Macht Spiele von JinShin ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Schuldig spürte, wie jemand in den Raum trat, dann sank er wieder in die wohltuende Umarmung des Nichtfühlens und Nichtdenkens. Crawford sah sich um. "Nagi, versuch den Teppich rein zu bekommen. Und dann brüh bitte Tee auf." "Hai." Der junge Japaner runzelte die Stirn, machte sich aber gleich an die Arbeit. Währenddessen seufzte Brad einmal, legte die Arme unter den schlaffen Körper des Deutschen und hob ihn auf. In einem der Schlafzimmer legte er ihn vorsichtig auf das Bett, um dann leise die Jalousien zu schließen. Dann setzte er sich neben die reglose Gestalt und wartete eine kleine Weile. "Ich weiß, das du dein Bestes gegeben hast, Schuldig. Du bist der Beste, sonst wärst du nicht bei uns." Es kam keine Reaktion aus dem Dunkel und Brad sprach weiter. "Aber es ist nötig", er betonte das letzte Wort eindringlich, "dass wir Farfarello finden." Keine Reaktion. //Ich bin unten.// Er stand auf und ging leise auf die Tür zu. Die Hand schon auf der Klinke, zögerte er. Etwas würde geschehen. Er ließ die Vision in sein Bewusstsein: ein dumpfes Geräusch und Nagi mit einer Beule am Kopf auf dem Fußboden. Fast im gleichen Augenblick wurde die Tür von außen geöffnet und Nagi stand vor ihm, eine Wärmflasche auf dem Arm und versuchte an ihm vorbei nach Schuldig zu sehen. „Ist er ansprechbar?“ fragte der Junge leise. „Nein. Wir sollten ihn ausruhen lassen.“ Damit wollte Crawford hinausgehen, doch wieder hielt er inne. Nagi würde noch etwas sagen. „Ja?“ Sein jüngstes Teammitglied sah ihn überrascht an, dachte einen Augenblick nach und sagte: „Ich kann ihm vielleicht helfen. Ich könnte das ganze Haus gegen Telepathie abschirmen... Dann hat er mehr Ruhe.“ Er stockte unsicher, aber als der Amerikaner nichts dazu sagte, sprach er langsam weiter: „Wenn keine Telepathie raus geht, wofür ich es gedacht hatte, kommt auch keine rein... ich hab das noch nicht ausprobiert, aber es müsste funktionieren. Ich arbeite da seit zwei Monaten dran. Ich muss nur meinen PC an den Sicherungskasten anschließen...“ Crawford nickte knapp, und ehe er sich versah, hatte Nagi ihm die Wärmflasche in die Hand gedrückt: „Die ist für Schu, ihm ist bestimmt kalt. Der Tee ist auch fertig.“ Und weg war er. Elektrische Tüftelei war tausendmal besser als Blutflecke aus dem Teppich zu schruppen! Die Hand noch immer auf der Klinke, hörte er undeutlich Schuldigs Stimme: „Brad, bist du hier?“ //Geh nicht weg...// Er bewegte sich unruhig. „Bitte... du bist doch hier...?“ Nagi hatte die Tür geschlossen, Brad war noch immer im Raum. Eigentlich ein wenig gegen seine Überzeugung; eigentlich, nein, eigentlich nicht. Da war noch diese Wärmflasche. Verwundert blickte er auf das glucksende Gummiding in seiner Hand. "Ich bin hier." Er kam wieder näher zum Bett. "Ich bin noch bei dir." Unschlüssig, wie er sich verhalten sollte, und gleich darauf wütend auf sich selbst wegen dieser Zögerlichkeit, zog er sich einen Stuhl zum Bett und setzte sich. "Nagi wird einen telepathischen Schild aufbauen, damit du ... in Ruhe gelassen wirst." Brad neigte den Oberkörper leicht nach vorne und hob die Hand. "Ich hab hier eine Wärmflasche." Unter der hellen Bettdecke rührte sich jetzt nichts mehr, auch bekam er keine mentale Nachricht von seinem Teamkollegen. Ihn musste es wohl doch schwerer erwischt haben, als er das gedacht hatte. "Ich ... äh ... ich leg die Wärmflasche mal auf ... an die Seite hier." Der Amerikaner hob die Decke ein wenig an, um die Wärmflasche vorsichtig an Schuldigs Flanke zu legen. Dann ging sein Blick zum Gesicht des Deutschen, bleich und wächsern im abgedunkelten Zimmer. Er räusperte sich. "Shit, Lukas. Ich bleib 'ne Weile da. Okay?" Und im Dunkel des Zimmers beugte sich Brad vor, um sich auf die übergeschlagenen Beine mit einem Ellenbogen aufzustützen, den Zeigefinger nachdenklich quer über seine schmalen Lippen gelegt, seinen Blick wachsam auf das Gesicht im Bett gerichtet. Schuldig lag keinesfalls so ruhig, wie es den Anschein hatte. Seine Augen huschten unter den Lidern hin und her, immer wieder zog er die Augenbrauen zusammen und in unregelmäßigen Abständen zuckte sein Mundwinkel, sein Arm oder ein Bein. Crawford hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, als aus dem Keller ein dumpfer Knall zu hören war. Gleichzeitig sprangen Schuldigs Stereoanlage und das Deckenlicht an, nur um mit einem hellen Ping sofort wieder zu verlöschen, als der dünne Draht in der Leuchte zerriss. Aus den Lautsprecherboxen drang ein leises Rauschen, die Stimme von Yvonne Catterfeld tönte von unten aus dem Küchenradio durch das Haus und konkurrierte mit der tausendsten Wiederholung der „Golden Girls“, die aus dem Fernseher im Wohnzimmer ihre Sprüche zum Besten gaben. Schuldig öffnete langsam die Augen, ließ seinen Blick ziellos durch das Zimmer wandern, bis er bei Crawford stehen blieb. „Crawford, ich...“ Er stockte. „Es tut mir leid, ich konnte nicht... Farfarello ist...” "Mh." Crawford nickte ihm zu und stand auf, um die Stereoanlage abzuschalten. Von unten hörte man ein kurzes Fluchen und dann verringerte sich die Lautstärke ebenfalls auf ein Nichts. Der Amerikaner setzte sich wieder auf den Stuhl, sein Blick ging auf einen Punkt über Schuldigs Kopf. Seine Miene wurde noch verschlossener, als man es bei ihm sowieso schon gewohnt war. Dann nickte er noch einmal. "Du wirst dich erst wieder erholen, bevor du ihn nochmals zu finden versuchst. Verstehst du?" Er lehnte sich an den Rücken des Stuhls. "Für mich gibt es nichts zu tun, als hier zu sitzen, also schlaf oder was auch immer dich erholt." Crawford holte tief Atem und schloss sitzend die Augen. „Nichts lieber als das.“ Der junge Telepath ließ ebenfalls seine Lider wieder absinken. //Er ist im Labor. Kein Kontakt mehr möglich. Er war... Marcel hat... Ich habe verdammte Scheißkopfschmerzen! Es geht um dich, Brad. Marcel will dir Schwarz wegnehmen. Ich... konnte seine Absichten erkennen, darum ist er so ausgeflippt. Er wird Farfarello versuchen, zu brechen... was ist denn das?// Seine Hand fühlte etwas warmes, wabbeliges an seiner Seite. Seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Grinsen. //Eine Wärmflasche?// Er zog den glucksenden Beutel auf seinen Bauch und drehte sich auf die Seite, zu Crawford hin. //Kann ich etwas gegen die Schmerzen haben?// "Er... lebt, würde ich sagen. Das reicht erst einmal." Brad stand auf, strich sich mit der rechten Hand das Hemd glatt und verließ das Zimmer. Bald darauf war er wieder im Raum, ein Glas in der Hand haltend. "Komm, heb den Kopf." Schuldig wurde eine Tablette in den Mund gesteckt, und das Glas wunderbar kalten Wassers berührte seine Lippen. "Verschluck dich nicht." //Ich rede zuviel.// Brad grinste leicht, schüttelte sacht mit dem Kopf und verstärkte den Halt an Schuldigs Hinterkopf leicht. Ein Seufzer und das Schluckgeräusch zeigten ihm an, Schuldig wieder loszulassen. "Weißt du, Schuldig, Belga ist ein Nichts gegen uns. Selbst wenn er uns trennt, hat er nicht die geringste Chance." Fast hätte er den Arm des Deutschen berührt, um ihn zu trösten. Rasch und mit belustigtem Grinsen im Dunkel des Raumes verstärkte er seine mentalen Barrieren wieder. //Ich würde dir gerne glauben...//, zweifelte Schuldig. //Da war noch mehr... Scheiße, aber ich weiß nicht mehr alles. Er hat versucht, mir die Erinnerungen wieder herauszureißen. Arschloch! Ist ihm auch fast gelungen... Ich muss versuchen, zu schlafen. Crawford...// Schuldig klang jetzt ein klein wenig belustigt. //Du brauchst hier nicht sitzen und auf mich aufpassen. Ich werde brav liegen bleiben und Schäfchen zählen, bis ich einschlafe.// In mentalen Bildern ließ er Crawford sehen, was er unter Schafezählen verstand: eine Art von „Fifty ways to kill Marcel Belga“. Crawford ließ ein leises Lachen hören und stand auf. "Dann hoffe ich ja fast, dass du über 50 zählen kannst. Viel Spaß... und schlaf gut." Die letzten drei Worte waren kaum zu hören, als er die Tür schon fast hinter sich geschlossen hatte. Natürlich hatte Nagi den Teppich nicht gereinigt, aus seinem Zimmer kamen die unüberhörbaren Tastenanschläge. Crawford steckte den Kopf kurz zwischen Türblatt und Rahmen hindurch, aber Nagi war so mit seiner Arbeit beschäftigt, das er ihn nicht bemerkte. Crawford lächelte, als er, die Tür einen Spalt offen lassend, in das verwüstete Wohnzimmer zurückkehrte. Der Jüngste war immer so bedacht darauf, ständig aufmerksam, wachsam und zum Kampf bereit zu sein. Und diese Spannung fiel einfach so von ihm ab, wenn es darum ging, jemandem seiner kleinen 'Familie' zu helfen. Allerdings würde Brad sich hüten, ihn darauf jemals anzusprechen. Er selbst gönnte sich solche Gedanken nicht oft, aber dank Marcels unhöflichem Eingreifen konnte er sie nicht mehr ignorieren. Er hatte keine Ahnung, wann es angefangen hatte, tiefer zu gehen, als bloßes Zusammenarbeiten. Während er den Teppich mit kaltem Wasser behandelte, zog er die Augenbrauen zusammen. Nein, eine Schwäche wird es nicht werden, obwohl... So weit konnte er die Linien, die sich vor ihm ausbreiteten nicht verfolgen. Diese 'Sache' mit Schuldig und Farfarello, nun ja, das war vorauszusehen, selbst für jemanden ohne seine Fähigkeit, aber dass sich Nagi so um Farf sorgen würde, das überraschte ihn doch. Tja, und dann er selbst, der sich grad über alle hier sorgte. Er lachte in die Stille des Wohnzimmers, in Gedanken ein Bild von sich, als Familienvater, die 'Kleinen' um sich versammelt und aus dem Buch 'Fifty ways to kill Marcel Belga' Gute-Nacht-Geschichten vorlesend. Schmunzelnd rieb er über den Teppich, die Zeit, die sie verloren hatten, war nicht mehr aufzuholen, aber das war nicht so schlimm. Er kannte den Ort des Showdowns ja. Schuldig war viel zu wichtig für diese Mission, als dass er nicht seine volle Kraft wiederherstellen sollte. Also wartete Brad Crawford und er hasste es. Schuldig seufzte tief, nachdem Crawford den Raum verlassen hatte. Er genoss die Ruhe in seinen Gedanken, die Nagi ihm durch die elektrische Abschirmung des Hauses verschafft hatte. Nur ab und zu sickerte ein einzelner Gedanke durch Nagis oder Crawfords mentalen Schilde durch. Doch mit der Stille wurden seine eigenen Gedanken wieder hörbar. Er hatte teilweise mitbekommen, was mit Farfarello geschah. Immer dann, wenn seine Gefühle sehr intensiv wurden, konnte Schuldig ihn aus den anderen tausenden Menschen heraus wahrnehmen und sich auf ihn konzentrieren. Doch er konnte nichts tun als still beobachten, wie ein Geist ohne Körper, handlungsunfähig und gefangen in der Gegenwart des Augenblicks. Manchmal kam es ihm vor, als spüre Farfarello seine Anwesenheit, doch sobald sich der Ire wieder beruhigte, wurde Schuldig von ihm fortgerissen zu anderen, intensiveren Empfindungen anderer Menschen. Er rollte sich auf die andere Seite und legte seine Handfläche über die Stirn. Gerade begann er mit einer Regenerationsübung für sein geschädigtes Stirnchakra, als er daran denken musste, wie Crawford ihnen Belga-Gute-Nacht-Geschichten vorlas. Er grinste innerlich über den Gedanken seines Teamchefs. Was hatte Schuldig für ein Glück gehabt, zu dem Amerikaner zu kommen. Die französische Alternative hatte Schuldig gerade hinter sich. Mit den Erinnerungen an sein erstes Treffen mit Crawford schlief er ein. Nagi betrat den Raum ohne anzuklopfen, und blieb dann aber direkt neben der Tür leise stehen, bis Crawford ihm seinen Blick zuwendete. „Das war keine offizielle Rosenkreuzmission“, sagte der Junge in seiner ruhigen Art. „Ich hab auf dem Hauptrechner, dem seiner Sekretärin und Belgas Privat-PC nachgesehen. Nirgends steht ein Hinweis auf Farfarello oder Schwarz. Was passiert jetzt?“ Die schmalen Finger des Amerikaners bearbeiteten noch immer mit einem Lappen den Blutfleck. "Er ist im Labor. Mr. Belga wird uns erwarten, also werden wir zuvorkommend sein, und ihm einen Höflichkeitsbesuch abstatten. Das ist der grobe Plan, ich werde bei dieser wunderbar entspannenden Arbeit hier über die Feinheiten nachdenken." Er zog kurz einen Mundwinkel hoch. Eine der ihn umgebenden Zukunftslinien ließ er zu, seine Finger verharrten kurz über dem schon sichtlich verkleinerten Fleck. "Außerdem warten wir darauf, das Schuldig sich erholt und... und Farfarello wird Belga noch eine Weile beschäftigen. Es wäre hilfreich, wenn du soweit möglich alles Neue herausfilterst, was du von ihm findest." Brad bemerkte den leicht fragenden Blick und winkte ab. "Egal was, ich weiß es nicht genau, ich schau es mir dann durch." Sein Kopf nickte zur oberen Etage. "Ich werde ihn in drei Stunden wecken, mehr hat er nicht. Vorher komme ich bei dir vorbei." Er nickte in Nagis Richtung und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Verstanden.“ Nagi betrachtete ihn noch einen Moment, dann verließ er den Raum so leise, wie er ihn betreten hatte. Auf dem Weg zu seinem Zimmer hatte er noch immer das Bild vor Augen, wie Crawford vor ihm auf dem Boden kniete und eine Arbeit verrichtete, die er Nagi aufgetragen hatte. Der Junge hatte es schlicht vergessen, dennoch verlor Crawford kein Wort darüber. Selbst als Nagi vor seinem Computer saß, dachte er noch darüber nach und konnte sich nicht auf seine Aufgabe konzentrieren. Er bewunderte Crawford, und er hatte Schwarz Loyalität geschworen, doch seit jenem Tag in Tokyo versuchte er, zu den drei anderen Distanz zu wahren. Seit jenem Tag als Crawford Nagi geschlagen und Farfarello nicht davon abgehalten hatte, Tot, Nagis einzige Freundin, zu erstechen. Er wollte keine Nähe zu Menschen, denen er gleichgültig war. Doch jetzt war Farfarello fort, und Crawford machte sich Sorgen, nicht nur um den Iren und nicht nur um Schuldig, sondern auch um ihn. Das hatte Nagi deutlich gesehen. Konnte Belga tatsächlich einfach Mitglieder aus Crawfords Team abziehen? Dann könnte das gleiche auch mit ihm passieren. Nagi spürte plötzlich ganz deutlich, dass er das nicht wollte. Er wollte bei Crawford bleiben. Und er wollte auch, dass Schuldig und Farf blieben. Er hasste Marcel Belga dafür, dass er die vermeintliche Sicherheit, die Schwarz ihm trotz allem geboten hatte, zerstörte. Er hatte es satt, immer wieder diejenigen zu verlieren, mit denen er vertraut war. Dafür würde er Belga gerne so richtig weh tun! Fifty ways to hurt Marcel Belga! Und dann wusste er plötzlich auch, wie. Doch vorher musste er noch seine Arbeit für Crawford erledigen. Er konzentrierte sich, schloss die Augen. Er wurde förmlich eins mit dem Computer, er brauchte keine Tastatur, er lenkte die Energie direkt so, wie er sie benötigte. Nagi war in der Lage, Elektrizität zu spüren, und wie alle Rosenkreuzer angewiesen, seine Begabungen zu verfeinern und weiter zu entwickeln, und so hatte er geübt, Elektrizität auch zu beeinflussen. Er verstand intuitiv, wie sein Rechner funktionierte. Wenn er am PC arbeitete, dachte er wie sein Rechner. Dadurch hatte er selbst seinen Informatiklehrern gegenüber einen entscheidenden Vorteil, ohne den es ihm jetzt wohl kaum möglich gewesen wäre, alle Sicherungen zu umgehen und Rosenkreuz innerhalb kürzester Zeit sämtliche Daten zu stehlen, die für Crawford interessant sein könnten. Danach infizierte er das System mit einem Virus. Crawford hatte den Blutfleck vollständig entfernt. Und doch blieb er auf den Knien hocken, seine Gedanken hatte er nicht ganz im Griff. Es waren so viele verschiedene Stränge und nur allzu viele deuteten auf einen nicht ganz so angenehmen Ausgang des Ganzen hin. Alle, bis auf einen, tatsächlich. Und den zu treffen, Brad seufzte. Wie wünschte er sich jetzt Schuldigs Leck-mich-am-Arsch-Mentalität oder Nagis Vertrauen auf alles, was mit Technik zu tun hatte. In Wahrheit hatte er, der die Zukunft in seinen Händen halten konnte, keine Ahnung, was exakt zu tun war. Am liebsten würde er sich in einen dunklen Raum verkriechen und das Interieur zertrümmern. Oder Marcel Belga. Käme aufs Gleiche raus. Nur dieser verschissene Plan ‚Rein und drauf’ und alle warteten auf eine Eingebung. Zum Kotzen! Er legte die Stirn auf die Kante vom Sofa, wie vormals Schuldig. Er würde sich beruhigen müssen. Und dieses ‚Belga-Problem’ ein für alle Mal lösen. Der fünfzehnjährige Japaner blieb noch eine Weile mit geschlossenen Augen still sitzen und genoss den Nachklang dieses elektrisierenden Kribbelns, das wie immer durch seinen Körper lief, wenn er auf solche Art arbeitete. Dann blickte er zur Uhr und runzelte die Stirn. Gut zwei Stunden waren vergangen. Wo blieb Crawford? Er hatte doch noch die Daten durchgehen wollen, bevor er Schuldig wecken wollte. Es war völlig ruhig im Haus. Nagi verließ leise sein Zimmer. Als er ihren Teamchef noch immer auf dem Fußboden vorfand, blieb er unschlüssig stehen. So kannte er Crawford gar nicht. Was war nur los? „Ich folge dir bis in den Tod“, sagte der Junge mit gleichmütiger Stimme, und fügte hinzu, was er eigentlich hatte sagen wollen: „Ich bin jetzt fertig.“ Brad nickte kurz, stand auf und ging ihm voran in dessen Zimmer. Wie er es vermutet hatte, Belga hatte keinerlei Berechtigung, ihm in sein Team zu pfuschen. Und diese Dateien mit den Monatsnamen. Er rückte seine Brille zurecht. „Eigenartig. Mh. Aber irrelevant, momentan jedenfalls.“ Er klickte sich rasch durch Dateien und Unterprogramme. Die Texte, Grafiken und Bilder schimmerten als Geisterbilder auf seinen Gläsern. Dann lachte er kurz auf. „Er wird sich den Hals brechen!“ Der Amerikaner lehnte sich leicht auf den Stuhl zurück, dann schwang er sich von der Sitzfläche. „Ich wecke Schuldig. Wir holen uns Farfarello wieder.“ Er grinste kurz. //Fifty ways to kill Marcel Belga. Really really slow.// Sein Blick fixierte Nagis. „Du hast ausgezeichnete Arbeit geleistet.“ Und leise aber klar von der Tür aus gesprochen: „Danke, Nagi.“ Der Junge erwiderte darauf nichts. Als Crawford den Raum verlassen hatte, blickte sich Nagi in seinem Zimmer um. Hier gab es nichts, was er mitnehmen würde. Sein Laptop war noch unten im Keller. Obwohl er es schon seit einigen Monaten bewohnte, gab es nichts Persönliches von ihm in diesem Zimmer außer einigen, abgegriffenen Manga, die verstreut überall herumlagen. Die Serie, „X“ von Clamp, handelte von Menschen mit Fähigkeiten wie Rosenkreuzer sie beherrschten. Nagi mochte den Hauptcharakter, denn der konnte Telekinese, so wie er selbst. Es war nicht das normale Zimmer eines fünfzehnjährigen Jungen mit Postern von Stars oder Fußballern an den Wänden. Aber was war schon normal an Nagi? Sein Bick strich bedauernd über seine drei Computer, dann hob er die Handflächen in ihre Richtung und zerstörte sie mit einem gezielten Energiestoß. Reine Vorsicht, falls er nicht zurückkehren sollte. Danach ging er nach unten, um sein Laptop zu holen. Schuldig schlief noch, als Crawford ins Zimmer trat. Draußen war es leicht diesig geworden, er öffnete das Fenster, in der vermeintlichen Hoffnung, ihn mit offenen Augen im Bett liegen zu sehen. Dann runzelte Crawford die Stirn. „Ich weiß, dass du wach bist. Wir wollen los.“ Hinter der wieder geschlossenen Tür im Flur grinste Brad kurz. Es begann wieder alles nach Plan zu laufen. //Steh auf, Dornröschen.// Er ging die Treppe herunter. //Ha. Und wo bleibt mein Kuss?// Schuldig versuchte, entrüstet zu klingen, doch er klang einfach nur müde. Er setzte sich auf, wartete bis der Schwindel in seinem Kopf nachließ und atmete tief die kalte Nachtluft ein, bevor er das Fenster schloss. Er spürte nur einen dumpfen, klopfenden Schmerz und war sich bewusst, dass die Schmerztablette noch wirkte. Belga hatte ganz schön in seinem Geist gewütet, und drei Stunden waren nicht gerade lang, um sich zu erholen. Er freute sich schon auf die Autofahrt, wo er weiterschlafen würde. Jede schnelle Bewegung vermeidend zog er sich langsam, jedoch ohne zu trödeln, frische Sachen an. Die alten, blutigen Kleidungsstücke ließ er achtlos auf dem Boden liegen. Er verbot sich, an Farfarello zu denken. Schritt für Schritt ging er die Treppe hinunter, eine Stufe nach der anderen. Crawford würde wissen, was zu tun war. Er würde Farf zurückholen. Schuldig wagte nicht, daran zu zweifeln. Farf und er waren schon oft getrennt worden. Und sie hatten sich immer wieder getroffen. Immer. So würde es auch diesmal sein. Crawford wartete schon mit Nagi auf ihn. Beide sahen ihn an, und er versuchte ein Grinsen. „Ahoi.“ Er fühlte sich wie ein Matrose auf hoher See, mindestens Windstärke zwölf und der Boden ganz glitschig, weil seine Beine so wackelig waren. Nagi rollte innerlich die Augen: //Kann der denn niemals ernst sein?// Schuldig grinste nur weiter. Aber er hatte ein wenig Sorge, was mit ihm geschehen würde, wenn er das Haus verließ. Er hoffte nur, dass die drei Stunden ausgereicht hatten, um zu verhindern, dass die „Stimmen“, die Gedanken der vielen Menschen um ihn herum, sein Bewusstsein wieder überrollten. Er warf Crawford einen fragenden Blick zu: //Na, wie sieht’s aus? Werde ich mich da draußen gleich in einen sabbernden Idioten zurückverwandeln?// Crawford sah ihn ernst an. "Der Wagen steht direkt an der Garage. Wir werden sofort losfahren. Und auf dem Rücksitz liegt dein MP3-Player, falls du ihn brauchst." Dann sah er ihn nochmals an, packte ihn kurzerhand fest unter dem Ellenbogen und nickte Nagi zu. "Wir gehen." Der Mercedes donnerte über die Autobahn, Nagi lehnte mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen an der Kopfstütze. Schuldig auch, allerdings aus einem anderen Grund. Brad hatte sich umgehend seine Hörer eingestöpselt, für den Fall, dass doch irgendjemand etwas lauter Musik hören wollte. Allerdings sah der 'Jemand' grad eher aus wie Käse in der ersten Molkephase. Brads Kopf nickte leicht zu der Musik, als er zügig an einem längeren LKW-Konvoi vorbeizog. Nagi hatte sein Laptop auf den Knien liegen und klappte jetzt den Deckel auf. Seine schlanken Finger huschten über die Tastatur. Er warf Crawford einen prüfenden Blick zu und beschloss, ihn nicht zu stören. Er neigte sich nach vorne, öffnete den Aschenbecher, zog den Knopf des elektronischen Zigarettenanzünders heraus und stöpselte stattdessen ein Kabel hinein, das jetzt seinen Rechner mit der Elektrik des Wagens verband. Die Tastatur bewegte sich leise. Dann geschahen mehrere Dinge kurz hintereinander. Als erstes ging das Licht aus. Komplett. Sowohl die Scheinwerfer als auch die Beleuchtung des Armaturenbrettes. Dann stockte der Motor, sprang jedoch sofort wieder an. Die Scheibenwischer legten los in höchster Geschwindigkeit, die Scheibenwaschanlage befeuchtete das Ganze, wie es sich gehörte, die Alarmanlage heulte in höchsten Tönen, das Radio sprang zeitgleich mit der Lüftung an, und Nagi sagte: „Scheiße.“ Höchst konzentriert starrte er auf seinen Bildschirm, seine schlanken Finger hämmerten auf die Tasten, und innerhalb von Sekunden war alles wieder normal. Bis auf die Schweißperlen auf Nagis Stirn. Schuldig grinste. "Es gibt auch Akkus, Nagi", war alles, was Crawford von sich gab. Im Rückspiegel hatte er Schuldigs Grinsen bemerkt, und war eigenartig erleichtert darüber gewesen. Er verzog leicht den Mund. Sein Mienenspiel drückte sehr kurz Besorgnis aus, als er an Farfarello dachte. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass es gerade er sein würde, den er sich als ersten abfangen würde. Nagi sah ihn kurz an und schluckte, sagte jedoch nichts. Blicklos starrte er auf seinen Labtop. Schuldig beugte sich vor und berührte ihn leicht an der Schulter: „Manchmal bist du Gold wert, Nagi. Schätze, du hast jetzt was gut bei mir.“ Mental wandte er sich an Crawford: //Dein Wagen ist jetzt gegen Telepathie abgeschirmt. Dann haben wir den Überraschungseffekt auf unserer Seite, wenn wir beim Labor ankommen.// Er rollte sich auf dem Rücksitz zusammen und schloss die Augen. //Und ich kann vielleicht noch ein wenig schlafen.// "Mh-mh." Weiter sagte er nichts. In zwei Stunden würden sie ankommen, ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm an, dass es sich Schuldig längs ausgestreckt mit den Schuhen auf den Sitzen bequem gemacht hatte. Wenigstens wusste er jetzt genau, wer nach dem ganzen Schlamassel seinen Wagen aussaugen durfte. Mit seinen langen, schmalen Fingern trommelte er auf dem Lenkrad herum, nicht angespannt, sondern im Takt seiner Lieblingsmusik. Niemand würde ihm seine Leute auseinander reißen, niemand. Aus den Augenwinkeln sah er kurz zu dem jüngsten Teammitglied herüber, um sich gleich danach wieder auf seine Musik zu konzentrieren. Nagi runzelte leicht die Stirn. Hatte Schuldig das ernst gemeint, Nagi hätte jetzt etwas gut bei ihm? Ohne die Hand zu heben, klappte der Junge den Sonnenschutz an der Windschutzscheibe vor ihm hinunter und betrachtete nachdenklich in dessen eingearbeitetem Spiegel den schlafenden Rotschopf auf der Rückbank. Crawford hatte die Kopfhörer aufgehabt, es gab also keinen Zeugen für dieses Versprechen. Dennoch würde er diese Schuld sorgsam aufbewahren. //Schlimmer als Wagenaussaugen kann’s ja kaum werden.// Nagi zuckte kurz zusammen, als er die Stimme des Telepathen plötzlich in seinem Kopf hatte. Er warf dem scheinbar Schlafenden einen ärgerlichen Blick durch den Spiegel zu: //Hör auf, meine Gedanken zu lesen!// //Dann hör du auf, so laut zu denken.// Diesen Dialog hatten sie schon oft geführt, und Nagi ignorierte wie üblich die letzte Bemerkung. //Wieso Wagenaussaugen?// fragte er stattdessen. //Crawford überlegt schon, wer nach dieser Sache seinen Benz reinigt. Und du bist perfekt geeignet für diese Aufgabe.// //Baka. Ich glaube nicht, dass Crawford gerade so etwas denkt!// //Wollen wir wetten?// //Mit dir wette ich nicht.// //Jetzt überlegt er gerade, wie du wohl als Footballspieler aussehen würdest. Typisch amerikanischer Daddy...// Wütend fuhr Nagi herum und funkelte Schuldig wütend an: //Hör endlich auf mit dem Scheiß! Schlaf lieber, damit du ausgeruht bist!// Schuldig öffnete die Augen, und Nagi sah die Erschöpfung in ihnen. Und die Nervosität. Seine Wut verschwand, als er verstand. Seufzend drehte er sich wieder um. //Also gut. Folge mir.// Der junge Japaner lehnte seinen Kopf wieder gegen die Kopfstütze und schloss die Augen. Er stellte sich einen buddhistischen Tempel vor. Den hellen Ton einer Klangschale in der Stille. Den Landschaftsgarten mit moosbedeckten Flächen, einem Wasserlauf. Dem Klang des Wassers. Rote Ahornblätter, die sich drehend, schwebend, langsam auf die Steinplatten und das Moos sanken. So lange, bis sie beide eingeschlafen waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)