Akte 32 von LeS ================================================================================ Kapitel 5: ----------- Es ging also – mal wieder oder auch noch immer – um die mysteriöse Aktion 5.3, die ziemlich unspektakulär war, wenn man denn wusste, um was es ging. Haskell verstellte seinen Sitzplatz so, dass er sich halb hinlegen konnte und lehnte sich zurück. Er blätterte in der Akte umher. Nummer 34? Er sah noch mal auf dem Umschlag nach. Nein, Nummer 32. Die Tinte war an einigen Stellen verwischt. Die Japaner waren sonst immer so stolz darauf, dass alles super sauber war, nur bei ihren Akten schmierten sie herum. Gerade bei so sensiblen Dingen verstand Haskell nicht, wie man so locker damit umgehen konnte. Vor allem wenn doch sonst so getan wurde, als ob das alles ein Riesendrama von internationaler Gewichtigkeit wäre. Haskell glaubte daran ja noch nicht. Er schlug die Akte erneut auf und las sich durch, was seine japanischen Kollegen über Nummer 32, einen gewissen Subaru Sumeragi, in Erfahrung hatten bringen können. „Hm“, machte Haskell. Nicht spannend, dachte er. Als ob ihm diese Informationen bei der baldigen Beschattung und Entführung helfen würden! Alles musste man selber machen. Haskell schob die Akte zurück in seine Tasche und klemmte sie zwischen seinen Beinen ein. Er hätte aufstehen können und sie in seinem Fach verstauen, aber das war ihm zu anstrengend, ganz abgesehen davon, dass es auch noch riskant war. Obwohl die Japaner ja offensichtlich nicht besonders aufmerksam waren, wenn es um solche Dinge ging. Man musste ja nicht alles nachmachen. Haskell ließ seine Arbeiten nicht gerne schleifen. Eine Stewardess streckte den Kopf zu seinem Sitzplatz am Fenster und grinste ihn an. Sie trug noch eine Zahnspange und ihre Nase war dermaßen minimalistisch angelegt von ihren Genen, dass Haskell die Augen zusammenkneifen und sich auf ihr Gesichts konzentrieren musste, um sie überhaupt zu entdecken. Die Augen der jungen Frau waren dafür riesig. Sie hatte sich wahrscheinlich einer in Japan sehr beliebten OP unterzogen. Haskell empfand sofort Abneigung für die Frau. Er lächelte höflich zurück. „Sekt gibt es also umsonst?“ Die Stewardess nickte. Auf ihrem Kärtchen stand Satsuki, den Rest konnte er nicht lesen. Verdammte Kanji. „Ich möchte dennoch lieber einen Orangensaft.“ „Der kostet aber etwas“, sagte sie. Haskell stöhnte genervt auf und wedelte mit der Hand. „Aber Leitungswasser kriege ich schon noch einfach ohne was zahlen zu müssen, oder? Meine Herren, Sie haben Prioritäten. In der Luft ganz wie am Boden. Wie sagt man… der Apfel hebt nicht weit von der Krone ab?“ Die Stewardess blinzelte ein paar Mal. Dann zuckte sie mit den Schultern, fummelte an ihrem Wagen herum und schenkte ihm ein Plastikglas mit Kohlesäure freiem Wasser ein. Haskell nahm das Wasser an ohne sich zu bedanken. Die Stewardess schien das nicht zu stören. Sie schob den Wagen ein paar Zentimeter weiter vor und erkundigte sich bei dem nächsten Reisenden, ob er Sekt wollte. Haskell reckte den Kopf. Ein dicker Asiate. Der würde Sekt nehmen. Haskell schloss die Augen und ließ sich wieder zurück gegen die Lehne fallen. Draußen, wenn er aus dem Fenster sehen würde, hätte er gerade gar nichts gesehen, außer ein paar Lichtern hin und wieder. Sie flogen gerade übers Meer, berichtete der Pilot in einer angenehm klaren Stimme. Das ist bestimmt kein Japaner, dachte Haskell und schmunzelte. Oder die Japaner waren doch zu etwas gut: rauschfreie Lautsprecheranlagen einzurichten. Haskell hörte dem Mann aufmerksam zu und schlief dabei beinahe ein. Erst als der Copilot sich meldete schlug er wieder die Augen auf. Der Mann hatte eine schrille, nasale Stimme und keuchte bei jedem zweiten Wort so schwer ins Mikrofon, dass man meinen konnte, das Flugzeug wurde deswegen gleich abstürzen. Die anderen Anwesenden der ersten Klasse wirkten ebenso verwirrt wie Haskell, die meisten noch zusätzlich verängstigt. Haskell war einfach nur verärgert, zusätzlich. Immerhin brachte ihn der Copilot mit der Kreischstimme gerade um seinen bitter nötigen Schlaf. Wenn er zuhause in Amerika war, musste er gleich wieder loslaufen. Der Jetlag wurde bei seiner Arbeit quasi ignoriert. Wer das nicht vertrug, war eh an der falschen Stelle gelandet. Haskell schnaubte und öffnete seine Tasche. Irgendwo hatte er noch Ohrstöpsel. Fragte sich nur, wo. Zwischen der Akte über Subaru Sumeragi, Taschentücher mit Menthol und einem Schokoriegel, seiner Waffe und einem künstlichen Magieitem, das einen Bannkreis um ihn spannte, solange es in seiner Nähe war, irgendwo dort mussten die Ohrstöpsel liegen. Da waren sie, hinter den Taschentüchern war die Packung mit den drei Pärchen Stöpseln. Er riss sie eilig auf und stopfte sich die ersten beiden in die Ohren. Er stöhnte; sie juckten. Haskell nahm sie wieder aus den Ohren und starrte die Stöpsel an. Auf einem stand links, auf dem anderen rechts. Haskell verdrehte die Augen und steckte sie so in seine Ohren, wie die Japaner sich das wünschten. Er wusste schon, wo er keine Ohropax mehr kaufen würde. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Herfliegen zu müssen war ihm stets eine Qual und bei diesem Mal hatte er erst dermaßen kurzfristig Bescheid bekommen, dass er sich nicht hatte richtig vorbereiten können. Dazu gehörte gutes Wasser und gute Ohrenstöpsel zu kaufen. Haskell atmete erleichtert aus, als er den Kreischer nicht mehr hörte. Wenigstens funktionieren die Dinger, dachte Haskell. Er nahm einen Schluck Wasser – damit war das Plastikgläschen auch schon ausgetrunken. Das Ding war kaum größer als sein Mittelfinger lang. Er warf es auf den freien Platz neben sich, faltete die Hände über seinem Bauch und schloss die Augen. Jetzt würde er bestimmt einschlafen können. Er dachte an die Akte, an die damit zusammenhängende Aktion und die Person, die ihm dabei in die Quere kommen konnte. Er hatte sie einmal gesehen. Ein beeindruckender, großer Mann mit breiten Schultern, einem leeren, weißen Glasauge und einem anderen, stechenden Auge. Gold wie Bernstein. Haskell bekam eine Gänsehaut, als er daran auch nur dachte. Er bekam nie eine Gänsehaut, außer wenn es ihn fror und da er sich immer richtig anzog, geschah das extrem selten. Ein Meuchelmörder; ein richtiger Profi. Der, obwohl er dieser Tatsache wohl vehement widersprochen hätte, wenn sich Haskell richtig an die Infos aus seiner Akte erinnerte, ein ziemlicher Hitzkopf war. Besitzergreifend und kindisch bis hin zu einem kindlichen Verhalten, das einem fast leid tun konnte, wenn er einem nicht so einem Schrecken einjagen würde. Aber auch sehr höflich und nett konnte er sein. Haskell schob die Brauen zusammen. Er würde aufpassen müssen bei dieser Sache, sonst würde sie schief gehen. Wenn ausgerechnet ein japanischer Kindskopf alias Meuchelmörder alias „der Sakurazukamori“ als sein Meister gefunden werden sollte, gegen den er nicht ankam um keinen Preis in der Welt, dann wollte Haskell lieber seine Marke nieder- und seinen Decknamen ablegen. Wenn dir jemand geholfen hat und du ihm etwas Gutes tun willst, dann lade ihn zum Essen ein. Seishirou hatte diesen Spruch seit jüngsten Zeiten verinnerlicht. Obwohl er nie besonders viel mit Menschen zu tun hatte, außer in einem ihrer intimsten Momenten, vielleicht dem intimsten, den es gab, musste er sich einige gewisse Muss-Regeln merken. Es fiel ihm nicht schwer, sie zu befolgen. Meistens. Zu einer Zeit in seinem Leben hatte es ihm sogar Spaß gemacht, die ganzen Regeln anzuwenden und dafür ein ums andere Mal ein wunderschönes Lächeln zu bekommen. Diese Zeit war vorbei, das Lächeln durch seine Hand ins Jenseits gewandert. Marias Grinsen gefiel ihm nicht halb so gut, aber er bewahrte die Contenance. „Wohin möchtest du denn?“, fragte er sie. „Falls du dich hier in der Gegend nicht so gut auskennst, es gibt einen hervorragenden Italiener in der Nähe. Er macht sehr gute Pizzen. Ich bin mit dem Chefkoch befreundet.“ Letzteres war eine Lüge, aber eine, die zur Hälfte stimmte. Wenn man es aus der Perspektive des Kochs sah, waren sie wahrscheinlich sogar die besten Freunde. Seishirou sah das etwas anderes, aber solange er etwas kostenlos bekam, wollte er den Chefkoch nicht korrigieren. Wozu etwas ändern, nur damit am Ende die Wahrheit dastand, wenn man doch aus der Lüge sich nähren konnte? Maria legte den Kopf schief, dann nickte sie und lachte. „Da würde ich gerne hin. Außerdem will ich ja mal wissen, wie jemand aussieht, der angeblich dein Freund ist!“ Sie prustete hinter vorgehaltener Hand und sprang in den Flur. Seishirou holte sich einen Mantel aus seinem Schrank im Schlafzimmer. Heute war es nicht besonders kalt, aber er ging so gut wie nie ohne Mantel aus dem Haus, also legte er auch dieses Mal einen an. Schwarz, natürlich. Er steckte eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug ein, dann verließ er die Wohnung. Die Schlösser schlossen sich von selbst, nachdem er durch die Türen trat. Maria wartete schon vor dem Eingangstor auf ihn. Sie kaute auf etwas herum, dann stieß sie eine große pinke Blase aus. Seishirou tippte den gedehnten Kaugummi an und er fiel in sich zusammen. Seishirou schmunzelte; das hatte er lange nicht mehr getan und er hatte es auch nicht mehr geübt. Ob er wirklich diesen Ausdruck traf? Er war sich nicht sicher. Maria zeigte keine Anzeichen von Skepsis, also hatte er wohl ins Schwarze getroffen. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und schob sie aus dem Tor. Auch dieses schloss sich von alleine ab. Seishirou wusste, hinter ihnen fiel der Garten in eisiges Schweigen. Seine Mutter hatte gesagt, die Pflanzen wären beleidigt, wenn man sich mit etwas anderem als ihnen abgab. Seishirou wusste es besser, auch wenn er ihr als Kind für ein paar Jahre Glauben geschenkt hatte: Verließ de Sakurazukamori das Gelände, verfiel alles in eine Art Winterschlaf. Die Magie, von der alles lebte, wurde weggezogen und umso weiter sich der Sakurazukamori entfernte, desto abgestorbener sah der Garten aus. Seishirou fragte sich, wie die Pflanzen reagierten, wenn ein Wechsel vonstatten ging. Damals hatten sie sich in seinem Haus befunden, nicht im Sakurazukamori-Anwesen. Er hatte nicht sehen können, wie dieser Garten sich verhielt. Aber bald… Maria zupfte an seinem Ärmel. „Onkelchen, wie weit ist es denn noch?“ „Onkelchen“, wiederholte Seishirou. „Na ja, wenn du nicht mein Verwandter bist, dann bist du ein Perverser. Wär dir das lieber? Ich mein, biste ja schließlich auch.“ Sie lachte. Seishirou schüttelte den Kopf. Der Weg zum Restaurant war nicht weit, aber Marias überschwängliche Freude fiel ihm schon jetzt auf das angefressene Nervenkostüm. Sein Shiki würde in nächster Zeit nicht einsatzfähig sein. Marias Exkursion in seine Erinnerungen hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen; Seishirou spürte, wie dieser Teil, der sein Shiki war, in ihm tief drinnen rumorte und keine Ruhe fand. Es fiel ihm schwer, sich mit diesen Gefühlen zu konzentrieren. Seishirou runzelte die Stirn und griff fester Marias Arm. „Ist was nich’ gut mit dir? Wir können ja auch mal wann anders essen gehen. Kein Problem!“ Maria tätschelte seine Hand. „Außerdem tust du mir gerade voll weh.“ Sie lächelte gequält. Seishirou ließ ihren Arm los. „Tut mir leid.“ „Du siehst so angestrengt aus.“ Sie sprang in die Höhe und versuchte seine Stirn anzutippen, reichte jedoch nicht bis ganz nach hoch und traf ihn nur auf die Wange unter seinem Glasauge. „Sorry, Mann“, sagte sie. „Hat nicht wehgetan“, sagte Seishirou. Genau, dachte er, das hat mir keine Schmerzen bereitet. Maria wirkte nicht überzeugt, schien kurz nachzudenken und lief dann ein paar Schritte vor. Offensichtlich hatte sie beschlossen, dass es genug für diesen Abend war. Die Sache mit dem Shiki… Seishirou lächelte. Sie wollte ihn nicht überfordern? Er beschleunigte seine Schritte, bis er wieder neben ihr angekommen war. „Weißt du schon, was du essen möchtest?“ „Nein“, sagte Maria. „Darf ich auch was Teures nehmen? Du bist doch total reich.“ „Denkst du, dass ich das bin?“ „Na hallo mal, eeey! Halt mal die Füße still, Rambo!“ Rambo?, dachte Seishirou. „Ich laufe, es wäre ungeschickt, wenn ich das nicht mehr tun würde, da wir sonst nie beim Essen ankommen. Das wäre dir sicher nicht recht.“ „Arf“, machte Maria. „Ich mein ja nur, du trägst ständig irgendwelche Armani-Anzüge und wohnst in dem riesigsten Schuppen, den ich je gesehen habe. Weißte, wir sind ja auch nicht gerade arm und wohnen in ner netten Gegend in nem riesigen Haus, aber das ist mal echt übertrieben für eine Person.“ Maria nickte. „Man muss den Schein wahren“, sagte Seishirou. „Immerhin glauben die meisten, dass der Sakurazukamori-Clan aus mehr als nur einer Person besteht. Wäre merkwürdig, wenn sich so ein großer Clan in einem Schuhkasten zusammenquetscht, oder?“ „Da sagste was.“ Maria verschränkte die Arme vor der Brust, die kaum vorhanden war. Sie war noch ein Kind. „Aber darf ich jetzt?“ „Hm?“ Seishirou neigte den Kopf ein Stück zu ihr herunter. „Ach, etwas Teures bestellen?“ Sie sah ihn mit großen Dackelaugen an. Etwas in Seishirous Brust wurde warm. Dann wurde ihm übel. „Natürlich“, sagte er. „Ey, lauf nicht so schnell!“ Maria nahm Riesenschritte, um weiter neben ihm laufen zu können. „Wir müssen doch nicht rennen.“ „Ich habe keinen Tisch bestellt.“ „Als ob du in überfüllte Restaurants gehst.“ Sie tippte sich an die Schläfe und verdrehte die Augen. „Das glaubste ja selber nich’, Mann.“ Seishirou lachte und blieb mit ihr vor dem kleinen Gebäude stehen, über dem ein rostiges Eingangsschild mit dem Namen des Restaurants hing. Den Namen hatte bisweilen jeder vergessen; selbst der, dem es gehörte. Solange nur das Essen gut war, hieß das Motto, das auf einem eingeschweißten Pappschild an der Tür hing. Seishirou hielt Maria die Tür auf. „Hereinspaziert“, sagte er. „Ist hier die Mafia?“ Maria streckte den Oberkörper durch die Tür, wandte sich um und sah Seishirou aus großen Augen an. „Nein“, sagte Seishirou. Er schob sie in den Vorraum. „Das heißt bei uns Yakuza.“ Maria lachte nervös. Seishirou musste ihr die Jacke ausziehen. Sie rührte sich nicht vom Fleck und starrte schlicht in den halbdunklen Raum hinein, der voller schwerem Zigarrenrauch war. Seishirou atmete tief ein, als er ihre Jacke und seinen Mantel an die Garderobe hing. „Sitzt du lieber mitten im Raum, in einer Ecke, oder am Fenster?“ Maria gab keine Antwort. „Liebste Nichte?“ Maria zog verschreckt die Schultern hoch und drehte sich zu ihm um. „Äh, Ecke, Fenster, egal!“ Sie rannte durch die Reihen und setzte sich an eine Eckbank. Seishirou begrüßte beim Vorbeigehen einige alte Bekannte – der Pappa, die AnToiNe und den Asar. Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. So verdeckte er die für sie gruseligen anderen Gäste vollständig. Sie hatte sich den Platz geschickt ausgewählt, das musste er ihr lassen und tat es auch. Die Bedienung brachte das Menü vorbei. Maria schlug ihres sofort auf und vertiefte sich in die Karte. Das war ihr wohl lieber, als sich mit ihrer Umgebung abgeben zu müssen. Sie musste spüren, dass sie hier nicht hingehörte. Woher auch? Sie war viel zu jung für die ganzen alten Männer. Wohlgemerkt auch für deren Geschmack nicht gut genug gebaut, obwohl AnToiNe sie bestimmt gerne jederzeit aufgefressen hätte. Die AnToiNe war ein Clan, der nur aus drei Frauen bestand, die eine sehr enge Beziehung zueinander pflegten. Seishirou fand ihren Humor eigenartig, und dass sie ihn ständig anfassten, beunruhigte ihn stets. Dass auch sie töteten wusste er, aber wie sie es taten, wusste er nicht. Einige der anderen, allen voran der Asar, behaupteten, dass AnToiNe die Wiedergeburten der Schicksalsschwestern, der Moiren, wären. Was sie ausgerechnet in Japan suchten, das konnte wiederum keiner beantworten. Seishirou bestellte sich ein Glas Wasser. Maria fragte mit zitternder Kleinmädchenstimme, ob es denn hier auch Cola gäbe. Die Bedienung lächelte sie mitleidig an, nickte und nahm die Bestellung auf. „Wissen Sie schon, was Sie essen? Bei Ihnen weiß ich es ja schon“, sagte sie an Seishirou gewandt. Er lächelte hauchdünn zurück und sah Maria an. „Na?“ „SchniPoSa“, sagte sie, dann berichtigte sie sich schnell: „Schnitzel. Pommes. Salat. Bitte.“ Die Bedienung seufzte und schrieb sich alles auf. „Ketchup?“ Maria lief rot an und nickte. Sie stierte die Tischdecke an. „Kommt sofort.“ Seishirou sah der Bedienung nach und wandte sich nach kurzer Zeit wieder an Maria. „Gefällt es dir hier nicht?“ „Oh.“ Maria hob den Kopf. „Das ist es nicht.“ „Doch, das ist es.“ Seishirou legte die Arme auf den Tisch. „Du kannst ruhig ehrlich zu mir sein. Immerhin darf ich dich ja sowieso nicht töten, richtig?“ Bei dem Wort töten wurde es für einen Moment leise im Raum, dann nahmen alle wieder das Essen auf oder sofern sie geredet hatten, das Gespräch. „Es ist sehr gewöhnungsbedürftig. Ich hab mir das ja schon mal vorgestellt, bei der Mafia zu essen…“ „Yakuza“, sagte Seishirou knapp. „… bei der Yakuza“, sagte Maria augenrollend. „Aber dass es tatsächlich so aussehen würde, das ist doch n kleiner Schreck.“ „Wie hast du es dir denn vorgestellt?“ Eigentlich hatte er sie nicht eingeschätzt. Als jemanden, der zu viele Filme sah und dann dachte, die Realität müsste auch so aussehen. Maria rümpfte die Nase. „Nicht so schrecklich versifft.“ Seishirou zuckte die Achseln. „Leichengeruch härtet ab.“ „Verstehe“, sagte Maria. Ob sie das wirklich überzeugen fand, konnte Seishirou beim besten Willen nicht sagen. Allerdings kam auch schon die Kellnerin und Maria atmete erleichtert aus, als die Frau etwas vor ihr auf den Tisch stellte, mit dem sie sich würde ablenken können. Seishirou bedankte sich für den großen Teller Spaghetti Bolognese und schwenkte das Glas. „Lass uns anstoßen. Auf eine hoffentlich gute gemeinsame Zeit.“ Er lächelte. Maria zog die Mundwinkel nach unten. Sie hob ihre Cola hoch und stieß mit ihm an. Sie schluckte, noch bevor sie das Glas an die Lippen angesetzt hatte. Seishirou drehte sich um und folgte ihrem Blick. Ein im Gesicht äußerst vernarbter Geselle hatte den Raum betreten. Er schlurfte an ihnen vorbei und setzte sich drei Tische weiter weg an seinen Stammplatz. Seishirou kannte ihn, wenn auch nicht seinen Namen. Er drehte sich achselzuckend um. Maria war kreideweiß im Gesicht. „Dein Essen wird kalt“, sagte Seishirou. „Oh, ach ja.“ Maria nahm das Besteck und atmete einmal tief ein. Ob ihr das nicht zuviel wird?, dachte Seishirou bei sich. Er drehte eine Portion Spaghetti auf seinen Löffel. Sie waren wie immer erstklassig gewürzt, genau wie er es mochte. Die Kellnerin hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Bescheid gesagt, für wen die Bestellung war. Er aß ein paar Bissen. Seishirous Blick fiel auf Maria. Sie starrte ihn an. „Schmeckt es?“, sagte er bemüht freundlich. Sie hatte noch nicht mal mit dem Essen angefangen. „Wie machst du das?“ „Wie mache ich was?“ Er drehte die Gabel auf dem Löffel ein und schlug die überstehenden Nudeln um. „Na das da!“ Maria gestikulierte mit den Händen; sie äffte seine Bewegungen mehr schlecht als recht nach. Seishirou sah auf seinen Löffel herunter, auf dem brav seine Portion Nudeln und Hackfleisch darauf wartete, verspeist zu werden. „In Italien isst man Spaghetti so.“ Oder so ähnlich, dachte er. „Voll cool“, seufzte Maria. „Ich verklecker mich da immer tooootal.“ Sie wird lockerer, dachte Seishirou. Umso besser. Er hatte einige Fragen an sie und wenn sie unaufmerksam war, würde sie ihm besser zu verwertende Antworten geben. „Wir können es gerne beim nächsten Besuch zusammen üben.“ Maria fing endlich an, ihr Schnitzel auseinander zu schneiden. Auf Seishirou wirkte das ganz so, als ob sie es zerhäxeln wollte. Nach fünf Minuten war sie fertig; er hatte den Blick nicht von ihrem Teller nehmen können. Es war ein reines Schlachtfeld, dem auch einige Pommes und die Tomaten im Salat zum Opfer gefallen waren. Seishirou schüttelte den Kopf. Auf seinem Löffel lag noch immer die eingedrehte Portion. Einige Nudeln hatten sich wieder aus dem Nest befreit. Er kämmte sie mit der Gabel zurück und schob sich den Löffel in den Mund. Sie waren lauwarm geworden. Er kaute widerwillig darauf herum. Heiß mochte er es lieber. „Voll lecker, ey!“ Marias Mund war mit Ketchup beschmiert, obwohl sie höchstens drei Bissen gegessen hatte. Wenn es so weiterging, war sie am Ende noch ein Stück Tomate. „Das freut mich“, sagte Seishirou. Sie hat wohl schon ganz vergessen, wo sie sich befindet. Nicht dass die Personen im Raum grundsätzlich gefährlich gewesen wären. Das war reiner Aberglaube. Gefährlich waren diese Leute nur, wenn ihnen jemand den Auftrag dazu gegeben hatte. Sonst waren es sehr umgängliche Menschen. Er schloss sich selbst in diesen Kreis mit ein. AnToiNe hätte ihm wohl hierbei widersprochen. Sie hatten keine Ahnung. In dieser Hinsicht mochte er sie nicht. Diese Einstellung erinnerte ihn zu sehr an die Behörde, der er unterstand. Und die Mitarbeiter dieser Behörde konnte er weniger als alle anderen Menschen leiden. Maria nahm den Mund bei jedem Mal viel zu voll. Erst als sie die Hälfte des Schnitzels verputzt hatte und einmal mit der Serviette über den Mund gewischt fing sie an zu tun, was normale Menschen beim Essen ständig taten. In der Regel fand es Seishirou ärgerlich, denn er genoss sein Essen lieber, statt zu tun, was man eben tat. Nämlich sich über völlig uninteressante Dinge zu unterhalten, als ob sie wichtiger als nichts anderes wären. Maria redete allerdings nicht um den heißen Brei herum: „Tut mir leid wegen deinem Shiki.“ Seishirou legte den Löffel auf den Rand des Tellers und schluckte seinen letzten Bissen herunter. „Das ist nicht deine Schuld und abgesehen davon auch kein Problem.“ Er lächelte leicht. „Ein paar Tage komme ich auch ohne, wie sagtest du, Piepmatz aus. Mach dir keinen Kopf.“ „Mache ich nicht“, sagte Maria leise und zuckte mit den Schultern. „Oder… na ja.“ Sie sah ihn an. Ihre Stirn zeigte tiefe Sorgenfalten. Seishirou tat es ihr gleich und runzelte die Stirn. „Machst du dir denn keine Sorgen wegen Subaru? Immerhin kannst du ihn so ja nicht mehr die ganze Zeit überwachen, wie du es sonst immer getan hast.“ Sie grinste. „Du kannst sehr nett erstaunt schauen, weißte das eigentlich?“ Seishirou lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Hatte er tatsächlich erstaunt ausgesehen? Er hatte keine Anzeichen dafür in seinen Gesichtsmuskeln spüren können. Dass andere Menschen es nicht merkten, wie sie gerade aussahen, wenn die Reaktion völlig natürlich und aus einem inneren, chemisch bedingten Reflex herauskam wusste er. Dass das bei ihm biologisch betrachtet ein Ding der Möglichkeit war, auch – aber dass es je passieren könnte? Maria nahm einen Schluck Cola. Sie verzog das Gesicht. „Kohlensäure“, nuschelte sie und wackelte mit der Nase. „Also, wenn du magst könnte ich ihn als nach der Schule ein bisschen im Auge behalten.“ Sie zwinkerte ihm zu. Seishirou schüttelte den Kopf. „Das wird nicht nötig sein. Ich bekomme stets nur einen Auftrag, bis dieser erledigt ist nie einen anderen. Also habe ich genug Zeit. Aber danke.“ Er lächelte. An seinen Lippen schmeckte er die Bolognese und leckte die Soßenreste ab. „Solange du lebst, kann ich Subaru weiterhin im Auge behalten wie gewohnt.“ Maria schnaubte und spießte einen zerfetzten Schnitzelbissen auf. „Das find ich jetzt aber nicht romantisch.“ „Das hier ist auch keine Verabredung. Du bist mir zu jung.“ Er lachte. „Und mir fehlt ein Schniedel.“ Jetzt spürte er die Verwunderung in seinem Gesicht und das obwohl sie unkontrolliert, aus Reflex, aufgetreten war. Die Haut seiner Stirn rollte sich wegen der hochgezogenen Augenbrauen auf und die Falten, die dadurch entstanden, waren nicht zu übermerken. Maria schnaubte und prustete vor Lachen. Panierkrümel spritzten auf die Tischdecke. „Du häffst dein Fesischt sehen scholln.“ Sie lachte kreischend laut. Die anderen Gäste drehten sich alle zu ihnen um. Seishirou räusperte sich und stand auf. „Ich werde mich mal kurz frisch machen gehen.“ „Muss dir doch nicht peinlich sein.“ Maria lehnte sich über den Tisch. Ihr T-Shirt hing auf den Teller und sog den Ketchup und die Salatsoße gierig auf. Seishirou verzog keine Miene. Er biss steif die Zähne zusammen. „Nein“, sagte er. AnToiNe kicherten hinter vorgehaltener Hand, als er an ihnen vorbeilief, andere schmunzelten oder stiegen in Marias Lachen mit ein. Seishirou ging die Treppenstufen zu den Toilettenräumen hinunter. Dort angekommen schloss er die Haupttür hinter sich ab. Er lehnte sich ans Waschbecken und stierte in den verspritzten Spiegel. Hier putzte sehr oft jemand, aber es gab immer wieder Gäste, die aus physikalischen Gründen nicht in der Lage waren, sich normal die Hände zu waschen. Seishirou betrachtete sein Gesicht zwischen den Wasser- und Seifespritzern. Seine Wangen waren rot, sie fühlten sich warm an, seine Stirn schwer und dicht, als ob ihm Zement in den Schädel gefüllt worden wäre. Er drehte den Wasserhahn auf und beugte sich nach unten. Das Wasser war angenehm eiskalt auf seiner heißen Haut. Er wusch sich minutenlang das Gesicht. Als er den Kopf wieder hob war die Röte verschwunden. Seine Haare waren nass geworden und auch der Anzug hatte an den Schulterteilen und am Kragen etwas abbekommen. Seishirou kämmte sich die vorderen Haarsträhnen mit zwei Fingern zur Seite. Für einen Moment sah er jemand anderen aus dem Spiegel herauslächeln. Die Person hatte ein grünes Auge und ein bernsteinfarbenes. Seishirou wandte sich um. Hinter ihm klatschten die Flügel eines schwarzen Kolibris aneinander. „Haben dich die Moiren geschickt?“ Er packte den Kolibri und zerquetschte ihn zwischen seinen Fingern. Er löste sich in schleimiges Ektoplasma auf, das schwer auf den Boden tropfte. „So ist es überhaupt nicht“, sagte er leise. Das Ektoplasma löste sich nur langsam wieder auf. Es war zäh und nicht so flüssig, wie das seines Shikis gewesen war. Was in aller Welt hatte ihn nur angegriffen – wer und wieso? Seishirou wusch sich das Ektoplasma von den Händen. Im Spiegel, zwischen Seife und Wasser, sah er einen Meuchelmörder lächeln. Früher oder später… Irgendwann würde er seine Kollegen von der Pforte umbringen. Sie kannten ihn seit Jahren und dennoch wollten sie jedes Mal seinen Ausweis sehen, den er nie bei sich trug, weil das zu riskant war. Nur falsche Ausweise steckten immer in seiner Tasche. Haskell schob die Unterlippe vor. „Ich bitte dich, Stuart!“ Doch Stuart blieb hart. „Ohne Ausweis kommt hier keiner rein. Anweisung vom Obersten.“ „Nenn ihn nicht immer so.“ Haskell lehnte sich an die Theke des Pfortenschalters. „Immerhin ist er auch nicht der allermächtigste Mann Amerikas, nur weil er gerne so tut. Das ist immer noch unser Präsident.“ „Angeblich“, sagte Stuart, „hat der Boss mal für den Posten kandidiert, aber dann hat man ihm diesen Posten angeboten und den fand er besser, weil er damit tatsächlich mächtig ist und nicht nur scheinmächtig.“ Aha, dachte Haskell. Vor allem hassen einen so nur die Mitarbeiter und nicht gleich die ganze Welt. Würde sie aber, wenn sie wüsste, was man in dem Job tun muss. Haskell streckte sich vor und erwischte haargenau den Knopf, der die Pforte öffnete. Gut, dass ich auf meine alten Tage noch so gelenkig bin, dachte er. Er huschte durch das geöffnete Gatter ohne auf Stuarts beleidigtes Jammern zu hören. In zwanzig Minuten hatte er beim Boss auf der Matte zu stehen. Wenn der Aufzug immer noch nicht oder schon wieder nicht funktionierte, musste er bis in den höchsten Stock laufen und obwohl er sportlich war, war Treppensteigen nicht seine liebste Beschäftigung. Besonders bei diesen Treppen. Im Hauptgebäude war man darauf bedacht, seine Mitarbeiter möglichst lange am Schreibtisch zu halten, deswegen waren die Stufen so schmal und der Aufzug meist defekt (oft mit Absicht, munkelten zumindest die weiblichen Kolleginnen), dass sich niemand die Mühe machen wollte auch nur zur Mensa im untersten Stockwerk zu gehen um sich etwas zu essen zu holen. Das mochte wohl auch der Grund sein, warum alle Angestellten der Behörde wahnsinnig schlank waren und die meisten Todesfälle nicht wegen Selbstmord oder dem gefährlichen Job waren, sondern weil sie schlicht verhungerten. Um etwas zu trinken musste man sich allerdings keine Sorgen machen. An jeder Ecke stand ein Getränkeautomat. Die Getränke waren kostenlos für alle Mitarbeiter und die, die es werden wollten. Was viele waren, denn wenn man das Gebäude einmal betreten hatte, fand man als Neuling und Bewerber nicht mehr heraus. Schließlich ließ man sich dann anstellen und jemand zeigte einem, wie man herausfand. So war es damals auch Haskell ergangen. Er erinnerte sich gut an seinen ersten Tag. Hier hatte er sich verlaufen; Stock 5, Treppenhaus 2. Er war dem Chef über den Weg gelaufen, fast in ihn hineingestolpert. Er war ja noch so jung gewesen. Haskell legte die Hand aufs Treppengeländer und strich mit dem Daumen über das kalte Metall. Es hatte sich überhaupt nichts verändert in der langen Zeit, in der er nun schon dieser Behörde zu Diensten stand. Er war in der Hierarchie weit aufgestiegen, der Boss war immer noch eine der furchtbarsten Personen, die er je kennen gelernt hatte, der Aufzug war defekt, die Handys alt und die Sekretärinnen konnten fast alle Sprachen der Welt fließend sprechen und problemlos in allen möglichen Schriftarten schreiben, während sie sich nebenher schminkten oder auf magische Weise Essen aus der Mensa bekamen; letztendlich waren sie so hübsch, dass zumindest für einen kurzen Fick mit ihnen jeder die Treppen hinab stieg und ihnen etwas zu essen holte. Für sich selbst vergaßen sie es. Haskell war ein einziges Mal darauf hereingefallen. In seiner ersten Woche. Haskell lächelte bei der Erinnerung daran. So hatte er seine Frau kennen gelernt. Es war nicht die Sekretärin gewesen, für die er das Essen geholt hatte, sondern die Bedienung in der Kantine. Er hatte sich sofort in sie verliebt und völlig vergessen, dass er jemandem ja etwas zu essen versprochen hatte. Sie hatten sich die ganze Pause über unterhalten und es war ihm nicht wegen der steilen und zahlreichen Treppen ein Graus gewesen, zurück zum Schreibtisch zu gehen, sondern weil er sie hatte verlassen müssen. Drei Monate später hatten sie geheiratet und wieder neun Monate später war ihre süße Tochter zur Welt gekommen. Haskell fühlte in seiner Brusttasche nach. Das Foto mit der Geheimtinte, das seine Tochter zeigte, wenn man es mit menschlichem Speichel einrieb, war dort sicher verstaut. Er schaute es sich nur selten an, aber das Wissen, es bei sich zu haben, half ihm in jeder Situation. Er öffnete die Tür im siebten Stock und ging auf seinen Schreibtisch zu. Bevor ich ihm gegenübertrete sollte ich lieber eine Kopie der Akte machen, dachte er. Haskell stellte sich vor das Kopiergerät und legte die Blätter der Akte nach und nach darauf. Das Gerät war nicht das schnellste seiner Marke. Haskells Blick schwenkte zur großen Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Noch zehn Minuten. „Mach schneller, du blödes Ding“, murmelte er. „Husky“, sagte eine vertraute Frauenstimme. Haskell wandte sich um. Ein Lächeln trat auf seine Lippen. Es war sogar ein ehrliches. „Mija.“ Sie war letztes Jahr aus der Ukraine gekommen, hatte sich eine Green Card besorgt und sofort in der Behörde angefangen. Haskell mochte sie. Mija war zielstrebig und fleißig, nicht wie die meisten anderen, die mit auf seinem Stockwerk arbeiteten. Als Abteilungsleiter konnte man da schon mal ins Schwitzen geraten. Nicht so bei Mija. Wenn er nicht da war, leitete sie die Abteilung mit eiserner Hand. Sie umarmte ihn fest. „Seit wann bist du wieder da?“ Ihr Körper roch nach Rosmarin und Lavendel. Haskell sog den Geruch tief in sich ein. Das gleiche Parfüm verwendete auch seine Frau. Wie lange hatte er sie schon nicht mehr gesehen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Haskell seufzte. „Seit zwei Stunden.“ „Da bist du aber ganz schön gerast“, sagte Mija lachend. „Kann man so sagen.“ Er nahm die ausgedruckten Kopien aus dem Gerät. Endlich fertig, dachte er. „Weißt du, ob wir noch leere Ordner haben?“ „Mhm“, machte Mija und tippte den Zeigefinger an ihr Kinn. „Ich denke schon. Auf alle Fälle hab ich mir mal fünf zur Not geklaut.“ „Vorsorge“, sagte Haskell. „Das auch“, sagte Mija. Sie lief zu ihrem Schreibtisch und zog einen Ordner heraus, den sie ihm gleich reichte. Sie hielt ihn aber noch fest in ihren kleinen Händen. Überhaupt reichte sie Haskell kaum bis über den Bauch. Er hätte ihr ohne Probleme den Ordner aus der Hand reißen können; er hatte es eilig und sie war selbst oft sehr ruppig. Aber er tat es nicht und legte stattdessen den Kopf schief. „Ist noch etwas, Mija?“ „Husky“, sagte sie leise. „Der Boss ist überhaupt nicht gut drauf. Irgendwas ist letztens schief gelaufen.“ Haskell wurde hellhörig. Wenn er nicht da war, lief oft etwas schief, aber war es so ernst, dass es nicht mehr nachhaltig berichtigt werden konnte? Das kam so gut wie nie vor. „Hat das irgendeine besondere Bewandnis?“ „Ja“, sagte Mija. „Du weißt doch, diese Aktion. Die Kooperation mit Japan.“ Sie ließ den Ordner los. „Deswegen war ich dort, ja.“ Haskell heftete die Blätter in den Ordner. Mija nickte und sah sich um. Es war niemand im Raum außer ihnen. „Da ist etwas in Umlauf gekommen, das noch nicht hätte rauskommen dürfen. Die Japaner sind ziemlich sauer.“ „Von wem?!“ „Koreaner“, sagte Mija. Haskell hielt inne. Koreanische Behörde und japanische Behörde. Die beiden konnten sich noch weniger leiden als die amerikanische und die japanische. Wobei das eine persönliche Fehde zwischen mir und dem Kerl sein könnte, dachte Haskell milde amüsiert. „Was ist es denn dieses Mal?“ „Sie werden demnächst jemanden umbringen“, sagte Mija. „Das tun sie ständig.“ Haskell zuckte die Achseln. „Was ist daran so schlimm? Die Japaner haben doch genügend Streitkräfte, damit es nicht wen trifft, der noch weiterleben soll.“ Mija schüttelte heftig den Kopf. „So ist es dieses Mal aber nicht!“, zischte sie. Die Uhrzeiger waren knapp vor der nächsten Stunde. „Also, ich muss los.“ Mija verzog das Gesicht. „Husky, hör mir nur kurz zu!“ „Wir reden nachher“, sagte er und lächelte. Er steckte sich den Ordner unter die Achseln und reichte ihr das Original. „Pass bitte darauf gut auf, ja?“ Mija starrte die Akte an. „Zweiunddreißig“, sagte sie atemlos. Haskell runzelte die Stirn. „Du kannst sie dir ruhig durchlesen.“ Er flitzte aus der Tür und die übrigen zwei Treppen hinauf. Er rutschte mehrfach aus und legte sich beinahe auf den Hosenboden. Glücklicherweise war sonst niemand in diesem Treppenhaus unterwegs und er musste sich nicht weiter darum scheren oder sich gar schämen. Vor der Tür des Chefzimmers angekommen rückte er seine Kleider zurecht und begradigte seine Haltung. Er zog die Schultern an und hob die Brust. Dann klopfte er an. „Herein“, sagte der Boss. Seine Stimme war rau und kratzig. Hat er wieder getrunken, dachte Haskell. „Jawohl.“ Er betrat das Büro. Es war unwahrscheinlich dunkel; normalerweise liebte der Boss ein von Licht durchflutetes Zimmer. Das bestärkte nur noch Haskells Vermutung, dass sich sein Boss mal wieder etwas mehr Whiskey erlaubt hatte, als für ihn gut war. Auch noch zur Arbeitszeit und wenn es wichtige Dinge zu besprechen gab. Vielleicht gerade deswegen. Haskell legte die kopierte Akte auf dem Schreibtisch ab. „Setzen Sie sich doch, Husky.“ Haskell verbeugte sich knapp und setzte sich in einen der weich gepolsterten Sessel. Der Chef wollte wenigstens ein Gutes für seine Mitarbeiter tun: wenn er sie zusammenschiss, sollten sie wenigstens weich sitzen. Haskell versank in dem nachgiebigen Stoff. Er kam sich wahnsinnig klein vor, setzte sich aber möglichst gerade hin und ließ sich sonst nichts anmerken. „Sie wollen mit mir etwas besprechen, sehe ich das richtig, Boss?“ „Oh bitte, nennen Sie mich endlich Jamie, wie alle anderen hier.“ Haskell zuckte mit den Achseln. Er mochte es nicht, den Boss mit Vornamen anzusprechen. „Jamie“, sagte er widerwillig. „Schon besser“, sagte Jamie und lächelte. Seine Augen waren verhangen, das konnte Haskell selbst in der finsteren Dunkelheit sehen, mit der sich der Boss vor dem Migräne verursachenden Sonnenlicht verbarg. „Also, was ist denn nun dermaßen wichtig? Es muss ja etwas Dringendes sein, wenn Sie den Termin auf einen bestimmten Zeitpunkt legen.“ Jamie griff nach einem Glas, in dem durchsichtige Flüssigkeit schwappte. Ob es Wasser oder Alkohol war konnte Haskell nicht sagen. Es roch im ganzen Raum nach Alkohol, Wasser hätte er bisweilen nicht herausschmecken können. Er wehrte sich gegen seine Hand, die die Fahne des Chefs wegwedeln wollte. Immer wieder stieg ihm der Whiskey-Atem ins Gesicht. Jamie trank das Glas leer und stellte es wieder ab. Er seufzte. „Es ist in der Tat äußerst dringend, Husky.“ Haskell kniff die Augen zusammen. „Ach ja?“ „Sie müssen wieder zurück nach Japan. Und zwar schnell.“ Haskell klappte unfreiwillig der Mund auf. Er war gerade eben erst wieder in Amerika angekommen und sollte schon wieder zurück fliegen? Kam gar nicht in die Tüte. Nicht mit mir, dachte Haskell. Er hatte schließlich auch seine Prinzipien und nach zweimonatiger Auslandsreise war es absolut unmöglich, gleich wieder zu verschwinden. „Haben Sie denn nichts hier für mich zu tun? Mija erzählte mir, dass es Probleme gegeben hat.“ „Die lassen sich aber nur dort lösen“, sagte Jamie. Er rieb mit der einen Hand über die faltige andere. „Tut mir sehr leid. Ich weiß, Sie vermissen Ihre Frau sehr.“ Haskell schnaubte so leise wie möglich. Wie sehr er seinen Chef verachtete, konnte er mit Worten nicht ausdrücken und wenn er es mit Taten zu sehr ausdrückte, würde ihm etwas schlimmeres bevorstehen als eine einfache Kündigung; er musste auch an seine Tochter denken. Sie brauchte ihn, seine Familie brauchte diesen Job. Haskell hielt sich also zurück und seinen Hass zusammen mit allen anderen negativen Gefühlen, die er dem Chef entgegenbrachte, in seinem Herzen eingeschlossen. Irgendwann würde er hier rauskommen, sich einen einfachen Beamtenjob suchen und sein Leben lang nie wieder um seine Familie Angst haben müssen. Haskell merkte, dass er anfing zu schwitzen. Konnte er es sich erlauben, sich mit einem Taschentuch die Stirn abzuwischen? Lieber nicht, beschloss er schnell. Jamie stand auf und ging um den Tisch herum. „Die Koreaner mal wieder. Hat Ihnen Mija bestimmt schon gesagt.“ Jamie betrachtete ihn aufmerksam. Haskell nickte. „Sie wollen, dass da jemand umgebracht wird. In Japan.“ Soviel war ihm auch schon klar gewesen, nachdem er mit Mija gesprochen hatte. Und dazu war er nun das Treppenhaus hochgejoggt? Haskell stieg Magensäure die Kehle hinauf bis hinten in den Mund. Er schluckte sie herunter ohne eine Miene zu verziehen. „Allerdings ist diese Person schon etwas älter. Ein Clanoberhaupt.“ Etwas älter konnte bei Jamie viel heißen. Obwohl er schon auf die siebzig zuging, hielt er sich für einen Zwanzigjährigen, der sogar Fünfundzwanzigjährige für alt hielt. Haskell fragte nicht nach. Er würde es letztendlich ja gesagt bekommen oder in einer Akte lesen. „Das ist sehr pikant, diese Angelegenheit, wissen Sie? Sehr pikant“, murmelte Jamie und schenkte sich ein Glas Whiskey ein. Haskell rümpfte die Nase. „Die Angelegenheiten, die wir behandeln, sind stets sehr pikant“, sagte er. Jamie lachte trocken. Dann musste er husten. „Ach“, machte er und rieb sich die Kehle. „Da haben Sie natürlich vollkommen Recht. Aber es ist ja nun nicht so, als ob wir jedem alles durchgehen lassen könnten. Das meiste, ja, aber nicht alles.“ „Und diese Sache gehört dazu?“ Jamie nickte. Er reichte Haskell ein Glas. Haskell hob ablehnend die Hand und schob das Glas von sich. „Aber ich habe in Japan schon einen Auftrag zu erledigen.“ „Den können Sie gleich mit dazupacken.“ „Er war erst für Ende des Sommers geplant!“ Es war doch erst Frühjahr. Jamie sah ihn streng an. „Wollen Sie mir etwa widersprechen? Finden Sie nicht, dass das viel Zeit spart? Sie könnten endlich mal wieder Winterferien machen. Winterferien hatte er eine Ewigkeit nicht mehr gehabt. „Sie könnten zu ihrer Frau und Tochter“, sagte Jamie. „Die würden sich doch bestimmt sehr freuen.“ Haskell knirschte mit den Zähnen. „Na gut. Um was genau geht es? Haben Sie schon eine ausformulierte Akte für mich?“ Jamie schwenkte sein Glas umher. „Ja, die habe ich. Sie wurde allerdings schon an das Hotel geschickt, in dem Sie dieses Mal residieren werden. Es wird Ihnen gefallen. Sehr schick eingerichtet.“ Also wieder nur Bed&Breakfast mit ein paar Kakerlaken hier und da, dachte Haskell grimmig. „Meinetwegen“, sagte er. „Ihr Flug geht in einer Woche.“ Jamie grinste ihn an. „Enttäuschen Sie mich nicht.“ „Habe ich das je?“ „Genau deswegen bitte ich Sie darum.“ Ha ha, dachte Haskell. Der Humor seines Chefs war eigenartig. Er hätte ihm am liebsten in den Magen geschlagen, wie dem Terroristen wenige Stunden zuvor. Wie hatte er geheißen? Abu, genau. Ob er es berichten sollte? Nein, dachte Haskell, das geht die Amerikaner gar nichts an. Haskell stand auf und verbeugte sich, dieses Mal etwas tiefer. Jamie war nicht mehr der Größte und es ihm aufzuzeigen, wenn er betrunken und schlecht gelaunt war… Haskell konnte darauf verzichten. „Die Tickets?“ „Liegen auf ihrem Schreibtisch“, sagte Jamie. „Gehen Sie jetzt.“ Er winkte zur Tür. „Auf Wiedersehen.“ Haskell wartete nicht darauf, dass Jamie ihn auch verabschiedete. Er verließ das Zimmer und rannte die Treppenstufen herunter. Verdammt, dachte er. Warte nur noch ein bisschen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)