Everlasting von julien (Ruki x Kai) ================================================================================ Kapitel 2: ----------- War Ruki anfangs noch fest davon überzeugt, dass man ihm wirklich nur einen großen und in seinen Augen extrem unlustigen Streich spielte, dämmerte es ihm bald, dass ihm tatsächlich über 3 Jahre fehlten. Spätestens nachdem er den Fernseher angeschaltet und die Nachrichten geschaut hatte, musste er sich geschlagen geben. Es war September 2009 und er hatte nicht die geringste Ahnung davon, was zwischen März 2006 und jetzt passiert war. Das machte ihm Angst. Er kam sich wie ein kleines, hilfloses Kind vor und das hasste er. Er wusste ja noch nicht mal, wo er mittlerweile wohnte. Auf den Entlassungspapieren hatte eine ihm völlig unbekannte Adresse gestanden. Hatte er etwa nicht mehr seine coole (und leicht chaotische) Wohnung in Nakano? Und die Sache mit Kai… die bereitete ihm schlimmere Kopfschmerzen als seine Platzwunde es jemals könnte. Er konnte sich absolut nicht vorstellen, dass er mit dem Drummer zusammen war. Das war doch… absurd! Klar, Kai war ein netter Typ und rein objektiv betrachtet auch ganz niedlich, wenn er beispielsweise lächelte, aber er war ein Mann und Ruki war bisher nur mit Frauen zusammen gewesen. Mehr als eine freundschaftliche Umarmung hatte er für einen Kerl nicht übrig. Es gefiel ihm auch gar nicht, dass Kai ihn heute abholen und nach Hause bringen wollte. Er wollte keine Zeit mit Kai verbringen und schon gar nicht mit ihm alleine sein. Wer weiß, was Kai von ihm erwartete… Wobei... so ein Mensch war Kai ja auch wieder nicht, da tat Ruki ihm Unrecht, aber er hatte die Hosen trotzdem gestrichen voll, denn er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Während er seine Sachen packte, fühlte er sich, als wäre er auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung. Zu allem Überfluss fiel ihm dann auch noch sein Handy in die Hände, auf dessen Display ein Foto von ihm und Kai als Hintergrundbild eingerichtet war. Zwar war es ein völlig unverfängliches Bild, wo beide einfach nur in die Kamera lächelten, aber es reichte, um Ruki völlig aus der Bahn zu werfen. Er hatte einen Freund! Einen festen Freund! Schnell schaltete er sein Telefon aus und steckte es zurück in seine Tasche. Er würde es vorerst sowieso nicht brauchen, denn er wollte keine weiteren unangenehmen Überraschungen erleben, wenn ihn jemand anrief, den er dann nicht kannte. Mit seiner Mutter hatte er am Morgen gesprochen und auch dies war mehr als seltsam gewesen, weil er gar nicht richtig wusste, was er ihr erzählen konnte und was nicht. Wusste sie von ihm und Kai? Wer wusste überhaupt von ihnen oder hatten sie am Ende eine geheime Beziehung? All das würde er Kai wohl oder übel fragen müssen, aber ehrlich gesagt hatte er im Moment überhaupt keine Lust den Drummer zu sehen. Hoffentlich würde er ein bisschen Zeit für sich haben können, wenn er in seiner Wohnung war… bis seine Mutter kam. Die hatte nämlich für den Abend ihren Besuch angekündigt. Gut, Ruki konnte ja verstehen, dass sie besorgt war, aber abgesehen davon, dass er sich an ein paar Einzelheiten nicht erinnern konnte, ging es ihm ja gut. Er seufzte, als es an der Tür klopfte und kurz darauf Kai den Raum betrat. „Hey, hast du alles gepackt? Warte, ich helfe dir.“ Der Drummer eilte auf ihn zu und nahm ihm eine der zahllosen Tüten ab, die Ruki vom Bett genommen hatte. Ruki zuckte kurz zusammen, als sich ihre Hände berührten und auch Kai hielt inne, sah ihn stumm an und ließ dann fast die Tüten fallen. Natürlich war es Ruki nicht entgangen, wie traurig Kais Blick ausgesehen hatte, aber was sollte er machen? Er konnte nun mal nicht so tun, als wäre Kai sein Freund, wenn er das in seiner Welt einfach nicht war. „Hoffentlich ist das bald vorbei“, murmelte Kai und verließ das Zimmer. Der Meinung konnte sich Ruki ausnahmsweise anschließen, obwohl er sich sein Leben 2009 immer noch nicht vorstellen konnte. Aber vielleicht kamen mit der Erinnerung ja auch die Gefühle zurück. Vielleicht aber auch nicht, denn vorstellen konnte er es sich nicht. Er nahm den Rest seiner Sachen und folgte Kai, der im Gang vor dem Fahrstuhl wartete und die Wand daneben anstarrte. Ruki schaute unsicher zu ihm hoch und überlegte, ob er etwas sagen sollte, ließ es aber, da er keine Ahnung hatte, was der Situation angemessen wäre. Während sie noch im Auto saßen und sich anschwiegen, suchte Ruki in seiner Tasche nach seinen Schlüsseln für die Wohnung. Glücklicherweise hingen nur vier Schlüssel am Bund, wovon der kleinste wohl zum Briefkasten gehörte und der mit dem schwarzen Kopf zu einem Auto. Ein Auto? Er? Er hatte doch gar keinen Führerschein, oder doch? „Hab ich ein Auto?“, fragte er Kai, als sie an einer Kreuzung halten mussten, und hielt ihm den Schlüssel unter die Nase. „Nein, du hast ein Motorrad“, erklärte er und Rukis Augen leuchteten auf. Ein Motorrad! „Cool!“ „Aber vielleicht fährst du das erst, nachdem du dein Gedächtnis wiedergefunden hast“, schickte Kai nüchtern hinterher und schaute Ruki ernst an. Ruki wurde ein wenig nervös, als Kai mit ihm hoch in die Wohnung kam. Wahrscheinlich wollte er nur kurz sicher stellen, dass Ruki sich zurecht fand und alles hatte, was er brauchte. So war Kai eben. Man konnte ihn gar nicht nicht mögen. Die Wohnung war… überwältigend. Recht groß, hell und mit Möbeln ausgestattet, die verdammt teuer aussahen. Das alles konnte er sich leisten? Wow! Seine Gedanken wurden unterbrochen, als ein kleines dunkles Fellknäul bellend um die Ecke geschossen kam und an Ruki hochsprang. Er nahm den kleinen Hund auf die Arme, schaute ihn an, schaute Kai an. „Das ist Koron. Du hast ihn seit letztem Jahr“, erklärte Kai daraufhin, zog sich die Schuhe aus und hängte seine Jacke an die Garderobe. Ruki war verwirrt und sah sich um, weil er jemand anderes vermisste. „Wo ist Sabu-chan?“, wandte er sich an Kai, der ins Wohnzimmer gegangen war und ein Fenster geöffnet hatte. Es war ja gut und schön, dass er sich noch einen Hund zugelegt hatte, aber wieso begrüßte ihn denn Sabu-chan nicht? Er konnte ihn auch nirgends entdecken. Kai sah ihn nur stumm an und seufzte. „Reg dich jetzt bitte nicht auf, Ruki, aber Sabu-chan ist vor zwei Jahren gestorben.“ Ruki schnappte nach Luft und ließ sich auf einen Sessel fallen. Sabu-chan war nicht mehr am Leben? Sein süßer kleiner Sabu-chan, der so viele Jahre an seiner Seite verbracht hatte? Scheiße, jetzt musste er wirklich mit den Tränen kämpfen. „Hey…“ Kai war zu ihm geeilt und legte einen Arm um ihn. Ruki ließ es zu, weil er gerade viel zu geknickt war, um ihn wegzustoßen oder zurechtzuweisen. Außerdem tat in solchen Momenten eine Umarmung viel zu gut. „Ich weiß, dass er dir viel bedeutet hat, aber er ist alt und krank gewesen.“ Ruki kniff die Augen zusammen und wischte mit einem Ärmel darüber. Er versuchte sich zu sammeln und den Kummer runterzuschlucken. Es brachte ja auch nichts jetzt ein zweites Mal über Sabu-chans Ableben am Boden zerstört zu sein. Da war er sicher schon einmal durchgegangen. „Schon okay“, murmelte er schließlich und sah den neuen Hund auf seinem Schoß an. Kein Sabu-chan, aber irgendwie ja auch ganz niedlich. Er kuschelte sich auf seinem Schoß zusammen, als Kai ihn streichelte, und Rukis Herz machte bei dem Anblick fast schon wieder einen kleinen Hüpfer. Dann fiel ihm auf, wie nah Kai ihm gerade war und er versteifte sich wieder etwas. Kai merkte es scheinbar, denn er sprang fast sofort auf. „Soll ich dir was zu essen machen? Ich hab gehört, du hast im Krankenhaus fast nichts gegessen.“ Das stimmte, aber das Krankenhausessen war in Rukis Augen sogar noch schlimmer gewesen als das, das man immer im Flugzeug bekam. Da hungerte er doch lieber. Kais Angebot war zwar verlockend, aber er wollte jetzt lieber alleine sein und wenn er Hunger hatte, konnte er sich ja was kommen lassen. „Danke, das ist nett, aber ich habe gerade keinen Appetit. Du kannst auch ruhig gehen. Ich komm schon klar“, sagte er freundlich und hoffte, dass es auch so rüberkam und nicht so wie der Rausschmiss, der es eigentlich war. Kai, der gerade in die Küche hatte gehen wollen, stoppte abrupt und drehte sich zu Ruki, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Zweimal. Dann schockte er Ruki ziemlich. „Ruki, wir wohnen hier zusammen…“ „Was? Wir wohnen zusammen, ohne verheiratet zu sein?!“ Ja, er hatte etwas veraltete Ansichten, aber so war das eben in Japan, er war damit nicht alleine. Dann kam ihm ein neuer, noch schockierender Gedanke, den er auch gleich aussprechen musste. „Wir sind doch nicht verheiratet, oder? Bitte sag nicht, dass die Homoehe mittlerweile legal in Japan ist und wir genau das getan haben!“ Ruki und verheiratet? Dazu mit einem Mann? Das ging gar nicht! Schnell suchte er seine Finger nach dem verräterischen Ehering ab, doch im Krankenhaus war ihm aller Schmuck abgenommen worden und lag jetzt in einem kleinen Plastikbeutel in seiner Tasche. Er war immer davon überzeugt gewesen, dass er niemals heiraten würde. Die Ehe war einfach nichts für ihn. Er wollte sein Junggesellenleben genießen und wenn er sich doch verliebte, brauchte er eine altmodische Institution wie die Ehe nicht. Kai antwortete nicht sofort, sondern schaute ihn erst verletzt, dann fast schon wütend an. „Nein, sind wir nicht. Du kannst dich also wieder abregen“, fauchte er und verschwand türeknallend in der Küche. Ruki lehnte sich zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Das war jetzt nicht so gut gelaufen, aber er war verdammt noch mal erleichtert darüber, dass er nicht verheiratet war. Dass er Kai damit so vor den Kopf gestoßen hatte, tat ihm leid, aber Kai musste doch verstehen, wie verwirrend und seltsam das alles für ihn war. Er gab ihm ein paar Minuten, folgte ihm anschließend in die Küche, um sich zu entschuldigen. Kai stand am Fenster, hatte die Arme um sich geschlungen und starrte in den Hinterhof. Unsicher stellte sich Ruki hinter ihn und tippte ihm auf die Schulter, als Kai sich nicht von alleine umdrehte. „Es tut mir leid, Kai. Ich wollte nicht, dass es so rüberkommt. Das ist alles gerade nur so komisch für mich, verstehst du? Vielleicht essen wir doch was zusammen und dann erzählst du mir von uns“, schlug er leise vor und war mehr als erleichtert, als Kai sich zu ihm umdrehte und fast so etwas wie ein Lächeln zustande brachte. Nun, Ruki war nicht unbedingt scharf drauf, Details über seine Beziehung zu einem Mann in Erfahrung zu bringen, aber er wusste, dass er einen Schritt auf Kai zugehen musste und vielleicht würde es ihm ja auch dabei helfen, sein Gedächtnis wiederzufinden. * „Seit wann sind wir zusammen?“, durchbrach Ruki die Stille beim Mittagessen, nachdem sie einige Minuten schweigend gegessen hatten. Kai hatte von sich aus nicht angefangen von ihnen zu erzählen, also nahm Ruki jetzt seinen Mut zusammen und stellte die Fragen, die ihn interessierten. Kai sah ihn an und lächelte, schien sich darüber zu freuen, dass er etwas Eigeninitiative zeigte. „Seit dem 23. Juli 2006“, sagte er und bei Ruki machte etwas klick. „Oh Gott! Das ist ja bald schon!“, stieß er hervor und trank erst mal einen Schluck. Noch vier Monate, bis er und Kai zusammen kamen. Und vorher mussten ja schon Gefühle da gewesen sein. Damit stellte sich automatisch die Frage, ob da nicht doch jetzt schon etwas war, was Ruki nur ignorierte oder angesichts seiner komischen Situation beiseite geschoben hatte. Er wurde etwas rot um die Nase und wusste gar nicht, was er jetzt noch sagen sollte. Kai lächelte ihn an und nickte. „Ja. Es ist dann irgendwie recht schnell gegangen, aber wir haben uns ja auch gezwungenermaßen oft gesehen und konnten uns gar nicht aus dem Weg gehen. Am Anfang war’s schon irgendwie komisch, aber… naja es hat halt geklappt und es sind jetzt über drei Jahre.“ „drei Jahre schon? Wow!“ Damit war Kai die längste Beziehung, die er je gehabt hatte. Vorstellen konnte er sich das aber immer noch nicht. „Ja, drei Jahre. Vielleicht verstehst du jetzt auch, dass mir das ganze hier ziemlich schwer fällt. Dass ich dich nicht anfassen kann und so.“ Ruki biss sich auf die Lippe. Jetzt fühlte er sich wie ein Arschloch. „Tut mir leid.“ „Schon okay. Ich bin es halt einfach zu sehr gewöhnt, dich um mich zu haben. Aber wenn du in zwei Wochen eh wieder der alte bist…“ Ruki nickte und aß weiter. Ob seine Amnesie wirklich so schnell vorüber gehen würde? Er hob seinen Arm und tastete etwas auf seinem Hinterkopf rum. Seine Verletzung war zwar nicht besonders groß, pochte aber dennoch ganz schön trotz der Schmerzmittel und die letzte Nacht war auch nicht besonders angenehm gewesen. Zwar schlief er am liebsten auf dem Bauch ein, aber irgendwann hatte er sich im Schlaf auf den Rücken gedreht und war von den Schmerzen wach geworden. „Also wenn du noch was fragen willst, nur raus damit.“ Ruki grübelte. Es gab da schon etwas, was er noch wissen wollte, auch wenn es ihm etwas unangenehm war, das zu fragen. „Also… haben wir… Sex?“ Da war es ausgesprochen und seine Ohren glühten regelrecht. Was für eine bescheuerte Frage. Wenn sie seit drei Jahren zusammen waren, hatten sie ganz bestimmt Sex! Kai schaute ihn überrascht an, grinste dann und schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. „So was interessiert dich?“, gluckste er und nahm einen Schluck von seinem Wasser, woran er sich prompt etwas verschluckte und loshickste. „Naja, es soll ja auch schwule Paare geben, die zwar zusammen sind, aber nicht bis zum Äußersten gehen“, verteidigte sich Ruki schmollend. „Ach ja, ich kann mich erinnern, dass du das damals auch gesagt hast. Aber wenn ich das mal so direkt sagen darf: wir sind relativ schnell im Bett gelandet und dies nicht nur auf meine Initiative hin.“ Kai grinste breit, wahrscheinlich schwelgte er gerade in Erinnerungen, während Ruki am liebsten von seinem Stuhl unter den Tisch gerutscht wäre. Klar, er mochte Sex und er war ja auch nur ein Mann, der sich ein kleines Schäferstündchen sicher nicht entgehen ließ. Aber Kai war doch auch ein Mann! Er konnte sich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, dass sein Zukunfts-Ich schwul war. Und über Sex wollte er lieber nichts mehr wissen, weswegen er das Thema etwas umschwenkte. „Meine Mutter kommt heute Abend. Weiß sie von uns?“ „Offiziell nicht, nein“, erklärte Kai und legte seine Stäbchen beiseite, weil er fertig mit essen war. „Was heißt das?“ „Du hast es ihr nie gesagt, aber Mütter merken so was und außerdem weiß sie, dass wir zusammen wohnen.“ Na toll. Das brachte Ruki auch nicht wirklich weiter. Er konnte nur hoffen, dass seine Mutter einfach keine verfänglichen Fragen stellen würde. * Seine Mutter stellte natürlich verfängliche Fragen und was noch schlimmer war: sie hatte seine kleine Schwester Hiroko mitgebracht, die sich einen abgrinste. Tja, wenn Ruki jetzt nur wüsste, was dieses kleine Miststück alles wusste. Da Kai sich aus dem Staub gemacht hatte, um Ruki Zeit mit seiner Familie zu geben, konnte er ihn nicht mal danach fragen. Daneben verunsicherte sie ihn, weil sie ihm unbewusst verdeutlichte, wie viel Zeit eigentlich vergangen war. Als Ruki sie das letzte Mal im Frühjahr gesehen hatte, war sie gerade mal 19 gewesen. Jetzt war sie plötzlich dreieinhalb Jahre älter und viel erwachsener. War er auch so sehr gealtert? Er musste jetzt 27 sein. Scheiße, das war wirklich alt! Allerdings gab ihm seine Mutter nicht die Gelegenheit sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen. Zunächst musste er die üblichen Bemutterungen über sich ergehen lassen. Ob er denn auch genug aß und vor allem gesund, ob er genug schlief und nicht zu viel arbeitete. Natürlich wollte sie wissen, wie es zu dem Unfall gekommen war, aber das wusste Ruki ja selbst nicht so genau. „Ich hab doch gesagt, ich kann mich an die letzten dreieinhalb Jahre nicht erinnern“, motzte er, „das ist wegen der retrograden Amnesie. Also nerv mich nicht mit Sachen aus dieser Zeit!“ „Sprich nicht so mit deiner Mutter! Ich meine es doch nur gut mit dir. Kümmert sich Kai denn auch genug um dich?“, fragte sie, drehte Ruki kurzerhand herum und machte sich an dem Verband an seinem Hinterkopf zu schaffen, um sich die Verletzung anzuschauen, während Ruki es vorzog, nicht auf diese Frage zu antworten. Innerlich regte er sich sowieso gerade viel zu sehr darüber aus, dass seine Mutter ihn mal wieder wie einen kleinen Jungen behandelte. „Mensch, Takanori, du hast uns wirklich einen Schrecken eingejagt, als Kai gestern angerufen und von deinem Unfall erzählt hat. Wieso rennst du denn auch in Shibuya bei rot über die Straße? Schmeiß dich doch gleich vor die Yamanote“, redete seine Mutter weiter und schüttelte unablässig den Kopf, als sie die mit 10 Stichen genähte Platzwunde sah. „Das nächste Mal dann!“, patzte Ruki zurück und schüttelte den Arm seiner Mutter ab. Ihre Bevormundungen gingen wirklich zu weit. Er war 24! NEIN! Er war sogar 27! „Jedenfalls geht es mir sehr gut und ihr hättet nicht extra herkommen müssen“, sagte er, drehte sich wieder um und sah abwechselnd zu seiner Mutter und Hiroko, welche sogleich was von „endlich mal wieder Shoppen in Tokyo“ murmelte, während seine Mutter die Hände in die Hüften stemmte. Oh nein! „Würdest du dich mal öfter bei uns blicken lassen, wär das alles kein Thema, aber wir haben dich seit April nicht gesehen. Das sind fünf Monate! Wir kriegen ja gar nichts mehr von dir mit. Erzähl doch mal was. Wie läuft es so mit Kai?“ „Mama!“, setzte Ruki verzweifelt an. Hörte sie ihm denn gar nicht zu? Er hatte ihr klipp und klar gesagt, dass er sich an die letzten paar Jahre momentan nicht erinnern konnte. Wieso musste sie ihn ausgerechnet jetzt zu seiner Homosexualität befragen, die er doch selbst noch nicht entdeckt hatte? „Ich bin deine Mutter. Denkst du, ich würde dich weniger lieb haben, wenn du nun mal mit einem Mann zusammen bist?“ Ruki wurde knallrot. In Momenten wie diesen wollte er seine Mutter am liebsten umbringen. Aber sie sprach noch weiter. „Nach all dem, was du mir in den letzten Jahren zugemutet hast! Diese Obszönitäten in deinen Texten und auf der Bühne, die einem die Schamesröte ins Gesicht treiben, dein ganzer Lebensstil. Denkst du, da schockt es mich noch, wenn du mit einem Mann zusammen bist? Selbst dein Vater hat sich schon mehrmals erkundigt, ob du eigentlich schwul bist. Du bist jetzt 27. Langsam könntest du mal damit rausrücken! Wenn du Kai nicht bei deinem nächsten Besuch mitbringst, bin ich schwer enttäuscht von dir!“ Ruki öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, aber seine Mutter hatte schon die Hand gehoben. „Darauf musst du gar nichts sagen, Takanori. Lass dir meine Worte einfach durch den Kopf gehen und wenn deine Amnesie vorüber ist, sprechen wir nochmal. Du bist bei uns jederzeit herzlich willkommen und wir würden uns wirklich freuen, wenn du öfter mal vorbei kommen würdest. Wir sehen uns dann morgen, okay? Leg dich hin und schlaf etwas. Du siehst so aus, als könntest du es gebrauchen!“ * Unschlüssig stand Ruki in der Tür zum Schlafzimmer und starrte auf das Bett, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Er war mittlerweile wirklich müde und wollte einfach nur schlafen, allerdings löste die Tatsache, dass es nur ein Schlafzimmer gab, ein ziemlich unwohles Gefühl in seinem Bauch aus. Nicht, dass er Kai etwas unterstellen wollte, aber… er fühlte sich einfach nicht wohl bei dem Gedanken, sich mit ihm ein Bett zu teilen, obwohl eigentlich nichts dabei war. Daneben wusste er auch gar nicht, auf welcher Seite des Bettes er immer schlief. Kai war bisher nicht nach Hause gekommen und Ruki wollte nicht länger auf ihn warten. Langsam ging er zum Bett, entschlossen anhand des Inhaltes der beiden Nachtschränkchen an den jeweiligen Seiten herauszufinden, wo er normalerweise schlief. In einer der Schubladen musste ja sicher persönliches Zeug von ihm drin stecken. Vorsichtig zog er die oberste Schublade auf, warf einen kurzen Blick hinein und knallte sie gleich wieder zu. Sexspielzeug. Das war mehr, als er hatte wissen wollen! Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was er und Kai so alles in ihrer Freizeit anstellten und in die anderen Schubladen wollte er jetzt auch nicht mehr gucken, denn er hatte keine Lust auf weitere, unangenehme Überraschungen. Auf welcher Seite des Bettes er eigentlich schlief, war ihm jetzt herzlich egal, Kai würde schon keinen Aufstand machen, und so legte er sich einfach hin, rollte sich zusammen und zog die Decke über sich, in der Hoffnung, dass doch alles nur ein böser Traum war und morgen alles wieder ganz normal sein würde. So müde er auch war, sein Geist kam zunächst überhaupt nicht zur Ruhe und spielte den ganzen Tag noch einmal in seinem Kopf durch. Ihm fehlten drei Jahre. Sein Hund war gestorben, er war in einer Beziehung mit einem Mann, obwohl er nicht mal schwul war und überhaupt schien sich gerade die ganze Welt gegen ihn verschworen zu haben. Er fühlte sich schrecklich einsam und alleine und konnte es nicht verhindern, dass sich Tränen in seinen Augen sammelten. Er wollte einfach nur, dass das alles endlich vorbei war. ----- Nochmal ein herzliches Dankeschön an alle Kommischreiber vom letzten Mal. Ich hab die nächsten paar Kapitel schon auf Vorrat geschrieben, aber ich werd nur ca. einmal pro Woche updaten, damit ich nicht demnächst schon wieder unter dem Druck stehe, ständig was neues zu produzieren. Ein schönes Wochenende euch allen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)