He wasn't what I want but what I needed von Yu_B_Su (Ich wollte doch nur eine Hollandaise-Pizza!) ================================================================================ Kapitel 1: He wasn't -------------------- Hallo, und herzlich willkommen zu dieser FF! Leider hat der Songtext nur wenig mit der Story zu tun, aber ich liebe den Ausdruck, weil er mal umgangssprachlich ist. Einfach mal 'reinhauen', das hat Spaß gemacht! Euch viel Spaß beim Lesen! Titel: Avril Lavigne - „He wasn’t“ He wasn’t what I wanted but what I needed ‘Klingelingeling!’, klingelt es schrill. Endlich, ENDLICH! Nach gefühlten 300 Jahren werden gleich alle derzeitigen Träume (Essen, Sex, Schlafen) erfüllt sein, was für ein Glück! Ich schlittere checkermäßig durch meine zerramschte Bude und reiße die Tür auf. „Hi, du bist…“, soweit komme ich noch, bevor mir alle Tassen aus dem Schrank fallen und ich nur aus frühkindlich erzogener Höflichkeit keine Gratis-Arschtritte an Klingelanten verschenke. DAS habe ich nicht erwartet. Ich wollte nur eine Pizza haben, mit Tomatensoße, Hähnchenfleisch, Broccoli und Sauce hollandaise. Und dazu einen knackigen Pizzaboten, der keine Fragen stellt und mich einmal, aber gerne auch mehrmals, bis zur Besinnungslosigkeit durchwichst, um mich danach friedlich einschlafen zu lassen. Ein muskulöser Kerl, einem Bodybuilder-Kaiser gleich, braungebrannt oder getant, groß, tiefe Stimme, wenig Worte – die ideale, perfekte Männlichkeit eben. Ich muss lächeln. Ist echt komisch. Normalerweise stehe ich überhaupt nicht auf solche Typen. Eigentlich hasse ich riesige Oberarme, breite Schultern und melanom-braune Haut. Sicher, nach Mann sollen sie aussehen, die Typen, die mich antörnen, aber sie sollen auch etwas weiches haben, ein Funkeln in den Augen, eine samtige Stimme, die mir ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Aber seit ausgerechnet jener Mensch, der all das auf das Perfekteste vereinte, von mir gegangen ist, ist alles anders. Ich gab ihm immer alles, was ich konnte, und er gab mir, was ich brauchte, die perfekte Symbiose. Es war ein Nehmen, aber vor allem ein Geben, von mir. Und dann hat er mich einfach verlassen. Von einem Tag auf den anderen. Er meinte plötzlich, dass er sich bei mir nie wie etwas Besonderes gefühlt habe, alles sei für mich so selbstverständlich. Und dann ist er gegangen. Ich hab eine Weile depressiv in meiner Bude gehockt, bis ich mir gesagt habe ‚Gut er ist weg – endlich Zeit, das Leben zu genießen, bis ich verrecke!’ Das bedeutet Nehmen, Nehmen, Nehmen ohne auch nur irgendetwas zurückzugeben! Essen, Saufen, Ficken, Fixen bis zum bitteren Ende! Lieber fett und vollgefixt sterben als dünn und depressiv! Das ganze Leben ist eine Party! Fuck the world, fuck yourself – that’s it! „Ähm… ich bin der Pizzabote…“, wispert die halbe Portion an der Tür. Ich reibe mir die Augen, könnte eine Halluzination sein, wäre bei der Menge Koks im Blut nicht verwunderlich. Ich öffne die Augen erneut und fluche. Shit. Nix hat sich verändert, alles ist real, kein knackiger Hühne, sondern ein kleines Jungchen, höchstens Mittelstufe, blass, dürr, ein Kleinkind auf das man aufpassen muss und das das Kamasutra für einen Rührkuchen hält. Genervt reiße ich dem winzigen Würmchen den Karton aus der Hand, stecke einen Geldschein in seine Hosentasche und knalle die Tür zu, noch bevor er etwas sagen kann. Ich bahne mir meinen Weg durch meine völlig zertrümmerte Bude, über Stuhlbeine und halbierte Regalböden, zersplittertes Glas und zerknülltes Papier, vorbei an herausgerissenen Stromkabeln und einem gedrittelten Laptop zum Wohnzimmer und lümmle mich auf die Couch. TV glotzen und dabei chillig Pizza futtern, das ist es! Ich öffne den Pizzakarton – KAZUO, du Arschloch!, ich könnte die ganze Bude noch mal zerlegen, wenn sie nicht schon ein Schrottplatz wäre! Dieser verdammte Kazuo! Nennt sich mein Freund und klatzscht mir statt der Hollandaise-Pizza doch einen Haufen Gemüse auf einem Teigfladen vor die Füße! Hat der einen Knall?! Sicher, er heißt meinen exzessiven Lebenswandel nicht gut, aber muss er mich jetzt auch noch behindern? Ich brauche ihn nicht, ich brauche NIEMANDEN! Ich könnte jetzt zu ihm stürmen und seinen Pizza-Schuppen kurz und klein schlagen... Aber ich habe eine bessere Idee: Soll das kleine, arme Würstchen die Drecksarbeit machen, dann erfährt es auch gleich, wie es ist, ausgenutzt zu werden! Ich öffne die Tür, vor der das kleine Bübchen immer noch wie ein Schoßhündchen steht und sich verwirrt umguckt. „Also“, sage ich laut, „du gehst jetzt brav zu deinem Chef, knallst ihm den Karton vor die Füße und sagst ihm, dass ich sofort einen ordentlichen Kerl und eine Hollandaise-Pizza haben will, sonst ist sein Laden Geschichte! Und dass er bitte aufhören soll, sich ungefragt in mein Leben einzumischen!“ So, geschafft, gleich zischt die halbe Portion ab! …. Wieso steht der immer noch da? … „Nein.“, das kleine Bübchen erhebt fest seine hohe Stimme und widerspricht! Hat er sie noch alle? Ich bin doppelt so groß, doppelt so schön und habe dreimal so viel Charme! Der Winzling kann nicht Nein sagen, er soll überhaupt nichts sagen! „Wie bitte?“, frage ich fordernd. „Nein.“, antwortet der kleine Junge unbeeindruckt. „Verschwinde!“, ich schreie fast, durch das Treppenhaus klingt meine Stimme noch bedrohlicher. „Nein.“, erwidert er fest. Ich verliere langsam die Geduld. „Und warum nicht? Bist du festgewachsen?“ „Mein Cousin hat gesagt, ich soll auf dich aufpassen.“, erklärt das arme Würstchen. „Und wie viel gibt er dir dafür?“, ich lehne mich an den Türrahmen. Das Gespräch wird wohl länger dauern. „Nichts.“ „Nichts?“ „Nichts.“ „Und warum machst du es dann?“, sein Wortschatz ist so bemerkenswert! „Einfach so.“, das kleine Bübchen klingt erstaunlich ehrlich, was fast schon wieder unehrlich wirkt. „Einfach so? Du stehst nicht zufällig auf mich?“, frage ich misstrauisch. „Mädchen sprechen mich mehr an.“, antwortet die halbe Portion. „Gut,“, halte ich sherlock-holmes-mäßig fest, „Du sollst auf mich aufpassen – hast du vielleicht ein Fünf-Punkte-Programm aufgestellt? – 1. mich zur Weißglut treiben, 2. mich dazu bringen, meine Seele zu entblößen, 3. mir zuhören, 4. mir gute Ratschläge geben und 5. mich in den Arm nehmen?“, meine Ironie ist so bösartig, dass ich mich selbst vor Ekel übergeben könnte. „Du hast eine ziemlich kaputte Wohnung. Wenn man sie aufräumt, sieht sie sicher wieder gut aus!“, während ich so selbstgefällig vor mich hingequatzscht habe, ist das kleine Mistwürmchen einfach eingetreten! „Was würdest du denn machen, wenn dich die Liebe deines Lebens mit scheiß-scheinheiligen Argumenten verlässt?“, frage ich provokativ. „Ich würde weinen.“, antwortet der Kleine und das glaube ich ihm sogar. „Das war eine rhetorische Frage! War ja klar, dass du das als Mittelstufler nicht verstehst!“, irgendwie hoffe ich immer noch, dass die kleine Nervensäge bald einen Abflug macht. „Ich gehe in die 10. Klasse der Teitan-Mittelschule und ich habe die Frage verstanden. Ich würde wirklich weinen.“, erklärt die halbe Portion. „Oh, wie süß!“, mir wird schlecht von soviel Zucker, „Nach einer Drei-Wochen-Beziehung würde ich auch weinen! Aber nachdem du sieben Jahre vom Abi bis zum Ende des Studiums mit jemandem verbracht hast, würdest du nicht nur weinen!“ „Ich würde etwas länger weinen, aber ich würde nicht mit fremden Männern schlafen, für die ich nichts empfinde.“, diese Naivität ist bemerkenswert! „Aha.“, stelle ich fest, „Und was machst du danach? Mit deinen Legobausteinen spielen?“ „Danach würde ich mir denken, dass es nicht das beste Mädchen war und daran, dass ich Astronaut werden will.“ „Du lebst dein Leben weiter – wie niedlich! Wie naiv! Du heulst eine Weile und danach lebst du weiter, als sei nichts geschehen! Du verdrängst die Beziehung! Schöne Variante, darüber hinwegzukommen! Echt, du musst noch viel lernen! Soll ich mit dir anbandeln, damit du es kapierst?“, mein verkrampftes Lächeln soll nur übertünchen, dass ich ihn am liebsten achtkantig rauswerfen würde, weil mir sein seichtes Gebabbel total auf den Keks geht. „Ich wäre nicht hier, wenn ich es verdrängen würde…“, höre ich ihn leise murmeln, bin mir aber nicht sicher, ob ich ihn verstanden habe. „Wie bitte?“ „Ich finde die Kommode echt hübsch!“, er zeigt auf ein Häufchen aus dunkelbraunem Holz. „Von meiner Großmutter, ca. 100 Jahre alt.“, sage ich trocken. „Du hast ein Erbstück deiner Oma zertrümmert?“, fragt der Kleine entrüstet, „Deine Oma hat doch gar nichts damit zu tun!“ „Mein Leben ist im Arsch, da macht es keinen Unterschied, welchen Teil ich als Kollateralschaden klein gehackt habe.“, sage ich unbeeindruckt. „Das macht man nicht!“, der Kleine ist echt fertig! „Schönheit ist nun mal vergänglich.“ „Aber Erinnerung nicht!“, die halbe Portion wird langsam wütend, „Du willst keine Hilfe, oder? Du wehrst alles ab, schlägst alle Türen zu, noch bevor sie sich geöffnet haben!“ „Richtig!“, ich applaudiere, „Willst du für die Metapher vielleicht einen Orden haben?“ „Wir müssen aufräumen.“, sagt das kleine Würmchen plötzlich. „Wir müssen gar nichts!“, antworte ich prompt. „Du kannst dich in eine Ecke setzen und ich räume auf.“, meint der das jetzt ernst oder hat er sich eine Scheibe Ironie von mir abgeschnitten? „DU MACHST GAR NICHTS IN MEINER WOHNUNG!“, fauche ich. „Soll ich alles wegschmeißen?“, der kleine Psychopath lächelt fies und hebt ein Stück Regal in die Höhe. „Du machst gar nichts.“, ich versuche ruhiger zu werden, die Aufregung ist er nicht wert. „Bedeutet dir das doch etwas?“, fragt er gemein. „Nein, ich mag es nur nicht, wenn jemand in meinem Leben rumkramt!“ „Hier sieht es ja noch schlimmer aus, als ich gedacht habe, wie hast du das nur gemacht?“, der kleine Winzling ist weitergelaufen und guckt sich im Wohnzimmer um. Ich folge ihm, nicht, dass er noch Wurzeln schlägt. „Wenn du es genau wissen willst: zuerst habe ich die Vitrine zerstört, sie stand am nächsten und die Glasscheibe kaputt zu hauen war echt erleichternd. Danach den Rest der Schrankwand, Schubladen, Regalböden, alles. Dann habe ich mich an den Couchtisch gemacht, ein bisschen mit dem Hammer musste ich aber nachhelfen. Danach mussten die Gardinen dran glauben, der Teppich hat einen Kiste Rotwein, eine Schwarzwälderkirschtorte und ein Glas Nussnougatcreme abbekommen, die Bilder habe ich angezündet. Dann war der Flur dran; ich habe das Telefonkabel rausgerissen, den Spiegel zerstört, die Kleiderharken abgerissen. Danach alle Möbel, die noch nicht kaputt waren. Zum Schluss habe ich den Laptop kleingehauen und that’s it!“, mir ging es echt super dabei! Eine Müllhalde spiegelt genau das wider, was ich gerade fühle – einen Haufen Scheiße. „Hast du irgendwo Holzleim?“, fragt er, als hätte er mich überhört. Der Kleine ist entweder unendlich naiv oder total gaga. „Zuerst willst du meine Wohnung AUFRÄUMEN und jetzt willst du sie REPARIEREN?“ „Ja, will ich. Wenn deine Wohnung aufgeräumt ist, bist du es auch und dir geht es wieder besser!“, antwortet er unbeeindruckt. „Du denkst nicht wirklich, dass ich einfach dabei zusehe, wie du in meiner Wohnung rumfummelst, oder?“, ich werde wieder wütend. „Du musst nicht dabei zusehen. Du kannst auch rausgehen – einkaufen, Kino, Sex, das möchtest du doch, oder?“ „Wie bitte?! Ich soll mir von einem kleinen Wurm sagen lassen, dass ich rumwichsen soll?“ „Du bist hübsch, du findest schon jemanden. Außerdem musst du ja nicht mit jemandem schlafen, du kannst auch essen.“, will er mir wirklich sagen, was ich zu TUN habe? „Ich soll MEIN Geld ausgeben, damit ein FREMDER meine WOHNUNG aufräumt? Hast du einen Knall?“ „Ich glaube nicht. Ich habe in der Schule nur Einsen. Außerdem war das nur eine Idee. Du kannst ja auch hier bleiben.“, diese Kleine-Mädchen-Unschuld ist eklig. „Und genau das werde ich tun! Besorg mir eine Kiste Wein, ich lege mich vor die Glotze und lasse mich volllaufen, loswerden werde ich dich wohl nicht mehr.“, mir gefällt die Idee überhaupt nicht, aber mir bleibt nix anderes übrig. Wenn ich Kazuos Cousin windelweich prügel, gibt es keine Billig-Pizza mehr und das wäre fatal. Aber mit Alkohol und lauter Musik lässt sich fast alles ertragen! Und da ich natürlich keinen Holzleim im Haus habe, ich kann besser mit Zahlen jonglieren als mit Werkzeugen, mal abgesehen davon, dass ein echter Kerl keinen Leim benutzt, zischt der Kleine ab und lässt eine Rauchwolke zurück. Ich rechne durch. Bis zum nächsten Bastelgeschäft braucht man zu Fuß circa fünfzehneinhalb Minuten, reingehen, suchen und bezahlen eingerechnet bleiben mir genau 40 Minuten abzüglich fünfundzwanzig Prozent für die Rauchwolke. Dreißig Minuten um entweder das Weite zu suchen, mich volllaufen zu lassen oder die Tür zu verbarrikadieren. Ich beschließe zuerst Kazuo anzurufen und ihm zu sagen, dass er sein Schoßhündchen zurück pfeifen soll. Ich wähle die Nummer, aber unglücklicherweise ist er grade auf dem Klo. Zehn Minuten später auch noch. Langsam glaube ich mich in einem Krimi, das Pizzakomplott, das baldige Mordopfer, das eine Ankündigung bekommen hat, aber weder weis wann, noch warum es umgebracht werden soll. Ich durchwühle Schränke, in der Hoffnung, Schlafpillen oder große Mengen harten Alkohols aufzufinden. Bis mir einfällt, dass ich ziemlich verantwortungslos handle. Wenn dem kleinen Würmchen irgendwas passiert und ich völlig dicht bei der Polizei oder im Krankenhaus anrufe, halten die mich für den Täter! Im Knast soll es zwar besser sein, als hier draußen, aber so ein Aufenthalt macht sich im CV ziemlich schlecht. Ich lümmle mich wieder auf die Couch, will grade die Glotze anmachen, als es klingelt. Ich füge mich meinem Schicksal, nicht auszuschließen, dass der Kleine einen Dittrich oder sowas hat. „Hallo!“, begrüßt er mich fröhlich und zählt auf, was er alles gekauft hat, „Wein, Holzleim, Schrauben, extrastarke Mülltüten.“, den Rest lässt er mich leider nicht sehen. Wahrscheinlich Kram für Kazuo. Ohne seine Begrüßung zu erwidern schmeiße ich mich auf die Couch und schalte den Fernseher an. Nachmittagstalk, wie geil, „Sieben Kinder – du spinnst ja!“, sowas braucht die Welt! Ich höre den Winzling kramen, vermutlich sucht er in meiner Küche nach einem Platz für den Wein. Tut er nicht: Wie ein Kellner reicht er mir ein Glas und gießt stilvoll das rote Getränk ein. „Was soll das?“, frage ich verwirrt. „Wein trinkt man aus dem Glas, man muss das Aroma schmecken, man muss es genießen!“, erklärt er. „Ja klar, und danach soll ich jeder einzelnen Traube gedenken! Zum hinter die Binde kippen sind Flaschen besser.“, sage ich trocken, nehme aber trotzdem ein Schlückchen. Gefällt mir irgendwie. Hat etwas ungewohntes. Man schmeckt tatsächlich was. Das Gefühl von Macht. Über mich. Über die Situation. Soll er machen, was er will, ich habe in diesem Gläschen Wein mehr Würde als er in seinem ganzen Leben! Ich lege die Füße hoch und trinke, während er im Raum rumwuselt. Nach einer Weile ruhigem, geräuschvollen Kramen und dem dritten Gerichtsfall fragt er mich: „Erzähl mir was von deiner Oma!“ Ich schweige. Keine Lust. „Erzähl schon! Wenn dir deine Oma so ein tolles Schränkchen – oh, die Knäufe sind echt toll! – vermacht hat, dann muss sie ein ziemlich wichtiger Mensch gewesen sein.“, er lässt nicht locker. „ ‚Vermacht’ ist etwas übertrieben. Ich habe es gerettet. Als ich vierzehn war, haben meine Verwandten sie wegen ihrer Altersdemenz in ein Pflegeheim weit weg gesteckt und danach die Bude ausgeräumt. Die Kommode sollte eigentlich auf den Sperrmüll wandern, aber ich habe protestiert. Das erste Mal, dass mich meine Eltern als Persönlichkeit wahrgenommen haben; ich habe geschrieen, gestampft und sie schließlich einfach in mein Zimmer geräumt.“ „Und warum ausgerechnet diese Kommode?“, fragt er interessiert. „Als ich klein war, haben meine Eltern mich immer bei ihr abgeladen. Mein Vater ist Banker, er lebt für die Finanzen, meine Mutter muss als Verkäuferin in Schichten arbeiten, ich habe die halbe Kindheit bei meiner Großmutter verbracht. Ihre Wohnung war immer ein Ort der Ruhe, auch wenn sie an der Hauptstraße wohnte, sie hatte keine technischen Geräte, bis auf den Kühlschrank und die Lampen und einen Fernseher, der aber nie lief, sie hatte viele Bücher und einen großen Garten. Ich fühle mich heute immer noch zwiegespalten: ich bin ein Städter, durch und durch, aber die Natur zieht mich an wie ein Magnet, obwohl ich nie dauerhaft im Wald leben könnte. Sie hat sich für mich interessiert, alles, was ich tat, hat sie fröhlich gemacht, selbst ein Lob für ihr Essen hat sie zum Lachen gebracht. Meinen Eltern war ich irgendwie immer egal. Ist auch nicht verwunderlich, wenn man immer um die eigene Zukunft Angst haben muss.“ „Elternersatz“, fasst er zusammen. „Richtig.“, stimme ich zu. „Und warum dann diese Kommode?“ Ich überlege eine Weile. Es ist eine gute Frage. Aber es hat mich irgendwie befreit. „Weil ich wusste, dass sie schön bleiben würde, egal, wie sie aussieht. Selbst wenn ich sie kaputt haue, wäre es immer noch die Kommode meiner Großmutter. Und wenn meine ganze Bude schon ein Schrottplatz ist, kann ich die Kommode nicht wie einen Heiligenschrein dastehen lassen.“ „Klingt komisch, aber ich kann es verstehen.“, erklärt der Kleine nach einer Weile. „Was ist mit dir?“, der fünfte Gerichtsfall hat gerade angefangen, „Irgendwelche Lieblingsmöbel?“ „Nein, ich mag alles. Ich lebe seit meiner Geburt in ein und demselben Zimmer, ich habe mich an die Möbel gewöhnt.“ „Du magst keine Veränderung, oder?“, schlussfolgere ich, „Und wenn, dann versuchst du sofort, die alte Ordnung wieder herzustellen. Daher weinst du nie lange.“, vielleicht liegt es am Wein, aber ich fühle mich plötzlich richtig gut. „Wer mag schon Veränderungen?“, fragt er zurück, „Wir Menschen behaupten immer, dass Veränderungen gut seien. Aber nach einiger Zeit hätten wir gerne unseren schönen, monotonen Alltag wieder, wir hätten gerne einen Ausblick, wie die nahe Zukunft aussieht. Selbst du versuchst das, indem du dich so lange betäubst, bis sich das Blatt wendet und jemand in dein Leben tritt, der dich glücklich macht.“, stellt das kleine Holzwürmchen fest. „Ist das schlimm?“, frage ich ruhig. „Ich denke nicht.“, antwortet er, „Hoffnung ist schön.“ Ich lasse es unkommentiert und widme mich nun einer Realityshow. Geil. Gerade schlammcatchen zwei extension-behangene Schönheitschirurgen-Weiber um 100.000 $ und zicken sich, den Mund voll Schlamm, an, als er mich erneut anspricht. „Sag mal, was ist denn das?“, er scheint der Kommode überdrüssig geworden zu sein und hält mir ein zerknülltes Stück Papier vor die Nase. Ich schlucke. Das könnte gefährlich werden. Eine Kinokarte vom 27. August vor sieben Jahren. Ich muss aufpassen, dass ich jetzt nicht zu gefühlsdusselig werde. Das Kapitel ist abgeschlossen. „Eine Kinokarte.“, antworte ich nichtssagend. „Das sehe ich“, erwidert er nett, „Aber du gehst doch nicht allein ins Kino?“ „Schmeiß sie in einen der schwarzen Müllsäcke.“, versuche ich ihn abzuwimmeln. „Du warst in … Terminator … hätte ich dir nicht zugetraut.“, er lässt nicht locker. „Du kennst mich nicht, du musst mir nichts zutrauen. Aber wenn es dich glücklich macht: ich stehe tatsächlich nicht auf solchen Kram, genauso wie er. Aber er hat damals gemeint, echte Kerle müssten Terminator gucken. Seine Art von Humor.“, Shit, verraten, es wird gefährlich. „Wer ist er?“, ist der so naiv oder tut er nur so? „Wer wohl? Mein Ex natürlich!“, sage ich gereizt, kann mich aber blöderweise nicht der Magie der Kinokarte entziehen. Die wunderschöne, schmerzhafte Erinnerung kommt mit Lichtgeschwindigkeit angeschossen, „Es war unser erstes Date. Obwohl wir uns schon eine Weile kannten. Ich erinnere mich noch genau an unsere erste Begegnung: der erste Schultag nach den Sommerferien, morgens um sieben saß ich auf einer Bank im Schulhof und wartete darauf, dass die Zeit verging. Da ich außerhalb der Stadt wohnte, musste ich einen Überlandbus nehmen, und die fahren alle 2 Stunden, und morgens um sieben ist auch noch nix los. Ich saß also da und starrte Löcher in die Luft, als mich jemand von hinten antippte und total erschreckte. Er sagte, er sei ein neuer Schüler, wüsste aber nicht, wo er hin müsste. Ich betrachtete ihn, er sah ziemlich konfus aus: Batikshirt, blonde Löckchen, zerrissene Cordhose, ausgelatzschte Turnschuhe. Und ziemlich blaue Augen. Ich sagte ihm genervt, dass er eine Stunde zu früh dran war, fragte, wohin er wollte und es stellte sich heraus, dass wir in dieselbe Klasse gingen. Er erzählte, dass er vor kurzem mit seinen Eltern hergezogen war, sie hatten einen neuen Job. Ich war froh eine Beschäftigung zu haben, morgens um sieben, und erzählte ihm alles, was er wissen musste; Pausenzeiten, gute Lehrer, schlechte Lehrer, einen Lageplan aller wichtigen Zimmer. Der Glanz, die kindliche Freude darüber, dass er jemanden zum Reden gefunden hatte, war ziemlich faszinierend. In einer Welt, in der alle nur auf Leistung achten, ist das echt selten. Begeistert wie er war zeigte er mir auch ein paar Bilder, die er immer mit sich rumschleppte. Sie waren sehr farbenfroh, die Sonne strahlte aus ihnen, ich bewunderte sie sehr. Aber ich kann sowas nicht. Ich kann rechnen, ziemlich gut rechnen, mir Dinge merken, das ist meine Stärke. Und darum hat er mich beneidet, dass ich immer einen Plan habe, Dinge fast vorhersehen kann. Langsam wurde er mir sympathisch und ich ihm und als die Schule endlich anfing, war es irgendwie logisch, dass wir uns zusammensetzten. Ich hätte, muss ich gestehen“, Fassung wahren, nicht zuviel erzählen!, „nie gedacht, dass aus dieser Sympathie irgendwann mal Freundschaft, geschweige denn Liebe werden würde. Bis er mich eines Tages, wir waren an der Bushaltestelle, der Bus war nur noch ein paar Meter entfernt, einfach umarmte. Ich dachte wir verabschieden uns mit einem warmen Händedruck, wie immer. Aber er fiel über mich her, er war so warm und weich und mir blieb nichts anderes übrig, als seine Umarmung zu erwidern. Ich verpasste den Bus und löste mich nach einigen Sekunden erstaunt. ‚Was sollte das?’, fragte ich. ‚Tut mir leid, ich wollte dir einfach danken.’, antwortete er fast unschuldig. ‚Aber Jungs machen sowas nicht.’, ich war nicht sauer, nur verwirrt. ‚Straighte Jungs nicht, verrückte Künstler schon. Ist das ein Problem für dich?’, fragte er nett. Ich musste erstmal eine Weile überlegen, bis ich darauf kam, was er meinte. Jetzt war ich wirklich verwirrt und antwortete: ‚Ich weis es nicht. Tut mir leid!’ Dann ging ich, so schnell ich konnte. Ich bin den ganzen Weg nach Hause gelaufen und kam erst Stunden später an. Mein neuer Freund war schwul und stand auf mich. Ich hatte schon unterschwellig gemerkt, dass unsere Verbindung enger als eine Freundschaft war, aber als er es dann aussprach, war es komisch. Ich stand auf Mädchen und Mädchen standen auf mich, allein aus Karrieregründen war das besser und ich fühlte mich gut dabei. Aber als er mich umarmt hatte… ein warmer Blitzschlag. Ich wusste, dass ich nur zwei Möglichkeiten hatte: meinem Gefühl vertrauen und mich einfach drauf einlassen oder ihn abschießen. Drei verschwiegene Tage später erklärte ich ihm, dass ich mich auf seine Gefühle einlassen, aber es langsam angehen lassen würde. Wir haben danach weiter gemacht wie zuvor, nur mein Herz pochte jeden Tag lauter. Irgendwann schlug er dann vor, wie bei einem richtigen Date ins Kino zu gehen. Wir standen an der Kasse, und obwohl er mehr auf tiefgründige Filme steht und ich Dokumentationen mag, wählte er einfach ‚Terminator’ aus. Als wir dann im Kino gesessen haben, das war …“, ein wohliger Schauer aus verschiedenen Gefühlen stürmte auf mich ein, „magisch. Wir saßen wie elektrisiert nebeneinander, wir fanden den Film langweilig, er spielte mit meiner Hand, mein Fuß war um seinen geschlungen, mir war total heiß, sein Blick verriet, dass er am liebsten rauswollte, aber ich genoss diese Spannung zwischen uns. Ich empfand perfide Freude dabei, dass wir beide etwas sehnsüchtig wollten, es aber nicht bekamen. Außerdem war ich damals klein und unschuldig und einfach aus dem Kino rennen kam für mich nicht in Frage. Ich merkte, wie er immer nervöser und das Knistern zwischen uns unerträglich wurde. Glücklicherweise war der Film bald vorbei. Und er nahm meine Hand und zog mich durch die Menge hindurch aus dem Kinosaal, über Straßen und Fußwege und hielt erst inne, als wir im Stadtpark angekommen waren. ‚War echt ein schlechter Film’, bemerkte er außer Atem. ‚Das war vorher klar!’, erwiderte ich, ‚Warum bist du reingegangen?’ ‚Weil echte Kerle sowas machen!’, antwortete er lachend. ‚Wir sind aber keine echten Kerle’, wandte ich lächelnd ein. ‚Aber vielleicht wären wir welche geworden?’, grinste er und setzte sich auf eine Bank. ‚Müssen wir nicht erstmal vollwertige Männer werden?’, fragte ich. ‚So wie es aussieht, werden wir wohl vollwertige Memmen werden!’, lachte er und hielt mir die Hand hin. ‚Also zuerst das.’, sagte ich und kam zur Sache, ‚Ich will etwas, du willst etwas’, ich ergriff seine Hand, setzte mich auf ihn und sah ihm tief in die Augen. ‚Gut, dass wir uns einig sind!’, er wirkte wirklich erleichtert als mein Gesicht immer näher kam, er kam mir ein Stückchen entgegen und auf einmal schien sich das Gewitter, das in uns tobte, mit einem Schlag zu entladen. Unser erster Kuss war wunderschön. Jeder Kuss mit ihm war wunderschön. Jede Berührung von ihm war wunderschön, wie ein Sommergewitter. Danach schien immer die Sonne. Egal wie viel Stress wir gehabt haben, sobald er mich umarmte, war alles gut. Selbst nach unserem Bruch hatten seine Berührungen zwar weniger Intensität, aber die Liebe, die in ihnen vibrierte, war immer noch überwältigend. Er war überwältigend. Aber er ist weg. Jetzt spürt jemand anderes seine Liebe.“, ich werde ziemlich melancholisch, was nicht gut ist, aber jetzt daran erinnert zu werden, tut weh und die Aussicht, dass er jemand anderen so umarmt und mich vergisst, wie ein Stich ins Herz, eine Supernova, ein Atompilz. Ich kippe drei Gläser Wein hinter und will nichts mehr sagen. „Das tut mir leid.“, sagte der Kleine mitfühlend, „Aber ich glaube nicht, dass er sich so schnell wieder auf jemand Neuen einlässt. Und wie kann man seine erste Liebe vergessen? Vermutlich leidet er genauso.“ Natürlich, denke ich, wenn man keine Ahnung hat! Er war nicht sieben Jahre mit ihm zusammen, er hat nicht mit erlebt, wie er mich erst betrogen hat, ein ‚Unfall’, und mich ein paar Monate später verlies. Wie ernst seine Worte klangen, seine Sprache war so glatt und emotional emotionslos, es bestand kein Zweifel daran, dass er mich wirklich verlassen wollte, weil er sich nicht genug gewürdigt fühlte. Er meinte, ich hätte ihm nie die Tür aufgehalten, stattdessen stand sie immer weit offen und das habe ihn genervt. Er hätte immer auf das Telefon gestarrt und darauf gewartet, dass ich anriefe, aber ich hätte nie. Dabei stand ich vor ihm, ich habe mit ihm zusammengelebt! Seine Worte sind mir unverständlich, genauso wie sein Weggang. Ich höre den Kleinen noch eine Weile kramen, offensichtlich hat er es aufgegeben, glücklicherweise. Ich will nicht mehr daran erinnert werden, ich will es vergessen und warten, dass ein Engel kommt und mich rettet, ganz einfach. Zum Glück haben wir uns keine Liebesbriefe geschrieben, nur E-Mails und SMS, sonst hätte er mir die auch noch vor die Nase gehalten! Schöne E-Mails, täglich, viel und lang, besonders in den Ferien, wenn er weg war, oder einfach so zwischendurch, weil der Unterricht langweilig war. Kindisch, aber ich liebte seine Worte, ich liebte alles, was er tat, zeichnete, malte, egal ob ich es gut fand oder nicht, aber irgendwie liebte ich es. Naja, es ist vorbei. Die dritte Realityshow läuft gerade an, zwölf Männer kämpfen um eine superreiche, superdumme Millionärstochter, wie geil!, als er vor mich tritt. „Ist was?“, frage ich und gieße mir Wein ein. „Was ist das?“, fragt er zurück und zeigt auf den Platz vor mir. „Ein Haufen Scherben.“, antworte ich trocken. Denkt der wirklich, dass ich ihm von dem Glastisch erzähle? „Das sehe ich.“, erwartet er eine Antwort? „Schön, dass du das siehst! Dann räum doch die Scherben weg, das wolltest du doch, oder?“, erwidere ich kalt. „Ich will erst wissen, was es damit auf sich hat!“, oh, er wird langsam fordernd! „Die Geschichte vom elipsenförmigen Glastisch beginnt im Glaswerk, setzt sich im Möbelhaus fort und endet vor einem zebrafarbenen, mittlerweile pechschwarzen Sofa. Ein normaler Glastisch in einem x-beliebigen Wohnzimmer in einer x-beliebigen Wohnung in einer x-beliebigen Stadt.“, erkläre ich gelangweilt. „Versuch nicht vom Thema abzulenken!“, sagt er ruhig, „Das Wohnzimmer ist neben der Küche DER Kommunikationsort. Hier müssen sich Dinge ereignet haben, die sehr wichtig für dich waren.“, der Kleine geht mir sowas von auf die Nerven! „Wenn du alles weisst, warum fragst du dann? Möchtest du eine Urkunde und einen Schokoteddy für die glorreiche Erkenntnis haben, dass sich vor diesem Sofa alles abgespielt hat? Dass er mich erst verführt, mir von seinem Seitensprung erzählt und mich schließlich verlassen hat?“, ich werde ziemlich wütend. „Das tut mir leid.“, diese kleine, naive Mistkröte! „Es tut dir leid? ES TUT DIR LEID? Hast du sie noch alle? Mischst dich in die Dinge anderer Leute ein und heuchelst auch noch Mitleid? Du hast doch keine Ahnung! Du weist nicht, wie es ist, wenn dir jemand mit genau dem unschuldigen Gesicht wie deines gegenübersitzt und dir beichtet, dass er einfach so aus lauter Jux und Tollerei mit jemand anderem in die Kiste gehuppt ist! Es war Prüfungszeit, stressig, wir sahen uns nicht so oft, aber deswegen fickt man nicht einfach irgendjemanden! Er sagte, es wäre nichts, er hätte Stress, er hätte gemerkt, dass es nichts bringen würde, es war für ihn nichts, GAR NICHTS! Für mich brach eine Welt zusammen! Und er wollte weitermachen wie bisher! Hat super hingehauen! Ich hatte Angst, ich hatte solche Angst, dass ich alles tat, um unsere Beziehung zu retten – und was war? Ein halbes Jahr später haben wir wieder hier gesessen, er hat mir gesagt, dass es keinen Sinn mehr hätte, Abstand brauche, sich nicht genug gewürdigt fühle! Und dann ist er gegangen. Er hätte wenigstens diesen Scheiß-Tisch mitnehmen können!“, ich bin ziemlich in Rage. Jetzt, wo ich noch mal darüber spreche, ist es noch viel schmerzvoller als in meinen Gedanken, „Und jetzt frag nicht, warum ich das Scheißteil kleingehackt habe!“ „Das wollte ich nicht.“, sagt die halbe Tote-Oma-Portion. „Das hättest du dir vorher überlegen müssen!“, antworte ich kalt. „Aber ich wollte das nicht!“, der Kleine wird ziemlich fusselig. „Könntest du bitte aufhören, dir wegen mir Vorwürfe zu machen? Das nervt! Schon klar, dass so ein kleines Würmchen aus der Mittelstufe von sovielen Grausamkeiten überwältigt ist, aber du solltest abwarten: wenn man es selbst erlebt, ist es um Längen besser!“, der Sarkasmus am Ende soll ihn eigentlich aufmuntern, tut er aber nicht. Stattdessen läuft mein Möchtegern-Psychotherapeut ungewohnt unruhig im Zimmer umher. „Das wollte ich nicht! Ich bin an allem schuld! ICH! Ich muss hier raus! Ich will nicht mehr! Ich muss raus! ICH MUSS RAUS!“, ich weis zwar nicht, was los ist, aber jetzt, wo er angefangen hat, wird er nirgendwo hingehen! „Du bleibst schön hier! Kazuo hat dich beauftragt und du wirst seinen Auftrag schön ausführen! Jetzt, wo du meine halbe Bude aufgeräumt hast, kannst du nicht abhauen!“ „Aber ich bin nicht nur Kazuos Cousin! Ich bin der Seitensprung!“ Ich glaube mich verhört zu haben. Das kann nicht sein! Das kann nicht sein. Nicht diese halbe Portion. Auf so ein Niveau hätte er sich nie begeben. „Ist ja nett, wenn du mir helfen willst, aber du musst keine Schuld auf dich nehmen, wenn du unschuldig bist.“ „Das ist keine Lüge! Ich bin an allem schuld! Ich habe ihn über Kazuo kennengelernt, wir haben uns zufällig in der Pizzaria getroffen. Er war fertig, weil sein Freund so mit den Prüfungen beschäftigt war, er brauchte jemanden, der ihn umarmt. Und wir haben geredet und geredet und irgendwann … Er hat sich danach sogar entschuldigt, dass er mich einfach benutzt hat, er hat sich schrecklich gefühlt und gesagt, du unersetztlich bist!“ „Du willst mir wirklich sagen, dass er mich wegen dir verlassen hat? Wegen dir kleinem Würmchen?“, ich bin nicht sauer auf ihn, ich frage mich eher, wie mein Ex nur so einen schlechten Geschmack haben konnte. „Er hat dich nicht wegen mir verlassen! Als ich ihn danach gefragt habe, hat er gesagt, dass du ihn nach dem Geständnis total eingeengt hast, vermutlich hattest du Angst, dass du ihn verlieren würdest; du hast alles für ihn getan und das hat ihm Angst gemacht, er dachte, er wird dir das nie zurückzahlen können!“ „Und deswegen verlässt er mich, tolle Variante! Also bist du mit ihm zusammen und hergekommen, um zu berichten wie mies es mir geht?“, all die Enttäuschung kommt mir hoch, vielleicht liegt es am Wein, aber ich würde gerne kotzen. „Nein, du verstehst das völlig falsch!“, versucht sich das kleine Würmchen zu verteidigen, „Ich bin nicht mit ihm zusammen, ganz im Gegenteil, ich sehe, wie schlecht es ihm wegen der Trennung geht und deswegen will ich euch wieder zusammenbringen!“, ich glaube, wenn er so weitermacht, hat er in fünf Minuten einen Herzinfarkt. „Und warum kommt er nicht selber, wenn es ihm sooooooo leid tut? Stattdessen schickt er seinen Einmal-Lover?“, zuerst verlässt er mich und dann will er, dass ICH mich entschuldige? Der hat doch einen Knall! „Weill er dazu nicht fähig ist! Du müsstest ihn mal sehen! Er läuft im Anzug rum, obwohl er nicht mal eine Krawatte binden kann!“ „Konnte er noch nie.“, werfe ich ein. „Und er hat eine Zahlen-Neurose entwickelt! Er zählt alles, selbst die Haare auf dem Fußboden, Ameisen, Brotkrümel, alles, dann rechnet er sie irgendwie zusammen und schreibt es auf! Er hat seine Farben im Keller eingeschlossen und hat seit Wochen kein einziges Bild mehr gemalt! Er ist kein Künstler mehr!“ „Ist das mein Problem?“, frage ich trocken. Schade, dass er nicht mehr malt, aber was geht mich das an? „Das sagst du doch nur, weil es dir genauso mies geht! Ihr seid solche Egoisten!“, brüllt er mich an. Aber das beeindruckt mich nicht. „Ich fasse mal zusammen: er hat mich verlassen, weil ich ihm zu klette-mäßig wurde und jetzt will er ausgerechnet, dass ich Klette zu ihm zurückkehre?“ Das kleine Würmchen ist völlig angenervt und verschwindet aus meinem Blickfeld. Es freut mich irgendwie, dass er mich zurück haben will. Ich vermisse ihn, ohne seine Anwesenheit fehlt wirklich etwas in meinem Leben. Ich schaue mich um. Hab wirklich ziemlichen Schaden angerichtet; alles ist in Trümmern, überall liegen Splitter, Glas, Holz, gefällt mir irgendwie nicht mehr. Aber warum hat er mir das nie gesagt? Wir konnten doch immer über alles reden! Stattdessen die kryptischen Worte mit der Tür. Klar wird mir jetzt einiges klar. Ich hätte ihm nicht jeden Wunsch von den Augen ablesen sollen, nicht jedes Bild, dass ich scheiße fand, überschwänglich loben sollen und das mit dem Hinterhertelefonieren war wirklich übertrieben. Hab mich ziemlich verloren. Ich bin wirklich ein Egoist. Jetzt habe ich mich wieder, auch wenn ich mich in ein Wrack verwandelt habe. Vermutlich war es das; er hat mich vermisst, deswegen hat er mich verlassen. Aber musste er mich deswegen gleich verlassen? Und sich sowas antun? Vielleicht sollte ich mal nachfragen? Aber zuerst... Ich gehe in die Küche, hole Kehrschaufel und Besen und kehre die Scherben auf. Ich kippe sie in eine extra Mülltüte, vielleicht kann er sie für ein neues Kunstwerk verwenden? Dann nehme ich den Holzleim, Bohrmaschine und Schrauben und versuche zu retten, was noch zu retten ist. Der Teppich überlebt es vermutlich nicht, auch das Sofa ist ein Fall für den Sperrmüll, aber die Kommode und die Schrankwand werden es schaffen. Ich bin gerade fröhlich am Werkeln als das kleine Würmchen aka Mister Beziehungskitter wieder vor meiner Nase auftaucht. Er hält mir ein Flugzeugmodell und den Rest eines Bildes vor die Nase. „Was ist das?“, die übliche Frage. „Ein Flugzeugmodell und die Hälfte des Bildes, das uns beiden so gefallen hat. Das Flugzeugmodell symbolisiert meine Leidenschaft für das Fliegen, und dass ich gerne Pilot geworden wäre, wenn sie mich nicht wegen meiner Kurzsichtigkeit und anderer Weh-Wehchen ausgemustert hätten und du willst mir damit sagen, dass ich mich beim Flughafen als Wirtschaftsberater oder so bewerben soll.“, antworte ich lehrbuchmäßig, während seine Augen immer größer werden, „Und das Bild hängt auch in seiner Wohnung. Es hat uns beiden so gefallen, weil es so fröhlich ist, und dennoch traurig. Es passt gut zu uns beiden. Und du willst mir damit sagen, dass ich zu ihm gehen, mich mit ihm versöhnen soll. Aber jetzt möchte ich dir mal etwas sagen:“, bevor ich weiterreden kann, unterbricht er mich. „Geht es dir gut?“, er legt mir die Hand auf die Stirn. „Mir geht es gut, wolltest du das nicht?“, frage ich ironisch. „Ich dachte … du bist noch immer so traurig…“, er ist echt verwirrt, der kleine Mittelstufler. „Ich möchte dir etwas sagen: du gehst jetzt zu ihm, räumst SEINE Wohnung auf, wäschst ihm den Kopf, von mir aus kannst du ihm auch sagen, dass ich ihn noch immer ziemlich dufte finde, und auf dem Weg dorthin bestellst du bitte eine Hollandaise-Pizza mit einem hässlichen Pizzaboten.“ „Wirklich?“, der Kleine wird ganz euphorisch und freut sich wie auf einem Kindergeburtstag, „Du bist mir nicht böse?“ „Du hast schon genug gelitten. Außerdem fresse ich keine kleinen Mittelstufler.“, sage ich lachend, „Aber tu mir den Gefallen und lass dich nie wieder mit depressiven und-oder vergebenen Typen ein. In ein paar Jahren bekommst du nämlich keinen Mittelstufler-Bonus mehr und wie mies man sich fühlt, weist du ja jetzt!“ Der Kleine will hüpfend einen Abflug machen, als ich ihm ein Glas ‚Rotwein’ in die Hand drücke: „Damit dein Kreislauf vor lauter Freude nicht schlapp macht!“ „Ich darf noch keinen Alkohol trinken.“, wendet er verwundert ein. Ich grinse. „Wir beide wissen, dass da kein Tropfen Alkohol drin ist. Denkst du ich als kurzzeitiger Gewohnheitstrinker merke es nicht, wenn du mir alkoholfreien Rotwein unterjubelst?“ „Danke!“, sagt er und trinkt sein Schlückchen aus. „Ich danke dir.“, erwidere ich nett. Locker-flockig-fröhlich hoppelt er davon. Das nächste Mal kommt er nicht so glimpflich davon! Ich setzte mich in meine Bude, räume auf, klebe, schraube, bohre, knabbere zwischenzeitlich vor Nervosität über die Ungewissheit an meinen Fingernägeln und warte darauf, dass er endlich kommt. Damit unser beider Leben endlich wieder vollständig ist. Hosted by Animexx e.V. 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