Blutrote Rosen von Yami_no_cookie ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Der eiskalte Wind trieb dem Jungen Tränen in die Augen und er zog sich seinen Anorak höher zu. Ein knallroter Anorak. Der Junge hasste diese Farbe. Sie stach so hervor; alle wurden sofort auf ihn aufmerksam! Er wollte nicht bemerkt werden, wollte untertauchen in der Menschenmasse und nie wieder gesehen werden. Es war ihm peinlich, wenn sie ihn ansahen und grinsten und dann hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Er hasste sie dafür. Ja, wie sehr er sie doch hasste. Als wenn sie nicht ihre eigenen Probleme hätten. Der Junge lies sich von der Menschentraube mitziehen, die Straßen entlang, quer über den Weihnachtsmarkt. Keiner beachtete ihn hier, dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass alle Welt ihn anstarrte, mit gaffenden Augen und offenen Mündern, jederzeit dazu bereit über ihn zu lachen. Seht mich nicht an, schaut weg, schaut weg! Er beschleunigte seine Schritte drängte sich zwischen den Leuten hindurch und immer weiter weg. Bald hatte er die großen Massen hinter sich gelassen und nur noch vereinzelte Stände tauchten vor ihm auf. Es dämmerte bereits. Nicht mehr lange und es würde dunkel sein. Die Stimmen, die aus dem geschäftigen Treiben an sein Ohr drangen, nahm er kaum war. Zwei Betrunkene torkelten vor ihm über den Bürgersteig und grölten laut „Oh du fröhliche“ und „Oh Tannenbaum“. Der Junge wich ihnen aus; kuschelte sich tiefer in seine Jacke und vergrub die Hände in den Taschen. Ihm war kalt. Wenigstens hatten die Zwei ihren Spaß. Aber Recht hatten sie: Weihnachten lies sich wirklich nur im Suff aushalten. Verbittert dachte er an die heiligen Abende der letzten Jahre zurück. Sie waren alle in einem Punkt gleich gewesen: Keine schöne Erinnerung… Insbesondere letztes Jahr… Sein Vater hatte sich dermaßen einen hinter die Binde gekippt, bis er sich nicht mehr zusammen reißen konnte und zusammen mit seinen Freunden seine Frau vergewaltigt hatte. Der Junge konnte sich noch gut daran erinnern. Die Schreie und Tränen seiner Mutter… Wie sie sich verzweifelt gewehrt hatte… Und er hatte nichts getan; hatte sich ängstlich unterm Schreibtisch zusammen gekauert und darauf gehofft, dass er verschont wurde, anstatt Hilfe zu holen. Er verstand nicht, warum seine Mutter später keinen Ton gesagt hatte. Weder zu ihm, seinem Vater, noch zu sonst irgendwem. Sie hätte die Polizei rufen müssen, aber das tat sie nicht. Sei es, weil sie Angst vor ihrem Mann hatte oder verzweifelt versuchen wollte die Familie zusammen zu halten, als würde diese nicht sowieso nur noch aus Trümmerstücken bestehen… Der Junge wusste es nicht. Und vielleicht war es auch besser, es nicht zu wissen. Sein Vater war vor einem halben Jahr abgehauen und hatte ihn mit seiner Mutter zurückgelassen. Schade um ihn war es nicht gewesen. Der Junge wünschte ihm, dass er irgendwo in einer schmutzigen, feuchten Gosse lag und langsam und unter Schmerzen verreckte. Warum seine Mutter geweint hatte, war ihm ein Rätsel geblieben. Er verstand nicht, wie man Tränen für dieses Schwein vergießen konnte… Es war mittlerweile dunkel geworden. Im Licht der Straßenlaternen sah der Junge, wie sein Atem gefror und sich als kleines Dunstwölkchen in der Luft verflüchtigte. Er wünschte, er könne sich auch so einfach auflösen. Verschwinden und nie wieder kommen... Auf der Bahnhofsbrücke blieb er stehen und schaute auf die Schienen die darunter verliefen. Sie schimmerten leicht im Lampenlicht. Hinter ihm lief ein junges Pärchen Arm in Arm vorbei. Na super, die zwei liebten sich. Der Junge verzog unwillkürlich das Gesicht. Es war, als hätte ihm jemand eine eiskalte Nadel ins Herz gestochen. Liebe… Das war etwas, wonach er sich sehnte… Schon seit er denken konnte. Aber das, dachte er und musste sich zusammen reißen um nicht zu weinen, das ist etwas, dass ich nie bekommen werde! Er starrte wieder auf die Schienen. Es wäre nur ein kurzer Schmerz…Dann wäre alles vorbei… Alles wäre überstanden. Er müsste sich nicht mehr quälen… Wenn er die Jacke auszog, war die Chance, dass man ihn fand bevor der nächste Zug kam oder es wieder hell wurde ziemlich gering. Irgendetwas zog ihn hinab in die Tiefe. Er wollte frei sein! Seine Hände pressten sich gegen das kalte Metall des Geländers als er seinen Körper nach oben drückte und - „STOPP! NICHT SPRINGEN!!“ Erschocken taumelte der Junge zurück und drehte sich um. „Was..?“ Hinter ihm stand ein anderer Junge, der ihn entsetzt aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Er starrte ebenso entsetzt zurück. Der Fremde verzog das Gesicht. „Oh“, stieß er hervor. Seine Wangen und die Nase waren leicht gerötet und in seinen dunkelbraunen Haaren hatten sich ein paar Schneeflocken verirrt. „Tut mir Leid, ich hab dich verwechselt! Ich dachte du wolltest…“, er nickte in Richtung der Schienen „na ja, du weißt schon… springen!“ Er lächelte ihn unsicher an. Oh, wie recht er doch mit dieser Annahme hatte. Aber der Junge hatte nicht vor ihm das unter die Nase zu binden. „Macht ja nichts“, sagte er also und sah den Fremden mit festem Blick an. Nach einer Weile senkte dieser den Kopf. „Na dann“, flüsterte er „Frohe Weihnachten.“ Und mit diesen Worten lächelte er noch einmal und ging weiter, bis die Dunkelheit ihn verschluckte, als hätte es ihn nie gegeben. Der Junge starrte dem Fremden hinterher. Er hatte Glück gehabt, das hätte auch schief gehen können. Er wandte sich wieder dem Abgrund zu. Frohe Weihnachten, pah! Als wenn man an so einem Tag froh sein könne… Er starrte auf die Schienen und wartete darauf, dass dieses schmerzhafte Gefühl der Verzweiflung wieder in ihm aufloderte. Aber es kam nicht. Er horchte ganz tief in sich hinein, stöberte durch alte Erinnerungen, als könne er es damit wieder heraufbeschwören. Doch es kam nicht… Die Schienen vor seinen Augen verschwammen. In ihm war nichts, er war vollkommen leer gewesen. Aber jetzt war da etwas, das ihm wehtat und ihn trotzdem ans Leben fesselte. Ein Funke, der in ihm entfacht worden war. Und die Träne rann warm über sein kaltes Gesicht und tropfte über die Brüstung in den schwarzen Abgrund… Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Ich hatte beschlossen, nach Hause zu gehen. Ich wusste nicht wie lange ich da gestanden hatte, über die Brüstung gelehnt und weinend. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, die Tränen auf meinem Gesicht zu spüren. Aber springen… Springen konnte ich nicht… Ich hatte einfach nicht mehr den Mut dazu gehabt. Nun steckte ich also den Schlüssel in die Haustür und drehte ihn mit einem leisen Klicken im Schloss. Die Tür sprang auf und ich trat auf den kleinen Flur, bevor ich sie wieder hinter mir schloss. „Bist du das Fabian?“, tönte eine Stimme aus der Küche. „Ja Mama“, antwortete ich in gespielt lässigem Tonfall. „Wo warst du?“ Ich zögerte „Ach ich hatte noch dies und das zu erledigen“ … Super, jetzt hatte ich noch nicht einmal gelogen… Zumindest nicht richtig… „Ich habe aber jetzt kein Essen gekocht“, kam wieder die zitternde Stimme aus der Küche. Ich hängte meinen Anorak an einen Haken im Flur und zog mir umständlich die Schuhe aus. „Kein Problem“, rief ich. Es war tatsächlich kein Problem für mich. Wann kochte meine Mutter schon mal? Für das Essen war ich immer selbst zuständig gewesen. Meine Mutter tauchte neben mir aus der Küche auf. Ihre Augen waren geschwollen, ihre Wangen tränennass. Sie hatte wieder geweint. „Wir können uns ja eine Pizza bestellen, was meinst du?“, schniefte sie und drückte das zerknüllte Taschentuch in ihrer Hand noch ein bisschen fester zusammen. „Klar“, sagte ich und lächelte sie an „das geht schon in Ordnung! Ruf mich einfach, wenn die Pizza da ist!“ Meine Mutter schluchzte und drückte mich an sich. „Du bist so ein lieber Junge, Fabian!“ Ich erwiderte ihre Umarmung kurz. „Klar Mama, ich hab dich auch lieb!“ Lüge! „Wir werden uns schon einen schönen Abend machen“ Lüge! „Es wird alles wieder gut“ Lüge! Es waren alles Lügen. In Wahrheit hätte ich sie am liebsten von mir weggestoßen. Ihre Art mich zu umarmen, wie sie kraftlos ihren Körper gegen meinen drückte, ihr Geruch… Sie roch aus einem Gemisch aus Zigarettenqualm, Alkohol und Schweiß. Ich hasste es! Und das wusste sie auch… Aber sie war nun mal meine Mutter - und sie war depressiv… Ich hatte Weißgott besseres zu tun, als mich um sie zu kümmern. Sie war… erbärmlich! Ja! Erbärmlich! Ich löste mich umständlich aus ihrem Klammergriff. „Ich bin in meinem Zimmer! Sag mir Bescheid wenn das Essen da ist, ok? Ich nehme ne’ Lasagne!“ Ich versuchte aufmunternd zu lächeln, nickte meiner Mutter zu und drängelte an ihr vorbei zur Treppe. „Ok“, sagte sie und ich glaubte sogar, ein flüchtiges Lächeln auf ihrem Gesicht zu erkennen. Na bitte, ging doch! Ich betrat mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir ab und lies mich mit einem Seufzen schwer dagegen sinken. Meine rechte Hand tastete über den Boden zu dem kleinen, blauen Schälchen, welches dort immer stand und förderte eine Rasierklinge zu Tage, die ich mir aus dem Badezimmerschrank meiner Mutter geklaut hatte. Ich wusste, dass es dumm war, aber ich konnte nicht anders. Ich hielt diese ganze Scheiße einfach nicht aus! Wie in Trance strich ich vorsichtig mit dem kühlen Metall über meine Haut. Ein kleiner Schnitt… Ein Zweiter… Ein dritter, diesmal tiefer. Der Schnitt wurde rot, begann zu bluten. Ich drückte die Klinge tiefer in die Haut. Noch spürte ich nichts, außer einem leichten ziepen. Wieder und wieder zog ich die Schneide über meinen Arm, bis der erlösende Schmerz kam. Ich stöhnte auf; drückte die Klinge noch ein Stück tiefer. Hellrotes, warmes Blut lief über mein Handgelenk. Mit einem letzten Aufbäumen schnitt ich noch einmal, dann lies ich mich erschöpft zurück sinken. Ich atmete tief durch. Mein Herz klopfte laut und mir war warm. Eine kurze Weile lang lies ich das Blut laufen und betrachtete zufrieden mein Werk. Dann stand ich auf und verschwand in das an mein Zimmer angrenzende Bad. Ich hielt meinen linken Arm unter Wasser, während ich mit der Rechten in Schrank nach Verbandszeug suchte. Endlich hatte ich es gefunden. Ich drückte mir umständlich eine Mullbinde auf das blutende Handgelenk und wickelte dann einen Druckverband drum. Meine Mutter würde nicht fragen, sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und falls doch, war ich eben an dem Stacheldrahtzaun hinter der Schule hängen geblieben und die Schulsanitäter hatten mich notwendig wieder zusammenflicken müssen. Ich hörte die Türklingel. Entweder hatte ich verdammt lange gebraucht, oder der Pizza-Service war entscheidend schneller geworden. Ich ging wieder zurück in mein Zimmer um den Gutschein, den ich meiner Mutter schenken wollte, eine Schleife zu binden. Schon hörte ich von unten ihre Stimme: „Essen ist fertig!“ Ich schnappte mir das Geschenk, beseitigte noch schnell das Blut auf meinem Laminat und huschte dann nach unten. Super, jetzt durfte ich den ganzen Abend so tun, als wäre alles in Ordnung; als würde es mir gut gehen. Mein Handgelenk pochte. Ich mochte dieses Pochen genau so sehr, wie ich den Schmerz mochte. Es beruhigte mich; lies mich meine Sorgen und Probleme vergessen oder lenkte mich zumindest für einen Moment davon ab… Das Abendessen verlief recht schweigsam. Als ich aufgegessen hatte lehnte ich mich zurück und setzte ein schiefes Lächeln auf. „Hast gut gekocht“, grinste ich. Meine Mutter schob den Rest ihrer Pizza von sich. „Ich weiß“, sagte sie. Ich kramte mit einem hektischen „Frohe Weihnachten übrigens“ mein Geschenk hinterm Rücken hervor und überreichte es meiner Mutter. Diese betrachtete das Blatt Papier zunächst skeptisch, dann erhellte sich ihr Gesicht. „Nein, Fabian, so eine Überraschung! Ein Wellnesswochenende! Wie kommst du denn dazu und woher nimmst du das Geld?“ Ich lächelte matt. „Naja, du sahst die letzte Zeit so gestresst aus, da dachte ich, das wäre vielleicht gut für dich! Ich habe gespart!“ Tatsächlich war ich die letzten Wochen arbeiten gegangen, hatte alten Damen Einkäufe erledigt, Zettel herumgebracht und sogar einem Grundschüler Nachhilfe in Mathe gegeben. Wie sehr ich es doch hasste! Aber noch mehr hasste ich es, wenn meine Mutter so tat, als ginge es ihr gut und jeder sah, dass dem nicht so war. Außerdem bedeutete es für mich ein sturmfreies Wochenende. „Fabian, du bist ein Engel, was würd ich nur machen, wenn ich dich nicht hätte“ Sie kam um den Tisch geeilt und drückte mich nun das zweite Mal an diesem Tag. Ich versuchte mich auf das Pochen in meinem Handgelenk zu konzentrieren. Poch - Poch - Poch… War das wirklich mein Herzschlag? Poch - Poch - Poch… Wie regelmäßig es doch schlug. „Ich hab auch was für dich“, sagte meine Mutter und streckte mir ein kleines Päckchen entgegen. Oben drauf klebte ein Fünfzig-Euro-Schein. Drin war eine Cd von der Gruppe Story of the year. Ich hatte nie von ihnen gehört. Aber das Cover erweckte den Anschein, als seien sie eine Emo-Band. Na super, genau das was ich momentan brauchte: Niemand-liebt-mich-ich-bin-ja-so-allein-Gesülze…! Wer auch immer das sang, wusste meist gar nicht, was wirkliches Alleinsein eigentlich bedeutete; wie schrecklich es sich anfühlte… „Danke Mama“, sagte ich trotzdem artig. Den restlichen Abend verbrachten wir mit Fernsehen gucken. Eine wirkliche Bescherung gab es nicht. Die einzige aus meiner Verwandtschaft die sich gemeldet hatte, war meine Großmutter; und das auf eine schreckliche Weise, wie ich fand: Selbstgestrickte, rosa Socken… Irgendwann hörte ich das leise Schnarchen meiner Mutter und wusste, dass sie eingeschlafen war. Ich stand auf, schaltete den Fernseher aus und verschwand in mein Zimmer. Wieder ein so langweiliger Abend der sich dem Ende zuneigte… Ich saß auf meinem Bett, nestelte ein bisschen an meinem Verband und dachte nach. Wann hatte das mit meiner Mutter angefangen? So seltsam war sie erst, seit mein Vater sie verlassen hatte… Nein, wenn ich es mir recht überlegte war das auch schon vor der Vergewaltigung so gewesen. Nur nicht so extrem. Aber auch davor hatte ich mich schon nicht mit meiner Mutter verstanden. Ich wusste nicht warum, aber ich hatte instinktiv immer Abstand zu ihr gehalten. Liebe… Nein, von Liebe konnte man beim besten Willen nicht sprechen. Ich liebte meine Mutter nicht… Verdammt, was ist nur mit mir kaputt? Ich hämmerte mir mit beiden Handballen vor den Kopf, aber vergeblich. Ich fand keine Antwort. Das grelle Licht der Deckenlampe stach mir schmerzhaft in die Augen und blendete mich. Ich bin nicht normal! Das war der einzige klare Gedanke den ich noch fassen konnte. Ich schloss mit einem leisen Seufzen die Augen. Ich bin nicht normal… Die Schwärze des Schlafes legte sich wohltuend und wie ein bleierner Umhang über meinen Geist… Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- „Doch“ Die Stimme der Frau war kaum mehr ein Flüstern. „Doch es ist dein Sohn“ Der Mann der ihr gegenüberstand, ihr den Rücken zugewandt drehte sich mit einem Ruck um und riss dabei eine Glasvase von einem kleinen Tischchen. Sie zersprang in viele kleine Scherben, als sie auf dem Boden aufschlug. „Nein!“, brüllte er „Nein du lügst, er ist nicht von mir!“ „Doch“, die Frau trat einen Schritt auf ihn zu. „Doch, das ist er. Schau ihn dir doch an! Er hat deine Augen…“ „Was interessieren mich seine Augen???“ „Aber der Vaterschaftstest–“ „Scheiß auf den Vaterschaftstest! Denen muss ein Fehler unterlaufen sein! UND JETZT VERSCHWINDE VON HIER!“ „Aber ich–“ „ICH SAGTE DU SOLLST DICH VERPISSEN, DU ELENDE SCHLAMPE! UND NIMM DAS DING DAS DU SOHN NENNST GLEICH MIT!!!“ Er bückte sich, hob eine besonders große Scherbe vom Boden auf und - … „Aaaaahhh“ Ich setzte mich aufrecht im Bett auf. Meine Klamotten klebten an meinem Körper, meine Kehle war wie ausgetrocknet und mir war speiübel. Alles um mich herum drehte sich. Ich schaffte es gerade noch ins Bad, bevor sich mein Magen aufbäumte und ich mich in die Toilette übergab. Ich blieb eine Weile so knien; wartete bis die Übelkeit verflog. Dann spülte ich das Erbrochene weg, putzte mir die Zähne und sprang anschließend unter die Dusche. Als das heiße Wasser meinen Körper benetzte und sich durch die Hitze die Scheiben beschlugen, klärte sich mein Kopf. Was war passiert? Ich hatte schlecht geträumt, das war klar… Aber diese ganzen Details… Das Klirren der hinabstürzenden Vase… Es kam mir vor wie eine längst vergangene Erinnerung… Aber das war natürlich Blödsinn! Ich schüttelte den Kopf um diese Gedanken zu verscheuchen. Was für ein Stuss… Mit einem Ruck zog ich den mittlerweile nassen Verband von meinem Arm. Bah, wie sah das denn aus? Angeekelt verzog ich das Gesicht. Mein Handgelenk sah irgendwie nicht mehr aus wie mein Handgelenk. Es war leicht angeschwollen, hatte eine bläulich-violette Färbung angenommen und wirkte irgendwie matschig… Über der Wunde hatte sich eine kleine, dünne Kruste gebildet unter der es weißlich schimmerte. Eiter? Hoffentlich hatte der ganze Scheiß sich nicht entzündet… Ich wechselte schnell den Verband und zog mich dann an. Schwarze Hose, schwarzer Rollkragenpulli, etwas Kajal unter die Augen und fertig. Ich kam mir ein bisschen schwul vor, wie ich so dastand und mein Spiegelbild mit diesen eng anliegenden Klamotten betrachtete. Unten hörte ich die Haustür ins Schloss fallen: mein Stichwort! Ich wartete noch zehn Minuten, dann schnappte ich mir den gestern ergatterten 50€-Schein und rannte die Treppe runter. Meine Mutter war weg, bei der Arbeit! Sie würde erst heute Abend um sechs Uhr wieder kommen! Frühestens… Warum sie am ersten Weihnachtstag arbeiten musste, blieb mir ein Rätsel. Wahrscheinlich aber hatte sie sich freiwillig gemeldet um durch die Arbeit die Ereignisse des letzten Jahres vergessen zu können. Ich band mir die Schnürsenkel meiner ebenfalls schwarzen Chucks zu und warf mir meine rote Jacke über. Dann verließ ich das Haus. Über Nacht hatte es stark geschneit. Die Zentimeter hohe Schneedecke war nur durch die Fußspuren meiner Mutter unterbrochen worden. Ich stapfte durch den Schnee. Dass meine Schuhe dabei komplett durchweichten bemerkte ich gar nicht. Die Übelkeit vom Morgen war verschwunden. Ich tastete vorsichtig nach dem Geldschein in meiner Tasche, um sicher zu gehen dass er noch da war. Dann eilte ich über den Marktplatz. Die Budenbesitzer bauten ihre Stände ab und diskutierten untereinander über die Einnahmen in diesem Jahr. Mir waren die Einnahmen reichlich egal. Ich kannte mein Ziel: Das leerstehende Firmengebäude am Ende der Straße. Ich war noch nie dort gewesen, aber ich hatte viel von den Dealern gehört, die sich dort angeblich rumtreiben sollten… Ich hatte gestern einen schrecklichen Fehler gemacht… Ich hätte springen sollen! Heute fehlte mir dazu der Mut… Wieder war da dieser Schmerz, der sich von innen heraus in mich hinein fraß! Aber ich konnte nicht ritzen! Mehr würde auffallen… Und wenn es jemand herausfand, dann würde man mich in die Klapse stecken, das hatte ich so langsam begriffen! Außerdem war es diesmal ein anderer Schmerz, als der, der mich sonst dazu bewegt hatte die Nadel in die Hand zu nehmen… Die einzige Alternative die sich mir bot, war der Rausch! Ich hatte noch nie Drogen genommen. Es würde mein erstes Mal werden… Mein erstes Mal… Ich erreichte das Gebäude. Es war recht heruntergekommen; ein paar Fenster hatten Risse, bei anderen fehlte das Glas fast gänzlich. Hin und wieder sah man zwielichtige Gestalten hinein und wieder heraus huschen. Mir war ein wenig mulmig zu Mute. War die Polizei nie auf die Idee gekommen zu überprüfen, was dort drinnen vor sich ging? Ich betrat das Gebäude und fand mich in einem kahlen Treppenhaus wieder. Alles stank hier nach Rauch, Erbrochenem und Urin. Am Boden lagen leere Bierflaschen, zerbrochene Spritzen und reglose menschliche Körper. Ich konnte einen starken Brechreiz nur mit Mühe unterdrücken. An den Wänden lehnten gut ein halbes dutzend Leute. Man sah ihnen an, wie zerfressen sie von den Drogen waren. Als ich hereingekommen war, hatten sich alle Augenpaare auf mich gerichtet. Die Frau die mir am nächsten stand zog noch einmal an ihrer Zigarette, dann warf sie sie achtlos auf den Boden und entblößte ihre gelblich-braunen Zähne zu einem unheimlichen Grinsen. Der Kerl, der in einer Ecke vor einem anderen gekniet hatte stand auf, drehte sich um und kam auf mich zu. Im näher kommen wischte er sich fahrig mit der Hand über den Mund. Ich wollte gar nicht wissen womit er vorher beschäftigt gewesen war. Er hatte etwa schulterlange, blonde Haare, die ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht hingen. Sein Gesicht wurde von einer Narbe geziert, die sich über seiner linken Augenbraue befand. Seine Nase war krumm, als hätte man sie ihm mindestens einmal gebrochen. Ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Mundwinkel des Blonden verzogen sich zu einer Art Grinsen. „He Kleiner! Neu hier?“ Ich trat noch einen Schritt zurück. Dieser Kerl war mir unheimlich. Er grinste noch breiter und hob beschwichtigend die Hände. „Kein Grund zur Panik, Kleiner! Ich hab nur deine Visage hier noch nie gesehen. Was willst du hier?“ Ich schluckte. Da hing auf einmal so ein fetter Kloß in meiner Kehle. Ich wollte den Blick senken, aber wusste instinktiv dass ich es nicht durfte. Also hielt ich dem bohrenden Blick des Blonden stand. „Ich such nen Dealer“, sagte ich und versuchte, meine Stimme nicht zittern zu lassen. Der Blonde begann zu lachen. Mir wurde noch mulmiger als es ohnehin schon war und der beißende Gestank hier trieb mir die Tränen in die Augen. Der Blonde wandte sich an die anderen. „Habt ihr gehört was der Kurze gesagt hat? Er sucht nen Dealer“, er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und auch die anderen – zumindest die, die dazu noch im Stande waren – brachen in schallendes Gelächter aus. Die Raucherin neben mir hatte ein so schrilles Lachen, dass es mir in den Ohren wehtat. Der Blonde verstummte und wurde sofort wieder ernst. „Hör mal Kleiner“, begann er. Er hatte sich zu mir herunter gebeugt und flüsterte fast. „Ich weiß ja nicht, was man dir über uns und diesen Ort erzählt hat, aber woher sollen wir wissen dass du vertrauenswürdig bist?“ Fabian hielt die Luft an um nichts von dem stinkenden Atem in die Nase zu bekommen. „Ich… äh… also“, stotterte ich. Ich hatte nicht mit einer solchen Frage gerechnet. „Ey Alter, der is bestimmt nich von den Bullen geschickt worden… Guck dir den doch ma an, wie der schon aussieht! Und außerdem, wenn er von denen geschickt worden wär, dann hätt der jezz ne Antwort auf deine Frage!“, lallte ein besoffener, dicker Mann der neben der Raucherin gestanden hatte. Der Blonde nickte nachdenklich. „Ja… Jaaah, vielleicht haste Recht… Ok, gehen wir davon aus dass du wirklich nich von den Bullen bist… Dann musste zu Kalle gehen, der ist für diesen Bereich zuständig, okay?“ Er schnippte mir mit einem Finger vor die Brust. „Was willste eigentlich haben? Wir ham fast alles hier… Heroin, LSD, Ecstasy?“ Mir schwirrte der Kopf. Was war denn bitte der Unterschied dazwischen? „Äh, ich… ich…“ Der Blonde strich sich mit der rechten Hand durch die Haare. „Du hast echt keine Peilung was hier abgeht, huh? Ok, da du neu bist denke ich, sollte ich dich mit den Regeln hier vertraut machen…“ Er strich sich mit seinen Fingerspitzen über Brust und Bauch und grinste dreckig. „Na, was meinste? Willste schlucken oder spritzen?“ Der Klos in meinem Hals war auf seine fünffache Größe angeschwollen. Der Blonde machte sich an meinem Gürtel zu schaffen und ich war mir auf einmal gar nicht mehr so sicher, dass er das schlucken oder spritzen auf die Art der Drogenkonsumierung bezog. Ich schlug seine Hand weg. „Lass das“, zischte ich. In den Triumphierenden Blick des Blonden mischte sich Zorn. „Was?“, fragte er in einem Ton der keinen Widerspruch zuließ „Du wirst gefälligst machen was ich dir sage, sonst–“ „Fass mich nicht an!“, schrie ich panisch und wich einen Schritt zurück. Verdammt, der Kerl meinte das wirklich ernst. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte und spuckte ihm ins Gesicht, als er Anstalten machte, die Hand wieder nach mir auszustrecken. Zwei Sekunden später bemerkte ich, welch großer Fehler das gewesen war. Alles ging viel zu schnell. Auf einmal hatte der Blonde ein Messer in der Hand und drückte es gegen meinen Hals. Das kalte Metall schnitt mir leicht in die Haut. Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Was wenn er das wirklich durchzog? Er war jetzt so nah, dass ich seinen fauligen Atem nicht nur roch, sondern ihn auch warm auf meinem Gesicht spürte. „Hör mir gut zu, Kleiner… Du–“ „Es reicht, Fiddi!“ Der Blonde schien sich angesprochen zu fühlen, denn er lies mich los und wich zurück. Ich atmete auf, schluckte schwer und sah in die Richtung aus der die fremde Stimme gekommen war. Ein muskulöser junger Mann eilte die Betontreppe herunter. Das erste, was mir an ihm auffiel war, dass er sauber war. Sein gepflegtes Äußeres stach zwischen diesen schmutzigen Leuten sofort ins Auge. Er hatte etwa schulterlanges, dunkelbraunes Haar, das er in einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Seine rechte Augenbraue wurde von einem Piercing geschmückt, ebenso wie seine Ohren, durch die er gleich mehrere Ringe und Sicherheitsnadeln gesteckt hatte. Man sah ihm an, dass er hier die Respektperson war und dass man ihn besser nicht verarschen sollte. „Kalle“, keuchte Fiddi „Was machst’n du hier?“ Der Angesprochene fixierte Fiddi aus kalten Augen. „Ich wurde von eurem Gebrüll angelockt! Wenn du das nächste Mal ein wehrloses Kind vergewaltigen willst, dann mach das bitte so leise, dass ich’s nicht mitbekomme!“ Fiddi senkte schuldbewusst den Blick. Kalle wandte sich mir zu. In seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung. „Komm!“ Ich zögerte. Ich konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas schnürte mir den Hals zu. Kalle wandte ich zum Gehen. „Jetzt komm schon, oder willst du doch noch die Kehle aufgeschnitten kriegen?“ Vielleicht war das gar nicht mal eine so schlechte Idee… Ich beeilte mich trotzdem, ihm zu folgen. Kalle hatte mich in den ersten Stock des leerstehenden Parkhauses gebracht, das gleich nebenan lag. Nun saßen wir beide auf dem Mäuerchen, das den übrig gebliebenen Teil einer Wand bildete. Kalle streckte mir seine Hand hin. „Sorry, falls Fiddi dich erschreckt haben sollte. Aber der ist leider bei jedem Kerl so… Besonders wenn er voll ist! Und seine Schulden bezahlt er auch nie… Ich bin übrigens Kalle!“ Ich nickte und drückte kurz Kalles Hand. Kapieren tat ich schon längst nichts mehr. War er jetzt dieser Dealer von dem Fiddi gesprochen hatte? Wahrscheinlich… So viele Leute die Kalle hießen, würde es hier nicht geben. Ich spürte Kalles neugierige Blicke auf mir und schreckte auf. „Ich heiße Fabian“, stotterte ich schnell. „Fabian… Soso… Wie alt bist du?“ „Sechzehn“ „Dein erstes Mal, hm?“ „Ja“ Kalle nickte nachdenklich und steckte sich eine Zigarette an. „Is zwar ne’ persönliche Frage und geht mich auch eigentlich gar nichts an, aber… warum?“ In meinem Kopf hatte sich ein einziges Chaos ausgebreitet. Warum… Ja, warum, eigentlich? Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, antwortete ich „Alles ist Scheiße“ „Aha.“ Kalle lehnte sich an einen Betonpfeiler und blies Rauch aus der Nase. „Und für diese Erkenntnis willst du dein Leben wegschmeißen?“ „Was?“ Kalle musterte mich lange und nachdenklich. Dann zeigte er auf einen jungen Mann, der am anderen Ende des Parkhauses saß und zu schlafen schien. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, neben ihm lag eine Spritze. „Siehst du den da?“, fragte Kalle. „Das ist Kai! Er spritzt sich jetzt schon seit 11 Jahren dieses Zeug. Er war etwa in deinem Alter, als er angefangen hat. Und was ist aus ihm geworden? Er geht auf’n Strich um sich den Stoff leisten zu können…“ Kalle seufzte. „Er war sogar schon mal ein Jahr im Knast, hat trotzdem nicht aufgehört. Frag mich nicht wieso er noch lebt, aber bei der Dosis und das über diese lange Zeitspanne, müsste er eigentlich schon abgekratzt sein. Tja, aber nicht bei jedem klappt das so wie bei ihm! Du hast ja gesehen, wie’s den Leuten unten bei Fiddi ging…! Die sind höchstens ein halbes, wenn’s hochkommt ein Jahr dabei. Und trotzdem sind die schon so Down.“ Kalle hob seinen Finger und lies ihn an seiner Schläfe kleine Kreise ziehen. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und entschied mich für ein einfaches Kopfschütteln. „Warum erzählst du mir das?“ „Ich will dir nur zeigen, wie’s dir gehen kann wenn du das machst. Das gleicht Selbstmord, sag ich dir… Willst du dich vielleicht umbringen?“ Ertappt! Ich zuckte hilflos mit den Schultern und nickte dann langsam. Kalle schien irgendwie nicht sehr überrascht zu sein. Er räusperte sich. „Also, da gibt es wesentlich leichtere Wege: Kletter einfach zwei Stockwerke weiter nach oben und spring Kopfüber runter! Dann biste auch“ Er fuhr sich mit Zeige- und Mittelfinger am Hals entlang und machte ein entsprechendes Geräusch „tot! Nur glaub ja nicht, dass ich deine Überreste vom Boden aufkratzen werde… Es ist eh besser wenn du woanders springst, ich will hier keinen Ärger mit den Bullen haben!“ Er zog wieder an seiner Zigarette. Ich starrte ihn verwirrt an. Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. „Stört es dich denn gar nicht, wenn jemand Selbstmord begeht?“, fragte ich vorsichtig. Kalle senkte den Kopf, blies erneut Rauch aus und sah mich dann mit schief gelegtem Kopf an. „Of course not!“ Er grinste. Als ich ihn nur weiter verwirrt anstarrte, deutete er zum Himmel. „Sieh dir das an“, sagte er. „Der Himmel ist grau… Aber, bist du dir sicher, dass er immer so bleiben wird?“ Er wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern sprach einfach weiter. „Nein, denn irgendwann verziehen sich selbst diese scheiß Wolken! Man muss nur lang genug warten. Und so lange kann man nichts tun, außer versuchen zu überleben… Wenn du zu schwach bist um das zu rallen, bleibt halt nur der Tod! Hast du das verstanden?“ Ich stockte. Wie Recht er mit seinen Worten doch hatte. Warum hatte ich das nie bemerkt? Warum war mir das nie in den Sinn gekommen? Irgendetwas in meiner Brust schnürte mir die Luft ab. Meine Unterlippe begann zu zittern und vor meinen Augen verschwamm die Welt. „Ja“, presste ich mühsam hervor und wandte meinen Kopf ab, damit Kalle meine Tränen nicht sah. „Heyhey, nicht weinen!“ Ich spürte, wie Kalle seinen Arm um mich legte. Es war ein schönes Gefühl, nicht allein zu sein… Mein Widerstand brach und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Was hätte es auch gebracht, sie jetzt noch zu verheimlichen…? Ich wusste nicht, warum ich weinte. Ob vor Trauer, oder vor Glück. War es die Wirkung gewesen, die Kalles Worte auf mich gehabt hatten? Nach einer Weile versiegte der Tränenfluss. Kalle reichte mir ein Taschentuch. „Dir geht’s wirklich scheiße, hmm?“ Ich nickte vorsichtig. Mein Kopf schmerzte. Kalle deutete auf den Verband an meinem Handgelenk. „Selbst gemacht?“, fragte er. Ich nickte erneut. Mein Gegenüber seufzte. „Bringt nix“, sagte er „Für ein paar Stunden lenkt dich der Schmerz ab und dann ist doch wieder alles so wie immer. Glaub mir! Hab ich früher auch gemacht…“ Ich zuckte zusammen. Bei Kalle konnte ich mir das irgendwie nicht vorstellen. „Echt?“, fragte ich also vorsichtshalber. Er nickte. Dann warf er seinen Zigarettenstummel in den Schnee und zog den linken Ärmel seines Pullis hoch. Ich zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Die Haut die darunter zum Vorschein gekommen war, war von Narben übersäht. Als Kalle meinen Gesichtsausdruck bemerkte, lächelte er. „Ich hab mehrere Selbstmordversuche hinter mir“, erklärte er. „Sieht man mir nicht an, was?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wie dem auch sei“ Kalle stand auf. „Wenn du Drogen haben willst, verkauf ich dir welche, aber ich wäre ziemlich enttäuscht von dir!“ Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. „Und falls du mal einfach nur jemanden zum Reden brauchst, weißte ja wo du mich findest… Okay Fabi?“ In meinem Kopf rumorte es. Hatte er mich gerade Fabi genannt? Das hatte bis jetzt noch niemand getan, außer meiner Mutter… „Okay“, antwortete ich. Kalle wandte sich zum Gehen. „Halt“, rief ich ihm hinterher „Warte kurz!“ Er drehte sich um und sah mich ruhig an. Ich schluckte. „Warum“, begann ich „Warum machst du das alles für mich?“ Er grinste und deutete auf meine rote Jacke. „Weil ich die gleiche Scheiß-Jacke hab!“, antwortete er und zwinkerte. Damit lies er mich stehen. Mich und meinen roten Anorak. Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Ich war fiel zu aufgewühlt um irgendetwas anderes zu machen, als nach Hause zu gehen. Ich kochte mir eine Kanne Tee und verzog mich in mein Zimmer vor den PC. Irgendetwas hatten Kalles Worte in mir ausgelöst, ich vermochte nur nicht zu sagen, WAS genau es war. Und ich wollte auch beim besten Willen nicht darüber nachdenken. In meinem Körper hatte sich eine unbändige Wut gesammelt, die wie ein gewaltiger Orkan durch meine Brust tobte. Wut gegen Kalle… Wut gegen meine Mutter… Wut gegen die gesamte Welt… Wut gegen mich selbst… Ich startete Quake 3 und lies meine gesamte Wut an den Menschen aus, die mir ins Blickfeld rannten. Nach zehn Minuten lies ich erschöpft die Maus los. Ich war außer Atem, zitterte am ganzen Leib. Für einen Moment hielt ich inne, starrte auf die Leichenteile auf meinem Bildschirm. Dann beendete ich das Spiel. Dieser uralte Egoshooter tat doch immer noch seine Wirkung. Ich fühlte mich wieder leer. Was hatte ich getan? Ich hatte ein paar virtuelle Typen abgeballert, hatte gesehen, wie ihre Körper explodierten und Blut spritzte. Und jetzt war da diese Leere… Fühlte es sich besser an? Ich wusste es nicht… Die nächsten Tage verliefen recht ähnlich. Ich saß am PC, surfte im Internet und las ein wenig in Azrael von Wolfgang Hohlbein. Dann kam Neujahr. Meine Mutter hatte schon angekündigt, nicht bei Jahreswechsel zu Hause zu sein. Sie würde in der Firma feiern. Mir kam das alles recht eigenartig vor, aber ich hatte auch keine Lust dazu, ihre Aussage in Frage zu stellen. Im Gegenteil, ich hatte meine eigenen Pläne: Ich hatte mir vorgenommen, das Feuerwerk zu Jahreswechsel von der Bahnhofsbrücke aus zu betrachten. Es war einer meiner Lieblingsplätze in der Stadt und außerdem hatte man von dort aus eine gute Sicht. Pünktlich um 11 Uhr Abends machte ich mich auf den Weg. Als ich an der Brücke ankam, standen dort schon einige Menschen. Anscheinend hatte sich die gute Aussicht schon herumgesprochen. Ich sah mich vorsichtig um, konnte aber zum Glück niemanden sehen, den ich kannte. Umso besser… Ich suchte mir einen freien Platz an der Brüstung und starrte in die Nacht hinaus. Vor ein paar Tagen noch, wäre ich fast freiwillig hier herunter gesprungen. Und irgendwann würde ich es sicher tun, aber heute… heute Nacht ganz bestimmt nicht. Ich lies meine Gedanken schweifen und genoss den kühlen Wind auf meinem Gesicht. Neben mir begann ein kleines Kind zu weinen. Irgendwann, ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, spürte ich, wie sich jemand neben mich stellte. „Hey“, sagte eine vertraute Stimme. Erstaunt hob ich den Kopf und sah in das Gesicht des Jungen vom heiligen Abend. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. „Äh… Hi…“, stammelte ich. Der Junge drehte den Kopf nach unten; starrte verlegen auf seine Füße. „Ich wollte noch mal sagen… ähm… Tut… tut mir echt Leid… Also, t’schuldigung… wegen Weihnachten… Du weißt schon…“ Er errötete leicht. Stimmt ja! Er hatte mir meinen Selbstmord vermasselt. Eigentlich müsste ich ihn dafür ja hassen. Aber ich tat es nicht. Um ehrlich zu sein freute ich mich sogar ein wenig über seine Anwesenheit. Für einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedanken, ihm zu erzählen, dass seine Sorge gar nicht mal so unberechtigt gewesen war; dass ich wirklich vorgehabt hatte zu springen! Aber ich schwieg. Natürlich schwieg ich! Wer war er denn, dass ich ihm so was erzählte? Ich kannte ihn ja schließlich gar nicht. Aber vielleicht war ja genau das das Sinnvolle daran: Mit jemand völlig Fremden über meine Probleme sprechen? Nein, dann hätte ich schließlich auch zum Psychiater gehen können... Oder zu Kalle… Ich seufzte leise. Der Junge neben mir wippte nervös von einem Bein auf das Andere. Einmal sah er mich kurz von der Seite an, als wolle er etwas sagen, wandte sich dann aber doch wieder ab. Die Minuten zogen vorbei. Langsam zwar, aber dennoch unaufhaltsam. Ob das neue Jahr wohl besser werden würde? Irgendwann begannen die Leute neben uns von 60 rückwärts zu zählen. Als sie bei Drei waren, spürte ich einen Druck an meiner Hand. Die Hand mit den schlanken Fingern die sich um meine geschlungen hatte, gehörte dem Jungen. Ich sah ihn erstaunt an, wollte fragen was los war, meine Hand von ihm losreißen – ich war ja nicht schwul, was sollten die Leute denken – aber dann lies ich es doch. Er starrte regungslos in die Dunkelheit. Ich merkte, dass ihn irgendetwas beschäftigte und ihm Angst machte. Vielleicht, weil ich mich selber schon so oft mit diesem Gefühl gequält hatte. Also erwiderte ich bloß still den Druck seiner Hand. Was die Leute von mir sagten hatte mich eh noch nie interessiert. Vom Kirchturm her hörte ich den ersten Glockenschlag. Keine halbe Sekunde später ging das Feuerwerk los. Der Junge lächelte mich an. „Frohes Neues Jahr!“, flüsterte er. Ich erwiderte schüchtern sein Lächeln. „Dir auch“ „FROHES NEUES JAHR, ALLE ZUSAMMEN!“ Ich zuckte erschrocken zusammen. Eine etwas ältere, untersetzte Frau kam über die Brücke gewatschelt und sprach allen die es hören wollten (und auch jenen, die es nicht wollten) ihre Wünsche aus. Vor mir machte sie halt. Dann sah sie den Jungen an. „Hach Chrisilein“, flötete sie. „Dir wünsche ich auch viel Glück! Dir und deinem“, sie musterte mich eingehend „Freund! Frohes neues Jahr!“ Und schon watschelte sie weiter Hinternschwingend die Brücke entlang. Der Junge starrte mich entsetzt an. Dann wurde ihm gewahr, dass er noch immer meine Hand umklammert hielt. Erschrocken zog er seine zurück. „Sorry, das wollt ich nicht… Ich meine… das war keine Absicht! Ich…“ „Schon Okay“, flüsterte ich „Manchmal braucht man das eben“ Ich dachte an meine eigenen Gefühle, an dem Tag, an dem ich Kalle kennen gelernt hatte. Der Junge lächelte dankbar, nickte und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. Hinter uns explodierte eine erneute Salve Feuerwerkskörper. „Äh“ Ich suchte verzweifelt nach einem passenden Gesprächsthema, aber – so musste ich mir eingestehen – ich war grottenschlecht in so was. „Kanntest du die Frau da eben?“, fragte ich schließlich. „Ja, leider“, sagte der Junge, sichtlich erleichtert darüber, dass ich die unangenehme Stille zwischen uns durchbrochen hatte. „Das war meine Tante“ Er hob seine Augenbrauen, spitzte die Lippen und ahmte die Stimme der Alten nach „Chrisilein, tu dies, tu das“ Er verdrehte die Augen. „Auf die Dauer nervt das…“ Ich musste unwillkürlich lachen. Vielleicht war es ja doch besser, außer zu meiner Mutter und meiner an Altersdemenz leidenden Oma keinen Kontakt mehr zu den Verwandten zu haben. Chrisilein hatte er gesagt… „Heißt du Chris?“ „Was?... äh... Ja klar! Sorry, hab mich ja noch gar nicht vorgestellt: Christian Schulten! Und mit wem hab ich das Vergnügen?“ Ich begann zu schwitzen. „Fabian“, sagte ich. „Fabian Maurer! Meine Freunde nennen mich Fabi!“ Fabian-meine-Freunde-nennen-mich-Fabi-Maurer hätte sich in diesem Moment am liebsten den Schädel gespalten. Was war denn das für ein dämlicher Spruch gewesen, bitte? Außerdem hatte ich gelogen… Ich hatte schließlich gar keine Freunde. Kalle war der einzige gewesen, der mich je Fabi genannt hatte – abgesehen von meiner Mutter, aber das galt nicht! Chris schien meine Zweifel nicht zu bemerken. „Also Fabi“, sagte er. „Schön dich kennen zu lernen!“ Er machte eine kurze Pause, als wartete er darauf, dass ich irgendetwas erwiderte. Dann räusperte er sich. „Du, ich muss jetzt nach Hause, sonst gibt’s Zoff mit Mama. Man sieht sich!“ Und mit diesen Worten stürmte er davon und ich sah ihn – wie in einem Déja-vu – in der Dunkelheit verschwinden. Ich war wieder allein. Hinter mir flog die letzte Rakete in den Himmel und zerstob in einem Schauer aus Funken. Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, stand ich auf, wusch mich und zog mich an. Dann lief ich nach draußen. Es goss wie aus Eimern und ich hatte keinen Schirm dabei. Trotz meiner Kapuze wurde ich nass. Und als ich mein Ziel erreichte, war ich durchnässt bis auf die Haut. Aber das hielt mich nicht von meinem Ziel ab: Ich wollte unbedingt mit Kalle sprechen! Ich betrat das Firmengebäude und stieß prompt mit jemandem zusammen. „Holla Kurzer, pass auf wo du hintrittst…“ Ich stöhnte innerlich auf. Diese rauchige Stimme hätte ich unter Tausenden wieder erkannt: Fiddi! Ich versuchte, mich mit gesenktem Kopf an ihm vorbei zu mogeln. Aber Fiddi hielt mich zurück. „Moment ma… Bissu nich der Kleine von neulich?“ Diesmal würde ich mich nicht einschüchtern lassen. Ich blieb stehen, drehte mich demonstrativ langsam um und starrte ihn an. „Nee, ich bin Kalle, weißte?“, meine Stimme zitterte leicht. Ich hoffte, dass Fiddi das nicht bemerken würde. Der kicherte besoffen. „Du gefälls mir!“, lallte er und trank den letzten Schluck Bier aus seiner Flasche. „Und du hast ne süße Visage! Wenn ich nich schon ne’n Freund hätte, würd ich dich auffer Stelle flachlegen!“ Er grinste wieder sein dreckiges Grinsen. Ich starrte ihn entgeistert an. „Das hast du letztes Mal auch versucht!“ Fiddi runzelte die Stirn. „Jaaah“, rülpste er. „Abba da war ich noch Single und ich stand unta Drog’n! Bin jezz endgültich’ clean!“ „Sicher! Deswegen bis du auch grad so besoffen!“ „Ey, das macht das Bier! Drogen hab ich seitdem nich mehr genom’n!“ „Bist also auf Alk umgesprungen, was?“ „Ja und, was geht’n dich Zwerg das an? Du bist schließlich nich meine Mudda…“ Oh ja… ich war wirklich froh darüber, nicht Fiddis Mutter zu sein. „Sach ma, was machsu’ eigentlich hier?“ Ich zog eine Augenbraue hoch. „Ich suche Kalle, wieso?“ Fiddi schüttelte den Kopf. „Der is heut’ nich da!“ „Wie, er ist nicht da?“ „Ja, er is halt nich da! Was willse’ denn von ihm?“ „Ähm“, ich zuckte mit den Schultern „Ich wollte ihn was fragen!“ „Oh“, krächzte Fiddi „War… Ich meine… Isses’ wichtig?!“ Ich überlegte. Naja… so irgendwie war es ja schon wichtig… Also nickte ich. „Ja, eigentlich schon!“ „Okay, komm mit!“ „Wieso sollte ich dir vertrauen?“ „Weil ich dich zu ihm bringen kann“ Ich wunderte mich, das Fiddi überhaupt noch gerade laufen konnte. So wie er gelallt hatte, hätte man meinen können, er hätte mindestens drei Liter intus. Manchmal schwankte er ein wenig und ich musste ihn stützen, aber es kam selten vor. Normalerweise wäre es mir peinlich gewesen, neben jemandem her zu gehen, der besoffen war. Zumindest hatte ich das gedacht. Aber ich spürte eine Veränderung: War ich sonst immer geduckt durch die Straßen gelaufen und hatte gehofft, dass mich niemand bemerkte, so wünschte ich mir jetzt fast gesehen zu werden. Wenn jetzt jemand aus meiner Schule vorbeigekommen wäre, ich hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Ja, sie sollten sehen, dass Fabian Maurer eben doch Freunde hatte!!! Wenn auch nur Besoffene Freunde… Dann wurde mir klar, was ich da gedacht hatte und verbannte diese Gedanken mit einem entschiedenen Kopfschütteln aus meinem Kopf. Ich schämte mich dafür. Wie sehr ich mich doch schämte. Wieso? Hatte ich so was wirklich nötig? Fiddi war nicht mein Freund! Fiddi hatte versucht mich zu vergewaltigen! Fiddi nahm Drogen und trank Alkohol! Und Fiddi war schwul! Trotzdem… Wenn ich mir einredete, dass dem nicht so war, konnte ich mir sogar eine Freundschaft mit Fiddi vorstellen… Ich schüttelte erneut den Kopf! Ich kannte ihn doch gar nicht! „Was bisse’ denn so schweigsam?“ Ich zuckte zusammen. „Was? Hast du was gesagt?“ Fiddi schüttelte den Kopf „Nee“, sagte er. „Scheint mir nur so, als hättest du was auf’m Herzen“ Ich schwieg. Fiddi betrachtete mich nachdenklich von der Seite. „Wenn was is kannstes’ mir ruhig sagen!“ Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer! Nein, das konnte nicht sein! Ich musste mich verhört haben. „Das sagst du nur, weil du besoffen bist“, grummelte ich. „Nee, tu ich nich!“ Fiddi beugte sich so zu mir runter, dass ich ihm in die Augen sehen musste. „Ich mein das ernst! Sag ma: … Können diese Augen lüg- Oh, da isses’ ja, wir sind da!“ Fiddi unterbrach sich selbst mit diesen Worten und blieb vor einem Gebäude stehen. Er kramte einen Schlüssel aus seiner Tasche, schloss die Tür auf und zerrte mich hinter sich her ins Treppenhaus und dann in den Aufzug. „Null Bock zu laufen“, erklärte er und drückte den Knopf, auf dem eine große Fünf blinkte. Mein Kopf wirbelte. Fiddi meinte es tatsächlich ernst! War das vielleicht so eine Art Freundschaftsangebot gewesen? Oder war es nur ein Trick um mich in eine Falle zu locken? Immerhin hielt ich Fiddi für nicht ganz dicht! Und er hatte mich vor kurzer Zeit noch umbringen wollen… Ob diese Aggressivität wirklich nur von den Drogen gekommen war? Ich schielte misstrauisch zu ihm herüber; rechnete damit, dass er jeden Moment den Stoppknopf drückte und dann über mich herfiel… Aber nichts dergleichen geschah. Fiddi stand einfach nur da, starrte auf die gegenüberliegende Fahrstuhltür und trommelte nervös mit seinen Fingern gegen die Wand. Dann ruckelte es. Der Aufzug hielt an und wir waren im fünften Stock angekommen. Fiddi angelte sich erneut den Schlüssel aus seiner Tasche. „Apartment 23“ Er grinste. „Kannst ruhig mit rein kommen… Kann nur sein, dass er noch nich wach is…“ Wieder dieses unheimliche Gefühl. Warum hatte Fiddi den Schlüssel zu Kalles Wohnung? Wohnte Kalle vielleicht gar nicht hier und Fiddi hatte mich wirklich herein gelegt? Ich schluckte. Vielleicht war ein Päderast, der kleine Jungs vergewaltigte? Oder vielleicht hatte er Kalle entführt und wollte nun auch noch mich haben um seine Sammlung an Liebessklaven weiter fortzusetzen? Oder er war ein Killer und hatte Kalle schon getötet? So eine Art Nekrophiler! Ja, genau, dass musste es sein! Ich würgte meine absolut schwachmatischen Wahnvorstellungen ab – das ging jetzt doch etwas zu weit – und folgte Fiddi mit wabbeligen Beinen und doch etwas nervös in die Wohnung. „Ey, ich bin wieda’ zu Hauuuuseeeeeeeee!“, blökte Fiddi. Diese Lautstärke wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen, denn soweit ich sehen konnte, bestand die Wohnung nur aus 2 Zimmern, einem Bad und einer kleinen Diele. Auf dem Bett, in dem Zimmer dessen Tür nur angelehnt war, regte sich etwas. „Fiddi?“, fragte eine Stimme „Bist du das?“ Ich kannte diese Stimme! Ich kannte sie gut! Fiddi kickte lässig seine Schuhe von den Füßen, schmiss seine Jacke achtlos in eine Ecke und kletterte auf das Bett. „Jupp“, sagte er und küsste die darauf liegende Gestalt sanft auf den Mund. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen: Es war Kalle! Kalle setzte sich im Bett auf. „Du hast wieder getrunken“, murrte er. „Sollst du doch nicht!“ Fiddi schob beleidigt seine Unterlippe vor. „War doch wirklich nur n’ ganz kleines bisschen“, nuschelte er. „Wirklich“ Kalle schüttelte den Kopf. „Also wirklich“, murmelte er. „Das gibt Strafe!“ Er wuschelte Fiddi durch die Haare. „Iiiieh“, sagte er plötzlich und zog die Hand zurück. „Du bist ja ganz nass! Regnets’ draußen?“ Fiddi nickte und strahlte. „Wir ham’ Besuch!“ Kalle hob irritiert den Kopf und sah mich an. Ich starrte nicht minder verwirrt zurück! Nein! Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Kalle auch noch schwul? Warum hatte er mir das nie gesagt? In meinem Kopf ertönte Fiddis Stimme: Du hast ne süße Visage! Vielleicht sah Kalle das ja genauso und hatte mir nur seine Hilfe angeboten um… Oh mein Gott, vielleicht war er genau so ein Päderast wie Fiddi es zu sein schien? Ich wich entsetzt einen Schritt zurück. Kalle setzte sich anständig im Bett auf und strich sich eine Strähne seiner Haare aus der Stirn. Außer seinen Shorts hatte er nichts an. „Hi Fabi! Was machst du denn hier?“ Ich wich kopfschüttelnd noch einen Schritt zurück, spürte die kalte Türklinke in meinem Rücken. In meinem Hals saß ein riesiger Klos. „Nein“, flüsterte ich. Tatsächlich, ich brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande. „Nein, das kann nicht sein! IHR HABT MICH DIE GANZE ZEIT NUR VERARSCHT! IHR SCHWUCHTELN! IHR SEID EKELHAFT!“ Ich wartete die Antwort nicht ab, ich drehte mich einfach um und rannte aus der Tür. Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- Ich war gerannt, ohne zu wissen, welche Richtung ich hatte nehmen müssen. Irrsinnigerweise war ich wieder an der Bahnhofsbrücke angekommen. Meine Lungen brannten und ich hatte Seitenstechen. Erschöpft lies ich mich in den kalten Schnee sinken und lehnte mich gegen das gefrorene Geländer. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, die beiden als Schwuchteln zu bezeichnen? Ich bereute es, wie ich noch nie im Leben etwas bereut hatte. Sie konnten doch nichts dafür, dass sie anders waren, konnten doch nichts dafür, dass ich mir irgendeinen Mist auf Grund meiner Vorurteile zusammenphantasierte. Immerhin schien es so, als würden sie sich lieben! War daran etwas falsch, nur weil sie beide Jungen waren? Nein! Vielleicht lag es daran, dass ich so geschockt war, weil ich nicht damit gerechnet hatte… Fiddi, der Junkie von der Straße und Kalle, der Dealer, der mir trotz allem vernünftig erschien. Ich hatte ein bisschen Angst mir einzugestehen, dass ich eifersüchtig war. Ich hatte mir eingebildet, dass sowohl Kalle, als auch Fiddi mich verstehen könnten, da sie auch einsam waren… Aber in Wirklichkeit hatten sie sich! Ich hingegen hatte niemanden… Ich war allein… Langsam ließ ich mich in den Schnee sinken und rollte mich zu einer Kugel zusammen. Der Schnee schmolz unter der Wärme meines Körpers hinweg und durchweichte meine Kleidung. Ich fror entsetzlich. Manchmal kamen Passanten vorbei. Ich spürte, wie sie mir mitleidige Blicke zuwarfen. Eine junge Frau warf mir sogar einen Euro hin, bevor sie weiterging. Mein Körper zitterte. Wenn ich jetzt sterben würde, es wäre mir egal. Ich hatte die einzigen Menschen, die mich nicht gleich verstoßen hatten durch Schimpfwörter verletzt und vertrieben. Schimpfwörter, die ich gar nicht so gemeint hatte und die dennoch so viel zerstören konnten. Ich schloss die Augen; lauschte auf meinen Herzschlag. Sterben… Ja, vielleicht war das das Beste… Die Augen schließen und sie nie wieder öffnen… „Fabi? Was machst du denn da unten im Schnee?“ Ich kannte die Stimme, aber ich konnte sie nicht einordnen. „Fabi? Nein bitte nicht!“ Irgendjemand rüttelte an meiner Schulter. „FABIAN!!!“ Plötzlich fiel mir ein, woher ich diese Stimme kannte… Schlagartig öffnete ich die Augen. Chris! Er kniete neben mir. Bildete ich mir das nur ein, oder schimmerten in seinen Augen Tränen? „Scheiße, Fabian!“, schniefte er „Ich dachte du wärst tot! Verdammt du musst aus dem Kalten raus!“ Er half mir aufzustehen. Ich spürte meinen Körper nur noch bedingt und musste mich auf ihn stützen um nicht umzuknicken. Chris. Chris! CHRIS! Er war da! Ich hatte ihn ganz vergessen… Ich war doch nicht allein! „Fabi, verdammt, wo wohnst du? Ist es weit bis da?“ „Halbe Stunde!“, krächzte ich. „Wenn du über den Friedhof gehst zehn Minuten.“ Chris stöhnte auf, hievte mich hoch und begann vorwärts zu gehen. Ich versuchte, ihn nicht mit meinem ganzen Gewicht zu belasten, aber jeder Schritt schmerzte. „Du musst mir den Weg sagen!“, japste er. Ich klammerte mich an ihn und erklärte ihm, wie sie zu meinem Haus kam. Ich war lange nicht mehr hier auf dem Friedhof gewesen. Die vielen Toten machten mich trübsinnig. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich wieder auf meinen Herzschlag. Aber war das wirklich meiner? Oder war das der von Chris? „Du darfst jetzt nicht die Augen zu machen!“, rief Chris an meinem Ohr. „Bleib wach!“ Ich öffnete müde die Augen und sah unser Haus vor mir. „Da“, krächzte ich. „Was?“ „Unser Haus! Der Schlüssel… Jackentasche“ Chris zog den Schlüssel aus meinem Anorak und beförderte mich ins Haus. „Wo ist euer Bad? Habt ihr eine Badewanne? Verdammt, Fabi, BLEIB WACH!“ Der Drang, der wohltuenden Schwärze nachzugeben war groß, aber ich schaffte es trotzdem irgendwie, Chris ins Bad zu lotsen. Er lies mich auf den Klodeckel sinken und ließ heißes Wasser in unsere Badewanne ein. Dann half er mir wieder beim Aufstehen. „Halt dich an mir fest“, flüsterte er. Seine Stimme zitterte. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Er war warm, so warm… Ich konnte nicht mehr, meine Beine waren kurz davor wegzuknicken. Chris schälte mich aus meinen kalten, nassen Klamotten und half mir, in die Badewanne zu steigen. Das heiße Wasser war wie ein Schock für meinen Körper. Schlagartig verschwand die Müdigkeit. Ich spürte keine Wärme, spürte nur einen endlos großen Schmerz. Ich stöhnte auf, krümmte meinen Körper. Dann war der Schmerz vorbei. Ein Zittern durchlief mich und mit einem erneuten Stöhnen lies ich mich zurück sinken und schloss die Augen halb. Sämtliche Gliedmaßen kribbelten unangenehm. Ein Schluchzen drang an mein Ohr. Chris war vor der Badewanne auf die Knie gesunken, hatte den Kopf auf den Rand gelegt und weinte. „Verdammt, Fabian!“, schniefte er. „So was kannst du doch nicht machen! Ich dachte du stirbst! Ich hatte solche Angst! Verdammt“ Tränen kullerten über seine Wangen, blieben an seiner Nasenspitze und am Kinn hängen um dann ins Wasser zu tropfen. Mir wurde warm. Nicht wegen des Wassers… Es war eine andere Art von Wärme. Eine Wärme, die mein Herz erhellte. Er weinte wegen mir. Hatte Angst um mich gehabt und hatte sich Sorgen gemacht. Um mich! Um mich ganz alleine! Er hatte mich auch damals schon am Selbstmord gehindert… Jetzt war ich irgendwie froh darüber. Und auf einmal kam mir meine ganze Trauer unbegründet vor. Ich wollte Leben! Langsam streckte ich meine rechte Hand aus und strich Chris sanft über die weichen Haare, über seine Wange und die Lippen. Es war mir egal, dass er auch ein Junge war. Er hob den Kopf und sah mich an. Ich lächelte matt. „Chris…“, flüsterte ich. „Ich glaube, du bist mein Schutzengel“ Kapitel 6: Kapitel 6 -------------------- Chris… Immer wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn vor mir. Er war bei mir geblieben, die ganze Zeit. Er hatte mir Tee gekocht und hatte mir zugehört, als ich ihm alles erzählt hatte. Ich hatte über die Ritzereien gesprochen, über meine Selbstmordgedanken, dass ich ausgeschlossen wurde… Auch den Teil mit Kalle und Fiddi, aber ich hatte ihre Namen verändert. Ich wollte nicht, dass man sie irgendwie mit mir in Verbindung bringen konnte. Nicht, weil ich nichts mit ihnen zu tun haben wollte, sondern weil sie vermutlich mich nicht mehr sehen wollten. Verständlich nach dem, was vorgefallen war. Dann hatte Chris nach Hause gemusst. Er hatte mir seine Handynummer da gelassen. „Und wenn irgendwas ist“, hatte er gesagt „egal was es ist, ruf an!“ Und ich war glücklich gewesen. Glücklich wie nie zuvor. Verschlafen setzte ich mich im Bett auf und starrte auf die Leuchtanzeige meines Weckers: Halb Acht. Ich wollte mich wieder zurück sinken lassen und weiter pennen, aber an schlafen war jetzt nicht zu denken. Ich konnte nur noch durch den Mund atmen. Meine Nase war komplett zu – und nebenbei bemerkt eiskalt -, mein Hals tat weh und mein Kopf schmerzte auch höllisch. Ich fröstelte. Darum rollte ich mich wie ein Fötus zusammen. Aber die Kälte blieb und das ewige durch den Mund atmen war zu anstrengend, um wieder einschlafen zu können. Also stand ich auf, drehte die Heizungen auf Fünf und kramte in meiner Schublade nach Nasentropfen. Ich fand keine, dafür aber eine Packung Aspirin und sogar noch eine Halsschmerztablette. Nach dem Einnehmen legte ich mich wieder hin. Irgendwann hörte ich, wie meine Zimmertür mit einem leisen Knarren aufschwang. Meine Mutter kam ins Zimmer. „Fabian, bist du wach?“ „Hmm“ „Ich wollte dir ein frohes neues Jahr wünschen, weil wir uns ja Gestern nicht gesehen haben und– … Man ist das warm, hier drin!“ Ich grummelte etwas Unverständliches. Sofort war sie an meinem Bett. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ „Nein“, krächzte ich wahrheitsgemäß. Meine Stimme klang nicht mehr wie meine Stimme. „Ich glaub ich hab ne’ Erkältung!“ Ich glaubte es nicht nur, ich wusste es. „Oh“, meine Mutter setzte eine Miene auf, die wohl alles darüber aussagte, was sie dachte. Oh mein Gott, interpretierte ich, Ich bin an der Krankheit meines Sohnes Schuld! Ich hätte zu Hause bleiben müssen! Ja sicher doch… Ich verdrehte innerlich die Augen. Meine Mutter setzte sich auf meine Bettkante. „Soll ich heute nicht arbeiten gehen und zu Hause bleiben, Spatz?“ Bloß nicht! „Nein danke Mama, mach dir keine Umstände! Ich komm schon allein zurecht.“ „Meinst du wirklich, dass das in Ordnung geht?“ Warum sagte sie nicht einfach, dass sie keinen Bock hatte zu Hause zu bleiben? Ich wollte es ja auch nicht. „Nee, ist wirklich in Ordnung Mama! Es kommt gleich noch ein Freund vorbei, der wird sich schon um mich kümmern. Sie lächelte mich mitleidig an. „Ok“, sagte sie. „Ruh dich aus“ Und mit diesen Worten stand sie auf und verließ mein Zimmer. Keine zehn Minuten später, hörte ich, wie unten die Haustür ins Schloss fiel. Ich atmete erleichtert auf. Endlich allein! Die Notlüge mit dem Freund hatte sein müssen. Zwar glaubte ich, dass Mama diesen Trick durchschaut hatte, aber ich denke, jeder Grund, doch nicht bei mir bleiben zu müssen, war ihr recht. Ich kuschelte mich zurück in meine Decke und schaffte es trotz meiner verstopften Nase irgendwie einzuschlafen… Die nächsten zwei Tage lag ich flach, hatte keine Stimme und konnte Chris folglich auch nicht anrufen. Dann ging es mit meiner Gesundheit bergauf. Ich lag gerade in meinem Bett und war in so eine Art Halbschlaf versunken. Der Wecker zeigte halb neun als Uhrzeit an. Mir kam es vor, als hätte ich durchaus kürzer geschlafen. Die Haustürklingel schrillte. Ich schreckte auf. Wer konnte das sein? Ich überlegte, ob ich mich überhaupt dazu bequemen sollte, meine kalten Beine aus dem warmen Bett zu befördern, tat es dann aber doch – Wenn auch widerwillig. Vielleicht war es ja ein wichtiges Paket, oder Ähnliches. Ich warf mir einen Bademantel über und wankte nach unten. Im Vorbeigehen erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild. Ich sah zum Fürchten aus! Unwillkürlich musste ich grinsen. Wenn es die Zeugen Jehovas waren, die vor der Tür standen, dann würden sie wohl vor Angst Reißaus nehmen. Vielleicht war das ja gar nicht mal so schlecht… Ich öffnete die Tür. Davor stand kein Zeuge Jehovas! Auch kein Postbote! Sondern Chris! Ein wohliges Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Als er mich sah, riss er die Augen auf. „Fabi, hallo! Wie geht’s dir? Man, du siehst ja echt schlimm aus!“ Ich ließ ihn eintreten. „Danke“, grummelte ich mit dem Rest der mir von meiner Stimme geblieben war. „Nein, ich meinte schlimm im Sinne von Du siehst aus als hättest du Fieber!“ Die Sorge in seinen Augen war echt. Ich freute mich richtig, dass er da war. „Mir geht’s gut“, piepste ich um ihn zu beruhigen, runzelte die Stirn und räusperte mich. „Ich meine, ich bin in Ordnung!“, wiederholte ich, aber ich brachte wieder nicht mehr als ein leises Fiepen heraus. Chris starrte mich an. „Was hast du gesagt?“, fragte er in leicht verwirrtem Tonfall. Ich streckte ihm die Zunge raus. „Ach, leck mich doch“, quietschte ich. Chris’ Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. Er senkte den Kopf um nicht laut los zu lachen. Ich drehte mich um und stapfte gespielt beleidigt in mein Zimmer. Chris folgte mir. „Sorry“, prustete er. „War nicht so gemeint… Nur… Du klingst so lustig!“, er kicherte erneut. „Und du klingst wie ein Mädchen.“ Ich ließ mich auf mein Bett fallen, schnappte mir meine Wasserflasche und trank einen Schluck. „Warum bist du hier?“, presste ich mit halbwegs normaler Stimme hervor. Chris sah mich an. „Soll ich wieder gehen?“, fragte er unverwandt. Ich schüttelte heftig den Kopf. Zu heftig, denn meine Kopfschmerzen setzten wieder ein. „Nee“, sagte ich. „Wollte nur wissen warum“ „Naja“, er zuckte mit den Schultern. „Du hast dich nicht gemeldet… Und ich hab mir Sorgen gemacht, also bin ich vorbei gekommen!“ „Woher willst du wissen, dass ich dich überhaupt noch sehen will? Und hast du keine Angst, dich anzustecken?“ „Ach, du bist gemein. Aber ich ehrlich gesagt auch gar nicht drüber nachgedacht“, gab er zu. „Woher sollte ich auch wissen, dass du krank bist?“ „Das war ja eigentlich nicht anders zu erwarten, nach dem Abend“ Ich senkte den Blick. „Warum hast du nicht einfach angerufen?“, fragte ich. „Ich hab deine Nummer nicht!“ „Telefonbuch?“ „Hast du mal nachgeguckt wie viele Maurer da drin stehen? Ich hab keine Ahnung wie deine Eltern heißen… Hätte ich alle fünfzig anrufen sollen?“ Ich grinste. „Es stehen höchstens fünf drin, aber wenigstens hast du dir meinen Namen gemerkt!“ Chris errötete leicht. „Na, gesund genug zum Scherzen bist du ja! Übrigens: Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest: Euer Name steht auf eurem Klingelschild.“ „Ha, erwischt!“ Ich schnippte mit meinem Finger vor seiner Nase. „Da steht nicht Maurer sondern Meyer drauf!“ „Ok, ich gebs’ zu: Ich wollte dich sehen… Ein Anruf war mir zu unpersönlich! Moment mal… Wieso Meyer?“ Mein Herz klopfte laut, ein dicker Kloß saß in meinem Hals. Ich wollte dich sehen… Hatte er das wirklich gesagt? „He! Erde an Fabi! Wieso Meyer?“ Chris fuchtelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Huh?“ Ich wurde abrupt aus meinen Gedanken gerissen. Dann realisierte ich seine Frage. „Achso“, sagte ich. „Weil mein Vater so hieß!“ „Hieß?“, fragte Chris erstaunt. Ich seufzte. „Ja, der Mistkerl ist vor einem halben Jahr einfach abgehauen!“ „Oh“ Chris sah mich mitleidig an. „Das tut mir Leid für dich!“ Wut wallte in mir auf. „Muss es nicht“, sagte ich verbittert. „Der Kerl war ein riesiges Arschloch…“ Ich wollte jetzt beim besten Willen nicht darüber reden. Irgendwie schien Chris das bemerkt zu haben. Er wechselte schnell das Thema. „Was… Was macht dein Handgelenk?“, fragte er und kaute nervös auf seiner Unterlippe, wie ich es schon so oft bei ihm beobachtet hatte. Ich wickelte wortlos den Verband ab. Er zuckte erschrocken zusammen und zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Ich selber fand den Anblick kein bisschen erschreckend. Im Gegenteil: Es war gut verheilt! Die blau-violette Färbung hatte sich in eine grün-braune verwandelt, der Schnitt war von einer Kruste überzogen, war deutlich kleiner geworden und der Eiter war verschwunden. „Ach du meine Scheiße“, keuchte Chris. Ich ließ schnell den Ärmel meines Schlafanzuges über die Wunde rutschen… „Sah mal schlimmer aus“, versuchte ich mich rauszureden. Chris nickte. „Scheiße“, fluchte er. „Scheiße, Fabi, mach bloß nicht weiter mit dem Müll!“ Ich hatte nicht die Absicht gehabt weiter zu ritzen. Nicht so lange Chris für mich da war. Trotzdem sah ich erstaunt auf. „Was?“ Chris musterte mich lange. „Ich will nicht, dass du irgendwann mal Drogen nimmst oder so…“ „Wieso sollte ich?“ Er schwieg für einen Moment. „Naja“, sagte er dann. „Mein Bruder hat das auch mal durchgemacht!“, flüsterte er. „Mit ihm hab ich dich auch an Weihnachten verwechselt. Er hat die gleiche Jacke wie du!“ Er lachte auf, aber es klang nicht echt. „Dabei seht ihr euch nicht mal annähernd ähnlich…“ „Oh“, machte ich betroffen. Chris lächelte schwach. „Kein Problem“, sagte er. Dann stockte er kurz. „Du, ich hab dir ein paar CDs mitgebracht! Ich wusste nicht, was du gerne hörst, also hab ich einfach mal alles eingepackt!“ Damit war das Thema für ihn erledigt und ich fragte auch nicht weiter nach. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, Salbei-Bonbons zu futtern („Die sind gut für deinen Hals Fabi!“), uns über diverse Kleinigkeiten zu unterhalten und Chris’ CDs zu hören. Chris hatte eigentlich einen recht guten Musikgeschmack, auch wenn ich sein Faible für asiatische Bands nicht so ganz nachvollziehen konnte. Der Tag verging wie im Flug. Mir ging es wieder viel besser. Doch dann sah Chris auf die Uhr. „Mist“, rief er und sprang auf. „Ich muss nach Hause!“ Ich begleitete ihn zur Tür und drückte ihm einen Zettel mit meiner Telefonnummer in die Hand. „Ruf an, okay?“, bat ich. Chris strahlte. „Versprochen“ sagte er und umarmte mich kurz. „Man sieht sich!“ Ich sah ihm nach, wie er die Straße entlang lief. Mein Magen kribbelte leicht. Dann schloss ich die Tür und seufzte laut. Ja, ich war glücklich! Endlich hatte ich jemand, mit dem ich reden konnte. Ich ging in die Küche, kochte mir einen Kaffee und beobachtete das Schneetreiben draußen. Ich schloss die Augen und freute mich auf den nächsten Tag. Wenn es doch nur immer so gewesen wäre wie jetzt… Wenn ich doch nur immer so glücklich gewesen wäre… Kapitel 7: Kapitel 7 -------------------- Am nächsten Tag rief Chris nicht an. Auch am Übernächsten nicht. Dann begann die Schule wieder. Sie verlief wie immer: Ich saß allein an meinem Tisch und lernte, während die anderen ihren Spaß hatten. In der großen Pause saß ich dann immer bei den Bäumen und las ein Buch. Am dritten Schultag kam dann auf einmal Lena auf mich zugewatschelt. Lena war die große Klatschtante der Klasse. Sie war zwar etwas übergewichtig, aber lustig und sie kannte immer die neuesten Gerüchte. Sie war die Einzige, die mich nicht mied, aber befreundet waren wir auch nicht. Sie kam nur hin und wieder mal vorbei um ihr großes Mitteilungsbedürfnis zu befriedigen. So war es auch heute wieder. „Ey, Maurer!“, blökte sie und ich sah von meinem Buch auf. „Ja?“ „Schon das Neueste gehört?“ Lena hievte ihren massigen Körper neben mir auf die Bank. Ich klappte das Buch zu. „Nee“, antwortete ich. „Aber das wirst du mir gleich sagen, oder?“ Lena nickte, stopfte sich dann den Rest ihres Schokoriegels in den Mund und begann schmatzend zu berichten. „Also“, mümmelte sie. „Wir ham’ nen Neuen inner’ Para-Klasse!“ „Und?“ „Ja, was und? Der ist soooo…“ Lena seufzte und klimperte ein paar Mal mit den Wimpern, was reichlich bescheuert aussah. Aber ich verstand was sie meinte. „Gut aussehend?“, versuchte ich ihr auf die Sprünge zu helfen. Lena schnaubte empört. „Das würdest du nicht sagen, wenn du ihn kennen würdest! Er ist mehr als nur– Oh guck mal, da ist er!“ Lena zuppelte nervös an meinem Ärmel. Ich riss meinen Arm mit einer entschiedenen Bewegung weg. „Wer?“ „Na der mit den dunkelbraunen Haaren da! Der Engel!“ „Ich sehe keinen Engel!“ „Na dieses bezaubernde Wesen da drüben! Guck dir mal seine Nase an, das ist doch wohl ein Traum! Oh mein Gott, ich glaube er kommt zu uns rüber!“ Ich glaubte, dass Lena dringend der Hilfe eines Psychiaters bedurfte. Trotzdem blickte ich mich um. Und tatsächlich, da kam ein Kerl auf uns zugelaufen. Und diese Kerl war– „Chris!“, rief ich und sprang auf. Er rannte mir entgegen und fiel mir um den Hals. „Fabian!“ Er drückte ein bisschen fester. „Tut mir leid, dass ich nicht angerufen hab, ich war krank!“ Er ließ mich los und grinste mich an. „Du hast mich angesteckt.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte mich nicht vergessen! Meine schlimmsten Befürchtungen, dass er vielleicht doch nichts mit mir zu tun haben wollte, hatten sich nicht bewahrheitet! Ein Husten sagte mir, dass Lena sich an ihrem Schokoriegel verschluckt hatte. Ich drehte mich zu ihr um. Jetzt bemerkte auch Chris ihre Anwesenheit. „Verdammt, Fabian, woher kennst du den, seid ihr verwandt oder so?“, röchelte sie. Chris trat auf sie zu und klopfte ihr hilfsbereit auf den Rücken. „Nein sind wir nicht, aber wir kennen uns ja vielleicht, weil wir uns irgendwann mal zufällig über den Weg gelaufen sind?“, nahm er mir das Wort ab. „So was soll ja angeblich mal vorkommen!“ Er grinste Lena an. Die wischte sich ein, zwei Tränen aus dem Augenwinkel, blinzelte verzückt und reichte Chris ihre Hand. „Bin Lena! Schön dich kennen zu lernen!“ Chris ergriff ihre Flosse und lächelte sogar, als er sich vorstellte. Ich stand daneben und starrte beide an. Mein Blick wanderte über Chris’ Profil. Über seine Nase mit dem leichten Knick – die wirklich wunderschön war; Lena hatte Recht gehabt – , die Lippen (die Untere war ein wenig mehr ausgeprägt), bis hin zu seinem perfekten Kinn. Und auf einmal wurde mir klar, dass Chris der hübscheste Mensch war, den ich je gesehen hatte. Er war perfekt. Wie konnte Lena es nur wagen, diesen Gott anzufassen? Und wieso lies er sich das überhaupt gefallen? Ich zog Chris am Arm, hinter mir her, in die Schule. „Was soll das?“, zischte ich, als wir auf dem Flur standen, auf dem sich unsere Klassenzimmer befanden. „Was soll was?“ „Wieso bist du so nett zu der Tussi?“ „Wieso nicht? Sie hat mir doch nichts getan!“ „Aber…“ „Nichts, aber!“, er funkelte mich böse an. Dieses schlagartige Verändern des Ausdrucks in seinen Augen erschreckte mich. „Ich glaube so langsam kapier ich, was du meinst! Aber“, er tippte sich auf die Nase „Es gibt auch noch Andere! Ich gehöre nicht dir und ich darf mich sehr wohl auch mit anderen unterhalten! Das Gleiche gilt für Lena! Hör bloß auf mit deiner Eifersuchtsnummer!“ Ich errötete heftig. Er hatte mich durchschaut, hatte gemerkt, dass ich ihn für mich alleine haben wollte. Aber was hatte ich auch erwartet, er war perfekt und konnte jedem offen sein wahres Gesicht zeigen. Ich dagegen war im Vergleich zu ihm ein Krüppel. Und die Angst, ihn wieder zu verlieren, ihn weggenommen zu bekommen, schnürte mir die Kehle zu. Trotzdem musste ich einsehen, dass er Recht hatte. Er würde nie mehr als ein Freund für mich sein. Schließlich waren wir beide Jungen. Die ganzen Eifersüchteleien waren also gar nicht nötig. Ich wusste selber nicht was mit mir los war. „Das hab ich doch gar nicht so gemeint“, stammelte ich also. „Ich meine, immerhin findet Lena dich klasse und ich dachte nur, es wäre besser, wenn du nicht so nett zu ihr wärst, weil du sie sonst nicht mehr loswirst!“ Tolle Ausrede. Klang auch nicht sonderlich glaubhaft. Aber die Wahrheit sagen, das konnte ich nicht. Ich war eben ein verdammt feiges Huhn… Und ich hatte nie etwas dagegen unternommen. Jetzt hatte ich den Salat! Aber Chris schien mir zu glauben. „Oh“, sagte er und lief ebenfalls puterrot an, sodass sein Kopf immer mehr und mehr einer reifen Tomate glich. „Das… ich meine… Äh… Hoppla… Tut mir leid!“ Ich schüttelte den Kopf. „Schon okay“, nuschelte ich. Das laute Gong der Pausenglocke ließ uns zusammenzucken. „Ich… Ich muss jetzt…“ „Ja“ Chris drehte sich um und wollte in den angrenzenden Klassenraum verschwinden. Ich hielt ihn zurück – keine Ahnung woher ich den ganzen Mut nahm. „Warte“, sagte ich. Erstaunt drehte er sich um und sah mich fragend an. „Was denn?“ „Ich… ich wollte eigentlich nur fragen, wie viele Stunden du heute hast“ „Achso“, murmelte Chris. „Moment“ Er lief in seine Klasse und kam kurz darauf wieder heraus. „Sechs Stunden nur“, strahlte er. „Ah, ich auch, dann könnten wir ja“ „Nach der Schule zusammen laufen?“ „Ja“ „Super Idee! Bis nachher!“ Wir kehrten beide in unsere Klassen zurück. Ich hatte sehr gute Laune. Das änderte sich auch nicht, als Frau Ebert, meine Mathelehrerin, hereinstolziert kam und mich in gewohnt schrillem Ton an die Tafel rief um eine besonders kniffelige Aufgabe zu lösen. Die seltsamen Blicke, die mir meine Klassenkameraden zuwarfen, ignorierte ich. Dann hatten wir Französisch. Eine Welt für sich, wie ich fand, und ich gab mir auch nicht das kleinste bisschen Mühe um diese Welt zu verstehen. Gelangweilt ließ ich meine Blicke aus dem Fenster schweifen. Unten auf dem Schulhof standen zwei Gestalten, die mir seltsam bekannt vorkamen. Aber aus meiner Perspektive lies sich nichts Genaueres erkennen. Plötzlich legte eine der Personen den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel. Und da erkannte ich das Gesicht, welches ich wohl nicht so schnell vergessen würde. Da unten standen Kalle und Fiddi! Ein erschrockenes Gurgeln entrang sich meiner Kehle. Meine Lehrerin sah auf, zog erstaunt die Augenbrauen hoch und rückte ihre Brille zurecht. „Wie bitte?“, fragte sie mit ihrem starken Akzent. „Kann isch dem jungen Monsieur vielleischt be’ilflich sein?“ Jetzt oder nie! „Äh… ja … Ich… Darf ich eben kurz auf Toilette?“ Madame Drouet fixierte mich aus zusammen gekniffenen Augen. „Wir ’aben in fünf Minuten Schluss! Kannst du disch so lange vielleischt noch zurück ’alten, Fabian“ „Äh… ich…“ „Das geht nicht, Madame Drouet!“ Erstaunt sah ich zu Tilo, der aufgestanden war und nun sichtlich nervös nach vorne schielte. „Bitte was?“ „Naja“ Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. „Wenn er nicht pünktlich Schluss macht, dann verpasst er seine Straßenbahn!“ Madame Drouet musterte uns beide skeptisch. Der Rest der Klasse schwieg gespannt. „Ist das wahr?!“, wandte sie sich an mich. Ich nickte hastig. Es war eine Lüge. Ich musste immer mindestens eine dreiviertel Stunde auf meine Bahn warten. Madame Drouet nickte. „Na gut, isch will mal nischt so sein! Aber ’err Maurer sollte sisch auf diese Weise nischt vor ’ausaufgaben drücken. Page quarante-trois, Nümmer deux!“ Sie schlug ihr Buch zu. „Damit seid ihr alle aus meinem Unterrischt entlassen! Bedankt eusch bei den zwei ’erren…! ’usch ’usch! Weg mit eusch!“ Begeistertes Murmeln erhob sich in der Klasse. Ein Ausruf, von wem auch immer: „Madame, sie sind die Beste!“ Madame Drouet lächelte verschmitzt. „Isch weiß“, sagte sie und entschwebte mit federndem Gang. Ich beeilte mich, meine Sachen einzupacken und nach draußen zu gelangen. Warum hatte Tilo mir geholfen? Aber was noch wichtiger war: Was hatten Kalle und Fiddi hier zu suchen? Ich lief zu ihnen hin. „Hey ihr zwei!“, rief ich. Sie wandten sich zu mir um, sagten aber nichts. Kalle drehte den Kopf weg, Fiddi schwieg einfach nur und mir wurde übel. Ich hatte sie Schwuchteln genannt…Stimmt ja! Ich hatte es ganz vergessen. Was wenn sie mir wirklich nicht verzeihen würden? Verübeln könnte ich es ihnen nicht. „Ich“, begann ich und versuchte, meine Stimme nicht zittern zu lassen „Ich wollte mich bei euch entschuldigen! Ich meine, das mit den Schwuchteln tut mir Leid und ich weiß doch auch nicht was mit mir los war, ich hab ja eigentlich gar nichts gegen Schwule und “ „Schon gut“ Ich sah auf. Fiddi lächelte. Fragend schwenkte mein Blick weiter zu Kalle. Der nickte. Mir fiel ein Stein vom Herzen! „Danke“, krächzte ich mit belegter Stimme. Fiddi klopfte mir auf die Schulter. Mit gewaschenen, gekämmten Haaren und ordentlicher Kleidung sah er gar nicht mal so schlecht aus. „Find ich klasse, dass du dich entschuldigst. Macht nicht jeder!“ Genau in diesem Moment kam Chris. „Danke, dass du gewartet hast Fabi und… Hey, was macht ihr denn hier?“ Er sah Kalle und Fiddi fragend an. In meinem Kopf explodierten die Gedanken. Rote Jacke, schrie mein Kopf. Aber ich konnte es nicht einordnen. „Wie, ihr kennt euch?“, fragte nun Kalle ungläubig. Chris musterte ihn irritiert. „Eh… ihr kennt euch auch? Also… ihr… und du…?“ Er machte eine hilflose Handbewegung von Fiddi und Kalle zu mir. Sein ratloser Blick sprach Bände. Kalle übernahm das Wort. „Jaaah, wir kennen uns! Er hat mich im Supermarkt mal beinahe umgerannt… Und ihr zwei seid wohl befreundet, hm?“ Ich nickte geistesabwesend. Warum hatte Kalle gelogen? Wollte er, dass Chris nicht mitbekam, dass er in der Drogenszene aktiv war? Und was für eine Beziehung hatte er zu ihm? Und warum geisterte mir eine rote Jacke im Kopf herum? „Und ihr?“, fragte ich zögerlich. „Woher kennt ihr euch?“ „Er“, sagte Chris und nickte in Kalles Richtung „Ist mein Bruder!“ Rote Jacke, ja klar! Wie verpeilt konnte ein Mensch eigentlich sein? Kalle hatte gesagt er hätte die gleiche Jacke gehabt wie ich und Chris, dass sein Bruder die gleiche Jacke hätte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit wohl, dass drei Leute aus einer Stadt die gleiche Jacke besaßen. Und dann die Geschichte mit den Drogen und dem Selbstmord. Ich war echt super blöd gewesen. Chris wandte sich Kalle zu. „Noch mal, was macht ihr hier?“ Der zog eine Grimasse. „Unsere Mutter“, er zog die zwei Wörter extrem in die Länge „hat mich dazu verdonnert, dich von der Schule abzuholen!“ „Warum?“ „Weil ich heute frei hab!“ „Nein, ich meine, warum musst du mich abholen?“ Kalle zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, brummelte er. „Wahrscheinlich weil es dein erster Schultag oder so ist… Frag mich doch nicht…“ „Ah“, machte Chris, auch wenn er nicht so aussah, als hätte er irgendwas verstanden. „Können wir dann?“ Ich hatte nicht gedacht, dass ich Chris noch nach Hause begleiten würde, jetzt wo Kalle und Fiddi da waren, aber irgendwie ergab es sich so. „Sag mal“, wandte sich Fiddi irgendwann an mich „Wohnst du eigentlich auch hier in der Nähe?“ Chris schüttelte energisch den Kopf. „Nee, er wohnt am anderen Ende der Stadt. Aber ich hab ihn darum gebeten, mich zu begleiten… Wieso?“ Fiddi schüttelte den Kopf. „Ach, nur so“, murmelte er. Ich stieß Chris leicht in die Seite. „Danke“, murmelte ich. Chris runzelte die Stirn. „Wieso? Ist doch wirklich so…“ Bevor ich noch irgendwas erwidern konnte, blieb er stehen. „Hier wohne ich“, verkündete er. „Ich weiß“, brummte Kalle, wofür er von Fiddi ein Grinsen und von Chris einen strafenden Blick erntete. Chris’ Haus war groß – um nicht zu sagen, es war sehr groß! Eigentlich war es nur durchschnittlich, aber mir kam es riesig vor. Und im Vergleich zu meiner Behausung war es das auch. „Danke, dass du mitgekommen bist!“, sagte Chris und lächelte mich an. „Bis Morgen!“ Er drehte sich um und rannte quer über den Schneebedeckten Rasen zur Haustür. Kalle zog an meinem Arm. „Komm schnell!“, blökte er und riss mich mit sich. Nach einem zweiminütigen Spurt, bei dem ich kurzweilig geglaubt hatte, meine Beine verlieren zu müssen, blieben Kalle und Fiddi endlich stehen. „Was?“, japste ich. Meine Lungen brannten wie Feuer. „Meine Mutter“ Kalle war mindestens so außer Puste, wie ich. „Sie hätte uns alle drei auf ne’ Tasse Kakao eingeladen!“ „Unwiderruflich“, nahm Fiddi ihm das Wort ab. „Du hättest nicht nein sagen können, glaub mir!“ Er lies sich auf eine Parkbank fallen. Kalle und ich taten es ihm gleich. „Bist du gut mit Chris befreundet?“, fragte Kalle, als er wieder zu Atem gekommen war. „Ja, ich weiß nicht…“, antwortete ich zögerlich. „Wir kennen uns noch nicht so lange.“ „Phu, das habe ich mir schon gedacht.“, murmelte Kalle. „Weil du ja gesagt hattest, du hättest keine Freunde…. Aber von mir und den Drogen hast du ihm nichts erzählt, oder?“ Ich überlegte. Ich hatte ihm viel erzählt. Aber ich hatte doch keine Namen erwähnt und außerdem glaubte Chris, dass ich Kalle im Supermarkt kennen gelernt hatte. „Nee“, sagte ich also und schüttelte den Kopf. „Nee, davon weiß er nichts!“ Fiddi lachte kurz auf, Kalle lies sich seufzend zurück sinken und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er schien erleichtert zu sein. „Wieso fragst du?“, fragte ich. Fiddi seufzte, stand auf und drückte Kalle flüchtig einen Kuss auf den Mund. „Ich muss dann mal los. Wir sehen uns gleich noch Schatz. Viel Spaß!“ Er ging und ich saß mit Kalle allein auf der Bank. „Wohin muss er?“, fragte ich neugierig. „Arbeiten“, murmelte Kalle und steckte sich eine Zigarette an. Als er meinen fragenden Blick bemerkte, fügte er ein hastiges „Legal!“ hinzu. Eine unangenehme Stille breitete sich über uns aus. Ich scharrte nervös mit einem Fuß in dem schlammigen Schnee am Boden. Mir wurde langsam kalt. Dann fiel mir auf, dass er mir meine Frage noch gar nicht beantwortet hatte und das sagte ich ihm auch. Kalle drehte nervös seine Zigarette zwischen den Fingern. „Weil… ach Fuck… weil… Darum eben!“ Er nahm einen erneuten Zug aus seinem Glimmstängel. „Das ist ungesund, lass den Scheiß!“, ermahnte ich ihn. Mir brannte der Qualm in den Augen. Schuldbewusst drückte Kalle die Zigarette im Schnee aus. „Hast ja Recht“, murmelte er. „Also, was ist Nu?“, hakte ich weiter nach. Kalle schüttelte den Kopf „Ich will Chris nicht enttäuschen!“, sagte er. „Achso“ „Nein, so simpel ist das nicht!“ Kalles Worte ließen mich aufschrecken. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass er nicht über die Sache reden wollte, aber dem schien nicht so zu sein. „Weißt du“ Kalles Stimme glich einem Flüstern. „Ich war früher ganz dick drin in der Szene. Also, nicht nur Verkauf von Drogen, sondern auch eigener Konsum! Meine Familie wusste das, auch Chris… Das war in der Zeit kurz nach meinem Coming-Out… Ich dachte, ich zerbreche daran, aber Chris hat mir da raus geholfen und ich habe es geschafft Clean zu werden!“ Kalle ließ den Kopf hängen und spielte mit der Zigarettenpackung in seinen Händen. „Verdammt!“, zischte er. „Ich hab allen gesagt, ich wäre ganz draußen… GANZ, verstehst du? Auch kein dealen mehr und so“ Ich nickte. „Naja“, fuhr Kalle fort. „Sie waren alle so stolz auf mich. Aber es ist halt nicht so einfach, weißt du?“, er seufzte. „Man kann nicht mal eben so aussteigen. Das geht nicht!“ „Wieso?“ „Tja, das ist halt ein bisschen wie bei der Mafia“ Kalle lachte leise, aber freudlos. „Das Aussteigen bei Dealern ist gefährlich für die, von denen sie den Stoff beziehen. Es geht zwar um mehrere Ecken, aber wenn ich was ausplaudern würde, dann hätten die ein Problem! Ich hatte halt Angst, okay?“ Er drehte den Kopf weg. „Klingt unlogisch, hm?“, fragte er leise. „Ich, der ich mehrere Selbstmordversuche hinter mir hab, hab auf einmal Angst davor umgebracht zu werden…“ Er hatte es mehr zu sich selbst, als zu mir gesagt, aber ich verstand es. Verstand es nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. „Nein“, sagte ich. „Ich finde, das klingt gar nicht unlogisch!“ Kalle sah mich an und auf einmal begann er zu weinen. Es war ein seltsames Gefühl, einen jungen Mann weinen zu sehen. Ich hatte Chris weinen gesehen. Aber das war etwas Anderes gewesen. Chris war so zart, so zerbrechlich und sein Weinen hatte etwas selbstverständliches. Niemand hätte ihn dafür ausgelacht, nur weil er ein Junge war und weinte. Bei Kalle war es anders. Kalle, den ich kaum kannte und dem ich trotzdem vertraute. Kalle, der so stark schien, aber doch sehr verletzlich war, es nur nicht zeigen wollte. Ein Gedanke schlich sich in meinen Kopf. Hatte ich nicht ähnliches durchgemacht? Natürlich, ich konnte nicht beurteilen, wie es sein musste, anders zu sein als die Anderen. Zumindest nicht von diesem Ausmaß – ich war ja schließlich nicht schwul. Aber ich hatte das Gefühl zu wissen, wie es sich anfühlen musste. Und als Kalle nun weinend vor mir saß, konnte auch ich nicht anders, als die Tränen laufen lassen. Und so saßen wir uns auf der Parkbank gegenüber und weinten. Die wenigen Menschen, die bei diesem Wetter vorbei kamen, warfen uns seltsame Blicke zu, aber mir war das egal. Irgendwann rutschte ich näher an Kalle heran und nahm ihn vorsichtig in den Arm. Er erwiderte die Umarmung und es fühlte sich gut an. Es war mir egal, dass Kalle auf Jungen stand. Kalle war Kalle, egal welche sexuelle Orientierung er haben mochte. Und dieser Umarmung haftete nichts anderes als Freundschaft an – Und dessen war ich mir sicher! Es war Freundschaft! Ein schönes Gefühl… Irgendwann löste sich Kalle von mir. Sichtlich peinlich berührt wischte er sich die letzten Tränen aus den rot verquollenen Augen. „Sorry“, murmelte er. „Schon okay“, schniefte ich und zog die Nase hoch. Ich zitterte noch wie Espenlaub. Kalle bestand darauf, mich nach Hause zu bringen. Dankend nahm ich sein Angebot an. Dort angekommen setzte ich mich erst einmal an den Schreibtisch und kramte in meiner Schublade. Zum Vorschein kam ein altes, in Leder gebundenes Notizbuch. Ich hatte es von meiner Oma bekommen, als diese noch kerngesund gewesen war. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie sie mir damals lächelnd über den Kopf gestrichen hatte, als ich mich darüber wunderte, dass es leer war. „Wenn du mal großen Kummer hast, oder große Freude, dann schreib es in dieses Buch!“, hatte sie gesagt. „Vielleicht wird es dir mal helfen!“ Ich hatte damals noch nicht schreiben können, also hatte ich es in der untersten Schreibtischschublade versteckt. Und dort war es vergessen worden. Warum ich mich jetzt wieder daran erinnerte, wusste ich nicht. Ich strich andächtig über den Einband, dann schlug ich es auf und begann – zum ersten Mal in meinem Leben – Tagebuch zu schreiben. Kapitel 8: Kapitel 8 -------------------- Am nächsten Tag in der Schule ließ sich Tilo auf den leeren Platz neben mir fallen. „Hast du Französisch-Hausaufgaben?“ Ich reichte ihm mein Heft. „Ja, aber wahrscheinlich falsch.“ „Macht nichts… Hauptsache ich hab da irgendwas stehen!“ Ich beobachtete Tilo beim Schreiben. Er hatte eine schöne, geschwungene Handschrift, eher untypisch für einen Jungen. „Schöne Schrift“, bemerkte ich, wie nebenbei. Tilo hielt inne und strahlte mich an. „Findest du?“ „Jaaah“, ich nickte bestätigend. „Du… übrigens… wegen gestern… Ich meine, danke, ne?!“ Es war eine recht plumpe Danksagung, aber Tilo schien das nicht zu stören. „Kein Problem, hab ich doch gern gemacht!“, strahlte er und wandte sich wieder dem Heft zu. „Warum?“ „Warum was?“ „Warum hast du mir geholfen?“ Tilo zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht!“, murmelte er. „Ich meine… Du hast an der Tafel so glücklich ausgesehen… Und dann in Französisch auf einmal gar nicht mehr… Und da wollte ich dir halt irgendwie helfen…“ Er hatte den Stift hingelegt und sah mich an. „Weißt du, dir steht ein Lächeln im Gesicht richtig gut!“ „W…Was?“ „Naja, du wirktest auf einmal gar nicht mehr wie der Außenseiter der Klasse, sondern eher wie… Keine Ahnung wie ich das jetzt beschreiben soll… So glücklich und normal halt! Wie so einer, mit dem jeder unbedingt befreundet sein möchte, weil er so gutmütig ist, verstehst du?“ „Nein“ „Oh man, was ich damit sagen möchte ist eigentlich… dass ich mit dir befreundet sein will. Früher hast du meine Versuche immer abgeblockt und gestern schienst du halt so zugänglich zu sein und… Ach, keine Ahnung!“ Versuche? Welche Versuche? Ich hatte nie etwas mit Tilo zu tun gehabt! Er hatte ein paar Mal meine Hausaufgaben abgeschrieben und dabei mit mir geredet. Ich wusste nicht einmal mehr das Thema… Es hatte mich auch nie interessiert. Ich hatte in ihm nie jemanden gesehen, der an mir interessiert war, sondern immer gedacht, er würde nur zu mir kommen, weil sich die Anderen weigerten, ihn ihre Hausaufgaben kopieren zu lassen. Konnte es sein, dass ich die ganze Zeit einfach nur nicht verstanden hatte, was Tilo wirklich bezwecken wollte? Das ich blind gewesen war, für das Offensichtliche? „Du… Du willst mein Freund sein?“, fragte ich zögerlich. „Wieso denn das? Ich bin ein Loser hoch Zehn! Was würde dir das bringen?“ Tilo seufzte. „Du bist halt anders als die Anderen! Nicht so laut, nicht so aufgedreht… Das hat mich halt fasziniert!“ Er machte eine kurze Pause und kaute nervös an seinem Bleistift. „Du hast es nicht gemerkt, oder? Dass ich dir helfen wollte, meine ich. Du warst immer nur so abweisend. Du hast mir nie zugehört wenn ich mit dir geredet habe, oder? Ich glaube, das machst du bei allen… Weil du dich nicht wirklich für sie interessierst. Und darum hast du auch mich nie beachtet, oder? … Ach warum erzähle ich dir das?“ Mit einem Seufzen schlug er mein Heft zu. „Ich kling ja schon wie ein Mädchen... Vergiss die Sache. Danke, dass ich die Hausaufgaben abschreiben durfte!“ Er wollte aufstehen, aber ich hielt ihn zurück. „Warte“, hörte ich mich sagen. Ich wunderte mich, warum ich nach außen hin so cool bleiben konnte, obwohl mein Herz doch so laut bollerte, dass ich dachte, er müsse es deutlich hören können. „Du hast doch noch gar nicht zu Ende abgeschrieben. Willst du etwa eine Sechs aufgeschrieben bekommen, wegen unvollständiger Hausaufgabe? Jetzt setzt dich schon wieder hier hin und mach die Scheiße zu Ende!“ Ich lächelte aufmunternd. Tilos Augen weiteten sich vor Erstaunen. Dann verzogen sich auch seine Mundwinkel zu einem Lächeln. „Okay“, strahlte er und setzte sich. „Okay, Fabi!“ In den großen Pausen traf ich mich mit Chris. Immer öfter gesellte sich jetzt aber auch Tilo dazu und manchmal war sogar Lena dabei. Manchmal überlegte ich, ob es vielleicht an mir gelegen hatte, dass ich ein Außenseiter gewesen war und nicht an den Anderen. Ich hatte mich nicht sonderlich verändert. Das einzige, was geschehen war, war dass ich offener für Andere war. So war zumindest meine Sicht der Dinge. Lena versuchte immer öfter, mir aufzuzählen, was ich früher anders gemacht hatte, aber ich hörte ihr nie zu. Was hätte mir dieses Wissen auch gebracht? Im Prinzip nichts anderes als Vorwürfe gegen mich selbst, weil ich so gewesen war, wie ich eben nicht hätte sein sollen. Die Tage vergingen trotzdem wie im Flug. Viel zu schön war die Zeit. Meinen Siebzehnten Geburtstag feierte ich nicht allein zu Hause, sondern bei Chris, zusammen mit seinen Eltern, Tilo und Lena. Kalle musste arbeiten und Fiddi ebenfalls, aber die beiden hatten mir eine Karte hinterlassen, auf der nur ein Satz stand: Dunkle Wolken ziehen oft schneller vorüber, als man denkt. Zwar stellten alle wilde Vermutungen in den Raum, was mit diesem Spruch gemeint sein könne, aber ich wusste es. Ich wusste es ganz genau. Und ich glaube, Chris verstand es auch. Irgendwie. Mein Tagebuch füllte sich mit immer mehr und mehr positiven Gedanken und Gefühlen. Meine Mutter hingegen bekam ich immer seltener zu Gesicht. Sie arbeitete mehr als sonst und ich glaubte sogar zu wissen, warum das so war. Manchmal, wenn ich sie nach einem langen Arbeitstag sah – müde, dünn und blass – tat sie mir fast ein bisschen Leid. Aber ich versuchte, das zu ignorieren. Sie war schließlich nur die Frau die mich geboren hatte. Nicht mehr und nicht weniger… Dann kam das verhängnisvolle Wochenende, an dem meine Mutter den Wellnessgutschein einlöste und ich bei Chris sein würde, da dieser seinen sechzehnten Geburtstag feierte. Ich mochte seine Eltern und ihn und Kalle sowieso. Fiddi gehörte quasi auch dazu und ich fühlte mich auch schon fast wie ein Familienmitglied. Die Art, wie jeder sofort freundlich aufgenommen wurde, wie sie innerhalb der Familie miteinander umgingen... Ich wünschte, bei mir wäre es jemals so gewesen, aber ich hatte immer Abstand gehalten… Zu jedem! Als ich nun vor Chris’ Haustür stand und klingelte, war ich doch reichlich nervös. Immerhin würde ich heute die gesamte Familie Schulten kennen lernen. Ob sie alle so herzlich waren? Ich wippte von einem Fuß auf den Anderen. Immer vor und zurück. Vor und zurück… Die Tür wurde aufgerissen. „Alles Gute zum Geburtstag, Chris!“, begrüßte ich ihn. „Süße sechzehn, hm?“ „Fabi!“ Er umarmte mich. Er tat das ständig und ich hatte mich nie dagegen gewehrt. Ich mochte es, ihm so nah zu sein. „Schön dass du da bist! Es sind noch nicht alle da. Komm rein!“ Nach und nach trudelten auch die anderen Familienmitglieder ein. Tilo, Kalle und Fiddi waren schon da und Lena kam wie immer zu spät. Auch Tante Karla, die ich schon am Neujahrstag kennen gelernt hatte, kam um zu gratulieren. Sie warf mir befremdliche Blicke zu, aber ich überging es gezielt. Es wurde gegessen (Chris’ Mutter war eine hervorragende Köchin), getrunken und gelacht. Um acht Uhr Abends gingen dann die meisten nach Hause. Ich blieb und zu meinem Bedauern auch Karla. Sie war die Einzige aus Chris’ Verwandtschaft, die mir nicht im Geringsten sympathisch war. Sie wirkte so falsch, so aufgesetzt… Chris, seine Eltern, Tante Karla und ich saßen noch am Küchentisch und unterhielten uns über alle möglichen Peinlichkeiten, da lies Tante Karla einen Kommentar fallen, den ich ihr nie verzeihen sollte. „Jaja“, hüstelte sie „Am peinlichsten ist es aber, wenn man als junger Mann Händchen haltend mit seinem heimlichen Freund von der eigenen Tante erwischt wird. Nicht wahr Chris?“ Sie zwinkerte. „Naja, du bist eben wie dein Bruder, kann man nichts machen, liegt anscheinend in der Familie. Macht ja auch nichts“ Sie beugte sich nach vorne und tätschelte liebevoll die Hand von Chris, der aufgehört hatte zu kauen und seine Tante fassungslos anstarrte. Im Raum wurde es still. Alle Augenpaare richteten sich auf Chris. „Du hast einen Freund?“ Chris erstarrte. „Was? Nein…“ „Aber Karla hat doch gerade…“ „Ich hab keinen Freund!“ „Chris, du brauchst es doch gar nicht zu verheimlichen. Du weißt das wir dich so akzeptieren wie du bist, und es ist doch schön…“ „ICH HAB KEINEN FREUND!!!“ Chris war aufgesprungen und funkelte Tante Karla böse an. Doch diese ließ sich nicht beeindrucken, zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Sicher… So direkt hab ich das auch nie behauptet…“ Chris starrte seine Tante entgeistert an, dann fuhr er auf der Stelle herum und rannte aus dem Zimmer. „Chris!“ Ich lief ihm hinterher. Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Chris, schwul? Oder meinte Karla mich mit seinem Freund? Sie hatte uns schließlich zusammen auf der Brücke gesehen. Aber das war doch nicht gewesen, weil einer von uns beiden schwul war. Oder doch? Aus Chris’ Zimmer war ein Schluchzen zu hören. Ich klopfte an die Tür. „Chris?“, flüsterte ich. „Bleib weg“ „Chris, bitte, ich…“ „HAU AB! Ich will dich nicht sehen! Ich brauche dich nicht!“ Ich brauche dich nicht Die Wörter des letzten Satzes hallten in meinem Kopf wider, wie ein Echo, mal lauter, mal leiser. Er brauchte mich nicht… Er brauchte mich nicht! Hatte er das ernst gemeint? Blödsinn, er war bloß aufgewühlt, er konnte es nicht so gemeint haben. Das durfte nicht sein! „Nein!“, schrie ich und riss seine Zimmertür auf. „Nein, das ist nicht wahr!“ Chris saß auf seinem Bett, die Augen rot verquollen, das Kissen mit dem Dir en grey Aufdruck, dass er von mir bekommen hatte, fest umklammert. Ich stürzte auf ihn zu und umarmte ihn. „Bitte“, krächzte ich. Meine Augen brannten verdächtig. „Bitte sag nicht, dass du mich nicht brauchst!“ Ein undefinierbarer Laut, der einem Schluchzen glich, kam aus Chris’ Kehle. Sein Körper zitterte. „Tut mir Leid“, flüsterte er und schlang seine Arme um mich. „Natürlich brauch ich dich“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Für einen Moment hatte ich gedacht, ich hätte alles verloren. Ich vergrub mein Gesicht in seinen weichen Haaren. Sie dufteten nach Pfirsich. Er war mir nah – so nah! Wieder durchlief dieses Kribbeln meine Magengegend. Ich roch ihn, spürte seinen immer noch zitternden Körper an meinem, fühlte seinen Herzschlag ganz nah bei meinem eigenen. Ich hätte ewig so dasitzen können, doch als er sich wieder beruhigt hatte, schob er mich vorsichtig von sich. „Ich weiß nicht“, murmelte Chris. „Es ist so komisch!“ „Was ist komisch?“ „Weiß ich nicht“ Ich stand auf. „Sollen wir ein bisschen spazieren gehen?“ Chris nickte dankbar. Kapitel 9: Kapitel 9 -------------------- Die frische Luft strich angenehm kühl über mein Gesicht. „Was haben die nur alle?“, fragte Chris. „Wir sind doch gar nicht zusammen! Was soll der Müll?“ „Naja“, räusperte ich mich. „Immerhin hast du meine Hand gehalten… Ist also gar nicht verwunderlich, dass deine Tante–“ „Du verstehst das nicht!“ Chris war stehen geblieben. Ich tat es ihm gleich. „Dann erklärs’ mir!“ Chris atmete tief durch. „Es liegt nicht daran, dass ich deine Hand gehalten hab“, begann er „Sondern eher daran, dass niemand Rücksicht auf mich nimmt!“ „Was?“ „Meinst du, ich hätte deine Hand genommen, weil ich Langeweile hatte?“ Er setzte seinen Weg fort. „Weißt du, vorletztes Jahr Sylvester hat Kalle versucht sich umzubringen. Eine Passantin hat ihn zum Glück gefunden und hat den Notarzt gerufen. Das war an dem Tag, als er uns gesagt hatte, dass er homosexuell ist. Meine Eltern haben gut darauf reagiert, aber ich war sauer und hab mich mit ihm gestritten. Ich weiß noch nicht einmal mehr, warum ich so wütend war. Auf jeden Fall war es meine Schuld, dass er nicht mehr leben wollte.“ „Nein, das war es bestimmt nicht!“, unterbrach ich ihn. Er zuckte mit den Schultern „Kann schon sein“, sagte er. „Ich gebe mir auf jeden Fall immer noch die Schuld daran. Und als ich dann auf der Brücke stand…“ Er schüttelte den Kopf. „Weißt du, es kam alles wieder hoch. Er saß damals unter genau dieser Brücke, als er sich die Pulsadern aufschnitt… Ich hatte Angst!“ Ich nickte nachdenklich. „Ja“, sagte ich. „Ja, ich glaube, ich verstehe dich! Aber weißt du, Kalle sagte, dass du derjenige warst, der ihm aus dieser Krise geholfen hat!“ Trotz der zunehmenden Dunkelheit erkannte ich, wie er errötete. „Echt?“, fragte er. „Ja“, antwortete ich. Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Ich sah Chris von der Seite an und musste erneut feststellen, wie wunderschön er aussah. Im Licht der Straßenlaternen leuchteten seine Augen wie kleine Kristalle und ich fragte mich, ob es okay war, einen Jungen hübsch zu finden. Aber wahrscheinlich war es das schon, denn Mädchen fanden sich untereinander ja schließlich auch hübsch ohne gleich lesbisch zu sein. Nach einer Weile bemerkte ich, wie Chris wieder begann, nervös auf seiner Unterlippe herum zu kauen. Tatsächlich dauerte es auch nicht lange, bis er mit leicht zitternder Stimme zu sprechen begann. „Du… wegen vorhin… also…“ „Ja?“ „Ich möchte nicht, dass du alles glaubst was meine Tante sagt. Okay, sie hat uns auf der Brücke gesehen und Kalle ist schwul, da liegt der Verdacht nahe, dass ich es auch bin. Aber ich bin es nicht, okay? Nicht dass du was Falsches von mir denkst…“ Er lachte nervös und irgendwie klang es nicht wie ein echtes Lachen, sondern wirkte auf seltsame Weise falsch. Für einen kurzen Moment krampfte sich alles in mir zusammen. Nicht schwul. Deutlicher hätte er es nicht sagen können. „Okay“, sagte ich und versuchte zu lächeln. Als ich jedoch bemerkte, dass es genauso aufgesetzt wirkte wie sein Lachen, lies ich es bleiben. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Irgendwo in mir schien etwas zersprungen zu sein. Etwas, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass es existierte. Irgendwas… Ich stand einfach nur da und sah Chris an. Und er stand einfach nur da und sah mich an. Irgendwann wurde uns beiden die Stille unangenehm. „Wie lange darfst du heute eigentlich bleiben?“, fragte Chris zögerlich. „So lange ich will“, antwortete ich, froh darüber, die Stille durchbrechen zu können. „Macht deine Mutter denn da keinen Stress?“ Ich schnaubte verächtlich. „Du kennst doch meine Mutter! Außerdem ist sie eh nicht da…“ „Arbeiten?“, vermutete Chris. „Nee, Wellnesswochenende… Du weißt schon… Mein Weihnachtsgeschenk an sie…“ Chris lächelte sanft. „Du musst sie sehr lieben…“, flüsterte er. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. „Ich liebe sie nicht!“ „Doch natürlich“, sagte Chris und wandte sich mir zu. „Überhaupt nicht“, zischte ich. Wieder regte sich irgendwas in meinem Innersten. Wut loderte in mir auf. Ich war sowieso schon verwirrt genug und wusste nicht warum, nur dass es was mit Chris zu tun hatte. Und jetzt begann der auch noch so zu tun, als wüsste er über meine Gefühle genauestens Bescheid! Meine Hand zitterte, ich hatte Mühe mich unter Kontrolle zu halten. „Ja doch“, sagte er und merkte anscheinend nicht, wie Unrecht er hatte. „Sonst hättest du ihr so was nicht geschenkt.“ Irgendwas hinter meiner Stirn explodierte. „ICH LIEBE SIE NICHT!“, schrie ich erneut, holte aus und schlug Chris mitten ins Gesicht. Sekunden vergingen. Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und ich starrte nicht minder entsetzt zurück. Erschrocken lies ich die Hand sinken. Was hatte ich getan? Ich hatte ihn geschlagen! Ich hatte Chris geschlagen! „Scheiße“, flüsterte ich. Dann drehte ich mich um und rannte weg. „Fabian!“, schrie er mir hinterher, aber ich hielt nicht inne. Ich hatte ihn geschlagen! Verdammt! Ich hatte Gewalt immer gehasst. Hatte es immer verurteilt, wenn mein Vater seine Hand gegen mich erhob. Und nun hatte ich es selber getan! Auf einmal wusste ich auch, warum ich mich so komisch gefühlt hatte, als Chris mir gesagt hatte, dass er nicht schwul sei. Woher das Kribbeln in meinem Magen kam, immer wenn ich in seiner Nähe war. Warum ich Kalles Gefühle doch hatte nachvollziehen können. Alles nur, weil ich derjenige war der ein Problem hatte. Kalle und Fiddi hätten mir sicher gesagt, dass meine Gefühle für Chris ganz normal wären. Aber genau das war der Punkt! Es war Chris, den ich liebte. Ausgerechnet Chris. Mein Retter, mein Freund, mein Engel! Chris war nicht wie sein Bruder, er war ganz normal. Ich würde niemals eine Chance bei ihm haben. Hatte er es vielleicht schon gewusst, bevor ich es selbst bemerkt hatte? Dass ich ihn liebte? Hatte er mich deshalb von sich geschoben? Hatte er mir deshalb noch einmal ausdrücklich klar gemacht, dass er nicht schwul sei? Nein, das durfte nicht sein. Wenn er es wüsste, würde er es sicher akzeptieren, aber es würde sicher nicht mehr so wie früher sein, zwischen uns. Und außerdem hatte ich ihn geschlagen! Wie sollte ich jemals wieder seine Nähe genießen können, ohne mich schuldig zu fühlen? Tränen stiegen in meine Augen. Ich fühlte mich schmutzig. Mein Magen rumorte, Übelkeit stieg in mir auf. Bloß nach Hause! Dort angekommen, schloss ich mich sofort in meinem Zimmer ein und ließ mich mit meinem gesamten Gewicht gegen die Tür fallen. Filmreif rutschte ich an ihr herunter. Mir wurde klar, dass ich ein bisschen wie mein Vater war! Ich war ein kleines, dreckiges Schwein, das so feige war, dass es keinen anderen Ausweg sah, als jemanden zu verletzen und dann abzuhauen. Ich hatte Chris verloren! Endgültig… Ich hörte, wie jemand die Treppe hoch gerannt kam. „Fabian!“, brüllte Chris. Ich hätte ihm das Versteck für unseren Ersatz-Haustürschlüssel nicht verraten sollen. „Fabian, es tut mir Leid!“ Mein Herz klopfte. Es tat ihm Leid! Was tat ihm Leid? Er hatte doch gar nichts getan, oder? Doch! Er hatte gesagt, dass ich meine Mutter liebte! Dann wurde mir klar, was ich da dachte. Ich versuchte ihm die Schuld an allem zu geben! Was war ich nur für ein Freund? Ein schwuler Freund, der es nicht Wert war überhaupt ein Freund von Chris zu sein! „Fabian!“ Er trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür. „Fabian, mach mir auf! Mach mir bitte auf! Sei vernünftig!“ Ja, ich wollte vernünftig sein, aber ich hatte es nicht verdient, mit Chris befreundet zu sein! „Hau ab!“, schrie ich „Geh weg!“ „Nein, Fabian!!!“ Ich verstand auf einmal… Ich musste nur das Gegenteil von dem sagen, was ich fühlte. „VERZIEH DICH!!!“, brüllte ich so laut ich konnte. „ICH WILL DICH HIER NICHT MEHR SEHEN!! ICH WILL DICH ÜBERHAUPT NICHT MEHR SEHEN! ICH HASSE DICH!“ Bitte geh nicht weg. Lass mich nicht allein… Von draußen hörte ich ein Schluchzen. „Nein, Fabian, das sagst du doch jetzt nur so… Bitte…“ „ICH HASSE DICH!“, wiederholte ich „UND ICH HAB DICH IMMER GEHASST!!! LASS MICH BLOß IN RUHE! DU BIST AUCH NICHT ANDERS ALS DIE ANDEREN!“ Du warst der einzige, dem ich jemals meine gesamten Geheimnisse anvertraut habe. Weil ich dir vertraue… Weil du was Besonderes bist…Weil ich dich Liebe… Wieder dieses Schluchzen, das mir fast das Herz brach. „…Fabian… bitte nicht…“ Und noch einmal: „HAU AB!“ Siehst du? Ich habe kein Mitleid… Ich achte nicht auf deine Gefühle… Es ist ganz einfach… Und Chris ging tatsächlich. Ich hörte wie seine Fäuste noch ein paar Mal kraftlos gegen meine Tür klatschten, dann eine Weile nichts. Unten fiel die Haustür ins Schloss. Meine Stimme versagte. Heiße Tränen rannen mir übers Gesicht. Was doch so ein paar Worte auslösen konnten. Ich wusste, dass es falsch gewesen war, was ich getan hatte. Aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich wollte gar nicht mehr denken… Es war zu spät… Ich starrte auf das kleine, blaue Schälchen. Das Licht der Deckenlampe reflektierte auf der Rasierklinge. Ich streckte langsam die Hand aus. Doch dann stockte ich. Nein! Ich zog meine Hand wieder zurück. Ich durfte es nicht schon wieder tun… Ich sollte ruhig leiden! Ich hatte es nicht anders verdient, ich war ekelig. Meine Hand zuckte immer wieder in Richtung der blauen Schale, aber ich wusste, dass ich dem Drang nicht nachgeben durfte! Ablenkung! Ich brauchte eine Ablenkung! Mein Blick fiel auf die CD, die ich von meiner Mutter zu Weihnachten bekommen hatte. Ich hatte sie noch nicht angerührt, die Folie in der sie eingeschweißt war, schimmerte leicht im Licht meiner Deckenlampe. Jetzt packte ich sie aus und legte sie in meinen CD-Player. Dann schloss ich die Augen und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Ich hatte Chris verloren… Meinen Chris… Im Hintergrund lief die Musik und ich dachte über Chris nach… Until the day I die I’ll spill my heart for you Ich hatte so viel Zeit mit ihm verbracht. Er war der einzige, der mich richtig verstand… War das der Grund warum ich ihn liebte? Wenn meine ganzen Gefühle darauf zurückzuführen waren, dann waren sie bloß Einbildung. Dann hatte ich noch eine Chance alles wieder gut zu machen. Ich lauschte tief in mich hinein, hörte aber bloß mein eigenes Herz schlagen. Poch-Poch-Poch… Der einzige Beweis dafür, dass die Zeit verging, war dieser gleichmäßige, immerwährende Herzschlag. Aber so sehr ich auch nachdachte, so sehr ich auch versuchte, meine Gefühle nur als unwirklich anzusehen… Es ging nicht! Wenn es etwas wirklich Wahres auf dieser Welt gab, dann war es dieses Gefühl. Verdammt, ich hätte es wissen müssen. Ich hätte mich nie derartig an einen Menschen klammern dürfen. Es war alles meine Schuld. Vielleicht war es wirklich besser so, wie es war. Wann hatte ich überhaupt aufgehört, so zu sein, wie ein jedes Kind hätte sein sollen? Ich wollte doch einfach nur mit Chris befreundet sein… Aber genau das war der Fehler den ich gemacht hatte… My hands are at your throat And I think I hate you We made the same mistakes Mistakes like friends do Wenn ich so darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich diesen Fehler nicht bereute. Ich bereute auch nicht, mich in Chris verliebt zu haben. Ich bereute nur, dass ich ihn hatte gehen lassen. Aber es war besser so… Until the day I die I’ll spill my heart for you Ich drückte auf die Stopp-Taste an dem Player und sank weinend in mich zusammen… Weinend wie ein kleines Kind… Kapitel 10: Kapitel 10 ♥ ------------------------ Es war, als wenn mein Herz zerbrechen würde, immer wenn ich Chris in der Schule begegnete. Anfangs war er noch auf mich zugekommen, wollte mit mir reden. Aber ich hatte ihn ignoriert und jetzt ließ er mich in Ruhe. Nur wir zwei wussten, was vorgefallen war. Wenn überhaupt. Vielleicht wusste nur ich die gesamte Wahrheit. Die Wahrheit, dass ich ihn nicht mit meinen Gefühlen enttäuschen wollte und deshalb nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Ich hatte gedacht, es sei nicht so schlimm, Chris nicht mehr direkt in meiner Nähe zu haben, weil ich ja Tilo hatte. Aber ich hatte mich geirrt. Ich bekam immer Magenschmerzen, wenn sich unsere Blicke zufällig trafen und er schnell zur Seite sah. Er hatte sich zu ein paar Klassenkameraden gesellt und schien auch bestens mit ihnen klar zu kommen. Früher war ich einmal derjenige gewesen, der sich mit ihm verstand. Aber das war Vergangenheit. Ob er die Zeit wohl auch ein wenig vermisste? Ich sollte endlich damit abschließen. Trotzdem erwischte ich mich immer wieder dabei, darüber nachzudenken, ob ich unter einem Vorwand zu ihm hingehen sollte. Nachricht an Kalle, oder Ähnliches… Aber ich ließ es bleiben. Ein halbes Jahr lang ging das gut… Es war bereits wieder Sommer geworden. Trotzdem trug Chris immer nur langarmige Pullover. Es wäre mir ja gar nicht aufgefallen, wenn es nicht 30°C im Schatten gewesen wären. Ich hatte gehört, wie er sich damit rausgeredet hatte, dass ihm kalt war, weil er die Ferien in Ägypten verbracht hatte und darum an die Temperaturen dort gewöhnt war. Aber ich sah, wie ihm der Schweiß auf der Stirn glitzerte. Gerade fragte ich mich, was ihn wohl dazu veranlassen mochte lügen zu erzählen, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Ich sprang auf. „Fabi, was ist los?“ Tilo der neben mir im Gras lag, schirmte seine Augen mit der Hand ab und blinzelte mich irritiert an. „Muss mal kurz was erledigen“, murmelte ich und steuerte auf die Gruppe, wie Hühner gackernder Mädchen zu, bei denen heute auch Chris dabei stand. „Ey, Maurer, was willst du denn hier?“, Sophie, die Oberhenne, guckte mich böse an. Ich würdigte sie keines Blickes. „Chris“, flüsterte ich. „Kann ich kurz mit dir sprechen?“ Sophie schubste mich zu Seite, sodass ich fast das Gleichgewicht verlor. „Lass die Scheiße, Maurer!“, zischte sie „Chris will nichts mehr mit dir zu tun haben!“ Eingebildete Schnepfe. Ich ließ mich trotzdem nicht abhalten. „Chris, bitte“ Chris nickte und sah mich traurig an. „Okay. Was willst du?“ Ich begann zu schwitzen. „Unter vier Augen, mein ich.“ Chris’ Miene blieb unverändert, aber er folgte mir in den alten Fahrradschuppen. „Was willst du Fabian?“, zischte er, als wir unter uns waren. Ich sagte nichts, sondern trat einen Schritt auf ihn zu und zog mit einer flinken Bewegung seinen rechten Ärmel nach oben. Wie ich erwartet hatte! Chris keuchte und zog seinen Arm weg. Aber ich hatte gesehen, was er um jeden Preis geheim halten wollte: Sein Arm war voller Wunden. Alte, aber auch Frische. Er hatte sich geritzt! Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich wusste noch genau wie es sich anfühlte, von jemandem so schwer verletzt zu werden, dass man es in körperlichen Schmerz umwandeln musste, um es ertragen zu können. Was war ihm geschehen. Wer hatte ihm so wehgetan? War ich es gewesen? Ich sagte nichts, sondern sah ihn einfach nur an. Was hätte ich auch sagen sollen? Es war schließlich meine Schuld gewesen… meine verdammte Schuld! Das wurde mir jetzt klar. Konnte ich denn nicht einmal was richtig machen? „Was willst du von mir, verdammt?“, schluchzte er und Tränen schimmerten in seinen Augen. „Es tut mir so Leid…“, flüsterte ich und auch meine Augen brannten verdächtig. Alle Gefühle, die ich bis jetzt versucht hatte zu verdrängen, kamen wieder hoch. Aber er schüttelte bloß den Kopf. „Das kannst du nicht machen, verdammt. Du kannst doch jetzt nicht so einfach zurückkommen und erwarten dass ich dir verzeihe, oder? Die ganze Scheiße… die ganze Scheiße, nur wegen DIR! Erst lässt du mich im Unklaren und dann im Stich!“ „Ich weiß, aber…“ „Ich denke, es lässt sich nicht verzeihen, was du mit mir gemacht hast!“ Eine Träne rann aus seinem Augenwinkel und tropfte von seinem Kinn auf den Pulli. „Weißt du, ich hab keine Ahnung, was los war! Ob du mich wirklich hasst oder was ich überhaupt gemacht habe! Weißt du wie weh das getan hat? Wie verdammt weh?“ Er machte eine kurze Pause und wischte sich mit seinem Ärmel über die Augen. Ich starrte betreten auf den Boden. „Und jetzt“ Chris schluchzte. „Jetzt kommst du an und willst dich bei mir entschuldigen. Jetzt wo ich gerade gelernt habe, wie es ist, ohne dich zu Leben. Wo ich gerade gedacht hatte, ich würde es aushalten können! Weißt du, ich glaube einfach, dass es besser ist, wenn ich dir nicht verzeihe! Es würde eh nicht wieder so werden wie es war!“ Mein Herz zerbrach. Es zerbrach in tausend kleine Stücke. Und die letzte Hoffnung die ich gehabt hatte – dass ich vielleicht wenigstens wieder mit Chris befreundet sein könnte – gleich mit. Jetzt war alles egal. Es machte keinen Unterschied mehr, ob Chris wusste was ich fühle oder nicht. Ob ich lebte oder tot war. Chris sah mich noch ein letztes Mal an, bevor er sich umdrehte. Sein hübsches Gesicht war von Tränen überströmt. „Es tut mir Leid“, flüsterte er mit bebender Stimme. „Aber ich möchte dich nicht mit der Tatsache belasten, dass ich doch schwul bin.“ Mein Atem stockte. Ich musste mich verhört haben. „Was?“, fragte ich trotzdem fassungslos. „Nichts, ist doch jetzt eh egal“ „Nein ist es nicht, sag das bitte noch mal!“ Bitte, bitte sag es noch einmal. Sag dass ich mich verhört hab. Das kann nicht sein. „NEIN!“, schrie Chris und wollte raus stürmen, doch ich hielt ihn fest, zog ihn zurück und presste ihn gegen die Wellblechwand des Fahrradunterstandes. Er gab ein überraschtes Quietschen von sich. „Sag es noch mal!“, wiederholte ich meine Aufforderung. „ICH SAGTE NEIN!“, schrie er und versuchte sich zu befreien, aber ohne Erfolg, ich lockerte meinen Griff nicht. „DOCH!“, schrie ich zurück. Chris wandte sich und weinte, aber irgendwann gab er auf. „Sag es!“, flüsterte ich. Chris schluchzte auf. „Ich bin wie Kalle, okay? Ich bin schwul, verdammt!“ Also doch. Ich hatte mich doch nicht verhört. Ich lies ihn los und taumelte einen Schritt zurück. Die Welt verschwamm vor meinen Augen. Ich hatte mich nicht entschuldigt, weil er gesagt hatte, dass er nicht schwul war und ich dachte, es würde sich dadurch alles an unserer Freundschaft verändern. Und jetzt stand er einfach da und sagte mir, dass er doch schwul sei? Das durfte nicht sein! „Es tut mir Leid, Fabi!“ Wieso entschuldigte er sich. Ich war doch derjenige, der die Fehler gemacht hatte. Wieso entschuldigte er sich bei mir? „Wie lange weißt du das schon?“, flüsterte ich und wich noch einen Schritt zurück. Chris zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, gab er kleinlaut zu. „Aber ich glaube, so richtig klar geworden ist es mir erst, als ich gemerkt habe, dass ich mich in dich verliebt hatte.“ Mein Herz machte einen Hüpfer der so groß war, dass es fast schon wehtat. „Du hast WAS?“ „Es tut mir Leid. Ich weiß doch, dass du das niemals erwidern kannst. Deswegen wollte ich ja auch nie, dass du was davon erfährst. Aber ich kann mir eben nicht aussuchen wen ich liebe! Tut mir Leid, dass ich dich da mit hinein gezogen habe!“ Was in mir vorging, konnte ich nicht beschreiben. Da war so eine Wärme in mir. Ich hatte das noch nie so gespürt. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Ich muss grauenvoll ausgesehen haben in dem Moment - meinen Mund verzogen als wäre ich die Grinsekatze höchstpersönlich, während mir die Tränen in Strömen über die Wangen liefen. „Du Idiot“, flüsterte ich und trat auf Chris zu. Erstaunt hob er den Kopf. Ich konnte nicht anders. Ich musste ihn einfach umarmen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, ich konnte das spüren. „Fabian, was…?“ „Warum hast du denn nichts gesagt“, flüsterte ich leise und vergrub mein Gesicht in seinen Haaren. „Ich liebe dich doch auch“ Chris versteifte sich kurz, dann schluchzte er und schlang seine schlanken Arme um mich. „Ich will dich wieder haben Fabi“, heulte er. „Ja, ich dich auch!“, flüsterte ich und beugte mich zu ihm hinunter um ihn zu küssen. Kapitel 11: Kapitel 11 ---------------------- Ab dem Zeitpunkt unternahmen wir ständig was zusammen. Und immer wenn ich bei ihm war, war ich der glücklichste Mensch der Welt. Chris schien es da auch nicht sehr viel anders zu gehen. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Noch schöner, als unsere Freundschaft vorher gewesen war. Chris hatte wegen mir so viel durchstehen müssen. Hatte geritzt, weil ich verantwortungslos mit seinen Gefühlen umgegangen war… Ich wollte jetzt alles wieder gut machen, wollte nur noch für ihn da sein und keine Sekunde von ihm getrennt sein. Doch dann kam der Tag, an dem meine ganze Welt zusammen brach. Mama teilte mir mit, dass wir umziehen würden! Sie war nach München versetzt worden. Als ich es Chris erzählte, war er geschockt. „München? Das ist ja verdammt weit weg! Fabi, du darfst nicht gehen!“ Wir versuchten wirklich alles. Sogar meine Adoption war schon geplant. Aber weder meine Mutter, noch Chris Eltern waren damit einverstanden. Ich fühlte mich schlecht. Umziehen. Das bedeutete, alles Vertraute zurück lassen. Auf eine andere Schule gehen. Tilo und Lena nicht mehr sehen. Und was das Schlimmste war, nicht mehr in Chris’ Nähe zu sein, ihn nicht mehr sehen oder berühren können. Ich hasste meine Mutter mehr denn je. Scheiß Versetzung! Chris und ich hatten uns vorgenommen jeden Abend zu telefonieren. Trotzdem sträubte sich alles in mir gegen diesen Umzug. Ich wollte nicht weg! Die neue Schule war auch nicht halb so schön, wie meine Alte. Um ehrlich zu sein, strotzte sie nur so vor Hässlichkeit. Wenn man sie von weitem sah, konnte man meinen, es sei ein grauer, überdimensionaler Betonklotz, den irgendwer in die Landschaft gestellt hatte. Von innen sah sie auch nicht besser aus. Kein bisschen Farbe. Zwar gab es viele Leute dort, die ich mochte, aber keiner kam Tilo, Fiddi und Kalle gleich. Geschweige denn Chris! Ich war unzufrieden. Unzufriedener als je zuvor, da ich, im Gegensatz zu früher, nun wusste, was ich nicht hatte. Ich telefonierte jeden Tag mit Chris, manchmal sogar mehrmals. Und irgendwie lies es sich aushalten. Sobald ich achtzehn war wollte ich zurück zu ihm, das hatte ich mir fest vorgenommen. Doch dann kam der Abend, an dem alles ins Wanken geriet… Ich hatte die Weihnachtstage und den Stress den sie mit sich brachten überstanden. Mir war kalt, es war schon dunkel und ich wollte einfach nur nach Hause. Ich hatte heute Geschenke gekauft, für Chris, Kalle, Fiddi, Tilo, meine Mutter und Chris’ Eltern und meine neuen Freunde aus der Schule. Vor ein paar Minuten hatte ich noch mit Chris telefoniert. „Ich wäre besser ein Außenseiter geblieben!“, hatte ich gescherzt. „Weihnachtseinkäufe gehen ganz schön auf die Geldbörse!“ Chris hatte mich auf mein Handy angerufen, da er mir seine Idee unterbreiten wollte, dass ich über Sylvester vorbei kommen könne und wir dann meinen achtzehnten und seinen siebzehnten Geburtstag nachfeiern könnten. Ich freute mich schon richtig darauf, ihn endlich wieder zu sehen. Ich betrat unsere Wohnung. Hier war es auch nicht viel wärmer, als draußen… „Mama?“, rief ich. Keine Antwort. „MAMA?“ Wieder nichts… Naja, auch egal… Ich zuckte mit den Schultern, hängte meine Jacke an ihren Haken und betrat das Wohnzimmer. Es war wirklich schweinekalt. Ich beugte mich quer über das Sofa, um die Heizung anmachen zu können und – schreckte entsetzt zurück! Ich hastete um das Sofa herum. Blut. Tatsächlich! Die rot am Boden schimmernde Flüssigkeit musste Blut sein! Verdammt, was war hier los? „Mama?“, rief ich erneut, diesmal mit einem leichten Anflug von Panik in der Stimme. Keine Antwort. Nicht, dass ihr was zugestoßen war. Ich folgte der Blutspur am Boden ins Bad. Dort fand ich auch meine Mutter. Sie saß vor der Badewanne und schien eingeschlafen zu sein. Ich trat zu ihr hin, wollte sie an der Schulter fassen, ihr sagen, dass ich wieder zu Hause war, fragen was während meiner Abwesenheit vorgefallen war. Dann sah ich die Rasierklinge… Der Krankenwagen war gekommen, die Polizei auch. Das blaue Licht der Signalleuchte fiel durch unser Küchenfenster und erhellte in regelmäßigen Abständen den Raum. Polizisten wuselten durch alle Zimmer, sie sagten sie würden irgendeinen Abschiedsbrief suchen. Ich wusste, dass keiner existierte. Ich wusste es instinktiv. Man hatte mich vorhin ausgefragt, wie ich sie gefunden hatte. Jetzt saß ich in einem der grünen Wagen und wartete darauf, dass man mich ins Krankenhaus zu meiner Mutter fuhr. In meinem Kopf war ein großes schwarzes Loch. Endlich stieg ein übergewichtiger Polizist ein. „Krankenhaus?“, fragte er. Ich nickte stumm. „Tut mir Leid wegen ihrer Mutter.“ „Dankeschön.“ Der Rest der Fahrt verlief recht schweigsam. Am Krankenhaus angekommen, bedankte ich mich noch einmal, dann stieg ich aus und betrat das weiße Gebäude. Eine Welle des typischen Geruchs von Desinfektionsmitteln schlug mir entgegen. An der Rezeption sagte man mir, wie ich zu Mama kommen würde. Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Es war ein seltsames Gefühl, als wäre ich unfähig irgendetwas anderes als Verwirrung wahrzunehmen. Ich musste lange warten, bis man mich zu ihr ließ. Sie war wach, aber der Arzt sagte, er wolle mir keine falschen Hoffnungen machen, dies sei kein Dauerzustand, sie würde es nicht schaffen. Es war zu viel für ihren Kreislauf gewesen. Nur die Maschinen hielten sie noch am Leben, aber auch nicht mehr lange. Mir war das von Anfang an klar gewesen. Sie hatte schließlich einen angeborenen Herzfehler. Ich setzte mich an ihr Bett, nahm ihre Hand in die meine. Sie sah mich aus glasigen Augen an. „Fabian“, flüsterte sie. Ich drückte ihre Hand. „Ja“ Ein seliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Mein Junge“, flüsterte sie. „Es tut mir Leid!“ „Schon okay“, antwortete ich. Mama hob ihre Hand und strich über meine Wange. „Du bist so groß geworden“, flüsterte sie. „Es tut mir so Leid, dass ich dir nie geholfen hab. Und dass ich so viele Geheimnisse vor dir hatte.“ Sie schloss für einen Moment die Augen. Ihr Blick wirkte verschleierter denn je. „Es gibt so viel, was ich dir noch sagen will…“ Ich drückte ihre Hand ein wenig fester. Sie redete wirres Zeug. „Fabian, dein Vater… Er war gar nicht dein Vater…“ „Was?“ „Weißt du…“ Sie redete langsam und in ihre Stimme mischte sich Müdigkeit. Dieselbe Müdigkeit, die ich verspürt hatte, als ich im Schnee gelegen hatte. „Ich habe deinen Vater im Winter kennen gelernt. Ich wollte Weihnachten nicht allein verbringen, darum ließ ich mich auf ihn ein…“ Sie hustete. „Und dann habe ich mich wohl oder übel ein wenig in ihn verliebt… Wir haben geheiratet…“ Ich tupfte ihr vorsichtig mit einem Lappen den Schweiß von der Stirn. „Da war dieser fremde Mann… Er war ein reicher Kunde unserer Firma. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Er war auch verheiratet. Trotzdem begannen wir eine Affäre! Daraus entstandest du… Ich wollte mit ihm und dir ein neues Leben anfangen, aber er wollte nichts davon hören. Er trieb mich davon, hat mich sogar verletzt, dabei dachte ich, er würde mich wirklich lieben!“ Ich sah erstaunt auf. Er trieb mich davon, verletzte mich sogar… Natürlich! Mein Traum! Ich erinnerte mich! „Dein Vater“, fuhr Mama fiebrig fort. „Dein Vater hat mich geliebt… Er brachte mir manchmal rote Rosen mit, wenn er von der Arbeit kam. Rote Rosen sind ein Zeichen der Liebe… Und er hat mich immer so sanft angesehen. Das hat mir das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Deshalb hab ich mich nicht gewagt, ihn zu verlassen und hab ihm erzählt du seiest sein Kind. Ich hatte Angst davor, allein zu sein…“ Ich hielt inne. Allein… Mama hatte sich allein gefühlt… Auf einmal wurde mir alles klar. Warum sie sich in Arbeit gestürzt hatte… Warum sie nie gelacht hatte… Mir war es ähnlich ergangen und trotzdem hatte ich nichts bemerkt. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ich hätte für sie da sein müssen und sie für mich. Aber wir waren beide blind gewesen… Und jetzt war es zu spät um noch irgendetwas zu retten… Meine Augen begannen zu brennen. Ich sah zu Boden, damit Mama nichts bemerkte. „Dein Vater war so glücklich über deine Geburt. Er hat dich sehr geliebt. Aber ich hatte immer so ein schlechtes Gewissen, wenn ich euch zwei hab rumalbern sehen…“ Moment mal… Papa hatte mich geliebt? Er hatte mit mir rumgealbert? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Und ich verstand nicht, wieso sich alles verändert hatte. „Irgendwann habe ich ihm dann gesagt, dass du nicht sein Kind bist. Seit dem Tag, hat er sich verändert. Er begann zu trinken… Anfangs hat er mich nur angeschrieen. Dann begann er mich zu schlagen. Und er vergewaltigte mich. Ich hätte mich von ihm trennen sollen, aber ich blieb bei ihm. Ich habe dir immer die Schuld dafür gegeben, weil du der Auslöser warst. Fabian, es tut mir so Leid…“ Ihre Stimme brach ab. Ich starrte auf das weiße Bettlaken. Es verschwamm vor meinen Augen. Endlich wurde mir alles klar. Mama hatte daran Schuld getragen, dass ich so geworden war, wie ich jetzt war. Dass alles so geworden war. Die Wut, die ich die ganze Zeit gegen meinen vermeintlichen Vater gehegt hatte, verpuffte fast sämtlich. Ich konnte ihn verstehen. Und ich konnte auf einmal auch Mama verstehen. Und auf einmal wurde mir klar, dass Chris damals Recht gehabt hatte. Dass ich Mama wirklich liebte. Ich hatte es mir nur nicht eingestehen wollen. Und jetzt würde sie nicht mehr da sein… Alles verloren… „Ich bin so Müde…“ „Nein!“ Ein verzweifelter Schrei entrang sich meiner Kehle. „Nein, du darfst nicht einschlafen! Bleib wach!“ Mama lächelte. „Du bist ein toller Junge, Fabian. Ich hätte es vorher wissen müssen. Ich liebe dich!“ Und mit diesen Worten schloss sie die Augen. „Nein!“, schrie ich ohne zu wissen, ob sie meine Worte noch hören konnte. „Bitte geh nicht! Du darfst nicht gehen! Ich hab dich doch lieb!“ Auf dem Gesicht meiner Mutter breitete sich ein Lächeln aus. Der Computer gab ein lang gezogenes Piepsen von sich. Ich sank auf meinen Hocker zurück; starrte auf Mamas Körper. Wie friedlich sie doch aussah, wie sie so dalag, die Augen geschlossen, das blasse Gesicht umrahmt von ihren dunklen Haaren, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Erst jetzt realisierte ich das Geschehene. Es war als hätte jemand meinen Kopf mit einer gigantischen Leere gefüllt. Mein Herz krampfte sich bei jedem Schlag in meiner Brust zusammen. Was hätte ich doch jetzt dafür gegeben, bei Chris zu sein. Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Sie rannen heiß über mein Gesicht. Ich hatte nicht mehr gewusst, wie weh es tun konnte, einen Menschen zu verlieren, den man liebte. Die Tränen brannten auf meinen Wangen. Unwillkürlich musste ich Lachen. Meine Stimme triefte vor lauter Sarkasmus. Es war schon komisch, dass Tränen wirklich brennen konnten. Ein Arzt legte mir die Hand auf die Schulter. „Mein herzlichstes Beileid!“, sagte er. Ich schwieg. Eine Schwester fragte vorsichtig, ob es Angehörige gab, die sie in Kenntnis setzen sollte. Ich gab ihr die Telefonnummer von Chris. Dann brachten sie Mamas Leichnam weg. Ich fühlte mich allein gelassen. Ich wusste, dass ich keinen Grund dazu hatte, ich hatte Menschen, die für mich da waren. Aber da war eine Art Angst, die sich unter meine Gefühle schlich. Ich ging langsam über den kahlen, weißen Krankenhausflur. Alle drehten sich zu mir um. Ob es nur an meinen verquollenen Augen lag, meinem Tränenüberströmten Gesicht oder an etwas anderem… Ich wusste es nicht. Ihre Blicke durchbohrten mich. Ich fühlte mich unwohl unter ihnen. Warum starrten sie so? Was ging sie mein Privatleben an? Seht mich nicht an, schaut weg, schaut weg! Ich fühlte mich auf einmal wieder wie der Junge, der ich gewesen war, als ich Chris noch nicht gekannt hatte. Als ich noch geglaubt hatte, allein auf dieser Welt zu sein. Mit niemandem, der mich auch nur annähernd verstand… Epilog: Epilog -------------- Der Junge sah, wie der Sarg seiner Mutter hinab in die gefrorene Erde sank. Bald schon würde hier nichts mehr, außer einem Stein mit ihrem Namen darauf, an ihre Existenz erinnern. Der Junge hatte aufgehört zu weinen. Es kamen keine Tränen mehr. Er war vollkommen leer. Die wenigen Verwandten die zur Beerdigung gekommen waren, mieden ihn. „Wie tragisch!“, hörte der Junge sie murmeln. „Die Polizei sagte, sie hätte sich die Pulsadern aufgeschnitten, und hat sich, als es zu stark blutete, im Bad verbarrikadiert, um ihr Werk zu vollenden…“ „Nein, wirklich? Das ist ja furchtbar!“ „Der arme Junge!“ „Naja, er war ihr auch keine große Hilfe!“ „Ja, das sagen viele. Ich hab das auch gehört! Sie sollen sich nicht gut verstanden haben…“ „Weiß Gott, er muss sie wohl an den Rand des Wahnsinns getrieben haben. Von sich aus, hätte sie solch eine Tat sicher nicht vollzogen…“ „Ja, sie war immer so sanft“ Die Verwandtschaft des Jungen schwieg eine Weile und starrte ihn Hasserfüllt an. Er wusste dass es Lügen waren. Es war nie seine Schuld gewesen! Niemals… Eine seiner Tanten wandte sich angeekelt ab, in etwa so, als sei er kein Mensch, sondern etwas, was man unbedingt meiden muss. „Dieser Bastard!“, raunte eine andere. „Das hat sie doch nicht verdient. Vielleicht hat der Teufel ihn geschickt…“ „Die Arme, sie war doch noch so jung.“ Der Junge schloss die Augen. Warum sagten sie so etwas? Sie wussten doch, dass er sie hören konnte… war er wirklich so schlimm? Er blieb als letztes noch auf dem Friedhof. Das Grab seiner Mutter war zugeschüttet worden. Er merkte, wie ihm wieder die Tränen kamen. Er fragte sich, wie ein einzelner Körper, so viel Salzwasser produzieren konnte, ob es irgendwann einmal aufhören würde. Als er die Rosen auf das Grab legte, spürte er nur allzu deutlich, wie die Angst sein Herz zuschnürte. Es waren Blutrote Rosen. Er wusste nicht, wovor er Angst hatte, wusste einfach nur, dass sie da war. Rote Rosen sind ein Zeichen der Liebe… Er hatte es nie gemerkt, aber er hatte seine Mutter geliebt. Er hatte sie wirklich geliebt. Er brach am gefrorenen Boden zusammen. Sein Herz schmerzte. Er hätte ihr die Rosen früher bringen sollen. Bevor sie ihr Leben aufgegeben hatte. Bevor es zu spät gewesen war. Der Junge weinte. Er war allein… Das knirschen von Schuhen im Schnee ließ ihn aufblicken. Durch den Schleier seiner Tränen konnte er zunächst nichts erkennen. Dann klärte sich sein Blick und er sah den Jungen vor sich stehen, den er über alles liebte. War es Einbildung? „Chris“, flüsterte er. Nein, wahrscheinlich war er nur eine Illusion, ein Hirngespinst, dass er in seiner Verzweiflung herauf beschwor. Aber Chris war echt. Der Junge schlug die Augen nieder. Er sollte ihn nicht weinen sehen. „Komm“, sagte Chris und streckte ihre Hand nach ihm aus. Der Junge hob den Kopf und sah ihn aus tränenverschmierten Augen an. Chris lächelte – traurig zwar, aber ohne diesen hasserfüllten Ausdruck im Gesicht, mit dem ihn die anderen immer bedacht hatten. „Du bist nicht allein!“ Der Junge starrte die Hand an; griff zögerlich danach. Er sah verängstigt zu Chris hoch, aber der sah ihn weiter mit diesem Blick an, aus dem so viel Liebe sprach. Plötzlich lösten sich die Ketten um das Herz des Jungen; fielen mit einem nur für ihn wahrnehmbaren Klirren von ihm ab und auch sein Mund verzog sich zu einem Lächeln… … Endlich… Hoffnung flammte in ihm auf… … Ja, er war nicht allein… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)