages kam eine schöne Pandabärdame zu ihm und sagte ihm, dass er ein wunderschönes Fell habe. So ein wunderschönes habe sie noch nie gesehen. Yama fühlte sich geschmeichelt, aber er verstand nicht ganz, was sie wollte. Auch nicht, als sie ihm sagte, dass es eine Schande wäre, es dies nicht weiter zu vererben. Als die Dame merkte, dass Yama nicht wirklich Wert auf ihre Gesellschaft legte, ging sie davon. Yama störte es nicht. Er lebte so weiter, wie bisher. Dann kam er eines Tages an einen großen Abgrund. Überall war rutschiges Geröll, aber Yama wollte unbedingt auf die andere Seite, also stieß er einen Baumstamm um und balancierte darüber. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und kippte zur Seite. Verzweifelt hielt er sich fest und rief um Hilfe, aber es war niemand außer ihm da. Bald konnte er sich nicht mehr halten und stürzte hinab. Und so ein schönes Fell hat bisher kein anderer Pandabär mehr gesehen.“ Sie beendete die Geschichte, indem sie ihre Stimme senkte und mich ansah. Erwartungsvoll und auch etwas traurig. Ich sah weg. Es bestürzte mich nicht wirklich, dass der Pandabär am Ende gestorben war. Ich mochte keine kitschigen Märchen und deshalb erzählte Mum mir auch keine von dieser Sorte. Dass, was mich störte, war die Tatsache, dass er hauptsächlich schlechte Eigenschaften hatte, obwohl er meinen Namen trug. Normalerweise hatten die Figuren mit meinem Namen ein aufregendes Leben und retteten die Welt, dieser hier starb am Ende. Einsam und ungeliebt. Es gefiel mir nicht. Die Geschichte hatte einen beunruhigend anklagenden Nachgeschmack. „Pandabären sind vom Aussterben bedroht, Yama“, sagte Mum nach einer Weile. „Weil sie immer so viel alleine sind und die Einsamkeit suchen. Ich denke, wenn sie etwas geselliger wären, hätten sie kein Problem mit dem Überleben. Was meinst du, Schatz?“ „Keine Ahnung“, murrte ich beleidigt und drehte mich wieder auf den Rücken. Mir war vollkommen klar, dass sie damit darauf anspielte, dass ich so wenige Freunde hatte und auch nicht versuchte, es zu ändern. Aber ich mochte die anderen Kinder nun mal einfach nicht. Was sollte ich denn dagegen tun? Außerdem war ich erst vor Kurzem sieben geworden, da konnte sich noch so vieles ändern. Wer wusste schon, ob ich später vielleicht nicht ganz viele Freunde haben würde? „Willst du nicht zu mit Takeru auf den kleinen Spielplatz gehen?“, versuchte sie es weiter und spielte mit meinen Haarsträhnen. „Da findet ihr sicher noch ein paar andere Kinder zu spielen. Dann wird es euch hier nicht so langweilig.“ „Mir ist nicht langweilig“, erwiderte ich. „Aber Takeru vielleicht“, hielt sie dagegen. „Dem auch nicht. Er malt.“ „Bitte, Yama“, flehte sie. Ich murrte leise und rappelte mich hoch. Krabbelte zu meinem kleinen Bruder und nahm ihm den Stift aus der Hand. Er sah mich anschuldigend an. „Komm schon, Takeru“, sagte ich und lächelte ihn an. „Wir gehen auf den Spielplatz.“ „Wirklich?“, er grinste begeistert und ließ sein Malbuch unbeachtet auf der Decke liegen. „Toll! Kommen Mama und Papa auch mit? Sind da andere Kinder?“ „Nein, TK“, sagte Mum lächelnd und strich mir durchs Haar, gab mir einen Kuss auf die Stirn und tat bei Takeru das Selbe. Ich mochte es, auch wenn ich es nie sagen würde. „Wir kommen nicht mit. Aber ich bin mir sicher, dass da noch ganz viele andere Kinder sind. Und bleibt in der Nähe, wir wollen euch im Auge behalten können. Sobald was passiert, schreit ihr und kommt sofort zurück, ja?“ „Ja, Mama“, antworteten wir synchron und ich nahm Takeru bei der Hand. Sofort klammerte er sich an mich und ging ganz dicht neben mir, wie als hätte er Angst, ich könnte ihm davon laufen. Ich ging mit ihm zum Spielplatz und während er sich in den Sand stürzte und sofort mit ein paar Mädchen zu reden anfing, setzte ich mich auf einen umgefallenen Baum und stützte den Kopf auf die Hände. Spielplätze waren doof. Sandkästen waren doof. Picknicke, bei denen ich mit anderen Kindern spielen sollte, waren auch doof. Aber ich sagte nichts dagegen, es würde Mum nur unnötig weh tun. Seit sie in letzter Zeit so nah am Wasser gebaut war und ständig die runden Tabletten schluckte, schien sie generell etwas empfindlicher zu sein. Wahrscheinlich hatte sie mir deshalb die Geschichte mit dem Pandabären erzählt. Ich schabte mit der Fußspitze im Sand. Nach einer Weile setzte sich ein Junge neben mich. Er hatte schwarze Haare und braune Augen. Zuerst sagte er nichts, trommelte nur mit den Beinen gegen den Baumstamm. Dann sah er zu mir und fragte: „Wie heißt du?“ „Yamato“, sagte ich. Ich wollte mich nicht mit ihm unterhalten und hoffte, dass er bald wieder ging. Er schien zu merken, dass ich ihn nicht in meiner Nähe haben wollte. „Bist du traurig?“, fragte er. „Nein.“ „Willst… willst du nicht, dass ich da bin?“ „Ja.“ „Wieso?“, wollte er wissen und sah mich verwirrt an. Auf mein „Weil ich dich nicht mag“, sah er noch komischer drein. Seine Augenbrauen verschwanden unter dem schwarzen Haar. „Du kennst mich doch gar nicht“, sagte er sachlich. „Dann kannst du doch auch noch nicht wissen, ob du mich magst oder nicht.“ „Mir egal“, erwiderte ich desinteressiert und sah weg. „Du bist ganz schön öde, weißt du das?“, er klang ein bisschen beleidigt. Ich wusste, dass ich nicht nett gewesen war und wäre Mum jetzt hier, hätte ich mich sofort entschuldigen müssen, aber sie lag auf der Picknickdecke, ganz weit weg von mir. „Mir egal“, wiederholte ich. Mir fiel die Geschichte mit dem Pandabären ein, der sofort die Flucht ergriff, wenn jemand anderes mit ihm reden wollte. Ich ergriff nicht die Flucht. „Du bist ein Blödmann, Yamato“, sagte er sauer und stand auf. Ich hob kurz den Kopf und beobachtete, wie er mit großen Schritten davon ging. Irgendwie fühlte ich mich ein bisschen mies, weil ich so böse gewesen war. Aber ich hatte einfach nicht mit ihrem reden wollen. Er war einfach zur falschen Zeit gekommen. Und ich würde schon nicht alleine in einen Abgrund fallen, nur weil ich ihn jetzt weggeschickt hatte. Wir gingen erst wieder, als Takeru sich mit einem anderen Jungen in die Haare kriegte und sie sich zu hauen anfingen. Ich ging dazwischen, packte meinen kleinen Bruder am Arm und warf dem Jungen ein paar Schimpfwörter an den Kopf, die dieser nicht verstand. Er wich meinem bösen Blick aus und fiel zurück in den Sand, Takeru stapfte triumphreich neben mir daher. Mum machte ein erschrockenes Gesicht, als sie Takerus aufgeplatzte Augenbraue sah, aber im Nachhinein schien es nicht so schlimm zu sein. Wir liefen zurück zum Auto, luden die Sachen ein und Takeru und ich setzten uns auf die Rückbank. Dad lobte Takeru dafür, dass er sich das nicht hatte gefallen lassen, Mum hielt entrüstet dagegen. Ich schwieg, zog die Beine an und sah aus dem Fenster. Dads überschwängliche Reden gegenüber Takeru war ich gewohnt. Auf der Fahrt nach Hause war es ruhig. Aber gegen Ende, fing Mum an zu weinen und hörte auch nicht damit auf, als Dad anfing, sie anzuschreien. Takeru begann ebenfalls zu weinen, was Dad nur noch wütender machte. Er drückte mächtig aufs Gaspedal und fuhr uns in einem so raschen Tempo nach Hause, dass mir fast übel wurde. Die Landschaft raste nur so an uns vorbei, ein Gewirr aus Braun und Grün. Takeru hörte nach einer Weile auf zu weinen und schlief auf seinem Kindersitz ein, den großen, brauen Teddybären fest an sich gedrückt. Mum saß zitternd vorne aus dem Sitz, ein Taschentuch auf Nase und Mund gedrückt, und schluchzte unterdrückt. Dad machte ein grimmiges Gesicht, wie als wollte er nur schnell weg von hier. Seine Lippen waren ein schmaler Strich und sein Dreitagebart ließ ihn sehr alt aussehen. Mir war noch nie richtig aufgefallen, wie alt er war. Er bemerkte meinen Blick und sah mich aus dem Rückspiegel böse an. Ich schaute weg. Nach ein paar Minuten kamen wir mit quietschenden Reifen vor unserem Haus an. Ein kleines Haus, eigentlich nur für zwei Personen gedacht. Takeru und ich mussten uns ein Zimmer teilen. Ich mochte es eigentlich, aber wenn er mich bei den Hausaufgaben nervte, wünschte ich mir oft, ein eigenes Zimmer zu haben. Außerdem knarrte das obere Bett unseres Hochbettes, weil Takeru so oft darauf herum gesprungen war. Dad schaltete den Motor ab und Mum stürmte sofort aus dem Auto. Ich beugte mich zu Takeru hinüber und weckte ihn sanft. Er murrte und streckte mir seinen Teddy entgegen, in der stummen Aufforderung, ihn zu für ihn zu halten, während er den Gurt löste und aus dem Auto krabbelte. Ich nahm das Plüschtier entgegen und wartete. Es war ein ganz großer Vetrauensbeweis von Takeru, dass er mir Mr. Pepper gab, schließlich durfte ihn sonst niemand anfassen. Zusammen gingen wir ins Haus, Dad direkt hinter uns. Er versuchte mal wieder, Takeru davon zu überzeugen, dass große Jungen keinen Teddybären mehr brauchten, aber mein Bruder hörte nicht auf ihn, sondern nahm meine Hand und zog mich nach oben. Wir gingen zu dem Zimmer unserer Eltern und klopften an die Türe. Wir konnten ihre Stimme hören, aber ihre Worte waren nicht an uns gerichtet. Sie weinte, schrie auf und warf etwas gegen die Wand. Das hatte sie öfters. „Was ist mit Mama?“, fragte Takeru leise und drückte sich an meine Seite. „Ich glaube, ihr ist ein bisschen schlecht“, sagte ich. „Wir sollten sie besser in Ruhe lassen.“ „Aber sie weint“, erwiderte er. „Trotzdem“, ich zog ihn in unser Zimmer und während er anfing mit seinen Spielzeugautos auf der Rennbahn herum zu fahren, holte ich meine Gitarre aus der Ecke und übte. Mein Traum war es, einmal eine große Gitarre zu besitzen. Mit Metallseiten, Plektron und allem Drum und Dran. Möglicherweise auch eine E-Gitarre. Doch dafür brauchte ich Geld und Talent, deshalb übte ich jeden Tag. Takeru setzte sich nach einiger Zeit neben mich und hörte mir abwesend zu, während das leise Weinen von Mum durch die Wände drang. Dad telefonierte laut im Erdgeschoss. Wir verzichteten an diesem Abend auf das Essen, bis auf ein paar Schokoriegel und ein Butterbrot für den unersättlichen Takeru, gab es nichts. Nachdem wir uns die Zähne geputzt und uns umgezogen hatten, versuchten wir es noch einmal bei Mum, aber sie antwortete nicht. Unter der Tür schien kein Licht hindurch. „Komm“, sagte ich leise zu Takeru und nahm in bei der Hand. „Wir gehen schlafen.“ Er nickte. Ein lauter Schrei von unten ließ uns zusammen zucken. Ich schubste Takeru ins unser Zimmer und schloss die Türe. Er sah mich mit ängstlichem Blick an. Ich versuchte zu lächeln, aber es fiel unsagbar kläglich aus. Obwohl es Takeru nicht aufzuheitern schien, kletterte er nach oben in sein Bett und sah zu mir hinunter. „Schläfst du heute bei mir?“, fragte er. Ich zögerte. „Dad sagt doch immer, das machen große Jungen nicht.“ „Dad sagt auch, dass Mr. Pepper doof ist“, erwiderte er mürrisch. Ich schaltete das Licht aus und blieb einen Moment unschlüssig vor dem Hochbett stehen. Dann erklomm ich die ersten Sprossen und kletterte zu ihm ins Bett. Er machte ein glückliches Geräusch und drückte sich ganz fest an mich, schlang die Arme um meinen Oberkörper. Ich fühlte mich wohl. Zwar war es etwas peinlich, aber ich mochte es mit Takeru in einem Bett zu schlafen. Es beschützte mich vor Alpträumen und die Angst die in mir aufstieg, wenn die Schreie aus dem Nachbarzimmer ertönten, war nicht so schlimm, wie wenn ich alleine schlief. Ich drückte mich an ihn, zog die Decke bis zur Nase hoch. Der arme Mr. Pepper wurde zwischen uns erquetscht. Dann hörte ich den Knall. Mit einem lauten Schrei fuhr ich aus dem Schlaf. Mein Herz raste, pochte so laut, dass ich meinen flachen, hektischen Atem kaum hörte. Ich war von Schweiß durchnässt, meine nassen Haare, die Decke und das Laken klebten an mir. Mit bebenden Händen strich ich mir die Strähnen aus dem Gesicht, schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Wacklig stand ich auf, ging langsam zum Fenster hinüber und öffnete es. Kalte Luft schlug mit entgegen, der Schweiß auf meiner Haut fühlte sich an wie Eis. Ich atmete tief ein und lehnte mich zitternd an den Fensterrahmen. Es war einer der Träume gewesen, die mich eigentlich schon seit Jahren nicht mehr heimsuchten. Die Träume, die zwischen Schrecken und Glück, Dunkelheit und Licht hin- und her schwankten. Ich wusste nicht, ob das alles wirklich damals so passiert war, so genau konnte ich mich nicht mehr entsinnen, aber dass dies alles Realität gewesen war, wusste ich. Mum hatte mir wirklich die Geschichte erzählt, der Junge war am Spielplatz zu mir gekommen. Ich hatte bei Takeru geschlafen und den Schuss gehört. Es stellte sich heraus, dass Takeru den Schuss nie gehört hatte. Er war nur aufgewacht, weil ich mich plötzlich so hektisch bewegt hatte und aus dem Zimmer gerannt war. Als ich damals die Türe zu Mums Zimmer öffnete, war es dunkel. Nur das fahle Mondlicht schien in den Raum, enthüllte genügend, um sich für immer in meine Erinnerung zu brennen. Die Tabletten, die Mum früher genommen hatte, waren gegen ihre Schizophrenie gewesen, unter der sie erblich bedingt litt. Die Depressionen hatten sich daraus ergeben. Dad hatte nie wirklich damit umgehen können, war schnell aggressiv und wütend geworden. Der Tränenausbruch im Auto war wegen der Depression gekommen. Damals hatte ich das noch nicht gewusst, aber Dad hatte das alles dem Notarzt erzählt, der sie damals abgeholt hatte. Ich war mit ihm mitgefahren und nach einigem Zögern erzählte er es auch mir. Sie hatte sich mit der Waffe erschossen, die neben ihrem Kopf lag. Ein einziger Schuss, direkt ins Gehirn, sofortiger Tod. Ich hatte es nie begriffen, schließlich schien sie immer so glücklich. Aber innerlich war sie tausend Tote gestorben, die Stimmen hatten sie um den Verstand gebracht. Der Notarzt meinte, ich sei noch zu jung dafür und in gewisser Weise hatte er auch Recht, aber ich wollte es einfach Wissen. Die Neugierde der kleinen Kinder. Sie brachte mich jahrelang um den Schlaf. Auf Takerus Frage heute Abend, wie Mum gestorben sei, hatte ich nicht geantwortet. Aus einem ganz simplen Grund: Ich hatte die Freude in seinen Augen glänzen gesehen, die Sympathie für Mum, an die er sich nur noch so schemenhaft erinnern konnte. Er sollte sich dieses positive Bild nicht dadurch zerstören, dass sie sich selbst ermordet hatte. Dass sie an einer Krankheit gelitten hatte, die auch in uns stecken konnte. Der junge Notarzt hatte damals gesagt, dass wir spätestens bei unserer Volljährigkeit jemanden aufsuchen sollten, der uns sagen konnte, ob wir ebenfalls darunter litten oder nicht. Natürlich wäre das sinnlos, wenn wir schon seit geraumer Zeit Stimmen hörten, die uns zum Selbstmord rieten. Ich hatte Angst davor, selbst einmal so zu werden. Panische Angst. Aber der junge Notarzt hatte gemeint, dass es ganz unterschiedlich sein konnte. Manchmal vererbte es sich und manchmal nicht. Er hatte mir den Kopf getätschelt und gesagt, dass ich mir darüber keine Gedanken zu machen bräuchte, wahrscheinlich würde es mich nicht treffen. Und ich hatte sein freundliches Lächeln gesehen und ihm geglaubt. Und das tat ich jetzt immer noch. Oder? _ „Du bist ganz schön blass“, sagte Taichi besorgt und blieb stehen. Ich sah ihn nicht an, blickte hinüber auf den dicht besiedelten Schulhof. Vor ein paar Tagen hatte mich niemand dort gekannt. Seit gestern wussten sie nicht nur alle wie ich heiß hieß, sondern auch noch, dass ich in aller Öffentlichkeit einen Nervenzusammenbruch hatte. Sie hatten es schließlich alle gesehen. Alle. Mir wurde übel. „Bist du dir sicher, dass du heute schon wieder in die Schule willst?“, fragte er und strich über meinen Arm. „Es würde dir keiner übel nehmen, wenn du’s nicht tust, schließlich…“ „… haben sie ja alle gesehen, dass ich wie ein Irrer zusammen gebrochen bin, ja ich weiß“, fauchte ich zurück. „Danke für die Erinnerung. Es wird so schon schlimm genug werden.“ Ich zog meinen Arm zurück, presste ihn an meine Brust. Es gab keinen Grund böse zu Taichi zu sein und es tat mir im gleichen Moment schon wieder leid. Er würde der Einzige sein, der mich heute nicht komisch von der Seite ansehen und über mich tuscheln würde, ich sollte ihn nicht vergraulen. „Ich… tut mir leid. Das war nicht so gemeint.“ Er lachte und legte mir einen Arm über die Schulter. Der Körperkontakt war ungewohnt, aber ich mochte ihn. Ich fühlte mich gleich nicht mehr so klein und schutzlos. Es war dumm, dass ich mich so an ihn hängte, mich selbst so von ihm abhängig machte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Taichi hatte etwas, was mich anzog, wie die Motten das Licht. Dabei wusste ich doch, dass es im Nachhinein so nur noch mehr schmerzen würde, wenn ich letztendlich wieder alleine da stand. „Kein Problem“, sagte er gutmütig. „Ich wäre auch etwas nervös. Und… ach ja…“ Er stockte und lief rosa an. Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen. „Was?“ „Ich hab mit Shusuke gesprochen und…“, er zögerte. „Yama, es tut ihm wirklich Leid. Dein Zusammenbruch von gestern hat ihm die Augen geöffnet. Er würde sich gerne bei dir entschuldigen. Er…“ Ich unterbrach ihn, in dem ich mich unsanft von ihm löste und ihn böse ansah. Er erwartete doch nicht wirklich, dass ich nach einer simplen Entschuldigung einfach so mit Shusuke wieder im Reinen war! Er hatte mich fünf elendige, lange Jahre über traktiert, geschlagen und gedemütigt. Ein einfaches Es tut mir leid reichte da nicht. Wahrscheinlich würde er es in ein paar Monaten schon wieder vergessen haben und dann würde es wieder von Vorne losgehen. Er, zusammen mit seinem hirnlosen Freund, war der Grund gewesen, weshalb ich die Schule gehasst und mich vor ihr gefürchtet hatte! Es hatte mich so viel Überwindung gekostet jeden Morgen durch das Tor zu treten, in der ständigen Angst, in einem der Flure von ihnen überfallen zu werden. Ich konnte ihre Stimmen in meinem Kopf hören, ihr Lachen und ihre Anschuldigen, all das vermischt mit der Panik, die Krankheit meiner Mutter geerbt zu haben, und schizophren zu werden. Irgendwann einmal in einer Irrenanstalt zu landen, einsam und verlassen und von niemandem geliebt zu sterben, in den Abgrund fallen und keiner würde mich je wieder sehen, geschweige denn an mich denken, weil ich so unfreundlich gewesen war und niemanden an mich heran gelassen hatte, wie dieser verdammte Pandabär! Da half sicherlich keine Entschuldigung, egal wie ernst gemeint sie war. Egal, wie Leid es ihm tat und wie sehr es ihm die Augen geöffnet hatte. Weder Shusuke noch Taichi wussten, wie es war, Opfer solcher Peinigung zu werden. Für sie war das Leben bunt und fröhlich, sie besaßen in ihrem Leben kein einziges Problem. Sie wurden nicht von der Außenwelt abgeschlossen und waren selbst nicht einmal zu unfreundlich, um sich wenigstens an ihrem Rand festklammern zu können. Sie liefen nicht jeden Tag am rutschigen Abgrund entlang und drohten zu stürzen, mit dem Hintergedanken, dass es doch sowieso egal wäre. Dass sich doch sowieso niemand darum scheren, geschweige denn, sie vermissen würde. Was dachten sie denn, was ich war? Eine Puppe, bei der man den Schalter umlegte und dann einfach so weiter lebte, wie bisher? Mal ganz davon abgesehen, dass es bei mir kein bisher gab. „Yama, komm schon. Ich hab ihm gesagt, du würdest mit ihm reden“, sagte er leise und fügte hastig hinzu: „Du musst ja nichts sagen. Hör ihm einfach zu.“ „Nein“, sagte ich kalt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was >neinweil er dir so schöne Augen macht_>), darum hier: Danke an , , , , , , , , , , , :) Danke, danke, danke.... Ach und : Den Fehler werde ich korrigieren, dankeschön ;) Ich dachte mir schon, das hört sich irgendwie eigenartig an... Hoffentlich war das in diesem Kapitel nicht zu viel Kitsch (dafür extra die Warnung am Anfang, haha), bei den zwei Süßen ist es immer so schwer, das nicht irgendwie... zuckrig zu machen :3 Und für diejenigen unter euch, denen der Zucker jetzt reicht: keine Angst, im nächsten kommt wieder vieeel, vieeeel Drama ;) Das nächste Kapitel (das ich eig. noch vor Ende meiner Ferien hochladen will) ist mein Lieblingskapitel, yay. Ich kann euch nur versprechen, das ich versuche mich mehr hier und weniger auf ff.net rumzutreiben und zurück in die deutsche Fanfiction-nische zu kommen (bybye Kogan ;_;). Danke an meine lieben Betas & , die wissen immer schon ein bisschen früher als der Rest von euch, was da so abgeht und können noch mal einen Veto einlegen, falls es allzu schrecklich ist, was ich euch da präsentieren will ;) Alles Liebe & Stay tuned!, Nikolaus PS: Wie immer, Musik zum Kapitel in der Info-box :) Kapitel 16: So Lonely Inside (Yamato) ------------------------------------- gebatet by ~ Yamatos POV ~ Er war wie aus heiterem Himmel aufgetaucht. Ohne Vorwarnung. Ohne die Möglichkeit zu einer passenden Reaktion. Er war einfach vor der Türe gestanden, mit seinem leicht gestressten, genervten und gleichzeitig wütenden Ausdruck im Gesicht, der Mund zu einem harten Strich verzogen und unter den Augen dunkle Ringe. Sein dunkelblondes Haar war verstrubbelt und ungewaschen, sein unordentlicher Krawattenknoten hatte sich gelöst, hing unschön um seinen Hals und die ersten zwei Knöpfte seines Hemdes waren geöffnet. Ich konnte sehen, dass er viel zu lange gearbeitet und nicht genug geschlafen hatte. Wahrscheinlich war er die letzten Tage gar nicht zu Hause gewesen. An seinen Schuhen klebte Schlamm, seine Hose war durchnässt. Mit einem kurzen Blick hinter ihn, konnte ich sehen, dass es regnete, aber er hatte keinen Regenschirm dabei. Nur sein Jackett, das über seinem Arm hing und pitschnass war. Auf seiner alten, ledernen Mappe perlten die letzten Tropfen ab, wahrscheinlich hatte er sie sich zum Schutz über den Kopf gehalten. Er äußerte sich in keiner Weise dazu, woher er wusste, dass ich hier war. Er stand einfach nur da, sah mich böse an und murrte etwas Undeutliches. Fuhr sich durch das wirre Haar und sorgte dafür, dass es noch mehr ab stand. Kurz blinzelte er, wie als könnte er nicht glauben, was er sah und sein Blick glitt über meinen Körper. Ich zog den Ärmel des Pullovers, den Taichi mir gegeben hatte, über meine Handflächen und verdeckte den Blick auf meine Arme. „Wir gehen nach Hause, Yamato“, sagte mein Vater mit gepresster Stimme und hielt mir auffordernd die Hand entgegen. Ich starrte sie ungläubig an, rührte mich nicht. Traute mich nicht, zu ihm hinauf zu sehen. „Es gibt noch einiges zu tun. Takeru wartet bestimmt schon.“ Die Fingerspitzen waren gelblich gefärbt, ein eindeutiges Zeichen für seinen häufigen Nikotinkonsum, die Fingernägel waren unsauber und brüchig. An seinem Daumen war eine kleine Kruste zu sehen, kurz unter dem Nagelbett war die Haut gerissen und blutig. Unwillkürlich schlang ich die Arme um den Oberkörper. „Yamato.“ Ein gefährliches Knurren. Leise und drohend. Er war gereizt, ich konnte es deutlich spüren. Er war müde und wollte gehen, die Anwesenheit von Yuuko und Taichi schien ihm nicht zu behagen. Obwohl ich ihn nicht ansah, wusste ich, dass er ihre Blicke mied und nur mich taxierte. Ich wollte weg. „Yamato, ich sagte, wir gehen jetzt nach Hause“, wiederholte er nachdrücklich. Mein Vater hasste es, sich zu wiederholen. Und er verabscheute jegliche Gründe, die ihn dazu veranlassten. Mum hatte sich immer wiederholt, wenn sie in Depressionen oder mit den Stimmen in ihrem Kopf geredet hatte. Immer und immer wieder hatte sie die gleiche Phrase gesagt, wie eine kaputte Kassette. Deshalb hasste es mein Vater so. Es rief nur unangenehme Erinnerungen wach. „Komm jetzt!“, wie ein Messer durchschnitt seine Stimme die dicke Luft zwischen uns, zerteilte die Anspannung und ließ seine unterschwellige Wut auf mich überschwappen. Ich zuckte zusammen und nickte hastig. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und suchte nach meinen Schuhen. Irgendwo hier mussten sie ja stehen… „Wollen Sie nicht erst einmal einen Moment hinein kommen, Herr Ishida?“, fragte Yuuko plötzlich. Ich erstarrte mitten in der Bewegung, auf halbem Weg hinunter zum Boden, um nach meinen gefundenen Schuhen zu greifen. Wartete auf eine barsche Erwiderung, die sicherlich kommen würde. Taichi ließ sich neben mir auf die Knie sinken und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sein Gesichtsausdruck war besorgt und in seinen Augen spiegelte sich ein kleiner der Teil der Verunsicherung und Angst, die ich in diesem Moment empfand. Ich hatte bis dahin noch gar nicht gewusst, dass ein schöner Augenblick so schnell zerbrechen konnte. Eben gerade hatten wir noch in der Küche gesessen und Yuuko hatte uns nach und nach das ganze Obst aufgetischt, immer wieder betonend, dass ich unbedingt mehr essen müsste. Und Taichi hat es sich zum Spaß gemacht, mich zu füttern. Natürlich verschlang er die Hälfte des Essens selber, aber mir entging nicht, wie er die Stücke sogar mit den Augen abzählte und mir immer die exakte Hälfte zuschob, wenn nicht sogar ein Viertel mehr. Dass er sich so um mich kümmerte, war ein schönes Gefühl und als Yuuko einen Moment abgelenkt war, hatte ich mich hinüber gebeugt und ihn geküsst. Nur auf die Wange. Nur ganz kurz. Aber Taichi hatte gegrinst, wie ein Honigkuchenpferd, und war mir praktisch um den Hals gefallen. Für jedes Stück Obst, das er mir danach zwischen die Lippen schob, stahl er sich einen Kuss. Manchmal auch zwei. Oder drei. Allein bei dem Gedanken daran begannen meine Knie wieder weich zu werden. Dann hatte es plötzlich geklingelt. Taichi hatte seine Aufgabe nicht eingestellt, meinte nur, dass wahrscheinlich Hikari und Takeru von der Schule kommen würden, aber ich hatte gespürt, dass dem nicht so war. Ein Blick auf die Uhr, bestätigte mein Unbehagen. Und dann hatte ich seine Stimme gehört. Kalt, gehetzt und gepresst. Überanstrengt und entnervt. Wütend und barsch. Wie er hier her kam, wusste ich nicht. Auch nicht, woher er wusste, dass ich hier war. Es war mitten am Tag, normalerweise arbeitete er noch und schenkte Takeru und mir keine Aufmerksamkeit. Selbst wenn er abends nach Hause kam, sah er nicht nach uns. Eine Sekunde hatte ich gedacht, dass Takeru etwas Schlimmes passiert war, aber dann war mir eingefallen, dass in diesem Fall der Notarzt vor der Tür gestanden hätte und nicht er. „Nein danke“, hörte ich meinen Vater nun kühl antworten und war mir sicher, dass er gerade verächtlich die Augenbrauen zusammenzog. Dabei hatte Yuuko viel mehr Grund dazu, überheblich oder spöttisch zu sein, schließlich trug sie ein Kleid, wie es einer Edeldame gebührte, und mein Vater trug das verwaschene Hemd und die braune Kordhose. Aber das war sein Charakter. Seit Mums Tod war er einfach anders geworden. „Ich bin nur hier, um meinen Sohn abzuholen.“ „Das sehe ich“, erwiderte Yuuko. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber sie klang eine Spur schärfer, gereizter. „Aber ich habe ihnen doch gesagt, dass Yamato gerne die nächste Woche bei uns wohnen darf. Es macht uns nichts aus.“ „Aber mir“, es war unfreundlich, keine Frage, aber das fiel meinem Vater wahrscheinlich gar nicht auf. „So nett dieses Angebot auch sein mag, wir brauchen es nicht. Ich kann für meine Kinder sorgen und wir werden diese Sache schon alleine zu Hause regeln.“ Er tippte mit dem Schuh auf der Türschwelle auf und ab. Ein Zeichen für seine Angespannt- und Gereiztheit. „Yamato ist nicht dumm. Er wird schon wieder zu Vernunft kommen. Es war schließlich nur eine kleine Lappalie.“ Taichis Griff um meine Schulter verkrampfte sich und ich verlor für einen Moment das Gleichgewicht. Hastig half er mir dabei es wieder zu finden und wandte sich dann an meinen Vater. Ich wollte ihm sagen, dass er sich nicht für mich einsetzten musste, aber aus meinem Mund kam nur ein leises, klägliches Krächzen. Meine Schuhe schienen mir plötzlich unglaublich weit entfernt, mein Arm schien zu schwer, um sie zu mir zu holen. Neben mir änderte Taichi seine Stellung, verlagerte das Gewicht vom rechten, auf das linke Knie und nahm die Hand von meiner Schulter. Ich hörte, wie er hart Luft ausstieß. „Das war keine ´kleine Lappalie´“, zischte er plötzlich wütend und erhob sich ruckartig. Erschrocken von seiner Reaktion zuckte ich zurück und fiel auf den Boden. Ungläubig sah ich zu ihm auf, aber er sah nicht zu mir. Seine braunen Augen waren zu wütenden Schlitzen verzogen, fixierten meinen Vater. „Es hätte etwas Schlimmeres passieren können!“ „Das ist es aber nicht!“, schnarrte mein Vater zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Noch nicht!“, erwiderte Taichi sauer und machte einen Schritt auf ihn zu. Mein Vater rührte sich nicht, aber die Züge um seinen Mund verhärteten sich. Sofort war Yuuko zur Stelle, schob sich zwischen die beiden Männer und drängte Taichi zurück. Aber Taichi schien nicht gewillt zu sein aufzuhören. Mit vor Schreck geweiteten Augen, sah ich zu, wie er Yuuko einfach zur Seite schob und seine imposante Gestalt vor meinem Vater Stellung bezog. „Das wird nicht noch einmal passieren. Yamato ist vernünftig genug, um das zu wissen.“ „Das hat doch alles nichts mit Vernunft zu tun!“, rief Taichi und warf die Arme in die Luft, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen. „Er war verzweifelt! Er wusste einfach nicht mehr weiter.“ „Dazu hatte er keinen Grund“, behauptete mein Vater steif und musterte Taichi misstrauisch von oben bis unten. Ich wusste, dass er sich innerlich darüber wunderte, warum sich dieser Junge für mich einsetzte. Woher und wie gut er mich kannte. Und weshalb Taichi solch ein Interesse an mir zu haben schien. Ich wusste die Antworten; auf jede einzelne Frage. Aber ich war nicht zu mehr fähig, als mich auf zitternden Beinen aufzurappeln und die beiden sprachlos anzustarren. Meine Kehle war trocken, aus meinem Mund kam nicht ein einziger Laut. Es war wie als hätte ich meine Stimme verloren und fände sie einfach nicht wieder. Dabei war diese Situation doch gar nichts Ungewohntes. Mein Vater war schon immer unbeherrscht und herrisch gewesen, und nachdem Mum gestorben war, war es nur noch schlimmer geworden. Vor Verwandten und Freunden konnte er sich nicht zurück- oder seine Meinung für sich behalten und schon bald wendeten sich die meisten Leute von uns ab. Da er Takeru und mir die Kontakte zu allen Menschen verbot, die er nicht mochte, war unser Bekanntenkreis praktisch gar nicht vorhanden. Er hatte nur seine Arbeitskollegen und Takeru seinen Freundeskreis. Ich hatte bis jetzt niemanden, den er hätte vergraulen können. Aber jetzt hatte ich jemanden. Ich wollte nicht, dass mein Vater etwas Unüberlegtes sagte oder vielleicht sogar Taichi. Ich wollte mich nicht von ihm fern halten müssen und ich wollte auch nicht umziehen. Ich wollte nicht, dass mein Vater die Kontrolle verlor. Und ich wollte nicht, dass Taichi etwas tat, das er später bereuen würde. Und jetzt, wo ich endlich einmal den Mut ergreifen und einschreiten musste, fühlte ich mich wie ein nasser Sack Reis—ohne Worte, ohne die Kraft, dazwischen zu gehen. „Yamato wird diesen Fehler nicht erneut begehen.“ „Das können Sie doch gar nicht wissen! Sie waren nicht einmal hier! Hätte meine Mutter Sie nicht angerufen, wären Sie doch gar nicht aufgetaucht!“, schleuderte Taichi ihm wütend ins Gesicht. Mein Vater versteifte sich und löste die Arme aus der Umklammerung. Er packte seine Aktentasche mit festem Griff und ballte die linke Hand zur Faust. Ich schluckte. Wenigstens wusste ich jetzt, weshalb er überhaupt hier war. Sicherlich hatte Yuuko es nur gut gemeint. Sie konnte ja nicht wissen, dass es in solchen Situationen nicht gut war, meinen Vater zu informieren. Wenn er auch nur Wind davon bekommen würde, was in Wirklichkeit geschehen war, würde er ausrasten. Allein von der Tatsache ausgehend, dass dies noch nicht geschehen war, nahm ich an, dass er nicht genau wusste, was passiert war. Und er sollte es auch nicht erfahren. Ich bückte mich hastig, streifte die Hausschuhe ab und schlüpfte in meine Turnschuhe. Meine Finger zitterten, als ich einen flüchtigen Knoten band und die Schnüre festzog. Ohne den Blick vom Boden zu heben, nahm ich meine Jacke vom Haken und war einen Moment versucht, Taichi seinen Pullover zurück zu geben. Aber ich behielt ihn an, beschloss ihn ihm morgen wieder zu geben und mir meine restlichen Sachen wieder zurückzuholen. „Du hast nicht das Recht mir vorzuwerfen, dass ich nicht für meinen Sohn da wäre!“, donnerte mein Vater plötzlich und ich zuckte erschrocken zusammen. „Ich bin sein Vater! Ich weiß, was am Besten für ihn ist. Und dieser kleine Unfall war nichts als ein dummes Malheur!“ „Malheur?“, echote Taichi fassungslos. „Malheur?! Yamato hat versucht sich umzubringen, das ist kein dummer Fehler! Er hätte einfach sterben können und Sie wüssten noch nicht einmal warum!“ Entsetzt starrte ich zu Taichi. Hoffte, dass ich mir seine letzten Worte nur eingebildet hatte. Er konnte—er durfte meinem Vater nicht gerade gesagt haben, dass ich— „Er hat was?“, seine Stimme klang rau und brüchig. Ohne ihn anzusehen wusste ich, dass ihm sämtliche Züge entgleist waren und er fast schon verzweifelt aussah. Die Augen in tief eingefallenen Höhlen. Nein… „Ich… also“, stotterte Taichi, dem offensichtlich aufzufallen schien, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, sah hilfesuchend zu seiner Mutter hinüber und zuckte dann mit den Schultern. „Ich dachte… Sie wüssten es“, fügte er leise hinzu. Nein. Mein Vater gab nur ein undeutliches Glucksen von sich. Es hätte in diesem Moment alles bedeuten können. Nein! Wortlos zog ich mir meine Jacke über, streifte die Kapuze über den Kopf und ging zu meinem Vater hinüber. Er sah in einer Mischung aus Entsetzten, Wut und Schockierung zu mir, aber ich erwiderte seinen Blick nicht. Ich hatte nie vorgehabt, es ihm zu erzählen. Er litt noch immer unter Mums Tod und würde wahrscheinlich auch nie darüber hinwegkommen. Für ihn war damit eine Welt zusammengebrochen und ich wollte ihm nicht noch mehr Kummer machen. Dazu hatte ich nicht das Recht. „Gehen wir Dad“, sagte ich leise und packte ihn sanft am Arm. Noch ließ er sich ohne Einwände von mir mitziehen, aber es würde sicherlich nicht lange anhalten. Er war niemand, der sich gerne herumkommandieren ließ. „Yama, ich…“, fing Taichi hinter mir an, aber ich würgte ihm mit einem Kopfschütteln ab. Er hat es nur gut gemeint. „Wir sehen uns morgen in der Schule“, sagte ich und versuchte möglichst zuversichtlich zu klingen, aber es gelang mir nicht. Mein Vater entwand sich meinem Griff und schenkte mir einen wütenden Blick. Er öffnete schon den Mund und ich wandte mich hastig von Taichi und Yuuko ab. Sie sollten nicht mitbekommen, dass mein Vater anders mit schmerzlichen Erinnerungen umging, als andere. Es war ein zu tiefer Einblick in seine Privatsphäre. Nur nebensächlich registrierte ich Taichis leises Seufzen und seine Entschuldigung. Eine nicht sichtbare Wand aus Watte schien uns zu trennen und ich konnte, ich wollte sie nicht umgehen. Nicht jetzt. Ich verließ zusammen mit meinem Vater das Haus und ging hinaus in den Regen. Schon nach zwei Schritten war ich bis auf die Knochen durchnässt, aber ich sagte nichts. Mein Vater hielt sich wieder die Aktentasche über den Kopf und machte ein grimmiges Gesicht, jeder Blick, den er mir zuwarf, schien von reinem Gift durchtränkt zu sein. Ich wusste, was passieren würde, sobald wir zu Hause waren. Mein Vater hielt nichts davon, seine Gefühle fremden Leuten mitzuteilen und dass sie sich um mich gekümmert hatten nach dem… Unfall, anstatt, dass ich es ihnen verheimlichte und lieber nach Hause ging, schien für ihn wahrscheinlich an Hochverrat zu grenzen. Aber seit Mums Tod war für Dad alles Verrat. Kurz bevor wir durch das eiserne Tor schritten, drehte ich mich noch einmal um. Yuuko und Taichi standen noch immer im Türrahmen und als ich die Hand zu Abschied hob, erwiderten sie den Gruß. Mutlos und irritiert, aber sie taten es. Vielleicht würde ich ihnen sogar erzählen, weshalb mein Vater so reagierte, nur… Nicht jetzt. „Trödel nicht herum!“, fuhr er mich plötzlich gereizt an, packte mich grob am Arm und zog mich durch den Torbogen auf die glitschige Straße. Ich trat in eine Pfütze. Sofort sogen sich meine Hosenbeine bis zu den Knien mit Wasser voll. Der Stoff klebte an meinen Beinen. „Du hast schon für genügend Ärger gesorgt.“ Ich nickte tonlos. Spürte, wie meine Augen brannten und schluckte. Nicht jetzt. Mein Körper begann auf Grund der klirrenden Kälte des Regens zu zittern und ich presste die Kiefer aufeinander, damit meine Zähne nicht klapperten. Aus meinen Fingern, den Zehen und meinen Beinen war sämtliche Wärme gewichen und langsam wurden sie taub. Das Gefühl schlich sich unaufhaltsam durch meinen Organismus, bei jedem Schritt wurde es stärker und als wir um die Ecke bogen und unser Haus in Sichtweite kam, spürte ich nur noch den Druck in meinem Kiefer, das Pochen in meinem Unterarm und das Hämmern in meinem Kopf. Die Schritte meines Vaters hallten hinter meinen Schläfen tausendfach wider, wie ein unendliches Echo, das niemals leiser zu werden schien. Er trat so energisch in die Pfützen, dass das dreckige Wasser seine Hose verdreckte und meine ebenfalls. In meinen Gedanken war ich schon dabei, dass ich die Hosen wieder waschen müsste. An etwas Anderes konnte ich nicht denken. Dazu herrschte eine zu große Leere, die ich nicht ohne Weiteres füllen konnte. In meinen Ohren rauschte es leise, zu leise für das Rauschen des Regens, aber zu laut, um gewöhnlich zu sein. Für einen surrealen Moment hörte es sich für mich so an, als ob ich einzelne Stimmen heraus hören konnte. Doch das war Einbildung. Es musste Einbildung sein. Ich konnte Mums Krankheit nicht geerbt haben, sie konnte nicht ausbrechen. Nicht jetzt. „Halt mal.“ Der barsche Ton meines Vaters holte mich aus der Abwesenheit. Überrascht sah ich auf die Stufen unter meinen Füßen und die große Tür davor. Wir waren zu Hause. Mein Blick glitt über die Briefkästen, über die Beine und Arme meines Vaters. Ich mied seinen Blick, wollte nicht sehen, was er gerade dachte, ich wusste es schließlich auch so. Wortlos betrachtete ich die lederne Tasche, deren Profil aufgequollen und aufgeweicht war. Er wackelte unruhig damit herum. Ich nahm sie entgegen. Dann kramte er den Hausschlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Ohne ein weiteres Wort an mich zu verlieren, schnappte er sich die Mappe und verschwand im Hauseingang. Kurz blieb ich stehen und wartete, bis zwei, drei Schritte Abstand zwischen uns waren, folgte ihm dann und beobachtete die Spur kleiner Pfützen, die er auf der Treppe hinterließ, war mir der Tatsache bewusst, dass es bei mir wohl auch nicht anders war. Hohl und einsam klangen unsere Schritte wider. Ich schüttelte den Kopf, um das Geräusch aus meinem Kopf zu vertreiben, aber es funktionierte nicht wirklich. Mein Vater öffnete die Türe zu unserer Wohnung und zu meiner Freude, und vielleicht auch nicht, schlug uns nur gähnende Stille entgegen. Takeru war noch nicht da, übernachtete wahrscheinlich bei einem Freund oder war zuerst zu Hikari und Taichi gegangen. Ich war mir sicher, dass sie ihn über Nacht dableiben lassen würden, schließlich regnete es in Strömen und Takeru war zu Fuß unterwegs. Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen, stellte sie ordentlich auf die kleine Matte und rückte auch die meines Vaters zu Recht, der sie einfach gegen die Wand geworfen hatte. Kleine, schwarze Streifen zogen sich von der Aufprallstelle zum Boden. Eigentlich mochte er es nicht, wenn wir die Wände beschmutzten, da die Wohnung nicht uns gehörte. Takeru hatte dafür sogar einmal Hausarrest bekommen. „Yamato, wir müssen reden.“ Nicht jetzt. Ich unterdrückte den Impuls, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Stattdessen nickte ich nur stumm und zog mir die Jacke aus. Ging in die Küche und hängte sie über die Lehne eines Stuhls, damit sie trocknen konnte. Genau gleich verfuhr ich mit Taichis Pullover, meinem T-Shirt und meiner Hose. Mit leichtem Schrecken konnte ich auf dem Stoff kleine, rote Spritzer erkennen, einzig und allein Taichis Sachen waren rein. Bei dem Anblick begann mein Arm wieder zu pochen und der Stoff, gerade noch so leicht und nass, schien nun von Wasser durchtränkt und tausend Tonnen schwer zu sein. Hastig wechselte ich die Hand und hängte die Klamotten über die Lehne. Mein Vater setzte sich in seinen nassen Sachen zu mir in die Küche, machte sich nicht die Mühe, sich umzuziehen. Dass ich nur in Unterwäsche vor ihm stand, schien ihn nicht zu stören. Ich haderte einen Moment mit der Entscheidung, jetzt einfach zu gehen und mir etwas Trockenes überzuziehen. Letztendlich tat es ich doch. Schlüpfte in eine weite Trainingshose, T-Shirt und Pullover von Takeru, zog mir die Ärmel des Sweaters über die Hände und nahm die kleine Wolldecke aus dem Wohnzimmer mit. Mein Vater saß in genau der gleichen Pose auf seinem Stuhl, wie als ich ihn verlassen hatte. Vorsichtig, wie als könnte er jeden Augenblick explodieren, gleich einer Bombe, legte ich ihm die Decke um die Schultern, aber er schien es nicht zu bemerken. Sein Blick war auf die leere Spüle gerichtet. In dem dunklen Grau seiner Augen spiegelte sich etwas wider, was ich nicht deuten konnte und wollte. Er redete nie über seine Gefühle und doch zeigte er sie so offensichtlich, wie als wäre er nur darauf aus, jemandem damit ein schlechtes Gewissen zu bereiten. „Wir müssen reden“, wiederholte er mit hohler Stimme. „… okay.“ Ich wandte den Blick ab. „Stimmt das, was der Junge gesagt hat?“, fragte er nach einer Weile des Schweigens. Ich zögerte. Ich könnte natürlich behaupten, dass Taichi gelogen hatte oder dass er sich falsch ausgedrückt hatte, aber er würde es so oder so heraus finden. Seit Mums Tod drehte sich seine Welt nur noch um solche Dinge. Ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn Takeru oder ich wirklich starben, wusste ich nicht, aber es würde ihn sicherlich schockieren. Also nickte ich. Er schnappte hörbar nach Luft und stieß sie scharf durch die Zähne wieder aus. Seine zu Fäusten geballten Hände zitterten so stark, dass der ganze Tisch wackelte und die zwei Gläser darauf leise klapperten. Aus reinem Reflex heraus, sprang ich auf, presste die Hände aufs Gesicht und wandte mich ab. Wartete seine Reaktion mit pochendem Herzen ab. Mein Vater hatte mich schon öfters geschlagen, aus dem Affekt heraus, wenn die Situation eskalierte. Er war immer der Ansicht gewesen, dass man Kinder einzig und allein mit einer harten Hand erziehen konnte. Und obwohl der letzte Schlag schon Monate her war, hatte ich regelrecht Angst und traute mich nicht, mich umzudrehen. Es war dumm, sich vor so etwas Lächerlichem wie einem Schlag so sehr zu fürchten, aber ich konnte nicht anders. Mein Körper handelte von alleine, ich konnte die Hände nicht mehr herunter nehmen, geschweige denn, durch die Finger linsen. Meine Augen öffneten sich nicht, egal was ich tat. Mein Herz schlug so heftig gegen meinen Brustkorb, dass es ihn sicherlich jeden Moment sprengen müsste. Mein Blut rauschte laut in meinen Ohren. Nicht jetzt. Hektisch atmete ich ein und aus, versuchte mich zu beruhigen und konnte doch die Stimme in meinem Innern nicht zum Verstummen bringen, die mir immer wieder zurief, dass es gleich passieren würde. Jeden Augenblick. Jede Sekunde. Ich spürte, wie sich meine Rippen zusammen zogen, meine Lungen zusammen pressten und hatte das Gefühl zu ersticken. Aber ich öffnete den Mund nicht ein Stück, presste die Lippen krampfhaft aufeinander und wünschte mir, nicht hier zu sein. Überall, nur nicht hier. Ich hörte, wie er seinen Stuhl mit einem lauten Scharren zurück schob und seine großen Füße schwerfällig über den Boden tappten, mir mit jedem Schritt näher und näher kamen. Ich konnte die wütende Aura, die ihn umgab und waberte wie ein flackerndes Feuer, förmlich spüren und die Flammen streckten ihre glühenden Zungen nach mir aus, umschlungen mich und entfachten eine Glut ganz tief in mir. Doch das kalte Wasser meiner Angst war stärker und überschwemmte mein Inneres, löschte jegliche Funken. Er kam vor mir zum Stehen, atmete laut aus und ein und ließ ein abfälliges Schnauben hören. „Wie konntest du nur?“, knurrte er leise und erwartete offensichtlich eine Antwort, aber mein Mund wollte sich nicht öffnen. „Wie konntest du nur?!“ Sein Schrei zerriss die Stille der Wohnung wie ein Peitschschlag, traf mich mit solch einer Wucht, dass ich erschrocken zusammen zuckte und einen Stück nach hinten taumelte. Er packte mich unerwartet am Arm, zog mich brutal nach vorne und riss mir die Hände vom Gesicht. Ich wollte nicht in sein Gesicht sehen, aber meinen Augen flogen sofort darauf und ich konnte den Blick nicht mehr davon lösen. Seine grauen Iriden funkelten erzürnt, ein glasiger Schimmer lag über ihnen. Seine Wangen waren vor Erregung gerötet. Sein ganzer Körper zitterte vor Wut. Dann hob er den Arm. Holte aus. Und schlug zu. Wie aus weiter Ferne, hörte ich das Klatschen, als seine flache Hand mit aller Kraft auf meine Wange traf, meine Nase gewaltsam streifte und ich etwas Warmes meine Nasenwand hinunter rinnen spürte. Der Schock, der mich durch den erwarteten, aber trotzdem überraschenden Schlag, getroffen hatte, steckte tiefer als der Schmerz, der kaum eine Sekunde danach wieder Besitz von mir ergriff. Meine Wange pochte heiß und störend, mir klappte mit einem panischen Japsen der Mund auf, als ich bemerkte, dass ich durch die Nase nicht mehr atmen konnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich zu meinem Vater, aber er sah nicht zurück. „Wie konntest du nur?“, fragte er erneut, aber diesmal klang seine Stimme unsagbar enttäuscht und kraftlos, gebrochen und mühevoll wie die Stimme eines alten Mannes. Ich fühlte nichts bei seinem Anblick. In mir war es kalt und leer. Unendlich leer. „Ich habe nichts getan“, sagte ich mit nasalem Unterton und wischte mir über die Nase, bemerkte das heiße Blut. Verwirrt sah ich auf meine Finger, auf die rote, dickflüssige Spur und schluckte hart. Mit einer automatischen Bewegung griff ich nach einem Küchentuch und presste es mir unter die Nase, damit der Schwall aufhörte zu fließen. Es war ein unangenehmes Gefühl zu spüren, wie das Blut durch die Nase floss und obwohl ich gehört hatte, man solle sich ein kaltes Tuch in den Nacken und den Kopf zurück legen, weigerte ich mich, es zu tun. Aus Erfahrung wusste ich, dass es noch schlimmer war das Blut im Mund zu schmecken, wenn es die Speiseröhre hinunter floss. Also beugte ich den Kopf nach vorne, meine Haare hingen mir ins Gesicht. „Lüg mich nicht an“, fauchte er zornig und setzte sich schwungvoll wieder auf seinen Stuhl zurück. „Ich habe den Verband an deinem Arm gesehen, als du dich gerade umgezogen hast!“, er wedelte mit einer Hand in der Luft herum, fasste die Küche und mich darin ein. „Weißt du überhaupt, wie dumm du bist? Wieso tust du solche idiotischen Dinge? Für Beachtung? War dir Natsukos Tod nicht genug?“ Er stieß hart Luft aus. Einen Augenblick bekam ich kein Wort heraus. Warf er mir gerade wirklich vor, dass meine Tat dumm und idiotisch vor? Wollte er ernsthaft sagen, dass ich mit meinem Tod Aufmerksamkeit erregen wollte und es nur aus Trotz getan hatte? Er wollte mir etwas vorwerfen?! Die Glut begann wieder zu glühen und diesmal war keine Angst da, um sie wieder zum Erlischen zu bringen. Die Wut kochte in mir hoch und das Gefühl war exakt das Gleiche, wie das, als ich mich gestern Morgen mit Taichi gestritten hatte. Nur stärker. Es saß so viel tiefer und hatte seine Wurzeln ganz wo anders. Es war die Wut auf ihn. Auf meinen Vater, weil er mir solche Fragen stellte, nachdem er sich über zehn Jahre komplett aus meinem Leben heraus gehalten hatte und jetzt Ahnung vortäuschte! „Du hast doch nicht den blassesten Schimmer“, fauchte ich ihn an und drückte das Tuch stärker gegen meine heiße Nase. Er hob den Kopf und sah mich ausdruckslos an, aber ganz hinten in den dunklen Iriden konnte ich Verblüffung aufflackern sehen. „Du bist doch nur sauer, weil die Yagamis davon wissen. Du kannst dich doch nur nicht an den Gedanken gewöhnen, dass es auch andere Leute gibt, die unter Mums Tod leiden. Du bist doch nur zu verklemmt um einzusehen, dass das Leben trotzdem weiter geht. Egal ob mit oder ohne ihr.“ Meine Hand zitterte, aber ich verkrampfte meine Finger und zwang mich zur Stärke. „Was redest du da für einen Mist?“, erwiderte er verärgert. „Ich lebe weiter—du tust es offensichtlich nicht. Du ziehst lieber solch eine Show ab, um Aufmerksamkeit zu erregen!“ Jetzt zitterten auch meine Arme. In meinem Kopf breitete sich eine eigenartige, schwere Leere aus, die nichts mit Gleichgültigkeit zu tun hatte. Ich wünschte mir irgendetwas, um den unglaublichen Druck in meinem Innern zu beseitigen. Ich wollte schreien und toben, wollte ihm endlich all das an den Kopf werfen, was ich all die Jahre mit mir herum trug. Ich wollte ihm ins Gesicht schlagen und sehen wie er erschrocken zurück zuckte. Ich wollte, dass er endlich büßte für die Ignoranz die er Takeru und mir geschenkt hatte. Und plötzlich tat ich es. „Ich ziehe keine Show ab!“, schrie ich schrill, schmiss das durchtränkte Tuch achtlos auf den Boden und machte einen Schritt auf ihn zu. Seine Pupillen verengten sich. „Ich hab das nicht getan, weil ich Aufmerksamkeit erregen will! Du hast doch gar keine Ahnung, warum ich das tun könnte! Du weißt gar nichts von meinem Leben, du lebst in deiner eigenen Welt und schließt uns alle aus! Du bist derjenige, der nicht kapieren will, dass du mit Mums Tod abschließen musst! Du lässt mich und Takeru seit über zehn Jahren Tag für Tag hängen und scherst dich einen Dreck um uns! Du hast doch… verdammt keine Ahnung!“, ich holte Luft und wischte mir das Blut aus dem Gesicht, das warm über meine Lippen floss, „Weißt du überhaupt, was es heißt, vor einer ganzen Schule einen Nervenzusammenbruch zu haben und in einem Krankenhaus aufzuwachen? Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man seinen einzigen Freund verliert, nachdem man so darauf gehofft hatte, dass es einmal klappt? Hast du auch nur den blassesten Schimmer, was es bedeutet, wenn dich der eigene Vater ignoriert? Wenn du jeden Tag die Angst mich sich herum trägt, dass die Stimmen in deinem Kopf real sind?! Weißt du es?!“ Er schrumpfte auf seinem Stuhl zusammen und öffnete wortlos den Mund. Doch egal was er sagte, es hätte mich nicht beruhigen können. Irgendwo in mir brach der Damm und alles schwemmte hervor. Verzweiflung kroch in mir hoch, schlich sich in mein Herz und in meinen Kopf und krachte als große Welle über mir zusammen. Tränen rannen zu tausenden aus meinen brennenden Augen und vermischten sich mit dem warmen Rot auf meinem Kinn. Meine Hände zitterten, meine Beine schienen mein Gewicht nicht länger tragen zu wollen. „Ich hab es getan, weil Takeru die Erinnerungen an Mum wieder in mir wach gerufen hat“, rief ich mit stockender Stimme. „Weil ich mit Taichi gestritten hatte! Weil Shusuke und Yuri mich seit fünf Jahren täglich zusammen schlagen, ganz plötzlich Schuldgefühle bekamen und wollten, dass ich es ihnen nicht übel nahm! Fünf verdammte, lange Jahre, haben sie mich verprügelt und das soll mit einem simplen ‚Tut mir Leid’ wieder verschwinden?! Ich hab es getan, weil ich mein ganzes scheiß Leben nicht mehr aushalte und es mir über den Kopf steigt!!“ „Yamato….“, sagte er mit leiser, schockierter Stimme und streckte seine Hand nach mir aus, aber ich schlug sie einfach weg. Ich wollte seine Berührungen nicht. Nicht jetzt. Nicht mehr. „Yamato, bitte…“ Nie mehr. „Ich hasse dich!“, schleuderte ich ihm ins Gesicht, bevor ich darüber nachgedacht hatte und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Er starrte mich unsagbar entsetzt an. Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. „Ich hasse dich, du verdammter, ignoranter Bastard! Ich hasse dich!“ Ich presste mir eine Hand auf den Mund und unterdrückte mein lautes Schluchzen, die Wellen von Verzweiflung drohten mich zu ertränken, mich in den bodenlosen Abgrund hinab zu reißen. Mein Vater saß einfach nur fassungslos vor mir, hob wie in Zeitlupe seine Hand und berührte seine Wange. Stockend entfloh der Atem seinen geöffneten Lippen. „Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich…“, murmelte ich unablässig vor mich hin, wie ein Manta, das mich davor bewahren sollte in die schwarze Tiefe zu fallen. Mein Gesicht brannte, der Tränenstrom wollte nicht stocken. Zitternd wischte ich mir über Mund und Nase, sah den roten Streifen und biss mir schmerzhaft auf die Lippe, als das nächste laute Schluchzen meiner Kehle entfloh. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, aber ich konnte nichts dagegen tun. Hinter meinen Schläfen rauschte es, mein linker Arm pochte heiß und schmerzhaft. Die roten Punkte auf dem weißen Verband breiteten sich kontinuierlich aus. „Yamato…“, seine Stimme war rau, dunkel und brüchig. Es klang wie ein Knurren und gleichzeitig wie ein bitteres Flehen. Bei meinem Namen wich ich zurück, immer schneller und schneller sog ich Luft in meine Lunge. Befürchtete jeden Augenblick zu hyperventilieren. Wie gebannt starrte ich auf sein Gesicht, beobachtete wie er langsam den Kopf hob und mich ansah. Ich wusste, dass er mir diesen Schlag nicht verzeihen würde. Ich war sein Sohn und Söhne hatten nicht das Recht ihre Eltern zu schlagen, egal was passierte. Er würde mir nie verzeihen. Ich wimmerte hoch und verzweifelt auf und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich hasse dich, ich hasse dich… o Gott, ich hasse dich…“ Ich wollte hier weg. So sehr. „… Yamato.“ Seine Tonlage ließ das Fass überlaufen, stieß mich an den Rand der Klippe, zerriss den dünnen Faden meiner Standhaftigkeit. Ich drehte mich auf den Absätzen um und rannte aus der Küche. Ich musste einfach von dort weg, ich hielt es nicht mehr aus. Die Angst hämmerte in meinem Innern, die Panik fraß mich auf. Mein Herz schlug hektisch und schnell, das Blut pulsierte in meinen Schläfen. Ich konnte nicht mit meinem Vater in einem Raum bleiben und warten, bis ihm erneut die Hand ausrutschte. Bis er sich für mein Vergehen rächte und mir seine Überlegenheit demonstrierte. Automatisch schlug ich den Weg zu meinem Zimmer ein, knallte die Türe hinter mir zu und sperrte ab. Drei Mal drehte ich mit zitternden Händen den Schlüssel um, aber es lieferte mir kein Gefühl vor Sicherheit. Dieses Stück Sperrholz schien viel zu dünn, zu unstabil, zu schwach, um auch nur irgendeiner Attacke stand zu halten. Doch ich konnte nicht mehr tun. Wimmernd und schluchzend lehnte ich mich mit dem Rücken an die Tür und rutschte kraftlos an ihr herunter, meine Beine konnten mein Gewicht nicht mehr länger halten. Ich zog die Knie an den Körper, vergrub hilflos das Gesicht in den Händen. Durch die Nase bekam ich schon lange keine Luft mehr, mein Mund schien verklebt, die Zunge schwer und pelzig. Erneut meinte ich nicht genügend Sauerstoff zu bekommen, atmete viel zu schnell. Die Panik kratzte von innen an meinen Augäpfeln, schrie und tobte, wollte um jeden Preis nach draußen. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich hörte, wie mein Vater plötzlich gegen die Türe schlug. Er schrie meinen Namen. Immer und immer wieder. Aber ich rührte mich nicht. Er wurde lauter. Das Trommeln seiner Fäuste stärker, heftiger. Eindringlicher. „Yamato! Komm da wieder raus! Yamato!“ Ein erstickter Laut entfloh meiner Kehle und ich presste mir die Hand auf den Mund, um es zu unterdrücken. Doch es half nichts. Das Weinen hörte nicht auf, heiße Tränen flossen endlos über meine Wangen und trübten meine Sicht. Kraftlos ließ ich den Kopf gegen die Türe sinken, die immer wieder unter den Schlägen meines Vaters erzitterte. „Yamato, jetzt heul nicht rum und komm sofort wieder da raus! Yamato! Was erlaubst du dir eigentlich?! Yamato!“ Die Verzweiflung kroch langsam aus meinem Herzen hoch, schlängelte sich um mein Bewusstsein und packte mich mit festem Griff. Sie hakte sich bei der Panik unter und gemeinsam ertränkten sie mich, drückten mich in die Tiefe, ertränkten mich in dem dunklen Meer. Ich konnte mich nicht wehren, mein ganzer Körper war taub, erbebte einzig und allein unter meinem kläglichen Schluchzen. „Yamato, mach die Tür auf! Yamato!“ Ich wünschte mir, an einem anderen Ort zu sein. In einem anderen Universum. Eine andere Person mit einem anderen Leben. Ich wollte weg von hier. „Komm jetzt endlich da raus! Yamato, hörst du mich?!“ Unendlich weit weg. „Yamato! Verdammt, mach auf!“ So unendlich weit weg. Part XVI END ♠ tbc... Kapitel 17: So Busy Outside (Takeru/Yamato) ------------------------------------------- Das Kapitel ist nicht Korrektur gelesen. ~ Takerus POV ~ „Hier. Sonst wirst du noch nass.“ Hikari lachte und hielt den Regenschirm auch über mich, rutschte so nah an mich heran, wie es eben nötig war, damit sie nicht durchnässt wurde. Der Schirm war wie ein kleines Schutzschild, das leider nur bis zur Hüfte reichte. Um uns herum prasselte der Regen in Strömen und unaufhaltsam zu Boden, die Wasserströme schossen neben dem Rindstein her und versanken gluckernd in den Abflüssen. Bunte Blätter von den umstehenden Bäumen und Sträuchern verstopften die kleinen Spalte und das Wasser warf hohe Wellen, während es viel zu langsam in den kleinen Versenkungen verschwand. „Danke“, murmelte ich zerstreut und nach einem kurzen Blick zu ihr, nahm ich ihr den Regenschirm aus der Hand, hielt ihn über unsere Köpfe. Da ich weitaus größer war als sie, musste ich dabei meinen Arm nicht so sehr in die Höhe recken. Hikari lächelte mich freudig an und schlang die Arme um mich. „Nur, damit keiner nass wird und wir beide unter den Regenschirm passen“, grinste sie schelmisch und ich konnte nicht anders als zu lachen. Hikari hatte so eine positive, aufmunternde Art, dass ich sogar Yamato für ein paar Minuten vergessen konnte, dabei schwirrte er doch dauernd in meinem Kopf herum. Nur um mir ein bisschen mehr Ablenkung zu schaffen, schlang ich meinen freien Arm um sie und fügte hinzu: „Weil wir ja auch gar nicht nass sind.“ Ich blickte demonstrativ auf ihren durchnässten Rock und meine Jeans und sie folgte meinem Blick. Dann lachte sie. „Ja. Stimmt.“ Auf dem restlichen Weg zu dem Anwesen der Yagamis sprach keiner von uns ein Wort. Ab und zu ließ Hikari ein Niesen hören, aber ansonsten blieb sie still. Ich wusste nicht, ob ich sie nicht lieber hätte reden hören. Einfach nur um die Stille zu vertreiben und nicht mehr an das Unabwendbare denken zu müssen. Vielleicht würde dieses bohrende, schmerzhafte Gefühl durch ein paar ihrer erheiternden Worte verschwinden. Das Pochen hinter meinen Schläfen, das Brennen meiner Augäpfel; durch ein einziges Lächeln von ihr. Aber Hikari tat nichts davon. Sie hing stumm an mir und hielt zum Spaß die Hand in den Regen, um zu beobachten, wie die Tropfen an ihrer Haut abprallten und von den Fingerspitzen zu Boden glitten. Es schien sie zu amüsieren, aber mich heiterte ihr kleines Spiel nicht auf. Als wir vor dem großen Tor standen, tippte Hikari in ein geschütztes Feld in dem steinernen Torpfosten eine Zahlenfolge ein und nur einen Augenblick später ertönte ein lautes Summen und das Gatter öffnete sich wie von Geisterhand. Hikari zog mich hindurch. Der weiße Kies glänzte geisterhaft in der milchigen Dunkelheit, die zu dieser späten Mittagsstunde schon herein gebrochen war, und knirschte unter unseren Schritten. Beiläufig warf ich noch einen Blick zurück und beobachtete, wie das Tor sich eigenhändig hinter uns wieder schloss. Hikari kramte neben mir in ihrer Schultasche nach dem Hausschlüssel und als sie ihn fand, löste sie sich von mir. An der Stelle, an der sie eben gerade noch gewesen war, wurde es plötzlich unangenehm kalt. „Hoffentlich haben die drin überall die Heizung an“, murmelte Hikari geistesabwesend. Das Schloss knackte und sie öffnete die Tür. Strahlendes Licht flutete die Trübheit um uns herum und hastig schlüpften wir in die Wärme, zogen uns Jacke und Schuhe aus und verstauten alles sorgfältig in der Garderobe. Eigentlich scherte ich mich nicht sonderlich um Ordnung, aber aus irgendeinem Grund tat ich es in diesem Moment; aus der Tasche von Hikaris Jacke hing eine rote Mütze, die nicht in das saubere Bild passen wollte. Ich zog sie hervor und legte sie auf die Kommode. Hinter mir lachte Hikari auf. „Da seid ihr ja!“ Wir drehten uns um und sahen Yuuko, die breit lächelnd auf uns zu kam. Sie trug ihre rosa Schürze und darunter das makellose, bronzefarbene Kleid, was auf skurrile Art nicht miteinander harmonierte. Der glitzernde Samt, mit dem ausgewaschenen Stoff darüber. Ich fragte mich, ob sie dieses Kleid immer nur in der Küche trug und es sich extra dafür gekauft hatte. Reiche Leute scherten sich wahrscheinlich nicht so darum, ob die Sachen schmutzig wurden. „Wir haben schon auf euch gewartet“, sagte Yuuko und strich Hikari durchs Haar. Sofort gab diese ein empörtes „Mum!“ von sich und strich ihre braune Mähne sorgfältig wieder glatt. „Ich hab euch was zu essen gemacht, es steht in der Küche. Taichi hat schon gegessen, aber er wird euch sicherlich noch Gesellschaft leisten. Wartet, ich hohl ihn.“ Sie eilte zum Fuße der breiten Treppe und rief laut den Namen ihres Sohnes. Einen Augenblick geschah nichts, dann tauchte Taichi auf. Imposant, braungebrannt und gut aussehend wie immer. Aber etwas versetzte seinem Anblick einen Stich und erst als er die Stufen herunter gekommen war und direkt vor uns stand, fiel mir auf, was es war. Er hatte dunkle Augenringe, das Haar war unordentlich verstrubbelt und der Ausdruck in seinen Augen wirkte leer. Hikari zuckte erschrocken zurück, als sie ihn sah und fragte noch im selben Moment: „O Gott, was ist denn mit dir los, Tai?“ „… hm“, machte er nach kurzem Zögern und zuckte die Achseln. „Nichts.“ Es klang weder sonderlich aufrichtig noch interessiert. Seine Schultern hingen schwer herab und seine ganze Haltung drückte eine gewisse Mutlosigkeit aus, wie als hätte er die schrecklichste Nachricht seines Lebens erhalten. Aber Yamato war bei ihm, eigentlich müsste es ihm doch… Erst in diesem Augenblick fiel mir auf, dass Yamato gar nicht bei ihm war. Kurz sah ich mich suchend um, wie als könnte er plötzlich aus einem anliegenden Raum treten und sich zu uns gesellen. Aber er kam nicht. „Wo ist Yama?“, wollte ich wissen und presste angespannt die Kiefer aufeinander. Das bohrende Gefühl in meinem Magen wandelte sich in Übelkeit um und ich schluckte hart. „Oh… ach ja“, Yuuko machte ein bedauerndes Gesicht und lächelte mich in einer Mischung aus Beschämung und Verlegenheit an. „Dein Vater war vorhin da, Takeru. Er hat Yamato abgeholt, weil er wohl nicht wollte, dass Yamato uns noch länger auf der Pelle sitzt. Dein Bruder ist schon seit ein einigen Stunden nicht mehr da.“ Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, aber die Bewegung ihrer Hand wirkte unsicher und stockend. Ich meinte, mich jeden Moment erbrechen zu müssen. Dad war hier gewesen und hatte Yamato mitgenommen? Aber wieso? Woher wusste er denn, dass er hier war? Ich hatte ihm nichts erzählt und die Yagamis kannten ja nicht mal seine Telefonnummer. Und Yamato selber hätte Dad nicht angerufen. Nicht in solch einer Situation. Er war zwar unser Vater, aber verständnisvoll und fürsorglich war er nicht. Er kümmerte sich nicht um uns, flog für mehrere Monate ins Ausland wegen seiner Arbeit und alles was wir als Nachricht bekamen war ein Zettel auf dem Küchentisch, mit einem Bündel Scheine. Er interessierte sich nicht dafür, wie es uns ging. Als ich mir das Bein beim Fußballspielen gebrochen hatte, hatte er mich nicht einmal im Krankenhaus besucht. Während Yamato die ganze Zeit bei mir blieb und sich mit Händen und Füßen gegen die Schwester wehrte, die sagte, dass die Besuchszeit nun zu Ende sei, war mein Vater am Abend meiner Entlassung nur ein bisschen früher nach Hause gekommen. Es scherte ihn herzlich wenig, ob Yamato oder mir etwas passierte, er mochte es nicht, mit Verantwortung belegt zu werden und wenn früher der Unterricht ausgefallen war und wir jemanden brauchten, der auf uns aufpasste, hatte er die alte Nachbarsdame damit beauftragt. Dad war alles andere als ein guter Vater, das hatte ich schon vor Langem begriffen. Aber es hatte mich nicht gestört, schließlich hatte ich ihn nie gebraucht. Schließlich war Yamato da gewesen. Immer. Und ihn brauchte ich. Kurz malte ich mir in den Gedanken aus, wie Dad wohl reagieren würde, wenn er von Yamatos Tat erfuhr. Wäre er wütend? Oder enttäuscht? Aber ich kam nicht weit. Es lag nicht nur daran, dass er sich sonst nicht für uns interessierte und es somit keine vergleichbare Situation gab, sondern daran, dass ich es mir nicht weiter vorstellen wollte. Dad war der Meinung, dass man Kinder mit einer harten Hand erziehen müsste. Er schlug mich—und Yamato noch öfter. Es gab viel, was wir in seinen Augen falsch machten und es gab wenig, was wir richtig machen konnten. Yamatos Selbstmordversuch wäre sicherlich ein Fehler. Und wenn nicht, dann war die Tatsache, dass er die Hilfe von den Yagamis angenommen hatte, anstatt sich selbst darum zu kümmern, Fehler genug um beides zu decken. Denn Dad hasste es, wenn andere Leute von unserem Privatleben erfuhren, Dinge, die seiner Ansicht nach niemanden außer uns etwas angingen. Und sei es nur unsere Hausnummer. Ob er Yamato für sein angebliches Vergehen schlagen würde? „Wie lange ist er schon weg?“, fragte ich mit hohler Stimme. „Ich weiß nicht genau… so um die vier, fünf Stunden. Vielleicht ein wenig mehr“, sagte Yuuko achselzuckend. „Aber wollt ihr nicht erst einmal etwas essen? Und euch was Trockenes anziehen? Sonst werdet ihr noch krank und das geht nun wirklich nicht.“ Sie lächelte, aber nicht einmal Hikari erwiderte es, obwohl sie sonst immer so heiter war. Sie schien an der Stimmung gemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte. Unruhig kaute sie auf der Unterlippe herum und strich über ihren nassen Rock. „Ist das schlimm?“, fragte sie schließlich leise, wie als hätte sie den Einwurf ihrer Mutter nicht gehört. Ihre Frage richtete sich sowohl an mich, wie als auch an Taichi. „Was ist schlimm?“, stellte Taichi die Gegenfrage. „Dass Yamas Vater hier war und ihn abgeholt hat“, erklärte Hikari und schenkte mir einen flüchtigen, unsicheren Blick. „Ist das schlimm?“ Ich zuckte als Antwort mit den Schultern. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr von meinen Gedanken erzählen sollte. Was würde sie dazu sagen, wenn sie erfuhr, was für ein verklemmter und herrischer Mensch mein Vater war? Würde sie dann überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben wollen? Oder war sie so wie Taichi und ließ sich von nichts und wieder nichts erschüttern, egal um wen es ging? Ich hoffte letzteres, aber sicher war ich mir nicht. Schließlich hatte sie im Gegensatz zu Taichi anfangs auch einige Schwierigkeiten gehabt sich damit abzufinden, dass Yamato keine psychiatrische Mittel helfen konnten und er damit alleine fertig werden musste. Natürlich hatte sie es damit nur gut gemeint, aber das hätte vielleicht dazu geführt, dass sie mir meinen Bruder weg nahmen. Und allein deshalb war es in meinen Augen etwas Schlechtes. Ich schluckte die Worte hinunter, die mir auf der Zunge lagen und wandte mich an Taichi. Er wirkte merkwürdig zerknirscht, wie als wäre ihm just in diesem Moment etwas äußert Unangenehmes aufgefallen. Als er meinen Blick bemerkte, erwiderte er ihn und verzog dabei den Mund, zog die Schultern hoch. Die Geste wirkte leicht trotzig. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu fragen, ob er mich nicht nach Hause fahren könnte. Dann müsste ich nicht durch den Regen laufen und wäre beim Ankommen noch einigermaßen trocken, zudem war es mit dem Auto um einiges schneller als zu Fuß. Doch konnte ich das einfach so fragen ohne allzu unhöflich zu wirken? Schließlich war ich mit Hikari hier her gekommen, ich konnte sie doch jetzt nicht einfach so alleine lassen, denn eigentlich wollten wir zusammen Hausaufgaben machen. „Willst du zu Yama?“, fragte Taichi nach einer Weile. „Ich könnte dich fahren.“ Verdutzt sah ich ihn. Woher wusste er denn, dass ich jetzt lieber zu Yamato wollte, als hier zu sein? Er blickte eindringlich zurück und mir wurde klar, dass er nicht irgendwie ahnte, dass ich hier weg wollte, sondern dass er hauptsächlich von seinen Gefühlen ausgegangen war. Und die Tatsache, dass er sich genauso um Yamato sorgte wie ich, überraschte mich. Bewies das nicht, dass er es wirklich ernst mit ihm meinte und ich nicht befürchten musste, dass er ihn einfach wieder fallen ließ, wenn er etwas Besseres erspäht hatte? Wahrscheinlich. Trotzdem machte es den Gedanken daran, Yamato teilen zu müssen, nicht leichter. Bisher war Yamato nur für mich da gewesen. Für mich alleine. Und jetzt… jetzt gab es Taichi. „… ja“, sagte ich schließlich und schenkte Hikari ein entschuldigendes Lächeln. Sie zuckte nur mit den Schultern und erwiderte mein Lächeln. Ich war wirklich froh, dass sie mich verstand. „Das… das wäre wirklich nett von dir.“ Taichi sah kurz zu meiner Mutter und nickte dann in Richtung der Haustüre. „Gehen wir“, meinte er knapp, angelte sich seine Jacke und zog sie sich über. An Hikari und seine Mutter gewandt fügte er hinzu: „Ich bin bald wieder da. Mal sehen, wann.“ „Das ist keine genaue Zeitangabe, junger Mann“, kritisierte Yuuko ihn schnippisch. „Spätestens um zwölf Uhr will ich dich heute wieder sehen. Dein Vater kommt heute nach Hause und wir haben einiges zu besprechen. Also trödele nicht so rum—und im größten Notfall rufst du an, verstanden? Lass das mit den SMS’ an Kari, die bekomm ich nämlich nie mit.“ Sie schenkte ihrer Tochter einen tadelnden Blick und Hikari lief verlegen rosa an. Ich konnte nicht anders als dabei zu lächeln. Yuuko war die Mutter für mich, die ich mir immer gewünscht hatte. Sie sah bezaubernd aus, sie war verständnisvoll, tolerant und gleichzeitig vernünftig und streng genug, um ihre Kinder zu erziehen. Unser Dad setzte uns nie Zeiten, zu denen wir zu Hause sein mussten. Und eine Mutter, die das hätte tun können, hatten wir nicht mehr. Manchmal machte Yamato das, aber nur halbherzig und sehr selten. Er wollte meistens nur, dass ich überhaupt irgendwann wieder zurück kam. „Ist gut. Wird gemacht“, Taichi grinste sie schelmisch an, „und die nächste SMS geht auch an dich, Mum. Versprochen.“ „Das will ich auch hoffen!“, sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und umarmte ihn kurz. Dann wandte sie sich an mich und verabschiedete sich auf die gleiche Weise bei mir. Verdutzt sah ich sie an, aber Yuuko schien sich dafür nicht zu schämen. „Richtet Yamato von mir gute Besserung aus. Und das Angebot mit dem Wohnen steht immer noch—für dich auch Takeru.“ „Ich… ähm… danke“, stotterte ich verwirrt und kratzte über meine Ellenbeuge. Ich wusste nicht, was sie mit dem Angebot meinte. Wieso sollte Yamato hier wohnen? Für immer? Und ich auch? Was… ? „Komm jetzt“, knurrte Taichi und packte mich am Arm, ich schaffte es gerade noch meine Jacke in die Finger zu bekommen. Taichi hob eine Hand zum Abschied und von Hikari ertönte ein lautes „Sagt Yamato von mir auch gute Besserung!“. Dann fiel die Türe hinter uns ins Schloss und das Licht und die Wärme, die im Haus noch geherrscht hatten, waren abrupt verschwunden. Fröstelnd schlüpfte ich in meine Jacke, zog den Kragen hoch und sah zu Taichi. „Mein Wagen steht da vorne“, sagte er und deutete mit dem Kopf auf eine große Gruppe von Bäumen. Ich nickte und folgte ihm rasch zu seinem Auto. Das dunkle Rot des Lacks glitzerte matt in dem prasselnden Regen. Mir fiel auf, dass neben dem Sportwagen noch ein zweites Auto stand. Größer, in schwarz und eindeutig ein Mercedes. Verwundert hob ich die Augenbrauen und sah zu Taichi, aber dieser war gerade damit beschäftigt seinen Schlüssel aus der Jackentasche zu kramen und mit einem leisen Piepen seinen Wagen zu öffnen. Kurz leuchteten die hellen Scheinwerfer durch die Dunkelheit, dann erloschen sie wieder. Helle Pünktchen tanzten vor meinen Augen, während ich mich hastig auf den kalten, ledernen Sitz fallen ließ und die Türe hinter mir zuschlug. Taichi setzte sich hinter das Steuer, steckte den Schlüssel ein und startete mit einem sanften Brummen den Motor. Er drehte kurz an ein paar Knöpfen herum und schon konnte ich spüren, wie von allen Seiten eine laue Brise auf mich zuströmte. Der Sitz unter mir erwärmte sich langsam. Ich seufzte leise auf und ließ mich nach hinten sinken, während ich registrierte, dass das klamme Gefühl aus meinem Körper wich. Taichi fuhr zwischen den Bäumen hervor, in Richtung des Tores und stoppte. Verwirrt sah ich zu ihm hinüber, aber er starrte mit verkniffenem Blick nach vorne, biss sich auf die Lippe. Mit einem beiläufigen Griff schaltete er das Fernlicht ein und ich zuckte erschrocken zusammen, als ich eine dunkle Gestalt erkannte, die hinter dem Tor stand. Die Eisenstangen glitten beiseite und die Person kam auf uns zu, langsam, die Schultern tief herab hängend, als ob er eine Tonnenschwere Last tragen würde. „Wer ist…?“, fing ich an, aber da war Taichi auch schon aus dem Wagen gesprungen. Er packte die Gestalt an den Armen, zog sie mit sich in Richtung seines Autos und dabei rutschte ihr die nasse Kapuze vom Gesicht. Vor Schreck verschluckte ich mich an meinem eigenen Atem. Shusuke. ~ Yamatos POV ~ Kein Geräusch durchdrang die Stille. Sie waberte um mich herum, lullte mich ein und verstopfte meine Ohren. Hockte in meinem Gehörgang wie dicke, undurchdringliche Watte. Ich konnte nicht einmal meinen eigenen Herzschlag hören. Meinen Atem. Um mich herum herrschte ein eisiges Schweigen, dass ich nicht durchbrechen konnte. Dass niemand durchbrechen konnte. Es drückte mich zu Boden, presste mich auf den alten, billigen Teppich und saß gackernd auf mir. Unsichtbare Finger strichen über meinen Hals, meine Brust, wieder hinauf und legten sich sanft um meinen Kopf. Drückten seitlich gegen meinen Schädel und ein hoher Piepston hallte hinter meinen Augen wider. Ich sah mich um, doch in der Dunkelheit konnte ich nichts sehen. Meine Vorhänge waren zugezogen, der Rollladen hinunter gelassen worden. Die Wohnung hinter der Türe war leer, die Lichter waren allesamt ausgeschaltet. Mein Vater war fort. Schon seit einiger Zeit. Ich wusste nicht, wohin er gegangen war; wann er gegangen war. Er hatte mir noch einen wüsten Ausdruck an den Kopf geschleudert, ein letztes Mal gegen das Holz gehämmert und war dann verschwunden. Die Glühbirnen erloschen und die Schwärze war unter dem Türschlitz zu mir gekrochen, hatte sich neben mich gesetzt und mich mit weit geöffnetem Rachen angestarrt. Ich spürte meinen Körper nicht mehr, obwohl ich mich noch bewegen konnte. Ich strich über meinen Unterarm und fühlte die Berührung, das federleichte Tasten meiner Hände auf meinem Arm, aber nicht das Gefühl des Kontakts in meinen Fingerspitzen. Als ob jemand anders meine Glieder führen würde, wie eine Marionette zur Belustigung meines dunklen Gasts. Kurz schloss ich die Augen, aber ich wusste nicht, ob ich es wirklich getan hatte. In der Wohnung war es dunkel. In meinem Zimmer war es dunkel. Hinter meinen Lidern war es dunkel. In meinem Kopf war es dunkel. Von draußen begann der Regen die Fensterscheiben zu trommeln und durchbrach die Stille im Raum wie ein Peitschenschlag. Ich zuckte zusammen, starrte nach vorne, aber ich konnte mein Fenster nicht erkennen. Noch immer war ich von Schwärze umgeben, die nicht einmal Schatten und Schemen erkennen ließ. Das Prasseln hämmerte gegen mein Trommelfell, lachte und gackerte leise. Dann begann er leise zu jaulen, ein getretener Hund in einem weit entfernten Käfig. Vorsichtig hob ich die Hände, prüfte mit einem fahrigen Berühren der Finger, dass ich sie auch wirklich bewegte, und presste sich gegen meine Ohren. Das Rauschen wurde tiefer, das Piepsen kam zurück. Wurde laut, schrie kurz auf und verschwand dann abrupt. Das tiefe Rauschen blieb. Umso näher ich die Handflächen gegen die Seiten meines Kopfes presste, umso dunkler wurde es, bis es fast zur Gänze verschwand. Aber meine Arme konnten nicht in dieser Situation bleiben, meine linke Hand begann zu beben und zu zittern und ich ließ sie wieder sinken. Das Prasseln schlug in voller Lautstärke wieder auf mich ein. Ich rappelte mich hoch, stützte mich an der Tür ab und lehnte mich an das Holz. Meine Beine waren weich, als ob ich schon Tage regungslos hier gesessen und sie nicht mehr benutzt hätte. Dabei waren es doch höchstens einige Stunden gewesen… oder? Irgendwo dort im Dunkel stand mein kleiner, digitaler Wecker auf dem Nachttisch. Ich müsste nur hinüber gehen, auf die Spitze tippen und das Ziffernblatt würde aufleuchten. Aber meine Füße machten keinen Schritt. Blieben an Ort und Stelle, verwurzelt wie alte Bäume. Meine Hand glitt an dem Türrahmen hinunter, über die blättrige, alte Farbe, bis ich das Schlüsselloch gefunden hatte. Zaghaft umfasste ich das kleine Stück Metal, ruckelte daran und begann ihn zu drehen. IM Uhrzeigersinn, zu mir hin. Einmal, Zweimal. Doch kurz vor dem dritten Mal stoppte ich. Ich wusste nicht wieso. Meine Hände machten einfach nicht weiter. Selbst als ich mich umdrehte, die zweite Hand dazu nahm und den Schlüssel fest mit beiden Händen packte, konnte ich nicht fortfahren. Dabei gab es keinen Grund, jetzt nicht endlich wieder aus meinem Zimmer zu kommen. Dad war doch verschwunden. Er hatte aufgehört gegen das Holz zu hämmern und war gegangen. Er war verschwunden, verschwunden, verschwunden, verschwunden, ver— Meine Arme zitterten, meine Hände umfassten bebend den Schlüssel. Ich lehnte die Stirn gegen die Tür, atmete tief ein und aus und merkte gleichzeitig, dass mein Atem sich nicht beruhigen wollte. Er wurde wieder panischer, die Luft strömte aus meinen Lungen heraus und presste sich dann wieder viel zu schnell hinein. Ich verschluckte mich, hustete und würgte. Presste meinen Oberkörper gegen das Holz, schloss die Lider und biss die Zähne zusammen. Meine Augen begannen heiß zu brennen, zu jucken und ich wusste, dass ich gleich wieder zu heulen anfangen würde. Ich hielt die Luft an und drückte die Lippen zusammen. Zählte bis zehn. Bis zwanzig. Bis dreißig… Bunte Pünktchen begannen hinter meinen geschlossenen Lidern zu tanzen, drehten sich im Kreise und flogen über meinem Kopf durch die Luft. Beinahe schon panisch öffnete ich den Mund wieder, holte rasselnd Luft und lauschte meinem eigenen Atem, der sich langsam wieder rationalisierte. Hörte mir so lange zu, bis ich mich vollkommen beruhigt hatte. Mein Herz wieder in seinem normalen Rhythmus schlug. Mein Puls das Blut wieder in einem sanften Pumpen durch meinen Körper strömen ließ. Mit einem Ruck drehte ich den Schlüssel ein letztes Mal herum. Es knackte laut, die Türe löste sich aus ihrer Starre und kam mir mit leichtem Druck entgegen, als ich die Klinke hinunter drückte. Der übrige Teil der Wohnung war genauso dunkel wie mein Zimmer. Glücklicherweise kannte ich mich so gut aus, dass ich nicht Gefahr lief, gegen eine Kommode oder einen Schrank zu laufen. Langsam tasteten sich meine Füße über den Boden, der alte, abgewetzte Teppich drückte seinen Borsten gegen meine Ballen als ob er mich zurück halten wollte. Ich blieb stehen, kratzte mich am Knöchel. Hörte ein lautes Rascheln, Stimmen im Flur und erstarrte. Noch bevor ich die Möglichkeit hatte wieder zurück in mein Zimmer zu flüchten, in irgendein anderes Zimmer oder auch nur ansatzweise in Deckung zu gehen, sperrte jemand von außen die Wohnungstür auf und platzte laut polternd hinein. Grelles Licht stürmte herein, stürzte sich auf meine geweiteten Pillen und ich riss erschrocken die Hände vors Gesicht. Die fremden Stimmen rauschten in meinem Kopf und ich brauchte einen Augenblick, um mein Herz zu beruhigen, das seinen Marathon von vorhin wieder aufgenommen hatte. Dann nahm ich die Hände wieder runter, erkannte die Personen vor mir und trat überrascht einen Schritt zurück. Stolperte beinahe über meine eigenen Füße. „T—Taichi? Takeru?“, hauchte ich perplex und dann fiel ich doch noch nach hinten, als ich die dritte Person im Bunde erkannte, die gebückt und mit gesenktem Kopf hinter meinem Bruder und meinem Freund stand. „Shusuke?“ Shusuke zuckte bei der Erwähnung seines Namens zusammen, hob den Kopf und sah aus blutunterlaufenen Augen zu mir hinüber. Er sah so schlecht aus, wie ich mich fühlte und für einen kurzen Moment verspürte ich Mitleid mit ihm. Ich biss mir auf die Unterlippe, hinderte das lodernde Mitgefühl in meinem Innern daran auszubrechen. Die drei Jungen zogen sich die Schuhe aus, Takeru schloss die Türe und schaltete das Licht im Flur ein. Als ich Taichis graues Gesicht besser erkennen konnte, war ich erleichtert und fühlte mich gleichzeitig schlecht. Sah er wegen mir so grauenvoll aus? „Hey, Yama“, sagte Taichi erschöpft, schenkte mir ein erleichtertes Lächeln und kam auf mich zu. Zog mich an seinen warmen, großen Körper und ich lehnte mich widerstandslos an ihn. Schlang die Arme um seine Hüfte und atmete seinen herben, maskulinen Geruch ein. Es tat gut, ihn so nah zu spüren. Nach dem Streit mit meinem Vater brauchte ich das, seine Nähe, die Zuflucht, die er mir bot, das Vertrauen, das durch jede seine Poren zu strömen schien. Ich spürte, wie er mich sanft auf den Kopf küsste und lächelte. „Wieso seid ihr hier?“, fragte ich leise, löste mich ein Stück von ihm und sah zu ihm hinauf. Sein Gesicht hatte allein in den letzten paar Sekunden ein wenig mehr Farbe bekommen, er wirkte wieder lebendiger und das Lächeln auf seinen Lippen fröhlicher. „Wir haben uns Sorgen um dich gemacht“, antwortete mein Bruder an Taichis Stelle, stellte sich neben uns und musterte mich nachdenklich. „Ist auch alles in Ordnung mit dir? Was hat Dad gemacht? Habt ihr euch gestritten?“ Er strich mir besorgt eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ich fing seine Hand ein und drückte sie beruhigend. „Keine Angst, mir geht’s gut, ehrlich.“ „Dafür siehst du aber ziemlich scheiße aus“, bemerkte Shusuke brummend von seinem Platz aus, direkt neben der Garderobe. „Du siehst nicht besser aus“, fauchte ich reflexartig zurück und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen, als Shusuke ertappt zusammen fuhr. Er biss sich auf die Lippe, wich meinem Blick aus und zog die Schultern hoch. Sein dunkles Haar betonte die Ringe unter seinen Augen, er war merkwürdig blass und seine Lippen blutig gebissen. „Jetzt geht euch nicht gleich wieder an die Gurgel“, fuhr Taichi hastig dazwischen. „Shusuke ist hier, um mit dir zu reden. Und ich will, dass du ihm zuhörst – nur einmal. Bitte Yama.“ Ich seufzte leise. Ich wollte mich nicht von Taichi lösen, seine warmen Hände auf meinem Rücken missen, und erst recht wollte ich mich nicht mit Shusuke unterhalten. Er war sicherlich ein netter junger Mann, möglicherweise annähernd intelligent und humorvoll. Aber das zählte für mich nicht. Yuri und er hatten mich fünf Jahre lang fast täglich geschlagen, manchmal so schlimm, dass ich an etlichen Stellen blutete und die blauen Flecken über Monate nicht mehr verschwanden. Es würde durch ein einfaches Tut mir leid nicht wett gemacht werden. Worte wogen nicht gegen Fäuste auf. „… in Ordnung“, antwortete ich schließlich leise, mied Shusukes Blick und sah stattdessen zu meinem Bruder. Takeru lächelte mich aufmunternd an, reckte beide Daumen in die Höhe und ich wünschte mir einmal mehr in meinem Leben, dass ich mir etwas von seinem Optimismus leihen könnte, um endlich alles so positiv zu sehen wie er. Er hatte eine genauso schwere Vergangenheit gehabt wie ich, aber er ließ sich nicht davon nieder machten. Er hatte keinen Nervenzusammenbruch, keine hysterischen Anfälle. Er schlitzte sich nicht die Pulsadern auf. Er war stark. Er war fröhlich. Er war mein kleiner Bruder. Irgendwo in meiner Brust glühte ein kleiner Funken Stolz. Ich ging ins Wohnzimmer, Shusuke folgte mir. Takeru und Taichi blieben im Flur und ich wollte schon den Mund öffnen, sie fragen, warum sie uns alleine ließen, aber sie schüttelten beide nur den Kopf und ich schwieg. Da ich annahm, sie wollten, dass wir uns in Ruhe aussprachen, lehnte ich die Türe an. Shusuke setzte sich zögernd auf die Couchkante, als hätte er Angst, sie könnte ihn fressen. Sein Blick schweifte unruhig durch den Raum, blieb an mir hängen und wanderte hastig wieder davon. Schweigend setzte ich mich neben ihn. „… hast du geweint?“, fragte er mich nach einer Weile leise und ich stutzte überrascht. Woher – „Deine Augen sind rot“, er zeigte auf mein Gesicht und ein sanftes Lächeln huschte über seine Züge. Ich war viel zu perplex, um auch nur in irgendeiner Weise zu reagieren. Starrte ihn nur an, wie er seufzte, das Kinn auf den Händen abstützte und zu unserem Fernseher sah. Er war nicht an, der Bildschirm war schwarz, aber das schien Shusuke nicht zu stören. „D-deine auch“, platzte es schließlich aus mir heraus und er sah zu mir, offenbar überrascht, dass ich überhaupt etwas sagte. Dann lachte er leise. Freudlos und ein klein wenig verzweifelt. „Kein Wunder. Ich hab die ganze letzte Nacht geheult wie ein Kleinkind und heute Morgen auch noch“, sagte er und schien dabei ein wenig beschämt. Auf seinen blassen Wangen erschien ein sanfter Rosaschimmer, der ihn gleich ein wenig gesünder aussehen ließ. „Ich… ich war richtig deprimiert. All der Mist mit Selbstmitleid und… hm, meistens hab ich wegen dir geheult.“ „Wa… wegen mir?“, hauchte ich irritiert. „Aber wieso?“ „Weil… tja“, er verzog den Mund, „Weil ich ein ziemlicher Idiot bin. Ein Arsch. Ein dummer, dummer Egoist. Weil ich dich vier –“ „—fünf“, rutschte es mir heraus, aber Shusuke nahm es mir nicht übel. „Weil ich dich fünf Jahre lang geschlagen habe. Ich bin einfach ein… ein Trottel“, er sah auf seine Hände, krallte sie nervös ineinander, um das Zittern zu unterdrücken. Im Moment wirkte er zerbrechlich, angreifbar. Einsam und elend. Nie hätte ich mir vorstellen können, ihn einmal so zu sehen. Gerade Shusuke, der mich geschlagen hatte, der immer ein so großes Ego, ein so großes Selbstbewusstsein an den Tag gelegt hatte und sich von nichts und wieder nichts unter kriegen ließ. „Ich… willst du wissen, wieso wir mit dem Mist angefangen haben? Wieso ich damit angefangen und Yuri dann da mit rein gezerrt habe?“ Ich wollte es nicht hören. Der Grund würde die Narben nicht verblassen lassen, genauso wenig wie seine Entschuldigung. Seine Reue. Aber Taichi hatte gesagt, dass ich ihm zuhören sollte. Damit ich ihm verzeihen konnte. Noch war ich mir nicht ganz sicher, ob ich das konnte. Nach fünf Jahren, in denen sich mein Magen vor Angstkrämpfen praktisch in Nichts aufgelöst hatte, fiel es mir schwer an so etwas wie Vergebung überhaupt zu denken. Schließlich konnte er sich nicht damit heraus reden, dass er nicht gewusst hätte, was er da tat. Er war jedes Mal bei vollem Bewusstsein gewesen, genauso wie Yuri, sein kleiner, greller Freund, und sie waren oft genug hämisch und demütigend gewesen. Sie hatten mich nicht nur physisch verletzt, sondern auch psychisch so unter Druck gesetzt, dass ich mich manchmal Morgens vor der Schule mehrere Male übergeben hatte, so sehr hatte die Panik mir zugesetzt. Trotzdem nickte ich. „Ja.“ Shusukes Mundwinkel zuckten erneut, in einem kläglichen Versuch ein Lächeln zu bilden. „Ich…“, er atmete tief durch. „Ich…. bin in dich verknallt, Yamato. Schon seit ich sieben oder acht Jahre alt bin.“ Entsetzt starrte ich ihn an. „Wa–?!“ „Richtig gehört“, schnitt er mir das Wort ab, vergrub das Gesicht in den Händen und gab ein trockenes Schluchzen von sich. „Ich bin so heftig in dich verknallt, dass ich seit Jahren nur noch von dir Träume. Nachts und tagsüber auch. Sogar wenn ich mir einen runter hole denke ich an dich! Und verdammt, ich hasse mich dafür! Ich hasse es, dass ich in dich verliebt bin. Und… o Yamato, es tut mir so leid. Ich war so wütend, dass… dass dir nie aufgefallen ist, dass ich dich liebe. Ich konnte sagen, was ich wollte, du hast es einfach nicht gerafft! Und wenn ich versucht habe, dir näher zu kommen, bist du auf Abstand gegangen. Irgendwann bin ich dann ausgerastet. Und ich hab mit Yuri drüber geredet. Und—und er meinte, wenn er so sehr in jemanden verknallt wäre und der würde es nicht merken, dann würde er ihm in schlimmsten Falle gewaltsam zeigen, wie sehr er ihn mochte!“ Er japste, biss sich auf die Lippe und holte tief Luft. „Ich hab natürlich total überreagiert. Ich hab—ich hab dich geschlagen und es tat mir so leid, aber ich konnte nicht aufhören! Solange ich dir weh tat, war ich dein Mittelpunkt. Du hast immer nur mich angesehen und—und das war so… ich hab mich so gut gefühlt… Endlich hatte ich deine volle Aufmerksamkeit! Du hast mich in den Pausen beobachtet, genauso wie ich dich immer beobachte. Und im Unterricht auch. Ich – Herrgott, ich weiß, dass ist alles so scheiße von mir. Aber ich konnte einfach nicht aufhören. Ich wollte nur… ich wollte nur, dass du mich so ansiehst, wie du Taichi ansiehst… nur ein einziges Mal“, ein kläglicher Laut entschlüpfte seiner Kehle und ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er weinte. Starr vor Schreck saß ich neben ihm und konnte mich nicht rühren, wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Atem und sein ersticktes Schluchzen waren das einzige Geräusch in dem sonst so stillen Raum. Es war kalt, niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Heizung anzuschalten und ich sah die sanfte Gänsehaut auf Shusukes Unterarmen. Er zitterte am ganzen Körper und ich fühlte einen stechenden, brennenden Schmerz, der nicht körperlich war. Und obwohl ich mir fest auf die Lippe biss, verschwand er nicht. Ich hatte Mitleid mit ihm. Mit Shusuke. Ich war dabei ihm zu verzeihen, dabei wollte ich das doch gar nicht. Er hatte mir weh getan. Er hatte die letzten Jahre auf der Schule für mich zur Hölle gemacht, ich hatte meinen Bruder wegen ihm angelogen. Ich hatte mir selbst die Nase gerichtet, als er sie gebrochen hatte! Ich hatte meine eigenen Wunden flicken müssen, während er mit seinem dummen Freund in der Besenkammer rum machte! Er… war ein rabiater Arsch. Diese…Ausrede war ein grauenhaftes Klischee; es war lächerlich! Wenn er mich liebte, wenn er es wirklich tat, dann hätte er nicht zur Gewalt gegriffen, ganz gleich was sein minderbemittelter kleiner Freund dazu gesagt hätte. Ein harter, schmerzhafter Knoten krampfte sich in meinem Magen zusammen, der nicht fort ging. Ein Knoten aus all den Erinnerungen an Schmerz und Tränen und Blut und blaue Flecken und Schürfwunden. Die Erinnerung brannte hinter meinen Augen, während ich wusste, dass das fehlende Feuer der Wut bedeutete, das sich dabei war, ihm wirklich zu verzeihen. Aber ich wollte ihm nicht verzeihen. Vorsichtig streckte ich die Hand aus, berührte ihn zaghaft an der Schulter und er fuhr mit einem lauten Keuchen zusammen. Seine gehetzten, wässrigen Augen suchten meine, hielten meinen Blick fest und sahen mich verständnislos an. „Es… es tut mir wirklich leid“, flüsterte er mit belegter Stimme. „Wirklich Yamato. I—ich weiß, dass das durch ein paar Worte nicht wieder ungeschehen gemacht werden kann. Ich weiß, dass… dass wir dir unglaublich weh getan haben, aber… Yamato, es tut mir so leid. Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurück spulen und alles zurück nehmen. Alles, wirklich. Es tut mir so leid.“ Seine Wangen waren tränennass und für einen kurzen Moment zwickte mich die Schadenfreude, doch ich schupste sie zurück. Atmete tief durch. Ich konnte ihm nicht für immer böse sein oder? Irgendwann würde es mich mehr zerstören als ihn… Zaghaft nahm ich seine zitternde Hand in meine, merkte, dass auch meine Finger leicht zitterten, und erwiderte seines fassungslosen Blick. Sein Mund ging auf und zu, wie der von einem Karpfen, er schnappte nach Luft, sagte ein oder zwei Mal meinen Namen, aber er gab keinen sinnvollen Satz von sich. Sein Blick klebte auf mir, seine Finger verkrallten sich fest mit meinen. Er legte seine zweite darüber, drückte zu und sah mit glasigem Blick zu Boden. Seine Unterlippe zitterte verdächtig, aber ich sagte nichts. Ich hätte gar nicht gewusst, was. „… danke, Yamato“, wisperte er nach einer Weile nur, seine Stimme ein leiser Hauch, der warm meinen Handrücken streifte. Stumm sah ich ihn an. „D-doch, ehrlich“, er lächelte kläglich, „das bedeutet mir wirklich viel. Ehrlich.“ Er hatte ein bisschen mehr Farbe im Gesicht als vorher. Seine Augen wirkten nicht mehr so trüb. So leer. Mit einem sanften Seufzen richtete er sich auf, drückte den Rücken gerade durch und sah zu mir. Ich konnte seinen Blick nicht deuten. Er leckte sich langsam über die Lippe, musterte mich und dann lief er klein wenig rosa an. „Darf ich… ich meine, wü—würde es dir etwas ausmachen, wenn… wenn ich dich umarme?“ Wie bitte? „Um… na ja, um es zu besiegeln. Ich tu sonst auch nichts, versprochen“ –für einen winzigen Augenblick schlich ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht– „ich weiß ja, dass du Taichis Eigentum bist.“ Meine Wangen begannen zu glühen, ich wusste, dass ich regelrecht leuchten musste wie eine Verkehrsampel und zuckte unschlüssig mit den Schultern, ein unangenehmes Gefühl im Bauch; am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen. Er näherte sich mir zaghaft, legte seine Hände auf meinen Rücken und drückte kurz seinen kantigen Körper an meinen. Es fühlte sich anders an, als jegliche Umarmungen mit Taichi. Ungewohnt. Kühler. Vorsichtig fuhren meine Hände hoch zu seinen Schultern, krallten sich sanft in sein T-Shirt und überrascht merkte ich, dass der Stoff feucht war. Aber ich fragte nicht, warum. Stattdessen lauschte ich seinem warmen Atem, der auf mein Schlüsselbein traf, spürte sein wild hämmerndes Herz. Dann löste er sich wieder von mir. Behutsam, jede Bewegung in Zeitlupe ausgeführt. Seine braunen Augen sahen mich gutmütig an, mit dem Hauch eines Lächelns. Ich wusste nicht recht, was ich erwidern sollte. Shusuke ließ den Kopf wieder sinken, sah hinunter auf seine Hände und seine Lippen formten lautlose Worte. Er kratzte sich über die Wange. Sagte nichts mehr. Kraftlos sank ich zurück in die Kissen, spürte Shusukes Präsenz neben mir regungslos auf der Couch. Er rührte sich nicht, nur seine Augen strichen ruhelos durch den Raum. Fanden einen Fixpunkt und blieben wie hypnotisiert darauf kleben. Ich wandte mich, folgte seinem Blick zu dem Regal, das neben dem Fernseher stand, bis hin zu dem kleinen Bilderrahmen und dem alten, vergilbten Foto. Das unscharfe Profil von Mum, ein kleiner, lachender Takeru und ein kleines, schlafendes Ich zusammen auf einer bunten Picknickdecke, im Hintergrund ein Spielplatz. Neben mir schniefte Shusuke, räusperte sich leise und ich spürte den durchdringenden Blick seiner Augen auf meinem Gesicht. Aber ich weigerte mich, ihn anzusehen. Eine Weile blieb es noch still zwischen uns, während ich unverwandt auf das Bild starrte und mich an den kleinen fremden Jungen erinnerte. An Shusuke. „Also…akzeptierst du meine Entschuldigung?“, fragte Shusuke schließlich zögerlich und rutschte unruhig auf dem Sofa umher, schluckte laut. Ich nickte und hörte ihn erleichtert ausatmen, nur um dann den Atem anzuhalten; „Aber das heißt nicht, dass ich dir verzeihe.“ Part XVII END ♠ tbc... ♠ Happy New Year! Mein Neujahrsgeschenk an euch, ein neues Kapitel. Ein riesiges Dankeschön, an alle Leser und natürlich an alle, die so fleissig und so lieb kommentieren (, , , , , , , , u.v.m), ihr seid wirklich mein größter Antrieb! Es freut mich, dass ihr der Geschichte immer noch folgt, obwohl ich immer so lange mit neuen Kapiteln brauche. Ab jetzt geht es in den Endspurt, nur noch 2 Kapitel! Love you guys Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)