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Akte 32

von

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Er hatte ihn lange Zeit beobachten wollen, bevor er sich vorwagte. Doch als Seishirou die Zeitung senkte, nachdem er seinen nächsten Auftrag aus den Augen verloren hatte, zupfte ihm eben dieser an der Krawatte. „Mein Herr? Da sind Sie ja schon. Ich habe Sie erwartet.“

Seishirou schob die Brauen zusammen – in Gedanken. Sein Gesicht lächelte den Mann freundlich an. Er sah von nahem weitaus älter aus als von weitem oder auf dem Foto, das in der Akte gesteckt hatte. Seine Geheimratsecken schienen bis zum Hinterkopf zu reichen, das restliche Haar war weiß oder gräulich und seine Falten hatten Falten, die Falten hatten. Es war nicht in der Akte gestanden, warum Seishirou diesen Mann töten musste; das war selten der Fall. Und er hatte lange vor seiner Karriere aufgehört, Dinge zu hinterfragen, die nicht auf einem Stück Papier standen.

Er versuchte sich an den Namen zu erinnern, der auf der Akte geprangt war. Es war die Nummer 102 gewesen. „Herr Hanazaka?“

Der alte Mann nickte. „Dass Sie sich bei so viel Arbeit noch meinen Namen merken können ist beachtlich.“ Hanazaka hakte sich bei Seishirou unter. „Gehen wir ein Stück?“

Es war nicht ungewöhnlich, dass die Aufträge an bestimmten Orten erledigt werden wollten. Wenn er nicht unter Zeitdruck stand, gewährte Seishirou ihnen für gewöhnlich diesen Gefallen.

„Nennen Sie mich doch bitte bei meinem Vornamen.“

„Den weiß ich nicht mehr“, log Seishirou und lächelte dabei.

Hanazaka legte den Kopf schief. „Ist das so?“ Er lachte. „Das kaufe ich Ihnen nicht ab!“

Seishirou zuckte mit den Schultern. „Nun, dann sind Sie gewiss sehr intelligent.“

„Bloß keine Bindung zu den Opfern aufbauen, hm?“

Seishirou sah sich um. Sie hatten die Dichte der Hauptstraße verlassen und bogen in eine Gasse ein, an deren Ende man schon ein Neonschild flackern sehen konnte. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen. Ungewöhnlich, dass ein kleines Geschäft dennoch schon Strom verbrauchte.

„Hier wären wir.“ Hanazaka blieb vor dem Laden stehen und breitete die Arme aus. „Hier wurde ich gezeugt!“

Seishirou lachte. „Oh je.“

„Damals war es aber noch kein Bordell.“ Er senkte die Stimme, als er ‚Bordell’ sagte. „Es war ein ganz gewöhnlicher Lebensmittelladen. Man hat mich auf den Kachelfliesen gezeugt. Meine Mutter war oben.“

Seishirou zündete sich eine Zigarette an. Das war also der Grund, warum der Mann aus dem Weg geräumt werden musste. Ein dermaßen gutes Gedächtnis musste jeder Regierung ein Dorn im Auge sein. So gut, wie der Mann gekleidet war, hatte er entweder seinen Tod vorausgesehen (und hellseherische Fähigkeiten waren bei bestimmten Politikern ebenfalls unbeliebt; nämlich bei denen, die an der Macht waren) oder er war selbst einmal Teil einer Behörde gewesen. Er bewegte sich wie ein Beamter, sah sich achtsam um und stand so gerade, wie es seine Wirbelsäule noch zuließ.

„Waren Sie Polizist?“

Hanazaka neigte den Kopf nach links, nach rechts und nickte schließlich. „Aber nicht in Japan.“

Was für die japanische Regierung unter Umständen noch pikanter sein dürfte, dachte Seishirou. Er steckte die freie Hand in die Hosentasche. Mit der anderen hielt er seine Zigarette. Er drehte sie zwischen den Händen. „Sie wussten, dass ich kommen würde?“

„Deswegen will man mich doch auch über den Jordan schicken.“ Hanazaka machte einen Satz vor. Hoch sprang er dabei nicht.

Seishirou attestierte ihm dennoch außergewöhnlich gute Knie für sein Alter. „Ich verstehe nicht recht? Wissen Sie zuviel über mich?“ Das konnte nicht sein. Niemand wusste irgendetwas über ihn. Außer seinen Chefs, und selbst da gab es wenigstens einen, der keine Ahnung hatte. Nicht mal das richtige Geburtsdatum war ihm bekannt. Seishirou schmunzelte unfreiwillig.

„Leider nicht. Ich bin aber sicher, Sie sind ein sehr spannender Mann. Zu schade, dass ich Sie erst jetzt kennen lernen durfte. Kurz vor meinem Ableben...“ Er schüttelte den Kopf und zog die Mundwinkel nach unten. „Äußerst schade!“

„Glauben Sie mir, Sie wollen mich nicht besser kennen lernen.“ Seishirou lächelte. „Der Letzte, der mich besser kennen lernte, verlor seine Schokoladenseite. In doppeltem Sinn.“

„Mir ist klar, dass Sie ein gefährlicher Mann sind, Sakurazuka.“ Hanazaka kam auf ihn zu. Er war gestaucht und musste zu Seishirou aufsehen. „Aber nehmen Sie sich in Acht. Schlimme Dinge werden von Ihnen erwartet.“

„Das war schon immer so.“ Seishirou verlor langsam die Geduld. Seine Zigarette war nur noch ein Stummel. Mehr als zweimal konnte er nicht mehr daran ziehen. Wenn Hanazaka ihm noch etwas ‚Wichtiges’ mitteilen wollte, sollte er sich besser beeilen. Seishirou ließ die Finger der Hand knacken, die in seiner Hosentasche steckte. Sie strichen über Papier. Der Kassenzettel vom Frühstück. Er hatte seit zehn Stunden nichts mehr gegessen.

„Nein, Sakurazuka. Man wird von Ihnen nicht erwarten, das zu tun, was Ihr Job ist. Und Sie werden es nicht mögen.“

„Ich mag es nicht, wenn man mir sagt, was ich mag und was nicht.“

Hanazaka berührte Seishirous Arm. „Wie wissen Sie es dann? Sie sind doch noch so klein.“ Er wirkte bestürzt.

Seishirou nahm den letzten Zug an seiner Zigarette und schnippte sie auf den Boden. „Ich werde Sie jetzt staatsrechtlich Ihres Lebens entziehen.“

Hanazaka schürzte die Lippen. Er tippte Seishirou an die Brust, auf sein Herz. „Da“, er stellte sich auf die Zehenspitzen und tippte mit dem Zeigefinger an Seishirous Stirn, „und da drin sind Sie noch ganz klein.“

Seishirou nahm die Hand aus der Hosentasche und spannte die Muskeln in jedem Finger an.

„Wollen Sie nicht wissen, wieso Sie einen alten Mann wie mich töten sollen? Ich kann doch nichts mehr anrichten.“

Diese Phase durchliefen die meisten seiner Opfer: Selbst wenn sie noch so hart wirken wollten oder völlig wahnsinnig waren, auf die eine oder andere Weise bettelten sie alle einmal um ihr Leben. Nur zwei hatten es nicht getan. „Nein.“ Er durchstach die Brust des Mannes mit der flachen Hand.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagte Hanazaka. Er hustete Blut. „Auch Ihre nicht. Lassen Sie die bösen Männer nicht gewinn...“ Sein Mund stand starr offen.

Seishirou ließ ihn auf den Boden sinken.
 

Das Blut des Mannes klebte klumpig am Ärmel seines Ärmels. Seishirou schob die Unterlippe vor. Ganz gesund war Hanazaka wohl doch nicht gewesen. Wahrscheinlich war er deswegen so locker damit umgegangen zu sterben und hatte wirr geredet. Er war schon von seinem eigenen Körper in Lebensgefahr gebracht worden und hätte Seishirou gar nicht gebraucht.

Seishirou trat den glimmenden Zigarettenrest aus und zog ein Päckchen aus der Manteltasche. Er nahm eins der Make-Up-Entfernertüchlein und wischte sich das Blut vom Ärmel. Diese Tücher funktionierten erstaunlich gut, wie er festgestellt hatte und nachdem er die garstige Chefin getötet hatte, die die Leitung in Japan gehabt hatte, schickten ihm die dankbaren Angestellten regelmäßig solche Päckchen. Nicht direkt ihm; der Regierung, die diese dann weiterleitete. Seishirou lächelte bei dem Gedanken. Die Menschen waren widerlich. Sofern es ihnen nur etwas brachte, waren sie froh, wenn andere ihrer Gattung starben. Und das war für die meisten immer der Fall, auch wenn sie es sich nicht bewusst waren.

Neben dem Bordell mit dem flackernden Neonschild war ein Hotdog-Stand. Der Mann, der den Stand betrieb, kam gerade zurück. Er klopfte sich die Hände an der Hose ab. Eine Pinkelpause also, dachte Seishirou und stellte sich vor den kleinen Wagen. Der Verkäufer musterte ihn gelangweilt.

„Rot oder weiß?“

Seishirou zog den Geldbeutel hervor und öffnete ihn mit einem leisen Klick. „Rot hatte ich heute schon genug. Weiß bitte. Mit Zwiebeln.“

Der Verkäufer richtete ihm den Hotdog und Seishirou zahlte. Er ging die Straße hinunter. Seine nächste Aufgabe wartete schon auf ihn. Er biss in den Hotdog und sog scharf die Luft ein. Die Wurst war heiß und das Brötchen hart. Er hatte sich den Gaumen angeritzt. Wenn es einen Ort an seinem Körper gab, von dem er wusste und zugab, dass er empfindlich war, dann war es sein Gaumen. Der lag gut genug versteckt, dass es kein Problem gab, selbst wenn es jemand wusste. Außer seiner Mutter hatte es nie jemand gewusst. Es fragte auch nie irgendwer danach.

Seishirou leckte sich über die wunde Stelle und wich der drängenden Masse aus, die sich immer weiter vorschob, oder ihn mit einem plötzlichen Ruck nach vorn beförderte, je nachdem, wohin sie gerade alle wollten. Er ließ sich nicht beirren. Sein Ziel war klar definiert und nicht weit entfernt.

Er knüllte die Serviette zusammen und tupfte sich Fett von den Lippen. „Da ist er ja.“ Seishirou lehnte sich an eine Fensterscheibe und wartete ab. Wenn er jetzt näher heranging, würde er entdeckt werden. Das konnte er sich nicht leisten. Seine nächste Aufgabe war zu mächtig, als dass er sich mit ihr hätte anlegen wollen. Er kaute auf dem harten Brot und der inzwischen nur noch sehr warmen Wurst herum.

Die Masse lichtete sich und er konnte eine Illusion verwenden, die es ihm erlaubte, auf das nächstgelegene Dach zu springen, ohne dass es weiter auffiel. Natürlich waren die Menschen vor allem in Tokyo nicht mehr darauf geschult, Illusionen zu erkennen und sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, aber er war ein Profi. Es war schon riskant genug, in der Nähe der Zielperson Magie zu verwenden.

Auf dem Dach war der Wind eisig und der Ausblick perfekt. Er schob sich den letzten Rest des Hotdogs in den Mund. Er ist wohl gerade einkaufen, dachte er. Nahrungsmittel, etwas zu trinken, vielleicht eine neue Zahnbürste. Das letzte Mal hatte die Person sich eine vor sechs Wochen gekauft und normalerweise ließ sie das nicht so schleifen. Alle vier Wochen eine neue Zahnbürste. Deswegen hatte sie auch immer noch so reinweiße Zähne wie früher.

Seishirou lehnte sich über das Geländer. In dieser Höhe sah man die Menge noch, aber man hörte sie kaum. Es war so angenehm, dass er für einen Moment die Augen schloss. Er konnte die Person jederzeit wiederfinden. Er war ein Profi und er hatte seine Hilfsmittel.

Als er die Augen aufschlug, war seine Zielperson tatsächlich schon weitergegangen. Er fühlte nach ihr und sprang aufs nächste Dach. Sie stand vor einer Drogerie und starrte ins Schaufenster. Die Plastiktüten hingen ihr rechts und links fast auf den Boden. Seishirou dachte darüber nach, dem Auftrag rettend unter die Arme zu greifen. Er grinste schief. Nein, das war keine gute Idee. Nicht am helllichten Tag. Das war zu auffällig und falls er selbst noch unter Beschattung stand, wie es vor einigen Wochen der Fall gewesen war, würde das nur Aufmerksamkeit erregen.

Die Zielperson ging weiter und ihre Arme schienen immer schlaffer dazuhängen. Seishirou sprang von Dach zu Dach und als die Person in eine Straße einbog, die weniger voll mit Menschen war, landete er hinter einem Postkartenstand auf dem Boden der Tatsachen. Er lehnte sich vor und rümpfte die Nase. Seine Zielperson hatte jemand Bekannten getroffen und unterhielt sich mit ihm. Seishirou wusste nichts über den Bekannten, er hatte ihn noch nie gesehen, aber er machte sich eine innere Notiz, dass es wohl jemand war, den die Zielperson mochte. Sie lächelte nämlich, wie sie es seit geraumer Zeit kaum mehr tat.

Das Gespräch dauerte einigen Minuten – Seishirou sah immer wieder auf die Uhr – und schließlich verabschiedeten sich die Beiden. Dabei fiel der Name des Bekannten. Go Ryozaki. Seishirou griente und merkte sich den Namen gut. Er prägte sich auch das Gesicht ein. Das war einfach, denn Ryozaki lief an ihm vorbei und grüßte ihn sogar mit einem knappen Kopfneigen.

Seishirou erwiderte den Gruß und setzte sich langsam in Richtung seines Zielobjekts fort. Er durfte es noch nicht aus den Augen verlieren. Der Weg bis in seine Wohnung war nicht mehr weit. Die Sonne war dabei unterzugehen und zu dieser Tageszeit kamen ständig unerhörte Leute aus ihren Nestern gekrochen. Es wäre peinlich gewesen, wäre eine seiner Aufgaben durch einen Raubmord umgekommen, bevor er die Arbeit erledigen konnte. Abgesehen davon erhielt er dafür auch kein Honorar, deswegen lag ihm an der Sicherheit seiner Opfer viel.

Dieses suchte gerade in der Jackentasche nach seinem Schlüssel. Es verzog unleidlich das Gesicht, stellte die Plastiktüten neben sich an einer Wand ab und schaute in der anderen Tasche nach. Da war der Schlüssel.

Seishirou nickte bedächtig. Natürlich, er war immer in der linken Jackentasche, auch wenn diese Person jedes Mal zuerst in der rechten danach suchte.

Seishirou folgte ihr bis zur Haustür. Er stand an der Ecke, die in den Wohnungsflur führte und wartete, bis er das wohlbekannte Klicken des Schlosses vernahm. Es raschelte und Seishirou streckte den Oberkörper vor. Die Tür schloss sich hinter der Person.

Seishirou wartete noch dreißig Sekunden ab ehe er sich zur Tür vorwagte. Er ging leise und gab kein Geräusch von sich, außer leisen, regelmäßigen Atemzügen. Das Türschild war ganz neu und die Klingel sauber. Niemand drückte sie je. Seishirou strich mit den Fingern über das Schild.
 

Sumeragi Subaru
 

Er klopfte an die Tür und steckte die Hände in die Hosentaschen. Dann löste er sich in Kirschblüten auf. Eine ließ er zurück. In der Sicherheit seiner Illusion versteckte er sich am Ende des Ganges.

Subaru öffnete die Tür und runzelte die Stirn, als dort niemand zu sehen war. Sein Blick fiel auf den Boden. Vielleicht dachte er, jemand hätte ein Päckchen für ihn dort abgelegt. Als er die Kirschblüte sah, weiteten sich seine Augen enorm.

Seishirou seufzte. Erschrocken war er, aber seine grünen Augen schimmerten kaum. Es war ein enttäuschender Anblick. Subaru rührte sich nicht und Seishirou fragte sich, ob es für heute genug war. Er blieb noch abwartend stehen, verdeckt von dem Bannkreis, den er gespannt hielt. Es war ein starker Bannkreis und er kostete ihn einiges an Kraft. Ewig konnte er nicht darauf warten, dass sich Subaru rührte.

Subaru ging auf die Knie und nahm die Blüte in seine Hand. Er rieb sie zwischen den Fingern. „Seishirou“, sagte er ganz leise.

Seishirou neigte den Kopf zur Seite. Subaru hatte seinen Namen genannt. Wie interessant! Nur wegen einer winzigen kleinen Blüte, die man zu dieser Jahreszeit überall fand. Er lächelte breit.

Subaru stand auf, die Blüte fest in einer Faust umschlossen und ging in die Wohnung zurück.

Seishirou löste die Illusion. „Dann ist jetzt wohl Feierabend.“ Er sprang über die Brüstung; das Haus war zur Rückseite hin offen. Sanft kam er auf dem Boden auf und machte sich auf den Weg nach Hause. Er würde die Bahn nehmen müssen. Oder er könnte sich ein Taxi rufen. Er griff nach seinem Geldbeutel. Genug Geld hatte er für die Heimfahrt noch. Er ging zur Telefonzelle neben dem Wohnhaus und rief bei seiner üblichen Taxigesellschaft an. Sie kannten ihn schon und der Mann, der seinen Anruf annahm besonders gut. Er stöhnte tief, als Seishirou sich meldete.

„Ich bin in…“

„Kein Problem, ich weiß, wo Sie sind. Wissen Sie eigentlich, dass man so was wie Sie nen Stalker nennt? Das ist strafbar!“

„Ich tue doch gar nichts.“ Seishirou schürzte die Lippen und setzte ein trauriges Gesicht auf. Es war einfacher Leute übers Telefon zu täuschen, wenn man so tat, als würden sie vor einem stehen. Zumindest wenn er müde war fiel es ihm leichter. Und er war müde. Sieben Aufträge an einem Tag, alle besonders wichtig und mit besonderer Vorsicht zu genießen.

Er hing den Hörer auf, ging um die Telefonzelle herum und lehnte sich an die Außenwände. Es würde zehn Minuten dauern, bis sein Taxi kam. Er schloss die Augen und wartete.
 

Nach zehn Minuten öffnete er die Augen. Direkt vor ihm hatte sein Taxi gehalten. Er nahm auf dem Rücksitz Platz. Das war für die fünf Angestellten des Taxibetriebs Anzeichen genug, dass er nicht ansprechbar war. Sie hielten es meist für Melancholie. Seishirou knirschte mit den Zähnen. Seine Stirn fühlte sich heiß an und er hatte Kopfschmerzen.

Der Fahrer drehte sich zu ihm um. „Howdie, Kumpel.“

Seishirou gab ihm das Geld. Er zog seinen Mantel enger um sich und lehnte den Kopf an das kühle Fenster.

„Ich weck dich dann“, sagte der Fahrer.

Seishirou kannte die Namen auswendig und konnte die Fahrer allein an der Art erkennen, wie sie bremsten, aber bevor er darüber nachdenken konnte, wie der heutige Fahrer hieß, war er in den Halbschlaf gefallen. Er hörte noch, wie der Fahrer darüber sinnierte, dass „der arme Junge wieder nen schweren Tag hatte“ und „das kommt davon, wenn man unglücklich verliebt ist“.

Seishirou schnaubte leise. Der Fahrer beendete seine Selbstgespräche und fuhr an. Seishirou verschränkte die Arme. Er würde ein Aspirin nehmen, wenn er wieder zuhause war. Falls er noch welches hatte. In letzter Zeit nahmen die Stunden zu, in denen er arbeiten musste und die Stunden ab, in denen er Subaru beschatten oder schlafen konnte. Er schmeckte das Bratfett auf seiner Zunge und ihm wurde übel davon.

„Haben Sie Wasser?“

Der Fahrer reichte ihm seine angebrochene Flasche mit Quellwasser nach hinten. Seishirou verschwammen die Buchstaben auf der Flasche vor den Augen. Er drehte den Deckel ab und nahm einen langen, tiefen Schluck. Das Wasser war warm. Er schmeckte salziges Blut darin. Der Lippenbeißer. Sasuke Daijo also. Ein verträumter Ex-Student, der sich seinen Lebenstraum hatte erfüllen wollen. Seishirou hatte sich schon oft mit ihm unterhalten. Er hatte ihm zugehört, wie er ihm davon erzählt hatte, dass das Studium nichts für ihn gewesen wäre, obwohl er eigentlich gerne lernte. Aber Sasuke hatte einen Traum. Taxifahrer werden.

Seishirou war fasziniert gewesen. Ein Mensch, der sich einen Traum erfüllt hatte und glücklich damit war. Sasuke hatte gut geraten, was seine Aufgabe im Leben war. Er hatte im Lotto gewonnen.

Seishirou kratzte an dem verkrusteten Blut, das teilweise noch an seinem Ärmel klebte. Alles konnten die Make-Up-Tücher nicht beseitigen.

Sasuke hatte ihn nach seinem Traum gefragt. Ohne zu wissen, als was Seishirou arbeitete. Seishirou hatte gelächelt und ihm erzählt, dass sein Traum war, morgens nicht mehr von den Vögeln geweckt zu werden. Sasuke hatte gelacht und ihn vor dem Sakurazukamori-Anwesen abgesetzt. Damit war die Sache gegessen.

Seishirou drehte die Flasche in seinen Händen. Die Flüssigkeit auf seiner Zunge hatte die Kopfschmerzen etwas besser werden lassen, aber seine Augen fühlten sich noch immer trocken an und seine Stirn heiß. Er war noch nie krank geworden und hatte es in der nahen und auch ferner gelegenen Zukunft nicht vor. Die Hand um die Flasche gekrampft fiel er in einen schwachen, traumlosen Schlaf.
 

„Wir sind da“, sagte Sasuke kurz darauf. „Du siehst voll scheiße aus, Mann.“

Seishirou öffnete die Tür und stützte sich auf das Dach des Taxis. Er reichte Sasuke die Wasserflasche durch das runtergelassene Vordertürfenster. „Danke noch mal.“

„Kein Problem. Weißt du, wenn du schon nen Süßen hast, wieso bitteste ihn nicht drum, dich zu verpflegen und zu bekochen, hm?“ Sasuke zwinkerte ihm zu.

Seishirou presste die Lippen zusammen.

„Ich würd dir ja auch mal was kochen.“

„Nein, aber sehr nett von Ihnen.“

Sasuke griff aus dem Fenster und nach Seishirous Hand.

Seishirous Finger zuckten. „Der Preis ist wie immer?“ Sasuke schob seine Finger zwischen Seishirous und Seishirous Wirbelsäule fühlte sich kalt an.

„Seisei, na komm. Sag einfach ja.“ Sasuke versuchte Bambiaugen zu machen, aber seine Tränensäcke waren tief und es sah mehr nach einer Hunderasse aus, an die sich Seishirous fiebriger Kopf nicht erinnern wollte.

Er nahm das Geld aus dem Portemonnaie und reichte es Sasuke. „Der Rest ist Trinkgeld.“ Er hatte keine Nerven für Sasukes amouröses Verhalten. Normalerweise flirtete er zurück. Das war weniger auffällig, als schneidende Kommentare über den Tod zu machen.

„Na schön.“ Sasuke nahm das Geld und nickte. „Bis bald mal.“

Seishirou trat einen Schritt zur Seite und sah zu, wie sich das Taxi die Straße entlang schlängelte, kehrtmachte und zurück in die Stadt fuhr. Er schüttelte heftig den Kopf.

Das Tor öffnete sich schweigend für ihn und er ging hindurch. Der Vorgarten war voller blühender Dinge – Gemüse, Obst und kleine Sträucher, an denen nichts wuchs außer tiefgrünen Blättern. Die Luft hier war frischer als auf der Straße und ein Mensch aus Tokyo hätte wohl einen Sauerstoffschock bekommen.

Seishirou kniete sich vor das Grab seiner Mutter, das neben den Kamelien lag. Abgestorbene Blüten lagen auf dem Boden, doch wo sie herab gefallen waren blühten schon neue. Er beugte sich vor und küsste den kalten Stein, auf dem ihr Name stand. „Wie geht es dir heute, Mutter? Es ist warm geworden. Die Kirschbäume blühen. Subaru ist immer noch sehr hübsch. Er würde dir gefallen.“ Seishirou erhob sich. Seine Knochen knackten dabei. „Ich bin müde, Mutter. Verzeih, dass ich dir heute nicht mehr erzählen kann.“

Wenn er nicht sofort eine Aspirin bekam, würde er sich übergeben müssen. Er ging auf die Haustür zu, die sich wie das Tor davor von alleine öffnete und ihm den Eintritt gewährte. Hinter ihm schloss sie sich wieder. Er zog die Schuhe aus und das Hemd. Seishirou warf es zu Boden und ging mit geschlossenen Augen ins Badezimmer. Er verzichtete darauf, das Licht anzustellen und öffnete den Schrank. Drogen (Geschenke der Regierung, die er nie anrührte), aber kein Aspirin. Er stöhnte leise. Hatte er wirklich alles in der letzten Woche aufgebraucht? Es waren vor wenigen Tagen noch fünf Schachteln da gewesen.

Seishirou schloss den Spiegel und ging in den Hinterhof. Vielleicht würde eine Zigarette auch helfen. Eine hatte er noch in der Tasche. Er zündete sie an und sog den Rauch tief in seine Lungen ein. Sein Magen rebellierte. Er warf die Zigarette auf den Beton. Was konnte er sonst noch tun, um die Kopfschmerzen, die Übelkeit und den Schwindel loszuwerden? Zwar hatte er Feierabend aber die Aufgaben für morgen musste er erst noch annehmen, bevor er sich hinlegen konnte.

Seishirou ließ die Tür zum Hof offen und setzte sich aufs Sofa. Der Fernseher spiegelte sein Gesicht wider. Er betrachtete sich, was er im Bad beim Spiegelschrank vergessen hatte zu tun. Es dauerte eine Weile und er musste sich konzentrieren, um seine eigenen Konturen klar erkennen zu können. Seine Stirn lag in tiefen Falten und selbst in der schwarzen Spiegelung konnte er sehen, dass sein Gesicht rot und seine Augen glasig waren. Also habe ich tatsächlich Fieber, dachte er. Dagegen konnte er Tee kochen. Er legte die Beine aufs Sofa und einen Arm über seine Augen. Wenn er sich nicht so schwer gefühlt hätte, dann hätte er sich in die Küche begeben und sich einen Tee gekocht. Er versuchte sich zu erinnern, welchen Tee man bei Fiebrigkeit trinken sollte, aber es fiel ihm nicht ein.

Möglicherweise hatte er Glück und sein Vorgesetzter rief ihn heute früher an. Er war die einzige Person, bei der sich Seishirou nie die Mühe gemacht hatte, sich seinen Namen zu merken. Es war kein besonderer Name, für eine vollkommen unspezielle Person. Seishirou ahnte, dass seine Kopfschmerzen schlimmer werden würden, wenn er mit ihm sprechen musste. Aber er war gut darin, die Dinge schnell zu klären, also würde das Gespräch nicht lange dauern und dann könnte er sich hinlegen. Die Akten kamen immer rechtzeitig vor dem Morgengrauen mit der Post. Die Postmänner hatte er noch nie gesehen und langsam vermutete er, dass es auch in der Regierung jemanden geben musste, der die Macht hatte, Shiki zu befehligen. Nicht dass er es irgendjemandem von der Regierung zutraute, aber anders konnte er es sich nicht erklären. Er hatte seinen eigenen Shiki hin und wieder abgestellt um zu beobachten, ob sie von gleichen Wesen Besuch bekamen, aber der Raubvogel hatte ihm keine Antwort gegeben.

Er ließ ihn erscheinen und kraulte ihn unterm Kinn. Der Vogel taumelte auf Seishirous Brust und vergrub schließlich das Köpfchen mit dem spitzen Schnabel an seinem Hals.

Selbst mein Bote fällt fast in Ohnmacht, dachte Seishirou. Wie es so weit hatte kommen können. Wo das Ende der Welt kurz bevor stand, wie auch die Regierung wusste, wie konnte es da sein, dass er eine Flut an Aufträgen zu erledigen hatte? Keine davon schien das Ende zu betreffen. Es waren schwache Leute, uninteressante Leute. Babys, Kleinkinder, Mütter und viele Rentner waren unter den Opfern. Selten jemand, den Seishirou von sich aus als Gefahr eingestuft hätte. Eher im Gegenteil. Es waren Menschen, denen ihr Leben oder das ihrer Nachkommen wichtiger als alles andere war. Sie würden bei dem Kampf nicht unterstützend der „schlechten“ Seite zur Hilfe eilen. Das entsprach nicht dem Sinn und Zweck ihres Daseins.

Seishirou ließ den Shiki verschwinden. Wenn er sich nicht materialisiert halten musste, war es für ihn sicher auch angenehmer.

Er sah zum Telefon. Wenn es doch nur endlich klingeln würde.
 

Irgendetwas schrillte laut. Seishirou brauchte einen Moment um zu verstehen, dass es das Telefon war, dass das unangenehme Geräusch verursachte, das sich in seinen Kopf brannte und an seinen Nerven zehrte. Er streckte die Hand aus und nahm das Telefon vom Wohnzimmertisch. Seufzend meldete er sich.

„Ah, sehr gut, dass ich gleich Sie erwische.“

Wen sonst willst du erwischen, wenn du diese Nummer wählst?, dachte Seishirou, fragte aber nicht weiter nach. Er hatte gelernt Floskeln nicht zu hinterfragen. „Aufgaben.“

„Nicht viel. Sie klingen so komisch. Haben Sie getrunken!?“

Seishirou stöhnte. „Nein, habe ich nicht.“ Er versuchte ein Lächeln aufzusetzen um freundlicher klingen zu können. Seine Mundwinkel hoben sich und schmerzten dabei. Er gab es auf. „Aufgaben“, sagte er noch einmal.

Der Mann am anderen Ende der Leitung schien etwas herumzuräumen. Papierrascheln war zu hören. „Nicht viel, da werden Sie sich freuen.“

Seishirou spürte, dass ein Lachen in seiner Kehle lag. Er schluckte es herunter. Da hatte sein Chef Recht. „Was ist es denn?“

„Eine Langzeitaufgabe.“

Seishirou massierte sich die Schläfen. Was sollte eine Langzeitaufgabe sein? Den ganzen Tag an einer Person zu hängen war in der Regel äußerst langweilig. Es gab eine Ausnahme. Er lächelte. „Um was genau handelt es sich?“

„Ihr nächstes Ziel ist ein junges Mädchen namens Maria. Ja, nein, wissen Sie, ihre Eltern sind halt merkwürdig drauf, aber sie ist Japanerin. Wir möchten in diesem Fall, dass Sie ihr noch nichts tun. Töten Sie sie nicht, bevor Sie nicht den Befehl dazu erhalten. Achten Sie einfach auf sie.“

„Was meinen Sie damit, ich soll sie noch nicht töten? Ich bin Meuchelmörder, das ist doch, für was ich bezahlt werde. Wenn Sie sie lebend wollen, rufen Sie die CIA an.“

Der Mann am Telefon lachte leise. „Die Amis interessiert nicht, ob sie am Leben bleibt… oder tot ist. Wo wir gerade von Interesse sprechen: In letzter Zeit fiel uns auf, dass Sie eine erstaunliche Sympathie für das Oberhaupt der Sumeragi entwickelt haben.“

Sympathie, dachte Seishirou. Dass der Mann dieses Wort benutzt hatte, ließ ihn auf Seishirou nicht schlauer wirken. Davor hatte Seishirou seine Intelligenz ein paar Punkte über der einer Ameise angesetzt. Obwohl ihm Ameisen lieber waren.

„Müssen wir uns auf einen baldigen Wechsel vorbereiten?“

Seishirou stellte sich vor, wie der Mann in seinem hässlichen grauen Büro saß und sich nebenher die Fingernägel schnitt. Er mochte nicht, was sein Vorgesetzter implizierte. „Ich bin der absolute Sakurazukamori. Es wird keinen Wechsel geben.“

„Sie planen, den Clan aussterben zu lassen? Wie traurig.“

Seishirou grinste bösartig. Idiot.

„Wiiiiie auch immer.“ Seishirou hörte ein Quietschen. Wahrscheinlich setzte sich der Kerl aufrecht hin, bevor der Chef ihn mit den Beinen auf dem Tisch vorfand; mal wieder! „Erledigen Sie einfach den Auftrag. Sie werden die Akte schon bald erhalten. Versprochen.“ Er machte ein Kussgeräusch.

Seishirou blickte düster drein und legte auf. Obszön, dachte er.

Doch er musste zugeben, dass die Aufgabe sein mildes Interesse geweckt hatte. Wenn das Mädchen ihm zu sehr auf die Nerven fiel, konnte er sie auch gleich töten. Etwas zu vertuschen war nicht schwierig. Besonders, wenn der zu Täuschende sich aus Politikern zusammensetzte, die vor allem mit sich selbst beschäftigt waren und sich auch mit Magie eher wenig auskannten. Die für ihn zuständige Truppe war natürlich etwas besser ausgebildet, dafür sorgte der andere Clan, der immer ein Auge auf den Sakurazukamori haben wollte. Aber alles bekamen sie auch nicht heraus und wenn sie es taten, so hieß das noch lange nicht, dass sie auch in irgendeiner Weise darauf reagierten, die Seishirou Schaden zufügte. Meistens räumten sie nur einfach noch nach ihm auf. Was sehr komfortabel war, soviel gab Seishirou zu.

Es schrillte erneut.

Er setzte sich auf. Das war nicht das Telefon gewesen. Er legte es beiseite und wartete ab, ob das Geräusch noch einmal zu hören sein würde. Da. Die Türklingel.

Seishirou stand auf und ging mit leisen Schritten zur Tür. Es klingelte nie jemand bei ihm. Einmal hatte jemand geklingelt, aber das war lange her.

Dann klopfte es an der Tür. Der Mensch auf der anderen Seite klopfte in einem Rhythmus. War es Sasuke? Nein, das Tor öffnete sich nicht für Normalsterbliche.

Seishirou drückte den Griff herunter und zog die Tür auf. „Guten Abend, was kann ich für Sie tun?“

Ein junges Mädchen mit einer eigenwilligen Zopffrisur und einem breiten Grinsen streckte ihm einen braunen Umschlag entgegen.
 

„Ich bin Maria, das ist meine Akte und ich werde ab heute bei dir wohnen.“

Seishirou starrte auf sie herunter. „Wie bitte?“, fiel ihm nach einiger Zeit ein zu sagen.

Das Mädchen verdrehte die Augen und schob sich neben ihm durch die Tür. „Ich: Maria. Akte: Für dich. Und wir sind eine WG! Ist doch cool, oder?“

Er ließ die Tür ins Schloss fallen und wandte sich zu ihr um. Sie zog sich gerade die Schuhe aus. „Was.“ Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Was wäre die geschickteste Frage, um an die Informationen zu gelangen, die er in diesem Moment haben wollte? Seishirou betrachtete das Mädchen. Er wusste nicht, welche Informationen er gerade haben wollte. Aber sie schien gesprächig zu sein, also würde es nicht lange dauern, bis sie von alleine losredete. Er wartete nicht lange.

„Also, äh, nimm mal.“ Sie drückte ihm die Akte in die Hände. „Pass auf, hast du ein Gästebett?“, sagte sie ganz langsam.

„Ich bin nicht verwirrt.“

„Das merke ich.“ Maria winkte ab und kicherte.

Hokuto, dachte Seishirou. Er kniff die Augen zusammen. „Ist das damit gemeint? Auf dich Acht zu geben bedeutet, dass du bei mir einziehst?“

Sie nickte heftig. Ihre Zöpfe wirbelten durch die Luft. „Ich find das total super. Wollte so was wie dich schon immer mal kennen lernen.“

„So was wie?“ Er lächelte bemüht höflich. In ihm rumorte sein Magen. Die fünfhundert Kalorien waren wohl nicht genug gewesen.

Maria stieß ihm in die Rippen. „Na, so einen süßen kleinen Psycho. Hab schon viel von dir gehört! Du bist schwul, ne?“

„Keine Sorge, ich fasse dich nicht an.“

„Du siehst aus wie ne Jungfrau“, sagte sie. „Pass auf, sonst fass ich dich an. Groah!“ Sie hob die Arme und rollte die Finger ein, damit sie aussahen wie Klauen.

Seishirou schob sie durch den Flur. „Ich werde es mir merken.“ Mit Tieren konnte er umgehen. Mit Jugendlichen? Er führte sie in die Küche und setzte sich an den Tisch. Die Akte war nicht besonders dick. Er schlug den Deckel auf und las sich die erste Seite durch. Das Mädchen war dreizehn und hatte mindestens zwei Fähigkeiten, von der eine nicht genau bekannt war. Seishirou überflog das Informationsblatt und schüttelte den Kopf. Er sah nichts dort stehen, dass es gerechtfertigt hätte sie zu töten. Noch viel weniger, dass es gerechtfertigt hätte, sie bei ihm einziehen zu lassen. Er hob den Kopf.

Sie lehnte sich über den Tisch in seine Richtung. Ihr Ausschnitt war tief. Zu tief für ihr Alter. Seishirou ignorierte es. Er war nicht ihr Vater und ob seine Opfer nun freiwillig, unfreiwillig oder auf sonstige Weise sexuellen Aktivitäten nachgingen war nicht seine Sache. Solange sie nur nicht starben. Er räusperte sich. „Maria also, ja?“

„Du kannst mich gerne Mimi nennen.“

„Das wird nicht nötig sein.“ Er klappte die Akte zu. „Hast du eine Idee, wieso ich dich töten soll?“

Maria setzte sich auf den Tisch und winkelte die Beine an. „Du sollst mich nicht töten, du sollst mich beschützen. Bis du mich dann töten sollst, aber ich glaub, das kann ich verhindern.“

„Verstehe“, sagte er. Das Mädchen war entweder unglaublich naiv oder sie war Hokutos Wiedergeburt. Wenn sie letzteres war…

Seishirou kam nicht dazu, den Gedanken zu beenden, denn Maria klatschte seine Wangen. „Du siehst hungrig aus. Ich hab auch n bisschen Magengrimmen. Hast du was da? Ich kann kochen. Richtig gut sogar. Pfannenkuchen und Spaghetti und so europäischen Kram.“

Er war geneigt „ja“ zu antworten, denn er hatte tatsächlich Hunger und wenn ihm schwindlig war konnte er kaum mit einem Wirbelwind mithalten. Er war magisch gesehen mächtig, aber war auch zwanzig Jahre älter als sie. „Maria.“

„Ja?“, sagte sie.

„Deine Eltern… und ich kann dich nicht zur Schule bringen.“ Er kratzte sich am Kopf. „Wie soll das funktionieren?“

„Du bist Profi. Du schaffst das schon!“

Er sah sie an. „Ach so. Du hast natürlich Recht.“ Er lächelte. In seiner Ausbildung war nie vorgekommen, sich um ein Kind zu kümmern. Menschen lange genug am Leben zu halten, um gewisse Informationen von ihnen zu bekommen, beziehungsweise die Regierung oder andere, die ihn heimlich anstellten, das hatte er gelernt. Vielleicht war da ja so ein Fall. Aber dann hätte er ihr etwas tun dürfen, und der Telefonmann hatte gesagt, dass er das eben nicht tun sollte. Seishirou rieb sich über die Stirn. Sie war noch immer heiß.

Maria rutschte vom Tisch und öffnete alle Schränke. Als sie sich genügend orientiert hatte, nahm sie eine Pfanne, einen Pfannenwender, Eier, Mehl und anderes aus den Schränken. Sie stellte sich an den Herd und kochte. „Ich mach uns was Süßes, okay? Du siehst aus, als ob du was Süßes brauchst.“ Sie schwenkte den Pfannenwender in seine Richtung.

Seishirou lehnte sich zurück und faltete die Hände. Später hatte er immer noch Zeit genug sie umzubringen oder wenigstens mundtot zu machen. Der Geruch von Pfannkuchen füllte die Luft und sein Magen machte einen zufriedenen Satz. Vielleicht konnte er sie noch dazu überreden, ihm einen Tee zu machen.

Seishirou beobachtete sie dabei, wie sie die Pfannkuchen machte. Sie schien darin tatsächlich einiges an Übung zu haben. Maria warf die Kuchen in die Luft und fing sie gekonnt wieder in der Pfanne auf. Seishirou hob die Hände und presste sie zusammen. Dann fing er an zu klatschen. Sie wandte sich zu ihm um und zog eine Augenbraue hoch. Wahrscheinlich kaufte sie ihm die Bewunderung nicht ab und er stimmte ihr da unvoreingenommen zu.

Sie drehte sich zum Herd und beschäftigte sich weiter mit den Pfannkuchen.

"Wir haben auch Tee da", sagte er nebensächlich.

Maria nickte - klar, den Tee hatte sie wohl schon entdeckt, immerhin hatte sie sich gründlich in der Küche umgesehen, bevor sie mit dem Kochen angefangen hatte. Ob ihr das jemand beigebracht hatte? Auch wenn man mordete gehörte es zu einer der ersten Aufgaben, sich umzusehen, damit der andere nicht einen Vorteil hatte, weil er sich besser auskannte. Sie schien einen guten Orientierungssinn zu haben. Mit drei Schritten war sie zielsicher bei der Schublade mit den Teebeuteln angekommen.

"Welchen möchtest du? Ich darf ja du sagen!" Sie starrte ihn aus großen, netten Augen an.

Er verzog das Gesicht zu einem krampfigen Lächeln. "Natürlich. Ich möchte gerne Früchtetee, meine Liebe."

Sie rollte die Augen und grinste dabei. Also hatte sie keinen Anstoß daran gefunden, dass er sie geneckt hatte. Ob sich das als gutes Omen erweisen sollte, war allerdings noch abzuwarten. Wenn sie genau so gut oder besser zurückschoss, musste er sich in Acht nehmen.

Sie nahm einen Teebeutel heraus, machte den Wasserkocher an und ging zurück zu ihren Pfannkuchen. Seishirou fragte sich, ob diese nicht schon schwarz geworden waren, so lange, wie sie unbeaufsichtigt gelassen hatte. Aber nein, sie waren schön golden. Maria legte sie auf einen Teller und füllte den nächsten Pfannkuchen in die Pfanne. Sie summte dabei leise ein Lied, das Seishirou entfernt bekannt vorkam. Es musste ein Kinderlied sein. Er hörte selten Radio, nur wenn es eins seiner Opfer zufällig tat oder sich an einem Ort aufhielt, wo moderne Musik gespielt wurde. Diese Musik merkte er sich allerdings nicht. Kinderlieder sehr wohl. Sie hatten oft makabre Texte und das gefiel ihm.

"Wie heißt das Lied", fragte er sie.

Maria warf den nächsten Pfannkuchen auf den Teller. "Wie, das kennst du nicht?"

"Sollte ich etwa?"

"Es heißt 'Dracula'. Ein ganz lustiges Lied! Soll ich es dir mal richtig laut vorsingen?"

"Nein, nein. Nicht nötig." Er hob die Hände. "Das Wasser ist übrigens so weit. Der Kocher pfeift schon seit langer Zeit nicht mehr. Daran wirst du dich gewöhnen müssen."

"Also sind wir jetzt doch eine WG geworden, hm?" Sie zwinkerte ihm zu.

"Sieht ganz so aus", sagte er.

Maria goß das heiße Wasser in eine Tasse und ließ den Teebeutel hineinhängen. "Du magst es sicher stark, oder? Richtig süß. Hach." Sie blinzelte ihn auffällig kokett an.

"Was soll das bedeuten?" Er runzelte die Stirn. Zwar konnte er die meisten Mimiken auseinandernehmen wie kein anderer und konnte jeden durchschauen, aber Jugendliche waren eine Extrasparte. Er brachte sie selten um und hatte deswegen zu wenig Kontakt mit ihnen, um sie so einfach durchschauen zu können wie etwa Rentner. Die Falten, die alte Leute eben hatten, waren auch ein Faktor, der es erleichterte, ihre Gesichter zu lesen. Marias Gesicht war so glatt wie sonst nichts, bis auf ein paar Unreinheiten hier und da. Nichts, das irgendetwas leichter durchschaubar gemacht hätte.

Aber jetzt würde er genug Zeit haben, das genauer zu untersuchen. Er nahm die Tasse von ihr an und pustete den Dampf weg. Eine neue Studie zur Untersuchung der Mimik und Gestik von Mitmenschen. Wer weiß, dachte Seishirou, das wird mir vielleicht helfen, sie am Schluss umzubringen.

Maria stellte lächelnd den Teller mit Pfannkuchen vor ihm auf den Tisch ab. "Das Besteck noch", murmelte sie.

Seishirou schnüffelte in der Luft. Das Essen roch gut. Vielleicht konnte er sich ja an sie gewöhnen. Wenigstens für ein paar Tage. Länger würde die Regierung sicher nicht von ihm erwarten, sich um sie zu kümmern. Immerhin schien es noch andere Aufträge zu geben. So schnell konnte diese Flut nicht aufhören. Ganz gewiss nicht.

"Guten Appetit", sagte sie.

Ihre Pfannkuchen schmeckten überirdisch gut, fand Maria. Seishirou schien es auch zu schmecken, denn er aß über die Hälfte. Er wirkte ausgehungert. Wahrscheinlich kochte er sich selten selber was und aß nur Fertigfutter, aus Dosen oder Plastikbechern. Maria bedachte ihn mit einem traurigen Blick, den er wiederum nicht zu bemerken schien. Er war zu beschäftigt damit, den letzten Pfannkuchen runterzuschlingen. Klar, er benahm sich immer noch wie ein Gentleman, zerschnitt den Kuchen in kleine Teile, bevor er ihn mit der Gabel aufpiekte und in den Mund nahm, zwanzigmal kaute und dann schluckte. Maria erkannte dennoch ohne Probleme, dass Seishirou schrecklich hungrig gewesen sein musste.

Sie klopfte sich in Gedanken selbst auf die Schultern. Ein wenig hatte sie ihn schon auf ihre Seite bekommen. Sie stützte sich auf die Hände und wartete, bis er mit dem Essen fertig war. Dann nahm sie seinen Teller, ihren und die Pfanne und stellte alles in der Spüle ab. Morgen würde sie den Abwasch erledigen. Oder ihn so lieb angucken, dass er es freiwillig übernehmen würde. Obwohl... nein, eigentlich wirkte er nicht wie der Typ, der sich leicht um den Finger wickeln ließ. Dabei war sie so gut darin! Nur, wenn er tatsächlich schwul war - und er wirkte echt verdammt schwul - dann hatte sie wohl nur wenig Chancen.

Dennoch, es konnte ja einen Versuch wert sein. Nur im Moment wirkte er wirklich viel zu müde, um das auszutesten. Immerhin war er auch noch ein Killer, neben einem riesengroßen Baby (das hatte sie gleich beschlossen, als er ihr die Tür geöffnet hatte; diese Augen!). Da konnte sie es sich nicht einfach so leisten, ihn wütend zu machen. Wenn er auch immer sagte, beziehungsweise überall gestanden schrieb, dass er natürlich nichts fühlte. So als Sakurazukamori.

Sie hatte viele Infos über diesen Clan gesammelt und das war eine der Infos, die in wirklich jedem Buch stand. Und die einem jeder sofort sagte, wenn man ihn danach fragte. Sie hatte viele Leute gefragt. Verdammt viele. Das war auch ganz richtig so gewesen. Bevor man bei gefährlichen Personen einzog, musste man sich erst gründlich informieren, wieviel man sich leisten durfte. Maria ließ sich nicht gern den Mund verbieten. Besonders nicht von alten Männern, die sich für etwas Besseres hielten.

Sie drehte sich um und da stand er doch TATSACHE vor ihr und starrte auf sie hinab. Sie lächelte ihn entschuldigend an. "Hab ich was falsch gemacht?"

"Du hast mich als Baby bezeichnet."

Shit, sie hatte wieder laut gedacht. "Wieviel sagte ich denn?" Maria versuchte ein liebes Engelsgesicht aufzusetzen. Ihre Mutter hatte ihr schon so oft gesagt, dass das nicht einfach zog, nur weil sie sonst ein hübsches Gesicht hatte.

Seishirou wirkte auch wenig beeindruckt davon. "Nicht viel, keine Sorge. Aber du hast noch einiges mehr gedacht, sehe ich das richtig?"

Sie lachte nervös und packte ihn am Arm. "Komm, führ mich lieber mal rum. Mal schauen, wo ich heute Nacht schlafe. Darf ich mir das selber aussuchen? Ach, bestimmt." Sie hatte nicht vor, ihren Wortschwall abbrechen zu lassen. Wenn sie ihn genug ablenkte, würde er vergessen, was auch immer sie alles laut vor sich hingebrabbelt hatte.

Das Wohnzimmer war riesig. Ihr klappte der Mund auf. Ein riesiger, handgeknüpfter Teppich lag auf dem Boden, an den Wänden hingen riesige Fotografien und auf dem Wohnzimmertisch lag ein winziges Handy. Das hatte sie ihm gar nicht zugetraut. "Ein Mobiltelefon. Mensch, Meier. Du bist ja richtig modern ausgestattet. Hast du auch Netz?"

"Netz?", wiederholte er.

"Na, Internet. Nen PC oder nen Laptop. Och, komm... enttäusch mich nicht. Ich brauch das für die Schule, weißt du? Kaufst du mir einen?", fragte sie, als er immer verwirrter wirkte.

"Nein", sagte er.

"Na gut, dann bring ich meinen demnächst von zuhause mit."

"Du hast noch ein zuhause? Wieso wohnst du dann nicht weiter dort? Deine Eltern werden sich bestimmt Sorgen um dich machen. Das möchte ich nicht." Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Maria runzelte die Stirn. "Ne, meine Eltern sind eh fast nie da. Haben immer viel zu tun. Im Ausland und so. Tötest du eigentlich auch mal woanders als in Japan? Weitgereist siehste ja nicht gerade aus. Ich war schon in Amerika und in Deutschland und in Spanien und in Irland und in..."

"Ja, hab schon verstanden. Nein, ich töte nicht außerhalb von Japan. Bisher nicht. Die Opfer kamen immer zu mir." Er griente.

Maria lief es eiskalt den Rücken herunter. Jetzt hatte er sie doch beeindruckt. Sie rümpfte die Nase. Das würde er zurückkriegen! Und zwar doppelt- und dreifach. Sie war gut darin, Dinge zurückzuzahlen. Erst recht, wenn es sich um solche Schnösel handelte. Vielleicht fand sie in seinem eigenen Zimmer ja einen guten Anhaltspunkt, um ihn ein wenig auf die Palme zu bringen. Nichts großes natürlich. Sie wollte noch ein wenig weiterleben. Immerhin war sie auch noch Jungfrau. Vielleicht konnte er sie ja verkuppeln, wenn sie ihn mit seinem Süßen verkuppelt hatte. "Das ist ne Idee!"

"Was ist eine Idee?", fragte Seishirou.

Maria duckte den Kopf und schlich sich ins nächste Zimmer. Bingo!, dachte sie. Da war auch schon das Schlafzimmer. Sie rieb sich die Hände. Mal sehen, was sich hier alles finden lässt. Es wirkte auf den ersten Blick ziemlich kahl. Der Schrank war weiß, mit hellem Holz verziert und hatte nicht den Anschein, als ob er gut gefüllt wäre. Sie zog ihn auf und blickte hinein. Seishirou blieb mit großen Augen in der Tür stehen und sah ihr nach.

Sie winkte ihm zu. "Also sag mal, alles schwarz und grau oder eben weiß. Nen besonders guten Modegeschmack hast du aber nicht. Ist ja nicht so, als ob du nur wegen deinem Beruf rumlaufen musst wie n Bestattungsunternehmer. Das bist du nämlich üüüüüberhaupt nicht. Passt auch gar nicht zu dir." Sie nickte und zog eine Krawatte heraus. "Schau, die in rot. Oder mit Schweinchen drauf, das würde dir stehen.

Er knirschte leise mit den Zähnen. Zwar hatte er wieder was im Magen, aber es schien ihm wohl immer noch nicht so super zu gehen, dass er gut genug drauf war, um sich irgendwie heimlich zu verhalten.

Oder er war einfach nur viel, viel schlechter darin, irgendwas zu verdecken, als die Bücher und befragten Personen es Maria hatten weismachen wollen. Sie hatten alle so ehrfürchtig von ihm gesprochen. Maria war beinahe schlecht davon geworden. Wenn sie ihn jetzt so ansah, verstand sie noch weniger, was so beeindruckend an ihm sein sollte. Gut, er war ziemlich groß und er hatte diese gewisse Aura um sich, die aussagte, dass man ihm nicht blöd kommen sollte. Andererseits war da aber auch dieses... tollpatschige an ihm, das sie furchtbar niedlich fand. Für einen so alten Mann zumindest. Er war immerhin ein verdammter Opa.

Sie ließ desinteressiert den Schrank gehen und warf sich aufs Bett. "Wow, ist das weich. Dein Schatz wär entzückt. Lad ihn doch mal zum Übernachten ein. Ich koch euch auch was leckeres. Was edleres als heute. Das kann ich nämlich auch. Ooooh."

Seishirou wollte wohl gerade antworten, denn er hatte den Mund aufgemacht. Soviel hatte Maria noch bemerkt, aber dann fiel ihr Auge auf ein Foto, das auf dem Nachttischschränkchen stand.

"Das ist er, oder? Wie süß, du hast n Foto von ihm auffem Nachttischle." Sie rollte sich herum und schnappte sich das Foto. Seishirou war mit wenigen großen Schritten neben dem Bett angelangt, aber er rührte sich nicht. Hatte er etwa nicht vor, ihr das Foto aus den Händen zu reißen? Hm, das war interessant. Maria besah sich das Foto genauer.

Es waren drei Personen zu sehen. Seishirou, ein Junge und ein Mädchen, die sich ziemlich ähnlich sahen. Das waren also die berühmten Zwillinge. Seishirou mochte den Jungen, soviel wusste sie. Nur den Namen, den kannte sie nicht. Noch nicht. "Wie heißt er? Er ist voll hübsch. Kann gut verstehen, dass du in ihn verknallt bist." Sie seufzte leise.

"Er heißt Subaru", sagte Seishirou. Er biss sich auf die Lippe. Nur ganz leicht, aber Maria entging es nicht.

"Aha, ein schöner Name." Sie nickte. "Passt zu ihm. Mann, der sieht so süß aus." Sie verfiel in ein schwärmerisches Seufzen.

Seishirou setzte sich zu ihr aufs Bett. "Ja, aber heutzutage nicht mehr. Ich habe seine Schwester", er deutete auf das junge Mädchen, das Subaru so ähnlich sah, "nämlich umgebracht und ihn völlig zerstört dabei."

"Das weiß ich doch." Sie schlug ihm auf den Oberschenkel.

Er zuckte zusammen.

"Hm." Maria betrachtete ihn nachdenklich. Er mag Berührungen wohl nicht so. Oder er ist nicht dran gewöhnt. Sie setzte sich auf und schlang die Arme um seinen Hals. Dann kicherte sie mädchenhaft. "Onkelchen, darf ich in deinem Bett schlafen? Bitte, bitte. Wenn du hier eh so viel unnötigen Platz hast, dann solltest du das einer Dame überlassen. Wenn du aber den Süßen hier herholen möchtest, dann überlass ich euch das Bett natürlich."

Seishirou erstarrte unter ihrem Gewicht. "Du verschwindest aus diesem Zimmer und betrittst es nur noch in einem Notfall."

"Was ist für dich ein Notfall?"

"Wenn jemand versucht dich umzubringen."

Sie lachte. "Aber das wirst doch du sein."

"Außer mir", erklärte er gefährlich leise.

Sie pfiff und rutschte aufs Bett. "Aber ich möchte lieber hier schlafen. Bitte." Sie blinzelte. "Nur heute?"

Seishirou packte sie am Arm und zog sie vom Bett. Maria stolperte ein Stück in den Raum hinein und drehte sich wütend dreinschauend um. "Hey, du sollst mich nicht anrühren!"

"Du hast mich zuerst angefasst, Mädchen. Und jetzt geh. Du wirst einen Schlafplatz bekommen, aber nicht in diesem Raum. Du bist kein Tier, das sich einfach überall ungefragt Platz verschaffen kann, nur weil es zu dumm ist um zu bemerken, dass es nicht willkommen ist."

"Oh je. Das war jetzt aber sehr billig, Seishirou." Sie nickte und setzte eine besorgte Miene auf. "Damit kannst du echt niemanden beeindrucken."

"Wer sagt, dass ich so bin, wie ich rede?"

"Weil du doof bist." Sie streckte ihm die Zunge raus. Aber sie war ein wenig müde, musste sie sich eingestehen. Dann schlief sie halt erst mal woanders, beschloss sie.
 

Seishirou sah sie mit leeren Augen an. Maria neigte den Kopf. Er wirkte nicht so, als ob er noch etwas darauf hätte erwidern wollen. Enttäuscht ging sie zur Tür.

„Du erinnerst mich an Hokuto“, sagte er.

Maria blieb abrupt stehen. Sie grinste. So so, sie erinnerte ihn also an die Schwester seines Liebsten. Die er getötet hatte. Wahrscheinlich wollte er darauf hinaus und ihr Angst machen. Viele hatten schon versucht sie zu ängstigen. Es war bisher niemandem so richtig gelungen. Zumindest nicht gut und lange genug, um ihre nervenden Fragen abzuschalten. Sie rieb sich die Hände und drehte sich zu ihm um.

Er stand mitten im Raum, die Hände in die Hosentaschen geschoben. Seishirou wirkte auf sie ganz so, als ob er nicht wusste wohin mit sich. Dabei war sie doch diejenige, die sich in diesem megagroßen Haus nicht auskannte! Also war das wohl eher ein allgemeiner Zustand bei ihm. Der arme alte Mann. Sie schürzte die Lippen und ging auf ihn zu. Er machte einen Schritt zurück, als sie die Hand nach ihm ausstreckte. „Mochtest du sie?“

„Sofern man von mögen sprechen kann.“

Maria runzelte die Stirn.

„Na bei einem Sakurazukamori. Du hast doch sicher wie verrückt recherchiert.“ Er neigte sich zu ihr herunter. „Oder?“, sagte er leise.

Sie blinzelte ihn an und machte ein desinteressiertes Gesicht. Wenn er das konnte, konnte sie es erst recht. Vorspielereien, wenn er das wollte, damit konnte sie sich von ihr aus den ganzen Tag beschäftigen. Und sie würde ihm zeigen, wer hier besser darin war! Oder was gesünder und lustiger war. Sie lächelte breit. „Vielleicht magst du ja anders, aber dann ist es immer noch ein Mögen. Du kommst nicht drum herum, Mister Sakurazukamori.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Weißt du, das Leben ist hart. Man muss manche Dinge einfach hinnehmen. So wie der Fakt, dass jeder Mensch fühlt. Selbst wenn er nicht so fühlt wie irgendwer anders oder die Normalen.“

„Aus welchem Buch hast du das?“

Sie verschränkte die Arme. „Aus gar keinem! Ich meine das ernst und zwar vollkommen.“ Sie nickte heftig.

„Du bist dreizehn. Was hast du eine Ahnung vom Leben…“ Er schüttelte den Kopf.

Maria sah sich das riesige Bett noch einmal an. „Zum Beispiel, dass man Kinder und Frauen immer den gemütlichsten Platz anbieten sollte. Was hier und heute deeeeeein…“

„Nein“, sagte er.

Seishirous sanftes Höflichkeitslächeln kam bei Marias Augen an, ging aber nicht bis zum Hirn durch. Sie lief um ihn herum und hüpfte dabei. „Weißt du, Onkelchen, wenn das die Regierung erfährt, wird sie wütend werden.“

„Warum sollte sie? Die Leute planen, dich töten zu lassen.“ Er griff nach ihrem Arm und zog sie an sich.

Maria erstarrte augenblicklich. Sie wandte den Kopf zu ihm um und sah ihn mit großen Augen an. Jetzt hatte sie tatsächlich Herzrasen. Eben war der alte Kerl noch ausgetickt, weil sie sich bei ihm angelehnt hatte und jetzt knuddelte er sie, als ob sie ein Teddy wäre?! Irgendwas war faul an dem Mann. Abgesehen von dem, was er beruflich war. Sie drehte den Oberkörper hin und her, aber er ließ sie nicht los.

„Du solltest wirklich, wirklich vorsichtiger mit dem sein, was du tust oder sagst.“

Sie lachte nervös. „Das… das könnte man auch von dir sagen, O… Onkelchen!“ Maria lächelte gezwungen. Ihr taten die Gesichtsmuskeln davon weh. Wie Seishirou das hinbekam, die ganze Zeit so künstlich zu lächeln, ohne dabei einen Krampf im Kiefer zu kriegen war ihr ein wahres Rätsel. Aber sie würde genug Zeit haben, das noch zu ergründen. Jetzt wollte sie erst mal einfach aus seinem Klammergriff entkommen.

Und ihr kam eine grandiose Idee, wie sie das zustande bringen könnte. Maria ließ sich schlaff in seinen Armen hängen und lehnte sich an seine Brust. Sein Körper versteifte sich leicht. Sie grinste, schloss die Augen und konzentrierte sich einen Moment. Was hatte sie auf dem Foto gesehen? Der Junge hatte glitzernde grüne Augen, die einen anstrahlten. Er lächelte unsicher und hatte Locken vor den Ohren. Seine Haare waren pechschwarz und kurz geschnitten. Er war schmal von Statur und hatte porzellanweiße Haut wie eine Puppe. Als sie die Augen aufschlug und an sich heruntersah, war dort porzellanweiße Haut zu sehen wie bei einer Puppe. Seishirou war völlig erstarrt.

Sie drehte sich mit Subarus Körper zu ihm herum – gut, dachte sie, der sieht heute wohl etwas anders aus. Aber sie hatte für das Alter keine Anhaltspunkte, also musste sie den jungen Subaru machen. Das schien auch ziemlich gut zu wirken. Seishirous Mund stand ein bisschen offen und seine müden Augen hatten plötzlich wieder genug Energie um zu blinzeln.

Strike!, dachte Maria. Sie legte Subarus Hände auf seine Brust und stülpte die Lippen nach vorn wie zu einem Kuss. „Seishirou“, sagte sie mit Subarus Stimme und hauchte dabei. „Ich habe dich so vermisst.“

Seishirous Griff umschlang sie enger.

„Bitte, ich will dich in mir spüren.“ Sie öffnete den Mund und stellte sich auf die Zehenspitzen. Als Subaru war sie ein paar Zentimeter größer, reichte aber immer noch nicht ganz an Seishirous Kopf heran. Schade, sie hätte ihm gerne draufgespuckt oder an den Haaren gezogen oder so etwas in der Art.

Seishirou schluckte schwer. Sie konnte sehen, wie sein Adamsapfel auf- und absprang. Jetzt hatte sie ihn eiskalt erwischt. Sie nahm seine Hände und legte sie auf Subarus Hintern.

Seishirou machte einen Satz nach hinten.

„Darf ich heute in deinem Bett schlafen? Bitte“, sagte sie.

„Subaru“, sagte er.

Sie zog sich das Oberteil vom Kopf und entblößte eine schöne weiße Brust. Schmal, dass man die Rippen zählen konnte. Sie streichelte über Subarus Bauch. „Mh, ich habe so weiche Haut. Willst du mal anfassen?“

„Du kannst heute Nacht hier schlafen, MARIA“, sagte Seishirou und schlug die Schlafzimmertüre hinter sich zu.

Maria kicherte und verwandelte sich wieder in ihr wahres Ich zurück. Ihre Haut war nicht so hell wie Subarus und auch nicht so weich. Immerhin tobte sie gerne. Sie betastete die Narbe von ihrer Blinddarm-OP. „Tja, es stimmt also tatsächlich. Der große böse Wolf ist in das Rotkäppchen verliebt. Ein männliches Rotkäppchen!“ Sie streifte sich den BH von den Schultern, zog sich komplett aus und legte sich splitterfasernackt aufs Bett. Sie schlief immer so und hatte nicht vor das zu ändern, nur weil es theoretisch betrachtet weder ihr Bett noch ihr Haus war.

Die Kissen waren flauschig, die Decke schön warm. Sie lächelte und mummelte sich ein. Ihr Blick fiel auf das Foto, das wieder auf dem Nachttischchen stand und von dem aus sie von den Zwillingen und einem fröhlich wirkenden Seishirou aus angelächelt wurde. Ihre Miene verhärtete sich. Es würde nicht einfach werden, ihn davon zu überzeugen, auf ihre Seite zu kommen. Aber wenn sie Glück hatte und die Regierung dumm genug war, um sich zu verraten, dann hätte sie eine Chance. Maria zog die Decke bis unter ihr Kinn. Sie wollte noch nicht sterben. Der Gedanke ließ ihren Magen zusammenziehen und ihr Herz krampfen. Sie fand sich noch viel zu jung. Sie hatte noch nicht mal einen richtigen Freund gehabt. Selbst so ein blöder Serienkiller war ihr da ein, wenn auch sehr kleines, Stück voraus. Dazu kam noch, dass sie ihm Nachhilfe würde geben müssen, weil ihr Plan sonst total im Eimer enden würde. Dabei hatte sie noch nie Nachhilfe in irgendwas gegeben! Nur welche bekommen, in Mathe. Was überhaupt nichts gebracht hatte. Mit grauenhaften Gedanken an die morgige Mathearbeit fielen ihr die Augen zu. Hoffentlich schläft er gut, dachte Maria, sonst kriege ich morgen all das ab, für was er heute zu müde war. Sie legte die Stirn in Sorgenfalten und schlief ein.

Ihre Träume waren angereichert mit linearen Funktionen, Dezimalbrüchen und Unbekannten, die sich nicht auflösen lassen wollten. „Bäh“, sagte sie im Schlaf.

Und im Schlaf kam ihr der Gedanke, dass Seishirou vielleicht so etwas war wie ein unbekannter Bruch. Am nächsten Morgen fühlte sie sich überhaupt nicht gut.
 

Er mochte diverse Dinge an Japan sehr gerne. Das Essen schmeckte ihm in der Regel sehr gut, mit ein paar Ausnahmen, die ihm zu bitter oder zu wabbelig waren. Wenigstens gab es auch hier McDonald’s und Burger King. Er bestellte sich mehrere Hamburger, eine Cola und Pommes.

An seinem Tisch wartete schon der Kerl von der japanischen Abteilung für innere Sicherheit. Er konnte diese Kerle nicht leiden. Sie waren immer so nervös, dass ihr Chef gleich um die Ecke kommen würde. Haskell empfand eine Mischung aus Mitleid und Abneigung für die japanischen Beamten. Sie waren für seinen Geschmack zu verweichlicht, aber man musste ihnen lassen, dass sie ihre Arbeit gründlich erledigten und selten logen. Wenn sie es doch einmal taten, konnte man das sofort sehen. Außerdem berichtigten sie sich nach einem halbwegs skeptischen Blick sofort wieder. Angsthasen eben.

Er stellte das Tablett in die Mitte des Tisches. Yuki hob die Hand und schob es zu ihm. Das sollte wohl höflich wirken. Haskell schob es wieder zurück in die Mitte.

„Also, über was wollen wir heute sprechen?“

Yuki sah sich um – links, rechts und noch mal links. Haskell verdrehte die Augen. Er hatte Hunger und nicht viel Zeit. In drei Stunden ging sein Flug zurück. Er wollte nicht mehr Zeit als unbedingt nötig damit verbringen, Yukis Panikattacken zuzusehen, wie sie ihre Wurzeln schlugen.

Er packte seinen ersten Hamburger aus, quetschte die Brötchen zusammen und biss hinein. Yuki schob ihm eine Akte über den Tisch zu.

„32?“, sagte Haskell mit vollem Mund. Er wischte sich Ketchupreste von den Lippen. „Um wen geht es?“

„Geheim. Sie können es sich ja später im Flugzeug genauer ansehen.“ Yukis Magen knurrte. Er lächelte höflich.

„Nun nehmen Sie sich schon ne Pommes“, sagte Haskell.

Yuki ignorierte sein Angebot und sprach weiter über die Arbeit. Er wirkte von Sekunde zu Sekunde gehetzter. „Dieser Fall ist wirklich sehr wichtig. Und äußerst schwierig. Wir haben es hier mit dem vielleicht mächtigsten Magier dieser Zeit und dieses Kontinents oder vielleicht auch des ganzen Universums zu tun!“, haspelte er herunter.

Haskell hob beide Brauen. Na das war ja mal interessant. Wobei sich die Japaner eh für die stärksten Magier hielten, alle zusammen. Sie hatten ja auch noch nie die Tigershow gesehen. „Verstehe. Wie können wir da helfen?“

„Oh, das ist einfach. Sie müssen ihn verschleppen.“

Haskell hustete Brötchenteig auf den Tisch. „Wir sollen den Kerl verschleppen? Wie stellen Sie sich das vor?“

„Egal, wir müssen ihn nur aus dem Schussfeld bringen. Sonst gehorcht uns der andere nicht mehr.“

„Welcher andere?“ Dass die Japaner ständig in Mysterien und Rätseln sprachen, konnte er noch weniger leiden als ihre Panikattacken. „Yuki, Sie müssen mir das schon genauer sagen. Erklären“, berichtigte er sich. Sein Japanisch war gut, aber mit fast leerem Magen war es nicht mehr so brillant wie sonst. Er fiel meist gar nicht auf, bis auf die blauen Augen, die ihn doch verrieten. „Was genau ist hier so kritisch, dass Sie es nicht alleine lösen können?“

„Es wäre zu gefährlich, wenn wir es allein lösen. Diese Sache ist zu riskant, um unser internes System damit zu belasten.“

Ach so, die dummen Amerikaner sollten mal wieder den Kopf hinhalten, weil die Japaner genau wussten, dass die Sache zu einer riesigen Katastrophe werden würde. Es war irgendwo auch ein Kompliment, aber da es sich nicht direkt an Haskell richtete, interessierte es ihn nicht. Er dachte nur eines: Arschkriecher.

Haskell legte den angebissenen Hamburger aufs Tablett zurück und sog am Strohhalm seiner Cola. Sie war eiskalt, genau wie er sie möchte. „Okay, und wann soll die Aktion starten?“

„Sobald wie möglich. Währenddessen erledigen wir den Rest. Das haben wir völlig unter Kontrolle.“ Er nickte und setzte sein bestmöglich versicherndes Gesicht auf.

Haskell fand diese andere Sache, den Rest, noch weitaus unspannender als alles andere. Das Ende der Welt. Oho, jetzt bekam er aber Angst. Er brach eine Pommes entzwei und leckte den weichen Teig heraus. „Dann werde ich mich bei Ihnen melden, wenn ich mehr weiß. Das kann zwei, drei Wochen dauern.“

Yukis Gesichtszüge fielen in sich zusammen. „So lange?“, wimmerte er.

„Ja, so lange. Wir haben auch noch eigenen Kram, den wir kontrollieren müssen. Wichtigen Kram. Ja, genauso wichtig wie das Ende der Welt“, sagte er bestimmt, als Yuki den Mund weit öffnete um etwas zu entgegnen.

Yukis Mund klappte wieder zu. Er starrte auf den Tisch.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, uns liegt viel an diesem Bündnis. Ohne Sie hätten wir die Sache vor zwei Jahren nicht regeln können.“

Yuki lächelte wie ein schüchternes Schulmädchen. Haskell wurde übel davon.

„Aber sie werden Geduld aufbringen müssen. Kommen Sie schon, Sie sind gut. Ein paar Tage kriegen Sie das auch noch alleine geregelt. Oder?“

Yuki nickte und nahm sich nun doch eine Pommes. Er knabberte daran wie ein Hase an einer Karotte. Haskell biss ein weiteres Stuck von seinem Burger ab. „Wie wird der nächste Deckname lauten?“

„Das wissen wir noch nicht so genau.“

Haskell stöhnte genervt. Wie sollte er ihn dann erreichen? Ohne Codes und Decknamen lief das nicht. Nur weil er selbst seinen Namen erst einmal hatte ändern müssen, durften andere nicht genauso schludrig sein. Immerhin war er ein Profi. Er konnte sich das leisten. Selbst wenn er seinen offiziellen Namen in Haskell umändern würde, würde ihm keiner auf die Schliche kommen. Er war der Beste!

„Aber ich werde es Ihnen auf sicherem Wege zukommen lassen.“

„Wie wird dieser Weg aussehen?“

„Post?“, quiekte Yuki.

Haskell stützte den Kopf in die freie Hand. Er kaute schnell, um seinen Kopf damit zu beschäftigen. Sonst hätte er Yuki womöglich angeschrieen und wäre aus dem Restaurant gestürmt. „Okay“, sagte er.

„Dann wäre von meiner Seite aus alles geklärt.“ Yuki stand auf und verbeugte sich mehrere Male.

Haskell blieb sitzen und kaute gelangweilt auf seinem Burgerfleisch herum. „Ja, ja. Was auch immer. Man hört voneinander.“

Yuki strahlte ihn an, drückte seine Aktentasche an sich und verließ das Restaurant eiligen Schrittes. Sein Chef erwartete ihn bestimmt bereits zurück. Nicht dass er noch Prügel bezog. Haskell musste lachen und schnaubte dabei Krümel auf den Tisch. Die Bedienung kam bei ihm vorbeigelaufen und bot an, den „Unrat“ zu beseitigen. Er lächelte sie freundlich an, woraufhin sie rot anlief, quietschte, sich entschuldigte und zurück hinter den Tresen trippelte.

Japaner, dachte Haskell. So leicht loszuwerden. Meistens.

Er klappte die Akte auf und las sich die erste Seite mit den Kurzinformationen durch. Da stand schon reichlich. Auch sonst wog sie gefühlt eine halbe Tonne. Haskell rümpfte die Nase. Hoffentlich passte das Ding in seinen Koffer. Sonst musste er noch was hier lassen oder draufzahlen und bei geschäftlichen Dingen wollte er darauf lieber verzichten. Das hinterließ nur unnötige Spuren.
 

Maria saß ihm gegenüber und starrte ihn feindselig an. Oh ja, es war super gewesen, in seinem Bett zu schlafen. Es war weich, warm und rundum kuschlig gewesen. Aber dass sie jetzt hier sitzen sollte, ohne ein Frühstück zu bekommen grenzte an bodenlose Unverschämtheit. Quasi dem Bodenlosen des Bodenlosen. Sie verschränkte die Arme und keckerte. Tierstimmen nachmachen war ihre ganz humane Spezialität. Dazu brauchte sie keine Magie anwenden.

Seishirou schüttelte die Zeitung auf und las still weiter.

Maria räusperte sich. Die Stühle waren zu hoch und so wackelte sie mit den Beinen. Zielsicher traf sie Seishirous Kniescheibe. Grinsend wartete sie auf eine Reaktion und in der Tat, er nahm die Zeitung herunter, faltete sie langsam zusammen, legte sie neben sich auf den Tisch und sah sie an.

„Also, frühstücken wir jetzt endlich mal? Ich muss bald los. Die Schule fängt bald an und ich will nicht unpünktlich sein.“

„Wir haben vier Uhr morgens, Maria.“ Er deutete hinter sich.

Sie blinzelte und schaute auf die Uhr, die an der Wand hing. Es war wirklich erst vier Uhr morgens. Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. „Die Schule liegt weit entfernt?“

„Verstehe“, sagte er. „Aber es wird hier kein Frühstück geben, außer du machst dir selbst was.“

„Ich weiß doch gar nicht, wo hier die nächste Bäckerei ist. Cornflakes hast du auch keine. Meeeeeenno.“ Sie presste die Lippen aufeinander und ließ sie beben. Vielleicht war er so genervt davon, wenn jemand beinah weinte, dass er ihr den Wunsch erfüllte und doch noch Brötchen holen ging.

„Ich als Meuchelmörder habe einfach einen sehr speziellen Tagesrhythmus. Entweder du gewöhnst dich dran, oder eben nicht.“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Mist, er hat sich schon wieder von der Subaru-Farce gestern erholt. Sie überlegte, ob sie die Aktion noch mal wiederholen sollte. Ihr Blick fiel erneut auf die Uhr. Sie wollte sich doch noch mit Kyoko treffen, bevor die Schule losging und sie würde tatsächlich ein bisschen brauchen, bis sie dort ankommen würde. Dabei hatte sie ihr soviel zu erzählen. Zum Beispiel, dass sie ab jetzt stets hungrig in die Schule kommen musste, weil der doofe Kerl sie nicht füttern wollte.

Maria hob die Schulter an. Seishirous Hand rutschte herunter. „Mir doch egal. Du sollst mir jetzt Frühstück holen.“

„Du bist anstrengend.“ Er seufzte. „Ich bin ein alter Mann.“

„So alt jetzt auch wieder nicht.“ Sie hob erschrocken die Hände. „Aber natürlich vieeel zu alt für ein Mädchen wie mich!“

„Hattest du mir nicht gestern noch erklärt, dass ich nicht auf diese Art von Geschlecht stehen würde.“

Sie lachte unsicher. „Äh, ja?“ Maria rutschte tiefer in den Stuhl hinein. „Pöh.“

Seishirou wollte die Zeitung wieder auffalten.

Wenn schon kein Frühstück, dachte sie, dann wenigstens eine nette Unterhaltung. „Hast du meine Akte schon mal genauer angeguckt?“

„Nein. Vielleicht brauche ich das auch gar nicht. Du bist offenherzig genug, dass ich alles Nötige auch über dich in Erfahrung bringen kann.“

„Aber dann ist das ja wie ein Freischuss!“

„Wie meinst du das?“

„Ich darf dich nerven, soviel ich will, weil es ja quasi gut für dich ist. Du musst ja wissen, wie ich drauf bin, alle meine Freunde kennen, meine Schule, welche BH-Größe ich trage…“

Seishirou fixierte sie. Seine Mundwinkel zuckten nicht mal.

„Soll ich sie dir verraten, Onkelchen?“ Maria grinste.

„Nein, danke.“ Er lächelte sie an und schlug die Zeitung wieder auf.

Maria sprang auf. Der Stuhl fiel um, aber sie machte sich nicht die Mühe, ihn wieder aufzuheben. Na schön, dann geh ich jetzt eben. Heute Abend koch ich nur für mich. Das haste jetzt davon, du blöder Kerl!“, meinte sie verschnupft. Sie klaubte ihre wenigen Sachen zusammen. „Ach ja, irgendwann heute Mittag werden ein paar Männer vorbeikommen und meine Klamotten und so bringen. Wollte dich nur vorwarnen.“

„Danke“, sagte er. „Viel Spaß in der Schule. Benimm dich.“

Maria verdrehte die Augen. „Ich doch immer.“ Sie hüpfte zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Bis spätääääter!“ Mit einem lauten Knall verließ sie die Wohnung. Es war stockduster draußen. Was Kyoko wohl zu der Sache meinte… Maria fühlte sich zwiegespalten. Es war lustig, Seishirou zu ärgern. Es war weniger lustig, dass sie dennoch nicht einfach ihren Willen bekam, wenn sie ihn tatsächlich wollte.
 

Seishirou atmete erleichtert aus, als er die Tür zufallen hörte. Endlich war das Mädchen weg. Er ließ die Zeitung im Altpapier verschwinden und ging in sein Schlafzimmer. Sie schien keine Unordnung gemacht zu haben, aber das Foto mit ihm, Hokuto und Subaru stand anders auf dem Nachttisch als sonst immer. Er setzte sich auf die Bettkante und nahm es auf die Hand. Mit dem Daumen strich er über das Gesicht des Tierarztes. Ein Reflex ließ ihn seinen Nasenrücken massieren. Die Brille damals hatte ständig Druckstellen hinterlassen.

Er lächelte bei der Erinnerung daran düster und stellte das Bild zurück. Es war an der Zeit, sich Marias Akte näher anzusehen. Sie war nicht dumm und erwartete sicher, dass er es tat, auch wenn er ihr etwas anderes erzählt hatte. Es würde schwierig mit ihr werden. Sie vertraute ihm nicht und schien auch nicht jemand zu sein, der von seiner eigenen Einstellung allzu schnell abwich. Ganz wie Hokuto.

Während er sich den Nacken massierte stand er auf und ging ins Wohnzimmer, wo er Marias Akte hatte liegen lassen. Er setzte sich auf das Sofa, schaute noch kurz in den Hinterhof, lehnte sich schließlich zurück und schlug den Deckel der Akte um. Da waren die Kurzinfos, die er sich gestern schon schnell angesehen hatte. Wie alt sie war, wie sie hieß, wie ihre Eltern hießen, dass sie Einzelkind war, dass sie über zwei Fähigkeiten verfügte. Eine hatte er schon an sich selbst kennen gelernt. Wie genau sie die Verwandlungskünste verwendete hatte er nicht durchschauen können, aber vielleicht stand in dieser Akte mehr darüber. Er blätterte zur nächsten Seite. Dort waren alle Informationen über ihre Eltern. Sie waren nicht magisch begabt und wussten auch nichts von den geheimen Künsten, die ihre Tochter ausüben konnte.

Geschicktes Kind, dachte Seishirou, die meisten verraten sich schon im jungen Alter. Ihre Eltern waren ansehnliche Leute, die viel Geld verdienten. Aber ganz wie sie es ihm erzählt hatte verbrachten sie nur wenig Zeit in Japan. Es stand ein Vermerk mit einem Sternchen auf den Papier: „Wichtig! Gut für Mord im eigenen Heim – Selbstmord. Vertuschen. Wichtig!“

Seishirou schüttelte genervt den Kopf. Als ob er es nötig hatte, seine Morde wie Suizide aussehen zu lassen. Seine Art zu töten war elegant. Selbstmord war… er schloss die Augen.

Auf der nächsten Seite stand etwas über ihre Fähigkeiten. Das war schon weitaus interessanter als zu wissen, was ihre Eltern arbeiteten. Das hatte schließlich nichts mit seiner Aufgabe zu tun, erst recht nicht, wenn sie nicht anwesend sein würden zur Tatzeit.

Zwei verschiedene Fähigkeiten, die auf der gleichen Basis entstanden waren. Die Verwandlungskünste, so stand dort, habe sie selbst aus ihrer natürlichen Magie heraus entwickelt. Sie könne diese aber noch nicht so lange halten, weswegen es keine größere Gefahr darstellen sollte. Mehr war über diesen Part ihrer Magie nicht bekannt. Bei der eigentlichen, natürlichen Magie, die sie von Geburt an besessen hatte, stand mehr. Sie nannten es Spektralmagie. Maria konnte Erinnerungen zum Leben erwecken, die in Dingen oder Menschen eingeschlossen waren. Diese Erinnerungen wurden dann lebensecht dargestellt und verschwanden danach.

Seishirou rieb mit dem Daumen über das Blatt. Warum störte diese Fähigkeit die Regierung? Wenn man Maria erst einmal unter Kontrolle gebracht hätte, konnte sie sogar nützlich sein. Er lachte leise. Als ob Maria sich einfach so zur Kooperation überreden lassen würde. Es hatte nicht einen Satz gebraucht, um diese Charaktereigenschaft bei ihr festzustellen. Sie war ein Dickkopf. Auf gewisse Art und Weise intelligent, aber eben intelligent auf eine Art und Weise, wie es Jugendliche und Kinder waren.

Seishirou las weiter. Diese Fähigkeit löschte die dargestellten Erinnerungen für immer. Somit verschwand entweder der Mensch, der sie gehabt hatte, oder das Ding, dem sie innegewohnt waren. Das war schon eher etwas. Vor so etwas konnten Politiker Angst haben. Wenn sie an das Weltkulturerbe kommen würde, konnte es sein, dass die ganze Menschheitsgeschichte ausgelöscht würde. Ein absoluter Skandal und man konnte sie auch nicht dazu benutzen, andere Leute zu erpressen oder ihre Erinnerungen zu manipulieren. Immerhin würde man damit letztendlich die Menschen auslöschen. Das war es dann mit der Manipulation.

Seishirou klappte die Akte zu. Mehr stand dort nicht. Auf der letzten Seite waren ihre Charaktereigenschaften beschrieben, aber die kannte er schon zur Genüge. Es wäre Zeitverschwendung gewesen, sich das auch noch durchzulesen. Außerdem waren die Seiten schmutzig gewesen, was seine Augen angestrengt hatte.

Schmutzig? Er runzelte die Stirn. Normalerweise waren die Akten sehr sauber, außer die davor hatte durchgedrückt und Spuren hinterlassen.

Er blätterte die Akte erneut auf und fuhr mit den Fingern über die Tintenreste, die auf dem Papier verstreut waren. Er konzentrierte seine Magie darauf. Sie ließ ihn lesen, was dort stand und doch nicht stand. Akte 32 hatte durchgedrückt. Er strich mit dem Zeigefinger weiter herunter, wo Marias Name stand. Er wandelte sich in einen anderen Namen um. Seishirous Augen weiteten sich. Er blinzelte. „Subaru?“

Einige Leute hießen Subaru. Es konnte etwas mit dem Konzern zu tun haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass diese Abteilung der inneren Sicherheit Probleme mit großen Firmen bekommen hätte. Aber nein, als sein Finger auf Marias Nachnamen landete veränderte sich die Schrift zu „Sumeragi“. So hießen wiederum nur sehr wenige Leute.

Seishirou legte die flache Hand auf die Akte und ließ sie zur Nummer 32 werden. Es ging um Subaru. Seinen Subaru, den er seit mehreren Jahren beschattete, dessen Schwester er getötet hatte; das stand sogar gleich auf dem ersten Blatt bei den Kurzinfos.

Seishirou war sich nicht sicher, ob es ihn etwas anging. Aber es wäre doch sowieso bald seine Akte. Er leckte sich den Zeigefinger und hob das Blatt an. Um was genau ging es hier, wenn sogar Subaru davon betroffen war?

Hatte ihn der Telefonmensch nicht erst gestern auf ihn angesprochen?

Womöglich war es eine Falle. Damit er sich bei den Leuten beschwerte und sie sich sicher sein konnten, dass er seinen Nachfolger erwählt hatte. Dann hätten sie agieren müssen. Seishirou schloss die Augen und blätterte um. Was auch immer dort stehen mochte, er musste es wissen. Er wäre nicht so dumm, sich darüber aufzuregen.

Seine Augen klebten auf Seite 2 fest. Was dort geschrieben war, wollte sein eigentlich wieder waches Hirn nicht verarbeiten.

Seishirou blickte auf das Stück Papier herab. Subaru Sumeragi war Teil der Aktion 5 Punkt 3 zur allgemeinen Sicherheit des japanischen und internationalen Volkes in Folge des anstehenden Weltuntergangs.

Er hatte sich immer für intelligent gehalten, doch er konnte nicht sagen, was das zu bedeuten haben sollte. Er las weiter. Dort standen ein paar der Opfer, die er in letzter Zeit getötet hatte, alle mit ihren Aktenzeichen benannt. Aber er erkannte sie wieder. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Er erinnerte sich noch an jeden, den er je getötet hatte. Jeweils mit Aktennummer und das dazu passende Gesicht. Die Namen entfielen ihm in letzter Zeit öfter, doch die Gesichter und die Nummern blieben. 45 – der alte Mann, der ihm so kryptische Nachrichten überbracht hatte.

Geplant ist im Folgenden auch die Eliminierung von 31. Wir haben 04 schon damit beauftragt.

Diese Akte war definitiv nicht für ihn bestimmt. 04 war sein Aktenname und wieso sollten sie ihn nicht direkt ansprechen, wenn er es doch lesen sollte. Seishirou knirschte mit den Zähnen. Der Dampf aus seiner Teetasse stieg ihm vors Gesicht und vernebelte ihm das Blickfeld. Er las weiter.

32 ist der mächtigste Onmyouji Japans, möglicherweise der mächtigste der ganzen Welt; so wie im Moment die Dinge stehen, ist er eine Gefahr für den inneren und gesamten Frieden. 04 scheint zu planen, 32 als Nachfolger in den Beruf des Sakurazukamori zu übernehmen und die Linie 04 damit zu beenden. Wir möchten dem entgegenwirken und hoffen auf ihre Zusammenarbeit. Für die Kooperation werden sie entsprechend Gelder erhalten.

04 ist äußerst impulsiv, falls sie bei der Entführung und/oder Eliminierung auf ihn treffen, fliehen sie unverzüglich. Es ist nicht abzusehen, wie er reagiert, wenn sie 32 bei sich haben und/oder bedrohen. Die Beziehung der beiden ist äußerst schwierig, wie wir schon in anderen Briefen und Konferenzen geklärt hatten. Von beiden Seiten scheint starke Anziehung wie auch Abstoßung auszugehen. Ob sie ein sexuelles Verhältnis haben, ließ sich nicht klären.

Seishirou drehte die Tasse hin und her.

32 leidet seit dem Tod seiner Zwillingsschwester H. –

Seishirou schnaubte. Hokuto war ihnen nicht mal eine Aktennummer wert gewesen. Wenn Subaru das wüsste…

-- leidet seit dem Tod seiner Zwillingsschwester H unter einer andauernden, mittelschweren Depression. Damit einhergehend sind Anfälle von Apathie und Essensverweigerung. Seine Großmutter versuchte ihn mehrmals dazu zu überreden, sich in ärztliche und/oder therapeutische Behandlung zu begeben, doch er lehnte ab. 32 befindet sich auf der Suche nach 04 um diesen zu töten und sich so für den Mord an seiner Schwester zu rächen. Dies ist der offizielle Stand, der den meisten Mitmagiern bekannt ist. Unter den Jüngeren wird es als „modernes Juliette-Drama“ bezeichnet. Ob dies einen Zusammenhang zu Shakespeares Romeo & Julia hat ist ungeklärt, aber wahrscheinlich.

Seishirou konnte ob der Unwissenheit des Autoren dieser Akte nur müde lächeln. Das Juliette-Drama hatte mit Shakespeare und anderen Europäern äußerst wenig zu tun, außer dem definitiv nicht japanischen Namen. Seine Mutter hatte ihm bei einem ihrer seltenen Treffen die Geschichte von Juliette erzählt. Er hatte sie recht amüsant gefunden und störte sich nicht daran, dass man seine Verbindung zu Subaru scherzhaft damit beschrieb.

Inoffiziell gibt es Gerüchte, dass die 04 und 32 eine bestehende Liebesbeziehung pflegen.

Seishirou hustete und spuckte Tee auf die Akte. Er strich seine Krawatte glatt.

Inwieweit diesen Gerüchten man zu Glauben schenken mag ist nicht geklärt. Sie könnten bei eventuellen Verhören herausfinden, wie viel Gewicht man diesen zukommen lassen darf.

Des Weiteren möchten wir Sie bitten, Subaru nicht mit Samthandschuhen anzufassen. Er ist trotz seiner apathischen und freundlichen Art ein gefährlicher Gegner. Lassen Sie sich nicht von ihm beruhigen. Mit dieser Akte erhalten Sie offiziell die Erlaubnis Gewalt gegen 32 anzuwenden. Damit werden auch alle anderen Gesetzmäßigkeiten bezüglich dieser Person aufgehoben. Die Erlaubnis dazu finden sie unterschrieben auf der letzten Seite dieser Akte, inklusive mehrerer beglaubigter Kopien.

Es gab Gesetzmäßigkeiten, wie man Subaru zu behandeln hatte? Seishirou runzelte die Stirn. Für wen oder was war diese Akte bestimmt? In Japan selbst herrschte Einigkeit darüber, wie man Onmyouji gegenübertrat. Es konnte sich nur um jemand fremden handeln, einen Ausländer. Seishirou befeuchtete seine Finger und blätterte auf die letzte Seite.

Der Amerikanischen Behörde zur Magischen Sicherheit wird von der Japanischen Behörde zur Magischen Sicherheit in Anbetracht von 5.3 die volle Gewalt über Person 32, Sumeragi Subaru, übergeben.

Darunter stand aufgelistet, was man mit Subaru nicht hätte tun dürfen vor dieser Erklärung:

1. Dem Sumeragi darf in keinster Weise körperliche oder seelische Gewalt zugefügt werden, weder aus Folter- noch aus anderen Zwecken.

2. Dem Sumeragi muss in jeder Art und Weise Folge geleistet werden; seine Wünsche überstehen der jeder anderen Gewalt.

3. Den Sumeragi zu verführen, beschatten oder sich ins sonstiger Weise außerhalb seiner Arbeit auf körperliche Nähe zu begeben, die A4/07.5 entspricht ist strikt zu unterlassen.

Es stand noch mehr dort, doch Seishirou kannte diese Regeln. Seine Mutter hatte sie ihm eingetrichtert, bei jedem ihrer kurzen, wenigen Treffen. Seishirou knüllte das Blatt zusammen. Es ging in Flammen auf und fiel in Asche auf den Boden, nur um sich wieder zusammenzusetzen und im Ganzen als Marias Akte in dem Ordner zu liegen.

Die Amerikaner also, dachte Seishirou. Zwar hatte er noch immer nicht verstanden, weshalb Subaru eine Gefahr darstellte und was Fünf Punkt Drei für eine Aktion sein sollte, aber dass die Amerikaner nicht zu seinen Freunden gehören würden in der nächsten Zeit war ihm klar. Er stand auf und stellte seine Tasse ab, nahm sie wieder auf und trank einen Schluck, nur um zu merken, dass sie schon leer war. Er ging in die Küche und schenkte sich Tee nach. Irgendetwas lief nicht seinen gewohnten Gang und er wurde dazu benutzt, um alles zu vertuschen. Nur dass er selbst Teil dieser ungewöhnlichen Vorgänge war passte nicht. Der Regierung passte es nicht. Er war eine Gefahr für diese Aktion. Weil sie auch Subaru betraf. Deswegen musste Subaru aus dem Land geschafft werden.

Seishirou schaltete den Wasserkocher ein. Er öffnete die Schublade mit den Teebeuteln und schloss sie wieder, ohne einen herausgeholt zu haben.

Die Regierung war sein Chef; aber sein direkter Vorgesetzter waren immer noch die Sumeragi. Man konnte als guter japanischer Angestellter doch nicht zulassen, dass dem Vorgesetzten etwas passierte.

Er öffnete die Hände und ließ seinen Falken dort erscheinen. Seishirou kraulte den Nacken des Shiki. „Du hast heute etwas sehr wichtiges zu erledigen. Enttäusch mich nicht.“

Der Shiki sprang auf seinen Unterarm. Seishirou öffnete das Küchenfester und ließ den Shiki auf das Fensterbrett hüpfen. „Bis ich dich wieder zurückrufe.“

Der Shiki breitete die Flügel aus. Der Wasserkocher pfiff. Seishirou wandte sich um und schenkte das heiße Wasser in die Tasse ein. Als er den Teebeutel mit den Süßen Früchten herausgeholt hatte, war sein Shiki am Himmel schon nicht mehr sichtbar.

Er ließ den Beutel in die Tasse hängen und zog immer wieder daran. Wasser spritzte auf das Küchenbord. Seishirou starrte den Hängeschrank an. Möglicherweise musste er mehr mit Maria reden, als er geplant hatte. Aber sie hatte Andeutungen gemacht, dass sie mehr wusste. Hatte sie ihm die Akte absichtlich so zukommen lassen? Für einen perfiden Trick war die Sache schon zu lang gelaufen.

Seishirou setzte sich an den Küchentisch und nahm einen tiefen Schluck Tee. Das Wasser brannte seine Pappillen ab.

Ich sollte einkaufen, dachte er.
 

Maria erreichte das Schulgebäude eine Dreiviertelstunde, bevor der Unterricht beginnen würde. Einige Schüler standen schon vor der Schule, andere hatten sich in die Eingangshalle geschlichen, obwohl das eigentlich mal strikt verboten gewesen war. Seit mehreren Jahren achtete keiner mehr darauf. Sie suchte sich einen Weg durch die Halle, der verhindern würde, mit den Oberstuflern zusammenzutreffen. Sie hasste die arroganten Schnösel. Nur weil sie noch keine halbe Ewigkeit in dieser Irrenanstalt ihre kostbare Zeit verschwendet hatte, hieß das nicht, dass man sie einfach durch die Gegend schleifen konnte und für kleinere oder auch größere Einbrüche ins Sekretariat missbrauchen konnte. Wenn sie irgendwo einbrach, dann weil sie selbst etwas dort holen wollte. Gut, hin und wieder konnte man schon nebenbei einen Gefallen erledigen.

Sie schlich sich hinter John, einem Austauschschüler der Abschlussklasse, durch und machte sich auf den Weg in den Hinterhof. Dort würde ihre beste Freundin schon darauf warten, dass sie ihr endlich erzählte, wie das mit dem neuen Onkel denn so wäre. Maria konnte es kaum abwarten, es ihr zu erzählen. Und sich über den Kerl aufzuregen. So einen kindischen Erwachsenen hatte sie ihr ganzes Leben noch nicht gesehen und sie lebte für eine Jugendliche schon verdammt lange.

„Hey“, sagte eine männliche Stimme hinter ihr.

Maria stöhnte genervt und blieb stehen. Wenigstens ist es kein Lehrer, dachte sie. Dennoch entfleuchte ihr noch ein Stöhnen und ein leises Seufzen, als sie sich umdrehte und sah, wer da hinter ihr stand. Es war Shin. Sie hasste ihn mehr als jeden anderen an dieser Schule. Ihre Parallelklasse war sowieso das schlimmste, was es auf dieser Erde geben konnte. Aber Shin war die absolute Krönung für diese Chaotentruppe.

Maria verschränkte die Arme und stellte sich breitbeinig hin. Bloß keine positive, süße Ausstrahlung haben. Das war ein Feind. Ein so mächtiger, nervender Feind, dass sie nicht mal ihre üblichen Bambitricks anwenden mochte. Er durchschaute sie sowieso sofort. Da war er noch eiskalter als ihr neuer Aufpasser. Sie grinste. Shin hatte die gleichen goldenen Augen wie Seishirou – nur zwei Stück davon, nicht nur eins. Sie verzog das Gesicht.

Shin grinste sie breit an. Seine Zähne waren weiß wie eklige, geschmackslose Zahnpasta. „Was machst du denn schon wieder so früh hier, Marre?“

„Nenn mich nicht ‚Marre’, das ist nicht mein Name. Falls du zu doof bist, ihn dir so zu merken: Sprich mich einfach nicht mehr an.“ Sie war dabei, sich wieder umzudrehen, aber Shin hielt sie an der Schulter fest. Sie zog eine Augenbraue hoch. „Was denn? Hab ich was verbrochen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Also, wenn du mich nicht beim Direx verpetzen willst, dann kannst du mich ja jetzt loslassen. Sonst schreie ich nämlich gleich, du Perverser.“

„In meiner Tätigkeit als Schülersprecher muss ich darauf achten, dass…“

„Was? Was musst du? Du musst gar nichts.“ Sie schob seine Hand von ihrer Schulter.

Shin presste die Lippen aufeinander. Seine Brille rutschte ihm über den Nasenrücken bis zur Spitze. Er schob sie wieder zurück.

„Maria, hör doch bitte mal auf mich…“

„Nein, das werde ich nicht!“ Sie streckte ihm die Zunge heraus. „Wer auf dich hört, der hat sie doch eh nicht mehr alle. Ich versteh immer noch nicht wie du Schülersprecher werden konntest.“ Dabei hatte sie ihn selbst gewählt. Aber es gab Dinge, die musste nicht jeder wissen. Speziell nicht Shin.

„Nun ja, bestimmte Positionen will keiner beziehen und irgendeiner muss es ja schließlich tun.“ Er seufzte.

„Och, jetzt tust du mir aber leid.“ Nur noch eine halbe Stunde trennte sie von der ersten Kunststunde. Sie hatte keine Zeit mehr für den Vollidioten.

Eric, ein anderer Austauschschüler näherte sich den beiden. Maria wedelte mit der Hand, um ihn zu vertreiben. Es brachte nichts.

Eric stellte sich neben sie. „Shin, wen hast du denn da? Das wird doch nicht die Unerträgliche sein, ja doch, das ist sie!“ Er lachte laut.

Shin verdrehte die Augen. „Du solltest auch nicht hier herumrennen. Ich hab den Auftrag von den Lehrern erhalten, wenigstens die Jüngeren morgens vom Schulgelände zu halten.“

„Verstehe“, sagte Eric.

„Ich nicht“, sagte Maria. „Wenn ich draußen von nem Auto überrollt werde, weil ich nicht auf dem sicheren Schulhof sein durfte, ist das nicht irgendwie ziemlich, na, doof halt?“ In Shins Anwesenheit fielen ihr nicht viel mehr Adjektive als ‚blöd’ und ‚doof’ ein. Für den Moment war das aber auch völlig ausreichend. Außerdem schien er ihr gar nicht mehr richtig zuzuhören. Falls er das je getan hatte. Er starrte Eric feindselig an, der sich bei Maria angelehnt hatte.

Sie störte das nicht. Dass sich ein hübscher Franzose bei ihr anlehnte war etwas, über das sie sich freute. Damit konnte sie vor ihren Freundinnen angeben, die nicht ihre richtigen Freundinnen waren.

„Geht wenigstens in den Hof, ja? Die Lehrer bringen mich um, wenn sie euch hier sehen.“

„Ja ja, da wollte ich eh hin“, sagte Maria. Sie lächelte und machte einen Knicks. Verdammt, was bin ich wieder höflich!, dachte sie.

Eric steckte die Hände in die Hosentaschen und trottete schweigend davon.

„Was findest du nur an ihm? Bloß weil er ein Ausländer ist…“

Maria ließ die Schultern hängen. „Was geht’s dich an? Nur weil du dich nicht traust, Mädchen anzutatschen. Ist doch nicht mein Problem. Such dir nen Jungen, vielleicht fällt dir das ja leichter.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Shin lief tiefrot an und fing an zu stottern. Wenn es um unkonventionelle Liebe und Lebensweisen im Allgemeinen ging war er ziemlich empfindlich.

„Oh Mann, Shin, du bist so egro.“

„E-e-egro?“

„Bis später!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, täuschte einen Kuss an und schlug ihm anstatt mit der geballten Faust auf die Brust. Shin taumelte ein paar Schritte zurück. Er musste sich erst mal wieder fangen auf den ganzen Schreck. Maria nutzte die Situation und flüchtete sich in den Hinterhof. Hoffentlich hatte Kyoko nicht schon die Lust verlassen zu warten. Maria musste einfach loswerden, was ihr gestern und vor allem an diesem Morgen alles passiert war.

Maria blieb vor den Schaukeln stehen und sah sich um. Nirgends war Kyoko zu entdecken. Sie trafen sich immer hier, wenn sie reden wollten. Dann schaukelten sie, entweder zusammen auf einer oder sie teilten sich auf die zwei Schaukeln auf. Jetzt war Kyoko nirgends zu sehen. Hatten sie einen anderen Ort ausgemacht? Maria konnte sich nicht daran erinnern. Sie stellte sich auf eine der Schaukeln, hielt sich gut fest und begann zu schwingen. Maria flog immer höher und schaute nach rechts, links, rechts. Wo ist sie denn nur?, dachte sie.

Sie sprang von der Schaukel und ging um eine Betonwand herum. Shin sollte lieber mal was gegen die Graffitis machen, statt mir auf die Nerven zu gehen.

„Hier auch nicht“, sagte sie. Maria lehnte sich an die Wand und rutschte ein Stück daran herunter. Sie schob die Unterlippe vor. Gestritten hatten sie sich zuletzt vor zwei Wochen und hatten sich dann ziemlich schnell wieder vertragen. Oder war es ein morgendliches Versteckspiel? Dafür waren sie eigentlich zu alt. Außerdem hatte Maria Kyoko vorgewarnt, dass sie sich vielleicht ganz furchtbar fühlen würde und Beistand bräuchte. Kyoko hatte nur gelacht – „du und Beistand? Du bist Miss Tough!“

Maria lächelte in sich hinein. Sie stieß sich von der Wand ab und suchte weiter nach Kyoko. Hinter der Mensa hatten sie sich damals immer getroffen, als sie frisch an der Schule waren. Bis sie dann auf die harte Weise lernen mussten, dass das die Knutschecke war und kleine Kiddys dort nicht willkommen waren.

Maria zuckte mit den Schultern. So früh am Morgen war eh noch keinem nach Knutschen zu mute. Sie ging um das Hauptgebäude herum und war in wenigen Minuten vor dem Mensahäuschen angekommen. Sie streckte den Oberkörper um die Ecke. Was sie sah, nahm ihr erst mal den Atem.
 

Kyoko wurde von einem Jungen an die Wand gedrückt. Eine Hand hatte sie in seinem Haar vergraben, die andere umfasste seinen Gürtel. Sie hatte die Augen geschlossen.

Maria schlug sich die Hand vor den Mund. Der Junge war Kitagawa, der Vize des Schülersprechers. Er war zwei Klassen über ihnen und einer der beliebtesten Jungs der Schule. Maria beschloss abzuwarten, bis Kyoko und Kitagawa ihre Knutschsession abgeschlossen hatten. Sie verkroch sich wieder ganz um die Ecke und hielt die Luft an. Irgendwie war ihr nicht nach atmen.

Dann hörte sie, wie zwei Menschen scharf Luft einzogen. Jetzt sind sie bestimmt fertig, dachte sie.

Maria hüpfte aus ihrem Versteck hervor und zeigte auf die beiden. „Erwischt!“

Kitagawa machte einen Satz zurück und kreischte wie ein kleines Mädchen. Kyoko schmunzelte, bekam aber trotzdem auch rosa Wangen. Maria beneidete sie augenblicklich um ihre natürliche Süße. Ihre Mutter sagte immer zu ihr: „Wenn Kyoko der Zucker ist, bist du der Zuckeralkohol!“ Bevor sie Chemie gehabt hatten, hatte sich Maria darüber gefreut. Inzwischen nicht mehr.

„Kitagawa, jetzt steh da nicht wie ein zitternder Teddybär, der sich in die Hosen gemacht hat!“ Maria stach ihm ihren Ellenbogen in die Magengegend.

Obwohl Kyoko das Gesicht verzog, eilte sie ihrem Freund nicht zur Hilfe. Falls es denn überhaupt ihr Freund war. Maria musste sie ausfragen, sobald er weg war. Wenn er sich denn jemals wieder ohne Hilfe würde bewegen können. Er starrte Maria aus weit aufgerissenen Augen and und bekam nichts heraus.

Maria sah zu Kyoko. „Ist der immer so?“

Kyoko schüttelte den Kopf. Sie ging zu Kitagawa und tätschelte ihm mit einem mitleidigen Blick den Arm. Sie schob ihn etwas zur Seite, aber er stolperte mehr, als dass er ging. Kyoko runzelte die Stirn. „Ich ruf dich später an, okay?“

Kitagawa schluckte schwer und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

Maria fuhr ihm darüber. „Hast du nicht gehört, Kitty? Sie ruft dich später an.“

Kyoko kicherte leise, wahrscheinlich über den Spitznamen ‚Kitty’.

Kitagawa atmete tief ein und plusterte sich dabei so enorm auf, dass er schwanger aussah. Seine Rippen anzuheben bekam er irgendwie nicht hin, stattdessen blähte sich sein Bauch auf und seine Schultern sahen aus wie hochgerissen.

Maria umarmte Kyoko und machte „kusch, kusch“ in seine Richtung.

„Heute Nachmittag muss ich mit Shin zur Lehrerkonferenz.“

„Alles klar.“ Kyoko legte die Hände über Marias. „Dann ruf einfach du mich an, wenn du Zeit und Lust dazu hast, okay?“

„Okay“, sagte Kitagawa. Er bedachte Maria mit einem skeptischen Blick.

Sie erwiderte den Blick mit herausgestreckter Zunge. „Zisch ab, jetzt müssen wir Mädchenkram klären. Oder willste mit anhören, wie wir über deine schlechte Knutschfähigkeit lästern?“

„Nein“, sagte Kitagawa, drehte sich um und verschwand im Schulgebäude.

„Wetten, Shin jagt ihn gleich wieder raus?“

„Er ist doch Vize“, sagte Kyoko. „Da wird er ihn eher um Hilfe bitten, meinst du nicht?“ Sie drehte sich in Marias Umarmung um und sah sie an.

Maria drückte Kyoko fest an sich. „Mann, ich bin soooo froh dich endlich gefunden zu haben!“

„Wieso denn das? Kein so guter Start, hm…“ Kyoko legte die Hände an Marias Wangen.

„Gestern ging es eigentlich, aber heute Morgen wollte er mir nichts zu essen geben.“ Maria seufzte. „Gestern Abend hab ich für uns beide gekocht. Der scheint nicht viel zu essen. Zumindest nix Gesundes.“

„Na, du wirst das sicher sehr schnell ändern, oder?“

„Darauf kannste aber was verwetten!“ Maria lachte. „Bevor wir allerdings zu dem Thema kommen muss ich uuuunbedingt noch was wissen!“

„Ja?“ Kyoko legte den Kopf zur Seite.

Maria sah sie ernst an. „Bist du mit Kitagawa zusammen?“

„Hmm“, machte Kyoko. Sie starrte den Boden an. „Vielleicht. Ich weiß nicht so recht.“

„Will er?“

„Er will“, sagte sie und seufzte. „Aber ob ich möchte, weiß ich noch nicht so genau. Er ist nett und übrigens küsst er gar nicht schlecht…“

Maria knirschte mit den Zähnen. Sie wurde noch nie geküsst!

„… aber er ist eben auch der Vize. Und irgendwie anstrengend. Du hörst es ja, er muss zur Lehrerkonferenz. Ich weiß nicht, ob ich so nen Freund will.“

„Also ich finde, er passt gar nicht zu dir.“ Maria nickte.

„So würde ich das jetzt nicht sagen.“ Kyoko lehnte ein Bein an die Außenwand der Mensa.

Es roch nach Öl und dem Fisch von gestern. Maria setzte sich auf den Boden neben den Mülltonnen. Während des Mensabetriebs lagen dort Tücher aus, deswegen war der Boden dort meist trocken und immer sauber. Sie streckte die Beine aus. „Wie sagst du’s dann?“

„Es könnte sein, dass sich da ein paar Differenzen ergeben.“

„Woah, wie geschwollen du redest. Färbt er auf dich ab?“

Kyoko hielt sich eine Hand vor den Mund und lachte leise. „Wer weiß. Hoffentlich nicht allzu sehr, sonst springe ich demnächst auch noch durch die Gegend, nur weil ich beim Knutschen erwischt wurde.“

„Er ist total superschüchtern“, sagte Maria. „Das würde ich nicht aushalten.“

„Ja, hast ja Recht. Ich muss halt mal schauen. Wir haben das nicht mal drei Tage richtig am Laufen. Lass mir ein bisschen Zeit um ihn auszutesten.“

Auszutesten, das klang schon wieder fieser. Wie Maria Kyoko vom Kindergarten her kannte. Sehr süß, sehr nett, aber mindestens genauso intrigant wie Maria. Nur dass sie im Gegensatz zu Maria nie extremere Sachen von sich aus plante. Es fiel ihr einfach ganz natürlich zu. Genau wie die ganzen hübschen männlichen Bekannten. Seit sie in die Mittelstufe gingen, liefen alle Jungs Kyoko nach wie die Motten dem Licht. Maria hatte das Glück nicht. Die Kerle fanden sie gruselig und zu männlich. Dass sie in Liebesdingen nicht halb so kalt war wie Kyoko, das interessierte wieder keinen.

Bei Kyoko hatte noch keine Beziehung länger als zwei Monate überlebt und meistens hatte sie die Jungs so eiskalt abserviert, dass die danach die Schule gewechselt hatten. Einer hatte sogar vom Schuldach springen wollen. Kyoko hatte sich strikt geweigert, den Trottel davon abzubringen. Genau deswegen mochte Maria Kyoko so. Bei ihr musste sie nie ein schlechtes Gewissen haben. Denn Kyoko war ja schließlich auch nicht besser, wenn auch in einem… wie mochte man sagen? Medium. Was sie betrieben war ja fast eine Kunstform.

Kyoko setzte sich auf Marias Bauch. „Jetzt bist du mit erzählen dran, Maria.“
 

„Wo soll ich da bloß anfangen?“ Maria legte den Kopf auf den kühlen Stein. „Also er ist ungefähr so, wie ich ihn mir vorgestellt habe.“

Kyoko rückte ihren Rock zurecht. „Was meinst du denn damit? Wie ein alter Sack eben?“

Maria lachte; Kyoko wurde davon durchgeschüttelt. „Nicht so ganz. Er ist sooo süß naiv. Irgendwie. Verstehst du?“

Kyoko schüttelte den Kopf. „Wie kann der denn naiv sein, mit seinen fast vierzig Jahren?“

„Ganz so alt isser nun auch wieder nicht.“

„Aber fast! Hast du selbst gesagt.“

Das hatte sie vor einer Woche tatsächlich erzählt. So hatte sie sich das auch vorgestellt. Dass er eher so wirkte wie knapp vierzig. Aber nachdem sie ihn jetzt kennen gelernt hatte, wirkte er ja wie ein Fünfjähriger im Körper eines erwachsenen Mannes. Maria blies die Backen auf. „Mhm“, machte sie.

„Also hattet ihr keinen so guten Start?“, sagte Kyoko.

„Wie man’s nimmt. Er hat mich schon mal nicht umgebracht.“

„Wieso sollte er?“

„Das ist sein Auftrag“, sagte Maria. Kyoko wusste von ihren Kräften. Aber davon, dass sie umgebracht werden sollte, hatte Kyoko bisher noch nichts gewusst. Maria war gespannt auf die Reaktion gewesen, doch sie schien auszubleiben. Kyoko starrte sie nur mit zusammen geschobenen Brauen an. „Mich zu töten“, fügte Maria hinzu.

„Das ist lächerlich“, sagte Kyoko. Sie rutschte von Marias Bauch und legte sich neben sie.

Maria wandte den Kopf zu ihr. „Ist es das? Du weißt doch, was ich kann. Die Regierung mag das eben nicht so.“

Kyoko zog die Schultern an. „Ich weiß nicht. Du bist doch erst dreizehn. Da muss man noch niemanden umbringen.“

„Das wird er auch nicht machen.“

„Wieso ziehst du bei ihm ein, wenn er dich umbringen soll?“

„Weil er es erst mal nicht tun soll. Wo bin ich also sicherer, als bei ihm?“

Kyoko lachte trocken. „Und wenn er es sich anders überlegt? Kann mir nicht vorstellen, dass ein – oh mein Gott! – ein KILLER besonders viele Nerven hat für eine Type wie dich!“ Sie setzte sich abrupt auf.

„Besonders der nicht.“ Maria tat es ihr gleich. Sie streckte eine Hand aus und legte sie auf Kyokos Rücken.

Kyoko zuckte zusammen. „Warum solltest du das dann machen? Ich versteh das nicht. Das ist alles totaler Unsinn.“

„Ich kenne seine Geschichte“, sagte Maria leise. „Und ich möchte ihm helfen.“

Kyoko lehnte den Kopf an ihre Schulter. „Wie ist denn seine Geschichte? Warum willst du überhaupt jemandem helfen? Das ist alles total sinnfrei.“ Sie schloss die Augen. „Du schwindelst mich an. Ich dachte, wir könnten uns alles sagen?“

„Das können wir auch!“ Was war denn bloß in Kyoko gefahren?

„Ist er dein Geliebter?“

Maria riss die Augen weit auf. „Er ist schwul!“

„Wie?“ Kyoko hob den Kopf und sah sie an. „Ein schwuler Meuchelmörder? Wie geht denn so was.“ Sie prustete.

„Na ja, pink würde ihm stehen, aber er hat nur schwarz im Schrank.“ Maria grinste. Vielleicht fing sich Kyoko ja jetzt wieder. Oder was war nur ein Trick, um ihr Angst zu machen. Genau. Das war es wohl gewesen.

„Willst du nicht lieber bei mir wohnen?“

Maria senkte den Kopf. Sie hatte immer bei Kyoko übernachtet, wenn sie sonst hätte alleine in der großen Villa sein müssen. Es war immer schön gewesen. Sie schmunzelte, als sie sich an ihren ersten Kuss erinnerte, der aber nicht zählte, weil es ja – etwas anderes gewesen war, als es sein sollte. „Nein“, sagte Maria. „Ich muss das erledigen. Sonst werde ich wirklich bald sterben.“

„Blödsinn“, sagte Kyoko und seufzte. „Aber wenn du meinst. Abhalten kann ich dich ja sowieso nicht.“

„Davon nicht, nein. Von allem anderen, ja.“

„Gut“, sagte Kyoko.

Sie fasst sich doch sonst nie so knapp, dachte Maria. Die Schulglocke schrillte und sie hatte keine Zeit mehr, weitere Gedanken darüber zu machen, warum sich ihre beste Freundin ganz anders benahm als üblicherweise.

Kyoko sprang auf die Füße und streckte sich. „Was haben wir noch mal in der ersten Stunde? Irgendwas nerviges, mehr weiß ich nicht mehr.“

Maria griff nach Kyokos Rockzipfel und zog sich ins Stehen. „Wir haben Kunst bei der alten Knatterschachtel. Wetten, ich hab für mein Bild wieder ne glatte Sechs gekriegt? Die hat doch was gegen mich.“

„Ja, kann sein“, sagte Kyoko. „Gehen wir.“

Maria griff nach Kyokos Hand und drückte sie. „Bist du mir böse?“

Kyoko lächelte schief. „Wir kommen zu spät, Maria.“

„Ja“, sagte Maria. Sie fühlte sich irgendwie ganz und gar elend.

„Nun mach nicht so ein Gesicht.“ Kyoko küsste ihre Schläfen. „Wir haben keinen Streit. Ich muss das nur erst mal verdauen. Verstehst du das?“

„Irgendwie nicht so richtig, und dann aber doch. Ja, total.“ Maria ließ die Mundwinkel hängen. Was sie gerade erzählt hatte, hätte wohl fast jeden geschockt. Außer ihren neuen Aufpasser, den fast gar nichts zu schocken schien; abgesehen davon, wenn man sich in eine bestimmte Person verwandelte und sich ein wenig aufreizend gab. „Tut mir leid. Ich wird dir Zeit geben, das zu verdauen.“

„Danke“, sagte Kyoko. „Ich hab keine Lust auf Kunst, und du?“

Maria runzelte die Stirn. „Willst du schwänzen?“

„Hm, wir brauchen die Noten, aber wir haben sie ja jetzt eh schon. Also…“

„Könnte man sich ja mal frei nehmen.“

„Ist das ne Doppelstunde?“

Maria nickte. Danach hatten sie große Pause. Also mindestens drei Stunden freie Zeit, in der sie sich in ein Fastfood-Restaurant setzen und sich voll schlagen konnten. Marias Magen grummelte laut.

Kyoko lachte. „Also verziehen wir uns.“

„Lass und lieber nicht durchs Hauptgebäude gehen. Nachher hält uns Shin noch auf, oder nimmt uns gleich gefangen.“

„Ieh“, machte Kyoko. „Nein, dann schleichen wir uns halt raus. Wir kennen die Geheimwege ja.“

Maria huschte mit Kyoko um die Fahrradständer. Massen von Schülern bremsten ihre Räder und schlossen sie fest. In der Menge gingen zwei Dreizehnjährige wie sie beide völlig unter. Es interessierte niemanden, in welche Richtungen die jeweils anderen liefen, selbst wenn man sich kannte.

Maria kletterte nach Kyoko über die Mauer. Sie war auf der anderen Seite kaum zwei Meter hoch. Maria kam sanft auf dem Bordstein auf.

„Ich geb dir was aus. Wenn du noch kein Frühstück hattest, ist das ja jetzt perfekt, oder?“

Maria legte einen Arm um Kyokos Hüfte. „Da sagst du was Wahres, Schwester.“

„Sag ich doch immer.“

„Nicht immer“, entgegnete Maria, „aber immer öfter.“

Die beiden lachten. Maria war von dem Frieden noch nicht völlig überzeugt.
 

Der Vogel war von edlem Gemüt, das war, weshalb er wusste, wie man sich versteckt hielt, selbst wenn einen einer finden wollte. So flog er über dem jungen Mann, ohne dass dieser merkte, ja da war ein Vogel, der ihn beobachtete.
 

Subaru Sumeragi faltete die Hände und schloss die Augen. Seine Stirn war in Falten gelegt. Er konzentrierte sich wohl gerade stark. Der Geist, den es zu exorzieren galt, verhielt sich wenig rühmlich. Er kreischte und sauste Subaru um die Ohren. Subaru schien das nicht zu stören, er betete weiter leise sein Mantra, während die Frau, die ihn angeheuert hatte, heulend in der Ecke saß. Ihre Schultern ruckten immer wieder auf und ab.

Der Shiki verdrehte den Kopf wie eine Eule, obwohl er keine war.

Subaru atmete tief aus. Er hatte es geschafft, der Geist war im Jenseits verschwunden.

Der Shiki schlug mit den Flügeln, als sich Subaru bei der Frau verabschiedete, ihr Haus verließ und zurück auf die Straße ging. Seishirous Falke hatte Subaru den ganzen Morgen über verfolgt, aber es war ihm bisher noch nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Er setzte sich auf einen Ast und wartete, was Subaru weiter tun würde.

Subaru zündete sich eine Zigarette an. Er blies den Rauch in die kalte Luft. Die Wirkung war enorm.

Der Shiki hüpfte auf und ab. Es wurde ihm langsam langweilig. Er hoffte darauf, dass Seishirou ihn alsbald zurückpfeifen würde. Subaru ging es gut, er wurde nicht beschattet. Nur Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er hatte sich wohl so anstrengend müssen bei der Arbeit, dass ihm nun ganz schwach war.

Dem Shiki wurde nie schwindlig vor Anstrengung, auch war er nicht mehr in der Lage, Mitleid zu empfinden, als es sein Herr und Meister war. Sehr wohl konnte er aber ausmachen, dass es ein Schandfleck auf der schönen reinen Haut war. Dagegen war nur leider nichts zu machen. Es war nur Wasser, es würde verdampfen. Aber er war ein Shiki und hatte das Gehirn eines Vogels – so weit konnte er dann doch nicht denken.

Er breitete die Flügel aus und folgte Subaru die Straße hinunter. Subaru bemerkte den Vogel immer noch nicht, obwohl der Shiki für ihn hätte einen sichtbaren Schatten werfen müssen. Er konnte solche Wesen problemlos wahrnehmen. Das war sein Job und seine Berufung. Außerdem war dieser Shiki einer, den er hätte unbedingt sehen wollen.

Der Shiki hätte sich auf Subarus Schulter setzen können und der hätte ihn wohl immer noch nicht bemerkt. Er war ein guter Shiki, der beste vielleicht. Auch wenn er immer wieder zu diesen degradierenden Arbeiten geschickt wurde. Bei seinem Herr war das ein Zeichen der Anerkennung, also tat der Shiki, wie ihm geheißen wurde, selbst wenn das bedeutete, unendliche Langeweile zu erleben. Und das stundenlang.

Subaru warf die Zigarette auf den Boden und betrat einen Laden, der gekochte Nudeln verkaufte. Der Shiki las das Schild und merkte sich, was darauf stand, auch wenn er nicht lesen konnte. Das musste er nicht, um ein photographisches Gedächtnis zu haben. Die schöne rote Farbe gefiel ihm. Wie Blut, dachte der Vogel. Subaru würde jetzt etwas essen, aber in dem kleinen Laden war es zu eng. Der Shiki war dazu verdammt, draußen auf einem Baum darauf zu warten, dass Subaru aufgegessen hatte, sich satt den Bauch rieb und zum nächsten Job ging. Falls denn Seishirou nicht den Shiki in der Zwischenzeit von der Langeweile erlösen mochte.

Er versuchte immer mal wieder einen Blick ins Innere des lecker riechenden Ladens zu erhaschen, aber wenn er es versuchte, fiel er beinahe von dem dünnen Ast und so ließ er es meistens sein.

Der Shiki schüttelte sein Gefieder. Er war zwar nur ein Geistwesen und existierte nicht so wie es normale Tiere taten, aber auch ihm konnte kalt werden und der schneidende Wind fuhr ihm durch die Federn bis tief in die Daunen. Der Shiki zog den Kopf ein und schob die Flügel vor. Es war viel zu frisch, um sich einfach nur mit nichts zu beschäftigen. Er hatte aber einen Auftrag und er musste bleiben. Von alleine zurückzukehren kam nicht in Frage. Er konnte es auch gar nicht. Das wäre gegen den Willen seines Herrn gewesen und Shikis war es von Grund auf verboten, diesem Willen zu widersprechen. Immerhin war der Shiki ein Teil des Herrn, wenn auch einer, der normalerweise tief versteckt lag.

Der Shiki hüpfte näher an den Baumstamm heran, wo er besser von den Blättern geschützt wurde. So war ihm gleich viel wohler in seiner Haut. Das Rascheln machte ihn schläfrig. Er blinzelte, immer ein wachsam offen gehaltenes Auge auf dem Eingang des Nudelsuppengeschäfts. Er durfte Subaru nicht verlieren. Zwar hätte er ihn immer wieder finden können, wegen den Pentagrammen, die keinen Handschuhschutz mehr hatten, aber das wäre ihm zu anstrengend geworden bei der Kälte. Seine magischen Kräfte waren ohnehin schon stark ausgereizt, weil er so aufpassen musste, dass Subaru ihn nicht doch noch entdeckte.

Dem Shiki wurde ganz schwer im Körper. Immer wieder senkte er den Kopf vor und fiel fast vom Ast. Er war schrecklich müde. Sein Herr erledigte gerade seine Arbeit und entzog ihm wichtige Energiereserven. Wenn sein Herr tötete, brauchte er viel Magie und Konzentration. Dem Shiki wurde immer schwindliger. Er versuchte zu hüpfen, aber seine Beine waren viel zu schwer und so gelang es ihm nicht. Er rutschte aus und segelte auf den Boden, als wäre er ein Laubblatt. Ihm fielen die Augen zu und seine Brust hob und senkte sich stetig. Jemand trat an ihn heran und sagte: „Ein Falke?“ Der Mann schob den Shiki mit dem Fuß auf den Rücken. Der Shiki versuchte den Mann anzublicken, aber er fühlte sich immer schwächer. Gleich würde er sich in Luft auflösen. Wenn das ein normaler Mensch sah, würde er Ärger bekommen.

Der Mann ging in die Hocke und packte den Shiki am Flügel. Der Shiki kreischte und zappelte – das fiel auf, die normalen Menschen drehten sich alle zu ihnen um. Einige schüttelten den Kopf und murmelten, wie man einem Tier so etwas antun konnte. Andere hatten zuviel Angst vor dem Raubvogel und schrieen aufgeregt, dass der Shiki dem Mann gleich das Auge ausstechen würde, dass er ihn loslassen solle.

Aber der Shiki wurde nur locker in der Hand des Mannes. Die Magie dieses Menschen betäubte ihn. Er spürte noch, wie ihm eine Feder ausgerissen wurde, dann merkte er gar nichts mehr.

Der Schultag war einer der ätzenden ihrer ganzen Schulgeschichte gewesen. Maria trat die Eingangstür des Sakurazukamori-Anwesens mit der Tür auf und brüllte durchs Haus: „Bin wieder dahaaaa, wer no-hooooch?“

Es kam keine Antwort, aber sie hörte es im Wohnzimmer rumpeln. Sie musste sich zwar erst orientieren, fand den Weg dorthin dann aber doch recht schnell.

Seishirou lief hin und her. Er schien etwas beschwören zu wollen, doch es gelang ihm offenbar nicht. Maria verschränkte die Arme. Bemerkte er sie denn gar nicht? Das konnte es nicht sein… er hielt sie vielleicht für so ungefährlich, dass man sie nicht begrüßen musste, wenn sie den Raum betrat. Immerhin, sie war ja auch nur seine Arbeit, nicht seine kleine Schwester oder etwas in der Art. Trotzdem machte es Maria wütend, wie sie von ihm ignoriert wurde.

Sie setzte sich rittlings auf die Sofalehne und stemmte die Hände in die Hüften. Seishirou lief immer noch an ihr vorbei. Seine Stirn lag in Zornesfalten. Maria schob die Brauen zusammen. War er etwa wütend? Es sah ganz danach aus. Er lief eilig hin und her, als würde er über etwas nachgrübeln. Wenn er wirklich keine Gefühle haben sollte, oder das zumindest angeblich so supergut vorspielen konnte, dann war das wirklich peinlich. Noch offensichtlicher ging es ja gar nicht!

„Du bist sauer“, sagte sie.

Seishirou hielt inne. Dann lief er noch ein paar erzürnt schnelle Schritte und drehte sich letztlich zu ihr um. „Guten Tag“, sagte er. Seishirou versuchte sich an einem höflichen Lächeln.

Maria prustete, verhielt es sich aber gleich wieder. Er war sauer und noch mehr auf die Palme bringen wollte sie ihn dann doch nicht. Wer wusste schon, weshalb er so wütend war. Wenn es etwas mit der Arbeit zu tun hatte, mochte sie Glück haben und verschont bleiben. Wenn es etwas mit Subaru zu tun hatte, würde der alte Kerl vielleicht total ausflippen und sie doch im Affekt umbringen! Das traute sie ihm schon zu, auch wenn er ein Riesenbaby war. Wie er da stand und sie mit großen, verwunderten Äuglein anblinzelte.

Maria rutschte von der Lehne aufs Sofa herunter. Die Sitzkissen polsterten ihre Ankunft weich ab. „Hallo. Was ist passiert? Du siehst so wütend aus.“ Das verwirrt ließ sie sicherheitshalber erst mal weg. Nachher war er deswegen noch beleidigt. Immerhin war er ja der gro-hooooße Sakurazukamori. Maria schmunzelte.

„Wie war die Schule?“, sagte Seishirou.

Maria setzte sich breitbeinig hin und sagte: „Scheiße war sie. Wie Schule eben so ist.“ Und sie hatte sich mit Kyoko gestritten. Irgendwie, auch wenn diese behauptete, es wäre ja gar kein Streit. Maria hatte da etwas anderes im Gefühl. Aber jetzt war sie bei Seishirou und der wirkte richtig angepisst, nicht wie Kyoko versteckter weise angesäuert – herbe wütend war der Mann. Auch wenn er noch so süßlich lächelte. „Erzähl mal, was ist dir schlimmes passiert? Hat dir jemand den Schnulli geklaut?“

Seishirou räusperte sich. „Ich bin nie im Besitz eines – wie sagtest du? – Schnullis gewesen.“

„Wisch dir das dämliche Grinsen mal aus dem Gesicht.“ Maria stand auf und stach ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. „Es ist doch was passiert. Jetzt erzähl es mir schon, oder willste, dass ich die Erinnerung daran aus dir raushole?“

Seishirou schien darüber nachzudenken. Das hatte Maria nicht erwartet. Er musste doch ihre Akte gelesen haben. Wie konnte er es da auch nur in Erwägung ziehen, sie seine Erinnerungen herausziehen zu lassen! Nicht dass sie eine Chance gegen seine Magie gehabt hätte.

„Nun?“, sagte sie mit bebender Stimme. Sie war nervös, verflucht!

„Nein“, sagte Seishirou ruhig. Wenigstens hatte ihn das nicht noch mehr aufgeregt. Im Gegenteil. Maria beobachtete ihn neugierig. Er setzte sich auf den Wohnzimmertisch und faltete die Hände. Er wirkte sogar ruhiger als zuvor. Maria sog die Backen zwischen die Zähne. Der Kerl war echt krass merkwürdig.

„Es ist tatsächlich etwas passiert“, sagte er. „Was dich im Grunde genommen überhaupt nichts angeht. Du bist Teil meiner Arbeit.“

„Und deine Mitbewohnerin!“ Sie reckte eine Faust in die Luft. „Alsoooo… werde ich sowieso alles mögliche über dich raus finden. Auch, was dich gerade so beschäftigt. Du siehst aus wie n Paket saure Milch. Ein ganzes Paket!“

Seishirou lehnte sich vor. Maria lehnte sich zurück. Dass er von sich aus so nahe kam, war ihr nicht geheuer. „Du kannst also Erinnerungen aus Leuten herausholen, ja?“

Maria schluckte schwer, ehe sie imstande war zu nicken.

„Auch aus anderen Dingen?“

„Ja, alle möglichen Gegenstände, Tiere, chemische Elemente… wobei die manchmal voll verstrahlt sind.“ Sie lachte und ihre Stimme hüpfte dabei. Ihre Finger krampften sich in die Sitzkissen. „Wieso fragst du?“

„Ginge es auch bei anderen Sachen?“

Maria runzelte die Stirn. Hatte sie gerade nicht alle möglichen Dinge aufgezählt, die es so auf der Welt gab? „Wie jetzt? Bei Planeten?“

Seishirou schmunzelte; Maria gefroren alle Arterien im Körper.

„Nein“, sagte er. „Bei magischen Wesen zum Beispiel. Geister, Vampire, Werwölfe, Meerjungfrauen. Märchenkram eben.“ Er lächelte breit und zeigte dabei eine gesund wirkende Zahnreihe, die Shins Konkurrenz machte.

Maria umarmte sich selbst. Ihr war verflucht kalt. „Ich hab noch nie Vampire, Werwölfe oder Meerjungfrauen getroffen, aber bei Geistern geht es.“ Sie hatte schon einigen so damit geholfen, ins Jenseits überzutreten. Das war kein richtiger Exorzismus, aber wenn sonst keiner zur Hilfe schreiten wollte, warum nicht sie?

„Bei Shikis auch?“

Das Wort kam ihr bekannt vor, aber der Groschen fiel nicht. „Ich denke doch.“

„Weißt du, was Shikis sind?“

„Äh“, sagte sie und lächelte entschuldigend. „Nicht so richtig?“

Seishirou öffnete die Handflächen und legte sie nach oben. Ein Vogel erschien in seinen Händen. Er hatte einen scharfen Schnabel und ihm fehlten einige Federn. Dort, wo sie fehlten, trat schwarze Flüssigkeit aus.

„Ist das Ektoplasma?“

„Ja“, sagte Seishirou. „Das ist mein Shiki und er wurde angegriffen.“
 

„Ein Falke“, sagte Maria. „Wie passend, so ein Raubtier für den bösen schwarzen Mann.“ Sie streckte die Hände nach dem Vogel aus. Seishirou übergab ihn ihr ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Maria hatte mal gehört, dass es eine ziemlich intime Angelegenheit wäre, den Shiki einer anderen Person anzufassen. Sie bemerkte sofort, weshalb es Seishirou egal war.

Der Shiki war ganz warm und sein Herzchen pochte heftig gegen Marias Brust, die den Vogel an sich gedrückt hielt. Seishirous Shiki war aus den Tiefen seiner Seele, einem Teil, den er als nicht vorhanden wahrnahm. Kein Wunder, dass es ihn nicht störte. Maria strich die übrig gebliebenen Federn des Vogels glatt. Der Falke krähte schwach.

„Och Gott, das arme Dingselchen“, sagte sie. „Wir müssen was tun!“

Seishirou verschränkte die Arme. „Was zum Beispiel? Er ist ein magisches Wesen, wir können ihm keinen Verband anlegen.“

„Nicht?“ Maria hob eine Hand. „Ich kenn mich damit nicht so aus, weißt du.“ Sie sah auf den Vogel herab. Er atmete schwer. So hatte sie noch nie einen Vogel gesehen. Für die Schule hatte sie mal einen Spatz seziert. Nun gut, das war heimlich gewesen.

Der Shiki tat ihr unendlich leid. Er schien zu weinen. Sie kraulte vorsichtig seinen Nacken und sah nach, wo seine Wunden waren. Es lief immer mehr Ektoplasma über seine Daunen und an seinen Flügeln herab, die schlaff herunterhingen. „Weißt du, wie das passiert ist?“

„Nein“, sagte Seishirou. „Er ist in keiner Kondition, in der er es mir sagen könnte.“

„Verstehe“, sagte Maria. Der Vogel sah wirklich nicht danach aus, als ob er noch irgendetwas anderes als atmen könnte. Ihm fehlte die Energie dazu.

Maria hob den Kopf und sah Seishirou ins Gesicht. Er hatte Augenringe und war bleich wie ein Toter. Er hat auch keine Energie mehr, dachte Maria. Klar, irgendwie waren Shiki und Mann ja auch eins. Wenn der eine so schlimm aussah, dann konnte der andere wohl kaum fröhlich Luftsprünge machen. Sie stellte sich Seishirou hüpfend vor und musste lachen.

„Ist etwas?“, fragte Seishirou.

„Nein, nein“, sagte Maria. „Es ist gar nichts.“ Sie seufzte und legte den Shiki neben sich auf ein weiches Kissen. Er krähte unglücklich. „Können Shiki sterben?“

„Hm“, machte Seishirou. „Mehr oder weniger. Aber nicht auf diese Art.“

„Ah.“ Maria strich ihren Rock glatt. „Man kann ihm nicht helfen, aber lebensbedrohlich ist es auch nicht. Heißt das, er bleibt jetzt für immer so?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Seishirou. „Ich kann dir sagen, wie man einen Menschen töten, aber nicht wie man ein Leben rettet.“

Maria legte ihm eine Hand auf den Arm. „Das kann jeder sagen.“

Seishirou zuckte mit den Schultern.

„Dass du so einen süßen Shiki haben würdest hätte ich gar nicht gedacht. Das ist noch ein ganz junges Tier, nicht wahr? Wir hatten das letztens in der Schule. Vögel“, fügte sie erklärend hinzu.

Seishirou gab ein leises Grunzen von sich. „Süß“, wiederholte er. „Du hast wohl nicht aufgepasst, als der Lehrer erzählt hat, was Raubvögel alles anstellen können mit ihrem Schnabel.“

„Doch, hab ich.“ Sie verdrehte die Augen. „Sei nicht so empfindlich, Onkelchen.“

„Bin ich nicht“, sagte Seishirou.

„Nein, natürlich und selbstverständlich nicht.“ Sie winkte ab. „Hol wenigstens mal einen Waschlappen her, damit seine Flügel nicht verkleben.“

Seishirou erhob sich und ging ins Badezimmer. Maria beugte sich derweil tief über den Shiki und flüsterte ihm ins Ohr: „So wie du bist ist er auch, hm? Ist ja goldig.“ Sie rieb ihre Wange an dem Köpfchen des Vogels.

Seishirou kam mit einem Waschlappen zurück und reichte ihn Maria. Sie machte sich gleich daran, den Shiki vom Ektoplasma zu befreien.

„Ich könnte die Erinnerung aus ihm rausholen.“

„Dann stirbt er“, sagte Seishirou. Er setzte sich auf die Armlehne des Sofas und sah auf den Shiki herab.

Maria schüttelte den Kopf. „Wenn ich aufpasse nicht. Dann stirbt nur die Erinnerung, aber die braucht er ja nicht. Die brauchst du. Er ist ja nur dein Stellvertreter. Ein Handlanger sozusagen. Nicht mal. Eine Apparatur! Aber eine sehr süße.“ Sie zog eine Grimasse. „Oh, sorry. Ich soll ja nicht mehr ‚süß’ zu deinem großen bösen Piepmatz sagen.“ Obwohl er es definitiv ist. Sie kraulte den Vogel unterm Schnabel. Der Shiki lehnte sich in die Berührung. Verschmust ist er auch noch, dachte Maria bei sich.

Seishirou sah aus der Glastür, die in den Hinterhof führte. Maria wartete geduldig ab, für was er sich entscheiden würde.

„Wenn es schief läuft, bringe ich dich um. Ist dir das klar?“ Er blickte sie an.

Marias Herz schlug schneller. Mit der Ansage hatte sie nun gar nicht gerechnet. „Äh, ja. Zu… zu…“

„Zu wem ich ihn denn geschickt habe?“ Seishirou lächelte.

Maria fröstelte es. Sie nickte. „Damit ich schauen kann, wo die Erinnerung in ihm drin steckt, brauche ich ein paar Anhaltspunkte. Sonst erwische ich vielleicht die falsche.“ Sie hatte keine Lust, einen Mord beobachten zu müssen. Hoffentlich ist es keine Erinnerung an einen Mord, dachte sie. Bitte nicht!

Seishirou schlug die Beine übereinander. „Du könntest auch etwas anderes wissen, oder?“

„Aha!“ Sie grinste. „Du hast ihn zu Subaru geschickt.“

„Ja“, sagte Seishirou.

Das war ja langweilig, dachte sie. Er wehrt sich nicht mal. „Okay, dann… würdest du dich umdrehen?“

„Wie bitte?“

Maria errötete. Sie hoffte, dass es eine betörende Wirkung auf ihn hatte. „Mir ist das peinlich“, sagte sie in einer extra hohen Stimmlage.

Seishirou bleckte die Zähne. Er legte den Kopf schief und zog die Schultern hoch.

Vielleicht hätte sie sich wieder in Subaru verwandeln sollen. Seishirou schenkte ihr einen skeptischen Blick und blieb in ihre Richtung gewandt sitzen.

„Na gut, dann eben so.“ Sie wartete ab, ob er sich nicht doch noch umdrehen würde. Seishirou schien nichts dergleichen im Sinn zu haben. Maria hasste es, wenn man ihr dabei zusah. Sie war ein leichtes Opfer, wenn sie sich stark konzentrieren musste und gerade bei Seishirou war ihr das mehr als nicht geheuer.

Obwohl es mir da auch nichts bringt, wenn er sich umdreht, dachte sie. Ihre Hände zitterten.

Maria atmete tief durch. Sie legte zwei Finger auf die Brust des Shikis. Sobald sie sein Herz gefunden hatte, legte sie los.
 

Zwei Orte, die Haskell hasste, trafen gerade zusammen. Flughafen und öffentliche Toilette gaben sich in Narita die Hand. Er betätigte den Seifenspender und verrieb die Lauge zwischen seinen Händen bis es ordentlich schäumte. Die Toilette war sauberer als die in den Flughäfen in Amerika, aber dennoch hatte er hier immer das Gefühl – in Japan, immerhin! – sich schmutziger zu machen als dort.

Haskell trocknete seine Hände unter der Fönvorrichtung und strich den Rest an seiner Jeans ab. Kein Grund im Anzug zu reisen, der viel zu unbequem und auffällig war. Er verließ die Toilette ohne den Türgriff zu berühren. Da hätte er sich ja gleich wieder umdrehen können und die Waschaktion wiederholen. Dafür hatte er keine Zeit. Sein Flug ging in einer Stunde. Er liebte es, der erste im Flugzeug zu sein. So konnte er genau beobachten, wer möglicherweise eine Gefahr darstellte, wer sich übergeben würde und dem es dann aus dem Weg zu gehen galt. Haskell hasste Kotze.

Er ließ sich auf einem defekten Kofferband nieder und holte sich sein mitgebrachtes, selbst gemachtes Sandwich aus dem Koffer. Hühnchen, gebraten und viel Salatsoße. Plus drei Scheiben Tomaten. Er biss hinein. Die ganze Flüssigkeit lief ihm übers Kinn. Gut so, dachte er, dann sehe ich aus wie ein richtiger, widerlicher Tourist. Ganz, wie die Japaner sich das so vorstellen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die ganze Brühe von seinem Gesicht zu wischen. Er stopfte sich die Backen voll und kaute zwanzigmal, bevor er schluckte.

Es war nicht viel los auf dem Flughafen. Wenige Ausländer waren unterwegs. Die meisten Leute, die gerade herumliefen trugen Anzüge und waren vom Personal des Flughafens. Dann gab es noch ein paar Geschäftsleute, die scheinbar hier wohnten. Ein ganzer Pulk bewegte sich auf die Männertoilette zu, alle hatten sie einen Handrasierapparat dabei und Rasierschaum.

Gut, dass er schon gegangen war. Er konnte nur den Kopf schütteln über die aufgeregte Menge. Eine Person stach allerdings heraus. Der Mann war Ausländer. Auch er hatte Rasierapparat und Schaum bei sich, ging aber nicht in die Toilette hinein, sondern endete immer wieder mit Absicht am Ende der Schlange. Der Mann sah sich rechts und links um und rückte wiederum ans Ende.

Merkwürdig, dachte Haskell. Kein typisches Verhalten eines Verbrechers, aber es stach genug heraus, dass sich Haskell vornahm, den Mann genau im Auge zu behalten. Wo Haskell anwesend war, geschahen keine Verbrechen, außer er war damit einverstanden. Das kam berufs- und landesbedingt hin und wieder vor. Aber er befand sich gerade nicht in Amerika, sondern in Japan. Hier galten andere Regeln.

Haskell drückte seinen Aktenkoffer an sich, steckte sich das Sandwich zwischen die spitzen Zähne und lief zielgerichtet auf den Mann zu. „Naff?“, sagte er auf Englisch. „Waffen Sie auff?“

Der Mann starrte ihn an. Er hob den Rasierschaum hoch.

Haskell sog den Rest des Sandwichs in seinen Mund und kaute verbissen darauf herum. Er schluckte und seufzte erleichtert. Wenn er wollte, konnte er verdammt breit grinsen. Genau das tat er nun. Der Mann wirkte verwirrt von der extremen Freundlichkeit. Ob er Englisch sprach? Er wirkte wie ein Europäer aus sandigeren Gebieten. Haskell war skeptisch. Er probierte es noch mal. „Entschuldigen Sie bitte. Mit vollem Mund spricht man ja nicht.“

Der Mann nickte. „Macht nichts“, sagte er.

Also versteht er Englisch, dachte Haskell. Er sprach es sogar flüssig und ohne jeden Akzent. Was ihn nur noch auffälliger machte. Hätte er einen starken texanischen Akzent gehabt, Haskell wäre uninteressiert abgezogen. Aber der Mann war perfekt auf Englisch getrimmt. „Woher kommen Sie?“

„Afghanistan“, antwortete der Mann wie aus der Pistole geschossen.

Haskell steckte eine Hand in die Hosentasche. Die Aktentasche hatte er unter die Achsel geklemmt. „Interessantes Land. Schöne Frauen.“

Dem Mann stieg eine Röte ins Gesicht, von der Haskell nicht wusste, ob es Scham, Zorn oder beides war. Auf alle Fälle hatte er einen wunden Punkt getroffen. Blieb nur noch herauszufinden, ob dieser Punkt etwas mit der Aufgabe des Mannes zu tun hatte, wenn er denn etwas zu erledigen hatte, dass Leib und Leben aller Anwesenden betraf.

Haskell lehnte sich vor. „Wie heißen Sie denn? Ich bin Jim. Aus Amerika. Ohio.“

„Salim“, sagte der Mann.

Nicht sein richtiger Name, dachte Haskell. Aber auch nicht meiner. Haskell setzte ein falsches Grinsen auf. „Salim, das klingt doch mal nett.“ Palim, palim, ein Terrorist, dachte Haskell.

Salim zuckte mit den Schultern. „Meine Eltern fanden das wohl auch.“ Er drückte die Dose Schaum fest an sich. Seine Fingerknöchel standen blankweiß hervor.

„Wenn Sie sich weiter so zurückhalten, werden Sie nie dazu kommen, ihren Bart zu zähmen, Salim.“ Haskell deutete auf die Toilettentür. „Da müssen Sie einfach gegen anboxen!“ Er hob eine Faust und schleuderte sie in der Luft herum.

Salim machte ein trauriges Gesicht. „Ja, vielleicht.“

Damit täuschst du mich nicht. „Soll ich Ihnen helfen?“

„Oh, oh, oh! Nein, nicht nötig. Bitte nicht!“, sagte Salim. Er schüttelte den Kopf so heftig, dass Haskell davon schwindlig wurde.

Was machte Salim dann vor der Toilette? Ein Terrorist, dachte Haskell. Palim, palim. Und kein besonders gescheiter. Wohl immer noch zu schlau für das Bodenpersonal von Narita. In Amerika wäre der Kerl gar nicht erst ins Gebäude gelangt. Haskells Spezialtruppe, die er selbst ausgebildet hatte, sorgte dafür. Aber hier in Japan lehnte man seine Methoden ja rigoros ab.

Haskell legte Salim eine Hand auf die Schulter. „Ich kenne noch eine Toilette, da ist nie viel los.“

„Nicht nötig“, stotterte Salim.

Keine Chance, dachte Haskell. Er hatte sich schon entschieden, den jungen Terroristen mitzunehmen und auszufragen. Doch dazu musste er unauffällig an einen Ort gelangen, an dem es, nun, nicht auffiel, was er da tat. Sonst wäre seine Tarnung im Eimer und auf die war er schließlich stolz. Haskell zog an Salims Arm, der sich widerwillig mitbewegte. Immerhin würde auch er nicht auffallen wollen. Da kam es kaum in Frage, sich gegen nette Hilfe zu wehren. Die übrigen Männer, die in die überfüllte Toilette strömten, würdigten die beiden keines Blickes. Es war zu wichtig, nicht den eigenen Flug zu verpassen. Was zwei Ausländer da taten, war überhaupt nicht weiter wichtig. Umso besser.

Haskell schob Salim in die Toilette, die so versteckt lag, dass sie keiner fand. Die Personaltoilette.

Salim schluckte schwer. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Da stand an der Tür…“

„Ist doch egal. Hier ist gerade niemand und da sie Ausländer sind und ich auch, können wir uns zur Not dumm stellen. Ist doch super! Wir sind privilegiert, was?“ Haskell lachte laut, dass es von den weißen Kachelwänden widerhallte.

Salim zuckte zurück. Er stellte Schaum und Apparat auf dem Becken ab. „Ja, danke dann noch mal.“ Er sah in den Spiegel und in Haskells Gesicht. „Wollen Sie mir beim Rasieren zusehen?“

„Jeder hat doch so seinen komischen kleinen Fetisch.“

Salim erwiderte darauf nichts. Er senkte den Kopf und begann sich zu rasieren. Erst spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann tat er eine dicke Schicht Schaum auf seine Wangen und sein Kinn.

Haskell lehnte sich an die Tür. „Afghanistan, hm.“

„Waren Sie schon mal da?“ Salims Stimme zitterte. Sein Adamsapfel hüpfte. Schaum tropfte ins Becken.

„Hm“, machte Haskell. „Waren Sie schon mal da?“

Salim lachte nervös. „Was ist denn das für eine Frage?“

„Sie sprechen so gut Englisch…“

„Ich habe in Yale studiert.“

Haskell wurde hellhörig. „Sind Sie Anwalt?“ Er sieht nicht danach aus.

„Nicht direkt“, sagte Salim. „Ich bin momentan arbeitslos.“

„Was machen Sie dann in Japan?“

Salim seufzte und schob den Rasierer über seine Haut. „Lange Geschichte.“

„Mein Flug geht erst in einer Stunde. Ich habe Zeit.“ Haskell konnte quasi deutlich sehen, wie bei Salim langsam der Groschen fiel, dass er hier an den falschen Helfer geraten war, dass er kurz davor stand, enttarnt zu werden und er versuchte krampfhaft, sich an die falsche Geschichte zu erinnern, die man ihm monate- und jahrelang eingebläut hatte. Es fiel ihm sichtlich schwer.

Salim schnitt sich die Wange auf und atmete zischend ein. „Verdammt!“

Haskell riss ein Stück Papier aus dem Spender und reichte es ihm. „Tut weh, hm?“

„Ja.“ Salim tupfte sich das Blut mit dem Papier ab.
 

„Schmerzen sind was Furchtbares. Das hat keiner verdient.“

Salim biss sich auf die Unterlippe. „Mhm.“

Da ist wohl jemand anderer Meinung, dachte Haskell bei sich. „Oder was meinen Sie?“

Salim zog die Schultern hoch. Er war das blutige Papier in den Abfalleimer unter der Spüle und packte seinen Rasierapparat wieder ein. Er achtete darauf, ihn nicht bis ans hinterste Ende der Packung zu schieben. Haskell konnte das gut daran erkennen, dass er nur zwei Fingerspitzen benutzte, um ihn zu verstauen. Ziemlich umständliche Art und Weise, ein billiges Gebrauchsitem wieder wegzustecken. Immerhin war es nur ein Einfachrasierer, den reisende Männer eine Woche lang benutzten, bevor sie ihn wieder wegschmissen und den nächsten am Flughafen 2000 Kilometer weit entfernt vom Kaufort des ersten erstanden.

Haskell trat bis auf zwanzig Zentimeter an Salim heran – die absolute Privatsphären-Schmerzgrenze – und beugte sich dann in seinen Bereich vor. „Nicht sicher?“

Salim wich nicht zurück. Er stierte in den Spiegel direkt vor sich und kniff die Wangen zwischen die Zähne. Er war entdeckt worden und Salim wusste es. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Haskell konnte seine Angst sehen und riechen. Und spüren. Sie lag wie dicker Brei in der Luft.

Jemand klopfte an die verschlossene Tür, beschwerte sich auf Japanisch, wer denn schon wieder Durchfall hätte, trat noch mal gegen die Tür und dann entfernten sich schlurfende Angestelltenschritte. Würde der arme Mann leider das Besucherklo benutzen müssen, so war dafür wenigstens die Sicherheit der Gäste gewährleistet.

Haskell packte Salims Arm und warf ihn gegen die Wand. „Für wen arbeiten Sie? Al-Qaida?“

„Nein, nein!“, sagte Salim. Er versuchte Haskell mit seinem Knie von sich weg zu schieben.

„Wie heißen Sie wirklich? Osama der Fünfte?“ Haskell lachte trocken. Er neigte den Kopf vor, sodass seine Lippen fast Salims Ohr berührten. „Kommen Sie schon, wer auch immer Sie sind und was immer Sie heute vorhatten – jetzt ist es sowieso viel zu spät dafür. Mir entkommen Sie lebend nicht.“

Salim quiekte wie ein trächtiges Schwein.

„Was, sind Sie erstaunt? Tja, die Behörde, von der ich komme, hat ganz eigene, sehr spezielle Regeln. Und es gibt keine die einem verbietet, irgendjemanden zu töten… und vorher noch mal schön zu foltern. Zur Not mit dem, was nicht am meisten schmerzt, sondern was den Gefangenen am meisten erniedrigt. Schöne Behörde, oder? Wären Sie lieber mal zu uns gekommen. Die Bezahlung ist besser und man lebt länger.“

Salim stiegen die Tränen in die Augen. „Ich nichts machen wollen!“

Er verliert sich, dachte Haskell. Das konnte kritisch werden. Aber er war ein Profi. Bei ihm wurde nie irgendetwas kritisch und wenn doch, dann war es nicht seine Schuld, sondern die dummer Mitarbeiter. Da kein solcher anwesend war, konnte gar nichts schief gehen. Haskell grinste Salim breit ins Gesicht. „Keine Angst. Wenn Sie brav sind, dann werde ich gar nichts tun.“

„Wie?“

Haskell schlug Salim in den Magen. Er gab ein würgendes, ersticktes Geräusch von sich und sank zu Boden. Haskell kniete sich neben ihm hin. „Armer Kerl.“

„Wie… wie… wie?“

„Fallen dir nicht mehr Wörter ein, Junge?“ Er tätschelte Salims Schultern. „Keine Sorge, dir passiert nichts, solange du tust, was ich dir sage.“

„Was da wäre?“ Salim fummelte in seiner Tasche herum; er suchte gewiss nach dem Rasierapparat. Oder viel eher der Verpackung, in der am Boden der Sprengsatz oder sonst eine Waffe, aber doch sehr wahrscheinlich eine Schwarzpulvermischung versteckt war. „Sagen du!“

„Ja, ganz ruhig.“ Er packte Salims Handgelenk und schob die Tasche vorsichtig mit dem Fuß beiseite. Unnötig Druck auszuüben konnte gefährlich werden. Eine Leiche wäre auffällig. Er konnte so etwas locker überleben, aber ob dieser Kerl das konnte war eher äußerst fraglich und extrem unwahrscheinlich. Wenn seine Deckung aufflog, dann wäre sein Rekord sofort von seinem Busenfeind gebrochen. Unmöglich, dass das auch noch ausgerechnet wegen einem dümmlichen Terroristen unterster Klasse geschah. Haskell knirschte mit den Zähnen. Gab es eine Möglichkeit, den weinerlichen Terroristen dazu zu überreden, sich zu stellen? Einfach mal mit einem Befehl versuchen. Wenn er wirklich so eine Tussi war, wie er sich gerade vorgab zu sein, mochte es funktionieren. Haskell half ihm auf die Beine. „Stell dich, Salim. Oder… wie heißt du?“

„Abu“, sagte derjenige, der eben noch Salim hatte heißen wollen. Er sah betreten auf seine Schuhe herunter. Die Hände faltete er zusammen, hakte die Finger fest zusammen. „Bitte nichts tun mir!“

Haskell machte „sch, sch“.

„Bitte“, sagte Abu.

„Sind bei euch neuerdings alle Terroristen solche Heulsusen?“

Abu schniefte. Rotz lief ihm über die Oberlippe.

Haskell verzog angewidert das Gesicht. Körperflüssigkeiten konnte er überhaupt nicht abhaben. „Flasche. Du gehst jetzt hier raus und stellst dich. Schnurstracks zum nächsten Polizisten. Und komm auf keine dummen Ideen. Ich werde dich beobachten.“ Wenn er dazu noch Zeit hatte! Haskell schielte auf die Uhr über der Tür und biss sich vor Schreck auf die Zunge. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Der Weg zur Geheimtoilette und das Gespräch mit dem kleinen Mädchen von Möchtegernterroristen hatte ziemlich viel Zeit gekostet. Jetzt lief sie ihm langsam aus. Sein Chef würde ihn schröpfen, wenn er nicht zeitig in seinem Büro stand und Bericht erstattete. So sehr er seinen Chef hasste, genau so sehr liebte er aber seinen Job.

Haskell schleifte Salim – halt, Abu hieß er doch – bis zur Tür. Abu heulte immer noch. Hat er verstanden, was ich ihm gesagt habe?, dachte Haskell. „Geh jetzt und stell dich, Abu. Salim. Terrorist!“ Er schloss die Tür auf.

Abu duckte sich auf den Boden und griff nach der Tasche. Haskell hatte nur ein paar Sekunden um zu reagieren, aber er war schnell und warf sich auf Abu.

Genau in dem Augenblick kam ihm eine unschlagbare Idee. Haskell grinste, stand auf und zog Abu mit sich. „Ich weiß etwas, etwas, das dir gar nicht gefallen wird.“ Haskell legte die Hand an seinen Gürtel und öffnete die Schnalle.

Abu rannte zur Tür. Er riss sie auf und verschwand nach draußen. Seine Tasche ließ er zurück.

Haskell schüttelte den Kopf. Viel zu einfach, dachte er. Er bückte sich und griff nach dem zurück gelassenen Gegenstand.

„Was mache ich jetzt mit der Bombe?“ Haskell zog den Rasierer hervor und holte ihn aus seiner Packung heraus. Er schnüffelte an der Öffnung. Schwarzpulver. Er hatte also völlig richtig gelegen. Wobei ihm nicht klar war, wie man mit dieser geringen Menge etwas Größeres anstellen wollte, außer man ging an die Kerosintanks und…

Haskells Gesichtszüge fielen in sich zusammen. Er hörte nur noch von weit weg, wie ihn ein aufgeregter Angestellter – möglicherweise der von vorhin, ihm kam die Stimme bekannt vor – ihn darauf hinwies, dass für einfache Kunden diese Toilette eigentlich total und absolut und sowieso tabu war.

Haskell verdrehte die Augen und schob sich an dem keifenden Japsen vorbei. Als ob es nichts wichtigeres gab, als eine Toilette und wer auf sie gehen dürfte und wer nicht. Letztendlich taten dort doch alle das gleiche: Etwas großes oder etwas kleines erledigen.

Haskell musste nun erstmal etwas sehr großes erledigen gehen. Wenn Abu noch mehr Schwarzpulver hatte, worin auch immer er es aufbewahren könnte – hatte er nicht versucht, Haskell auf Abstand zu halten? Druck auf bestimmten Körperteilen… ob er etwas unter dem Hemd trug?

Haskell beschleunigte seinen Schritt. Wenn sein Plan aufgegangen war, musste er sich eigentlich keine Sorgen mehr machen und hätte schon mal einchecken gehen können. Doch er war sich nicht hundertprozentig sicher und wenn er das nicht war, dann ließ ihm die jeweilige Sache ohnehin nie wieder Ruhe, bis er den Ausgang erfahren hatte. Haskell sprang über eine Stange. Dort hinten konnte er Abu schon wieder sehen. Abu betrat das Treppenhaus ohne sich umzusehen. Wäre er nicht so nervös, dachte Haskell, hätte er es gemacht. Und sich völlig verraten. Hatte er ihm also noch einen Gefallen getan!

„Die gute Tat des Tages hätte ich damit also mal wieder erfüllt“, murmelte Haskell. Er wartete einen Moment und folgte Abu dann ins Treppenhaus. Er war nirgends zu sehen. Haskell ging die Treppen nach oben. Die Tanks waren unten, aber wenn Abu dort war, konnte er ohnehin nichts mehr tun.

Jemand schrie laut, Haskell spürte einen Luftzug neben sich am Geländer herunter, Stoff riss auseinander, etwas kam dumpf auf dem Boden auf.

Haskell blieb mitten auf der Treppe stehen. Er lehnte sich übers Geländer und sah nach unten. Es ging einige Stockwerke von ganz oben bis ganz nach unten. Auf dem Boden lag Abu. Klamotten und Haut hatte ihm das Treppenhaus während des Falls zu großen Teilen vom Körper gerissen. Seine Knochen waren in alle möglichen Richtungen verdreht, sein Mund stand offen.

Haskell machte „tsk“. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und verließ das Treppenhaus. „Das kommt davon, wenn man keine gute Ausbildung erhalten hat.“

Sein Flug ging bald. Er checkte ein; der Plan war aufgegangen. Haskell freute sich auf einen entspannten Flug nach Hause, bevor er wieder seinem Boss gegenübertreten würde müssen.
 

Seishirou verschränkte die Arme. Noch geschah überhaupt nichts. Maria saß seit zehn Minuten mit geschlossenen Augen da und drückte auf der Stirn seines Shikis herum, ohne dass etwas passiert wäre. Sie atmete nur sehr selten. Das war das einzige, was ihm als ungewöhnlich auffiel. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie wieder nach Atem rang. Die Atmung seines Shiki, auf der anderen Seite, hatte sich wieder beruhigt. Das Ektoplasma floss nicht mehr in Strömen sondern trocknete. Er griff nach dem Waschlappen und zog ihn Maria aus der freien Hand. Sie schien das nicht abzulenken.

Er wischte dem Shiki das Ektoplasma aus den Federn und wartete weiter ab.

Maria seufzte und öffnete die Augen. Seishirou schmiss den Waschlappen auf den Tisch. „Und?“, sagte er.

„Warte einen Moment. Gleich kommt sie.“

Seishirou erinnerte sich daran, dass die extrahierten Erinnerungen als eine Art Halluzination dargestellt würden, bevor sie für immer verschwanden. Er sah sich um. Noch war nichts zu sehen, aber er konnte Ramen riechen. Blätter raschelten um ihn herum. Er sah herunter und bemerkte, dass er auf einem Ast saß. Seishirou blickte auf einen Laden herab, in den Subaru gerade ging. „Ramen-Don“ stand auf einem knallroten Schild. Er fühlte, wie ein kleines Herz in seiner Brust schneller schlug, als er die knallbunte Farbe sah.

So sah also sein Shiki die Welt. Seishirou war milde beeindruckt. Für die Sicht eines Vogels war das gar nicht mal so schlecht. Außerdem konnte man sich wohl besser verstecken, als dies als ausgewachsener Mann möglich war. In Gestalt seines Shiki wartete er darauf, dass etwas passiert. Etwa, dass Subaru aus dem Ramenladen kam und den Shiki angriff. Aber hätte er ihn dann einfach wieder freigelassen? Bestimmt nicht. Er hätte ihn dazu benutzt, um zu Seishirou zu kommen.

Also wartete Seishirou, dass etwas anderes geschah. Hatte ihn jemand von der Amerikanischen Behörde beschattet und den Shiki dabei entdeckt, als Seishirous identifiziert und aus dem Weg räumen wollen? Vielleicht war es auch jemand von der Japanischen Behörde gewesen. Die schienen schließlich auch keine Freude an dieser Verbindung zu haben.

Seishirous Blickfeld wackelte; der Shiki hüpft umher, doch seine Bewegungen wurden immer träger. Ihn verließ langsam die Energie.

Es musste circa zehn Uhr sein, dachte Seishirou. Zu dieser Zeit hatte er Einkäufe erledigt. Nichts Ungewöhnliches, nichts, das ihn entsprechend angestrengt hätte, um dem Shiki Energie deswegen zu entziehen. Seishirou wurde nervös. Würde er spüren, was dem Shiki geschehen war? Er roch den Ramen und spürte die Kälte des Windes. Zwar war er durchaus sehr neugierig, aber er konnte darauf verzichten zu erfahren wie es sich anfühlte, wenn einem die Federn herausgerissen wurden.

Seishirou merkte zu spät, dass der Körper des Shiki fiel. Argh, dachte er, als der Körper auf dem Boden auftrat. Ich kann den Schmerz also auch spüren.

Jetzt musste gleich passieren, was den Shiki so zugerichtet hatte. Seishirou hörte Schritte auf den Vogelkörper zukommen. Der Falke war zu schwach um den Kopf zu heben. Jemand packte ihn an einem Flügel. Seishirou spürte einen brennenden, ziehenden Schmerz.

Komm schon, sieh ihn an, dachte Seishirou. Ich muss wissen, wer es getan hat. Ich muss.

Der Vogelkörper wurde durchgeschüttelt. Seishirou wurde übel davon. Er verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wo oben und unten war und welcher Flügel ihn nun schmerzte – halt, welcher Arm, er war kein Falke! Ihm war, als ob die Welt um ihn herum schmelzen würde. Alles verlief ineinander, alle Farben, Gerüche und Geräusche. Das warme Ektoplasma floss aus den frischen Wunden, die ihm der fremde Mann zufügte. Seishirou versuchte sich zu konzentrieren. Der Mann hatte keine Falten. Also war er noch jung? Der Mann hatte schwarze Haare – also ein Japaner? Das Gesicht wirkte asiatisch, auch wenn Seishirou es nicht so gut erkennen konnte, wie er da als Shiki herumgeschleudert wurde. Warum kam keiner dem Vogel zu Hilfe? Weil es ein Raubvogel ist, dachte Seishirou. Und: Maria hätte eingeschritten.

Der Mann hatte goldene Augen.

Der Vogel verlor das Bewusstsein und Seishirou landete wieder in der Realität. Er lag auf dem Boden vor dem Sofa. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen Zügen. Maria saß auf der Couch und blickte auf ihn herunter. „Dem Shiki geht es wieder gut.“

Seishirou schloss die Augen. „Gut“, sagte er.

„Was hast du gesehen? Weißt du jetzt, wer es war?“

Hat sie es denn nicht auch gesehen?, dachte er. Es wäre unklug, sie direkt danach zu fragen. „Nein. Die Sicht war nicht klar genug.“

„Vielleicht brauchst du doch ne Brille?“

Seishirou lachte und setzte sich auf. „Ich glaube eher nicht, dass es daran lag. Aber er wurde tatsächlich attackiert.“

„Das ist schlecht.“

Seishirou nickte. Warum griff jemand einen Shiki an – der überhaupt nichts tat? Hätte Seishirou den Falten in einem Auftrag geschickt, der Gewalt gebraucht hätte, bitte. Aber der Shiki sollte Subaru bloß beobachten. Was war daran schon schlimm genug, dass man den Vogel beinahe auseinanderrupfen musste? „Er hat gegrinst“, sagte Seishirou. „Dem Angreifer hat es Spaß gemacht.“

„Vielleicht warst es ja du selbst“, sagte Maria. Sie lachte; es war ein Scherz gewesen.

Seishirou schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Gefühle. Mir macht nichts Spaß.“

„Ja ja, wie auch immer“, sagte Maria. „Hast du was zu essen da? Ich hab furchtbaren Hunger.“ Sie rieb sich den Bauch.

Gut, dass er eingekauft hatte. Er strich sich die Kleider glatt und deutete in Richtung Küche. „Es ist alles mögliche im Kühlschrank. Bedien dich.“

Maria strahlte ihn an. „Aw, danke, liebes Onkelchen!“ Sie sprang auf und verschwand in der Küchentür. Maria summte ein Lied vor sich hin.

Seishirou stemmte die Hände in die Hüften. Sein Shiki lag schlafend auf dem Sofakissen. Er ließ ihn in sich verschwinden und folgte Maria in die Küche. Inzwischen sang sie das Lied. Seishirou kannte es nicht. Wahrscheinlich war es etwas Modernes; sie sang auf Englisch.

„Was gibt es heute Abend?“

„Oh, das wird dir gefallen. Vertrau mir einfach!“

Seishirou nickte und nahm am Küchentisch Platz. „Wer könnte es gewesen sein“, murmelte er vor sich hin.

„Du hast sicher genug Feinde.“

„Nein“, sagte Seishirou und lächelte dabei. „Feinde räume ich aus dem Weg, genau wie jede andere Person auch. Es macht keinen Unterschied für mich…“

„Dann ist Subaru also weder ein Feind noch ‚jede andere Person’.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Wie romantisch. Die einzige Ausnahme von der Regel.“

„Tja“, sagte Seishirou. „Die einzige Ausnahme, Maria.“ Er bemerkte zufrieden, dass sie eine Gänsehaut bekam.

„Richtig“, sagte sie. „Die einzige… es gibt Spaghetti.“

„Lecker.“ Seishirou stützte den Kopf in die Hände. Konnte es jemand gewesen sein, der weder von der japanischen, noch von der amerikanischen Regierung war? Eigentlich nicht. Mit anderen hatte er nichts zu tun und der Sumeragi-Clan hatte längst das Interesse an ihm verloren, bis auf Subaru, der so etwas nie im Leben tun würde.

Seishirou bekam Kopfschmerzen; er hatte ein stechendes Gefühl hinter der Stirn, das ihm sagte, dass die Migräneanfalle nicht sehr bald verschwinden würden.

Es ging also – mal wieder oder auch noch immer – um die mysteriöse Aktion 5.3, die ziemlich unspektakulär war, wenn man denn wusste, um was es ging. Haskell verstellte seinen Sitzplatz so, dass er sich halb hinlegen konnte und lehnte sich zurück. Er blätterte in der Akte umher. Nummer 34? Er sah noch mal auf dem Umschlag nach. Nein, Nummer 32. Die Tinte war an einigen Stellen verwischt. Die Japaner waren sonst immer so stolz darauf, dass alles super sauber war, nur bei ihren Akten schmierten sie herum. Gerade bei so sensiblen Dingen verstand Haskell nicht, wie man so locker damit umgehen konnte. Vor allem wenn doch sonst so getan wurde, als ob das alles ein Riesendrama von internationaler Gewichtigkeit wäre. Haskell glaubte daran ja noch nicht. Er schlug die Akte erneut auf und las sich durch, was seine japanischen Kollegen über Nummer 32, einen gewissen Subaru Sumeragi, in Erfahrung hatten bringen können.

„Hm“, machte Haskell. Nicht spannend, dachte er. Als ob ihm diese Informationen bei der baldigen Beschattung und Entführung helfen würden! Alles musste man selber machen. Haskell schob die Akte zurück in seine Tasche und klemmte sie zwischen seinen Beinen ein. Er hätte aufstehen können und sie in seinem Fach verstauen, aber das war ihm zu anstrengend, ganz abgesehen davon, dass es auch noch riskant war. Obwohl die Japaner ja offensichtlich nicht besonders aufmerksam waren, wenn es um solche Dinge ging. Man musste ja nicht alles nachmachen. Haskell ließ seine Arbeiten nicht gerne schleifen.

Eine Stewardess streckte den Kopf zu seinem Sitzplatz am Fenster und grinste ihn an. Sie trug noch eine Zahnspange und ihre Nase war dermaßen minimalistisch angelegt von ihren Genen, dass Haskell die Augen zusammenkneifen und sich auf ihr Gesichts konzentrieren musste, um sie überhaupt zu entdecken. Die Augen der jungen Frau waren dafür riesig. Sie hatte sich wahrscheinlich einer in Japan sehr beliebten OP unterzogen. Haskell empfand sofort Abneigung für die Frau. Er lächelte höflich zurück. „Sekt gibt es also umsonst?“

Die Stewardess nickte. Auf ihrem Kärtchen stand Satsuki, den Rest konnte er nicht lesen. Verdammte Kanji.

„Ich möchte dennoch lieber einen Orangensaft.“

„Der kostet aber etwas“, sagte sie.

Haskell stöhnte genervt auf und wedelte mit der Hand. „Aber Leitungswasser kriege ich schon noch einfach ohne was zahlen zu müssen, oder? Meine Herren, Sie haben Prioritäten. In der Luft ganz wie am Boden. Wie sagt man… der Apfel hebt nicht weit von der Krone ab?“

Die Stewardess blinzelte ein paar Mal. Dann zuckte sie mit den Schultern, fummelte an ihrem Wagen herum und schenkte ihm ein Plastikglas mit Kohlesäure freiem Wasser ein.

Haskell nahm das Wasser an ohne sich zu bedanken. Die Stewardess schien das nicht zu stören. Sie schob den Wagen ein paar Zentimeter weiter vor und erkundigte sich bei dem nächsten Reisenden, ob er Sekt wollte. Haskell reckte den Kopf. Ein dicker Asiate. Der würde Sekt nehmen. Haskell schloss die Augen und ließ sich wieder zurück gegen die Lehne fallen. Draußen, wenn er aus dem Fenster sehen würde, hätte er gerade gar nichts gesehen, außer ein paar Lichtern hin und wieder. Sie flogen gerade übers Meer, berichtete der Pilot in einer angenehm klaren Stimme. Das ist bestimmt kein Japaner, dachte Haskell und schmunzelte. Oder die Japaner waren doch zu etwas gut: rauschfreie Lautsprecheranlagen einzurichten. Haskell hörte dem Mann aufmerksam zu und schlief dabei beinahe ein. Erst als der Copilot sich meldete schlug er wieder die Augen auf. Der Mann hatte eine schrille, nasale Stimme und keuchte bei jedem zweiten Wort so schwer ins Mikrofon, dass man meinen konnte, das Flugzeug wurde deswegen gleich abstürzen. Die anderen Anwesenden der ersten Klasse wirkten ebenso verwirrt wie Haskell, die meisten noch zusätzlich verängstigt.

Haskell war einfach nur verärgert, zusätzlich. Immerhin brachte ihn der Copilot mit der Kreischstimme gerade um seinen bitter nötigen Schlaf. Wenn er zuhause in Amerika war, musste er gleich wieder loslaufen. Der Jetlag wurde bei seiner Arbeit quasi ignoriert. Wer das nicht vertrug, war eh an der falschen Stelle gelandet.

Haskell schnaubte und öffnete seine Tasche. Irgendwo hatte er noch Ohrstöpsel. Fragte sich nur, wo. Zwischen der Akte über Subaru Sumeragi, Taschentücher mit Menthol und einem Schokoriegel, seiner Waffe und einem künstlichen Magieitem, das einen Bannkreis um ihn spannte, solange es in seiner Nähe war, irgendwo dort mussten die Ohrstöpsel liegen.

Da waren sie, hinter den Taschentüchern war die Packung mit den drei Pärchen Stöpseln. Er riss sie eilig auf und stopfte sich die ersten beiden in die Ohren. Er stöhnte; sie juckten. Haskell nahm sie wieder aus den Ohren und starrte die Stöpsel an. Auf einem stand links, auf dem anderen rechts. Haskell verdrehte die Augen und steckte sie so in seine Ohren, wie die Japaner sich das wünschten. Er wusste schon, wo er keine Ohropax mehr kaufen würde. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Herfliegen zu müssen war ihm stets eine Qual und bei diesem Mal hatte er erst dermaßen kurzfristig Bescheid bekommen, dass er sich nicht hatte richtig vorbereiten können. Dazu gehörte gutes Wasser und gute Ohrenstöpsel zu kaufen.

Haskell atmete erleichtert aus, als er den Kreischer nicht mehr hörte. Wenigstens funktionieren die Dinger, dachte Haskell. Er nahm einen Schluck Wasser – damit war das Plastikgläschen auch schon ausgetrunken. Das Ding war kaum größer als sein Mittelfinger lang. Er warf es auf den freien Platz neben sich, faltete die Hände über seinem Bauch und schloss die Augen. Jetzt würde er bestimmt einschlafen können.

Er dachte an die Akte, an die damit zusammenhängende Aktion und die Person, die ihm dabei in die Quere kommen konnte. Er hatte sie einmal gesehen. Ein beeindruckender, großer Mann mit breiten Schultern, einem leeren, weißen Glasauge und einem anderen, stechenden Auge. Gold wie Bernstein. Haskell bekam eine Gänsehaut, als er daran auch nur dachte. Er bekam nie eine Gänsehaut, außer wenn es ihn fror und da er sich immer richtig anzog, geschah das extrem selten.

Ein Meuchelmörder; ein richtiger Profi. Der, obwohl er dieser Tatsache wohl vehement widersprochen hätte, wenn sich Haskell richtig an die Infos aus seiner Akte erinnerte, ein ziemlicher Hitzkopf war. Besitzergreifend und kindisch bis hin zu einem kindlichen Verhalten, das einem fast leid tun konnte, wenn er einem nicht so einem Schrecken einjagen würde. Aber auch sehr höflich und nett konnte er sein.

Haskell schob die Brauen zusammen. Er würde aufpassen müssen bei dieser Sache, sonst würde sie schief gehen. Wenn ausgerechnet ein japanischer Kindskopf alias Meuchelmörder alias „der Sakurazukamori“ als sein Meister gefunden werden sollte, gegen den er nicht ankam um keinen Preis in der Welt, dann wollte Haskell lieber seine Marke nieder- und seinen Decknamen ablegen.
 

Wenn dir jemand geholfen hat und du ihm etwas Gutes tun willst, dann lade ihn zum Essen ein. Seishirou hatte diesen Spruch seit jüngsten Zeiten verinnerlicht. Obwohl er nie besonders viel mit Menschen zu tun hatte, außer in einem ihrer intimsten Momenten, vielleicht dem intimsten, den es gab, musste er sich einige gewisse Muss-Regeln merken. Es fiel ihm nicht schwer, sie zu befolgen. Meistens. Zu einer Zeit in seinem Leben hatte es ihm sogar Spaß gemacht, die ganzen Regeln anzuwenden und dafür ein ums andere Mal ein wunderschönes Lächeln zu bekommen. Diese Zeit war vorbei, das Lächeln durch seine Hand ins Jenseits gewandert.

Marias Grinsen gefiel ihm nicht halb so gut, aber er bewahrte die Contenance. „Wohin möchtest du denn?“, fragte er sie. „Falls du dich hier in der Gegend nicht so gut auskennst, es gibt einen hervorragenden Italiener in der Nähe. Er macht sehr gute Pizzen. Ich bin mit dem Chefkoch befreundet.“ Letzteres war eine Lüge, aber eine, die zur Hälfte stimmte. Wenn man es aus der Perspektive des Kochs sah, waren sie wahrscheinlich sogar die besten Freunde. Seishirou sah das etwas anderes, aber solange er etwas kostenlos bekam, wollte er den Chefkoch nicht korrigieren. Wozu etwas ändern, nur damit am Ende die Wahrheit dastand, wenn man doch aus der Lüge sich nähren konnte?

Maria legte den Kopf schief, dann nickte sie und lachte. „Da würde ich gerne hin. Außerdem will ich ja mal wissen, wie jemand aussieht, der angeblich dein Freund ist!“ Sie prustete hinter vorgehaltener Hand und sprang in den Flur.

Seishirou holte sich einen Mantel aus seinem Schrank im Schlafzimmer. Heute war es nicht besonders kalt, aber er ging so gut wie nie ohne Mantel aus dem Haus, also legte er auch dieses Mal einen an. Schwarz, natürlich. Er steckte eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug ein, dann verließ er die Wohnung. Die Schlösser schlossen sich von selbst, nachdem er durch die Türen trat.

Maria wartete schon vor dem Eingangstor auf ihn. Sie kaute auf etwas herum, dann stieß sie eine große pinke Blase aus.

Seishirou tippte den gedehnten Kaugummi an und er fiel in sich zusammen. Seishirou schmunzelte; das hatte er lange nicht mehr getan und er hatte es auch nicht mehr geübt. Ob er wirklich diesen Ausdruck traf? Er war sich nicht sicher. Maria zeigte keine Anzeichen von Skepsis, also hatte er wohl ins Schwarze getroffen.

Er legte ihr einen Arm um die Schultern und schob sie aus dem Tor. Auch dieses schloss sich von alleine ab. Seishirou wusste, hinter ihnen fiel der Garten in eisiges Schweigen. Seine Mutter hatte gesagt, die Pflanzen wären beleidigt, wenn man sich mit etwas anderem als ihnen abgab. Seishirou wusste es besser, auch wenn er ihr als Kind für ein paar Jahre Glauben geschenkt hatte: Verließ de Sakurazukamori das Gelände, verfiel alles in eine Art Winterschlaf. Die Magie, von der alles lebte, wurde weggezogen und umso weiter sich der Sakurazukamori entfernte, desto abgestorbener sah der Garten aus. Seishirou fragte sich, wie die Pflanzen reagierten, wenn ein Wechsel vonstatten ging. Damals hatten sie sich in seinem Haus befunden, nicht im Sakurazukamori-Anwesen. Er hatte nicht sehen können, wie dieser Garten sich verhielt. Aber bald…

Maria zupfte an seinem Ärmel. „Onkelchen, wie weit ist es denn noch?“

„Onkelchen“, wiederholte Seishirou.

„Na ja, wenn du nicht mein Verwandter bist, dann bist du ein Perverser. Wär dir das lieber? Ich mein, biste ja schließlich auch.“ Sie lachte.

Seishirou schüttelte den Kopf. Der Weg zum Restaurant war nicht weit, aber Marias überschwängliche Freude fiel ihm schon jetzt auf das angefressene Nervenkostüm. Sein Shiki würde in nächster Zeit nicht einsatzfähig sein. Marias Exkursion in seine Erinnerungen hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen; Seishirou spürte, wie dieser Teil, der sein Shiki war, in ihm tief drinnen rumorte und keine Ruhe fand. Es fiel ihm schwer, sich mit diesen Gefühlen zu konzentrieren.

Seishirou runzelte die Stirn und griff fester Marias Arm.

„Ist was nich’ gut mit dir? Wir können ja auch mal wann anders essen gehen. Kein Problem!“ Maria tätschelte seine Hand. „Außerdem tust du mir gerade voll weh.“ Sie lächelte gequält.

Seishirou ließ ihren Arm los. „Tut mir leid.“

„Du siehst so angestrengt aus.“ Sie sprang in die Höhe und versuchte seine Stirn anzutippen, reichte jedoch nicht bis ganz nach hoch und traf ihn nur auf die Wange unter seinem Glasauge. „Sorry, Mann“, sagte sie.

„Hat nicht wehgetan“, sagte Seishirou. Genau, dachte er, das hat mir keine Schmerzen bereitet.

Maria wirkte nicht überzeugt, schien kurz nachzudenken und lief dann ein paar Schritte vor. Offensichtlich hatte sie beschlossen, dass es genug für diesen Abend war. Die Sache mit dem Shiki… Seishirou lächelte. Sie wollte ihn nicht überfordern?

Er beschleunigte seine Schritte, bis er wieder neben ihr angekommen war. „Weißt du schon, was du essen möchtest?“

„Nein“, sagte Maria. „Darf ich auch was Teures nehmen? Du bist doch total reich.“

„Denkst du, dass ich das bin?“

„Na hallo mal, eeey! Halt mal die Füße still, Rambo!“

Rambo?, dachte Seishirou. „Ich laufe, es wäre ungeschickt, wenn ich das nicht mehr tun würde, da wir sonst nie beim Essen ankommen. Das wäre dir sicher nicht recht.“

„Arf“, machte Maria. „Ich mein ja nur, du trägst ständig irgendwelche Armani-Anzüge und wohnst in dem riesigsten Schuppen, den ich je gesehen habe. Weißte, wir sind ja auch nicht gerade arm und wohnen in ner netten Gegend in nem riesigen Haus, aber das ist mal echt übertrieben für eine Person.“ Maria nickte.

„Man muss den Schein wahren“, sagte Seishirou. „Immerhin glauben die meisten, dass der Sakurazukamori-Clan aus mehr als nur einer Person besteht. Wäre merkwürdig, wenn sich so ein großer Clan in einem Schuhkasten zusammenquetscht, oder?“

„Da sagste was.“ Maria verschränkte die Arme vor der Brust, die kaum vorhanden war. Sie war noch ein Kind. „Aber darf ich jetzt?“

„Hm?“ Seishirou neigte den Kopf ein Stück zu ihr herunter. „Ach, etwas Teures bestellen?“

Sie sah ihn mit großen Dackelaugen an. Etwas in Seishirous Brust wurde warm. Dann wurde ihm übel. „Natürlich“, sagte er.

„Ey, lauf nicht so schnell!“ Maria nahm Riesenschritte, um weiter neben ihm laufen zu können. „Wir müssen doch nicht rennen.“

„Ich habe keinen Tisch bestellt.“

„Als ob du in überfüllte Restaurants gehst.“ Sie tippte sich an die Schläfe und verdrehte die Augen. „Das glaubste ja selber nich’, Mann.“

Seishirou lachte und blieb mit ihr vor dem kleinen Gebäude stehen, über dem ein rostiges Eingangsschild mit dem Namen des Restaurants hing. Den Namen hatte bisweilen jeder vergessen; selbst der, dem es gehörte. Solange nur das Essen gut war, hieß das Motto, das auf einem eingeschweißten Pappschild an der Tür hing. Seishirou hielt Maria die Tür auf. „Hereinspaziert“, sagte er.

„Ist hier die Mafia?“ Maria streckte den Oberkörper durch die Tür, wandte sich um und sah Seishirou aus großen Augen an.

„Nein“, sagte Seishirou. Er schob sie in den Vorraum. „Das heißt bei uns Yakuza.“
 

Maria lachte nervös. Seishirou musste ihr die Jacke ausziehen. Sie rührte sich nicht vom Fleck und starrte schlicht in den halbdunklen Raum hinein, der voller schwerem Zigarrenrauch war. Seishirou atmete tief ein, als er ihre Jacke und seinen Mantel an die Garderobe hing. „Sitzt du lieber mitten im Raum, in einer Ecke, oder am Fenster?“

Maria gab keine Antwort.

„Liebste Nichte?“

Maria zog verschreckt die Schultern hoch und drehte sich zu ihm um. „Äh, Ecke, Fenster, egal!“ Sie rannte durch die Reihen und setzte sich an eine Eckbank. Seishirou begrüßte beim Vorbeigehen einige alte Bekannte – der Pappa, die AnToiNe und den Asar. Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. So verdeckte er die für sie gruseligen anderen Gäste vollständig. Sie hatte sich den Platz geschickt ausgewählt, das musste er ihr lassen und tat es auch.

Die Bedienung brachte das Menü vorbei. Maria schlug ihres sofort auf und vertiefte sich in die Karte. Das war ihr wohl lieber, als sich mit ihrer Umgebung abgeben zu müssen. Sie musste spüren, dass sie hier nicht hingehörte. Woher auch? Sie war viel zu jung für die ganzen alten Männer. Wohlgemerkt auch für deren Geschmack nicht gut genug gebaut, obwohl AnToiNe sie bestimmt gerne jederzeit aufgefressen hätte. Die AnToiNe war ein Clan, der nur aus drei Frauen bestand, die eine sehr enge Beziehung zueinander pflegten. Seishirou fand ihren Humor eigenartig, und dass sie ihn ständig anfassten, beunruhigte ihn stets. Dass auch sie töteten wusste er, aber wie sie es taten, wusste er nicht. Einige der anderen, allen voran der Asar, behaupteten, dass AnToiNe die Wiedergeburten der Schicksalsschwestern, der Moiren, wären. Was sie ausgerechnet in Japan suchten, das konnte wiederum keiner beantworten.

Seishirou bestellte sich ein Glas Wasser. Maria fragte mit zitternder Kleinmädchenstimme, ob es denn hier auch Cola gäbe. Die Bedienung lächelte sie mitleidig an, nickte und nahm die Bestellung auf.

„Wissen Sie schon, was Sie essen? Bei Ihnen weiß ich es ja schon“, sagte sie an Seishirou gewandt.

Er lächelte hauchdünn zurück und sah Maria an. „Na?“

„SchniPoSa“, sagte sie, dann berichtigte sie sich schnell: „Schnitzel. Pommes. Salat. Bitte.“

Die Bedienung seufzte und schrieb sich alles auf. „Ketchup?“

Maria lief rot an und nickte. Sie stierte die Tischdecke an.

„Kommt sofort.“

Seishirou sah der Bedienung nach und wandte sich nach kurzer Zeit wieder an Maria. „Gefällt es dir hier nicht?“

„Oh.“ Maria hob den Kopf. „Das ist es nicht.“

„Doch, das ist es.“ Seishirou legte die Arme auf den Tisch. „Du kannst ruhig ehrlich zu mir sein. Immerhin darf ich dich ja sowieso nicht töten, richtig?“ Bei dem Wort töten wurde es für einen Moment leise im Raum, dann nahmen alle wieder das Essen auf oder sofern sie geredet hatten, das Gespräch.

„Es ist sehr gewöhnungsbedürftig. Ich hab mir das ja schon mal vorgestellt, bei der Mafia zu essen…“

„Yakuza“, sagte Seishirou knapp.

„… bei der Yakuza“, sagte Maria augenrollend. „Aber dass es tatsächlich so aussehen würde, das ist doch n kleiner Schreck.“

„Wie hast du es dir denn vorgestellt?“ Eigentlich hatte er sie nicht eingeschätzt. Als jemanden, der zu viele Filme sah und dann dachte, die Realität müsste auch so aussehen.

Maria rümpfte die Nase. „Nicht so schrecklich versifft.“

Seishirou zuckte die Achseln. „Leichengeruch härtet ab.“

„Verstehe“, sagte Maria. Ob sie das wirklich überzeugen fand, konnte Seishirou beim besten Willen nicht sagen. Allerdings kam auch schon die Kellnerin und Maria atmete erleichtert aus, als die Frau etwas vor ihr auf den Tisch stellte, mit dem sie sich würde ablenken können.

Seishirou bedankte sich für den großen Teller Spaghetti Bolognese und schwenkte das Glas. „Lass uns anstoßen. Auf eine hoffentlich gute gemeinsame Zeit.“ Er lächelte.

Maria zog die Mundwinkel nach unten. Sie hob ihre Cola hoch und stieß mit ihm an. Sie schluckte, noch bevor sie das Glas an die Lippen angesetzt hatte.

Seishirou drehte sich um und folgte ihrem Blick. Ein im Gesicht äußerst vernarbter Geselle hatte den Raum betreten. Er schlurfte an ihnen vorbei und setzte sich drei Tische weiter weg an seinen Stammplatz. Seishirou kannte ihn, wenn auch nicht seinen Namen. Er drehte sich achselzuckend um.

Maria war kreideweiß im Gesicht.

„Dein Essen wird kalt“, sagte Seishirou.

„Oh, ach ja.“ Maria nahm das Besteck und atmete einmal tief ein.

Ob ihr das nicht zuviel wird?, dachte Seishirou bei sich. Er drehte eine Portion Spaghetti auf seinen Löffel. Sie waren wie immer erstklassig gewürzt, genau wie er es mochte. Die Kellnerin hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Bescheid gesagt, für wen die Bestellung war.

Er aß ein paar Bissen. Seishirous Blick fiel auf Maria. Sie starrte ihn an. „Schmeckt es?“, sagte er bemüht freundlich. Sie hatte noch nicht mal mit dem Essen angefangen.

„Wie machst du das?“

„Wie mache ich was?“ Er drehte die Gabel auf dem Löffel ein und schlug die überstehenden Nudeln um.

„Na das da!“ Maria gestikulierte mit den Händen; sie äffte seine Bewegungen mehr schlecht als recht nach.

Seishirou sah auf seinen Löffel herunter, auf dem brav seine Portion Nudeln und Hackfleisch darauf wartete, verspeist zu werden. „In Italien isst man Spaghetti so.“ Oder so ähnlich, dachte er.

„Voll cool“, seufzte Maria. „Ich verklecker mich da immer tooootal.“

Sie wird lockerer, dachte Seishirou. Umso besser. Er hatte einige Fragen an sie und wenn sie unaufmerksam war, würde sie ihm besser zu verwertende Antworten geben. „Wir können es gerne beim nächsten Besuch zusammen üben.“

Maria fing endlich an, ihr Schnitzel auseinander zu schneiden. Auf Seishirou wirkte das ganz so, als ob sie es zerhäxeln wollte. Nach fünf Minuten war sie fertig; er hatte den Blick nicht von ihrem Teller nehmen können. Es war ein reines Schlachtfeld, dem auch einige Pommes und die Tomaten im Salat zum Opfer gefallen waren.

Seishirou schüttelte den Kopf. Auf seinem Löffel lag noch immer die eingedrehte Portion. Einige Nudeln hatten sich wieder aus dem Nest befreit. Er kämmte sie mit der Gabel zurück und schob sich den Löffel in den Mund. Sie waren lauwarm geworden. Er kaute widerwillig darauf herum. Heiß mochte er es lieber.

„Voll lecker, ey!“ Marias Mund war mit Ketchup beschmiert, obwohl sie höchstens drei Bissen gegessen hatte. Wenn es so weiterging, war sie am Ende noch ein Stück Tomate.

„Das freut mich“, sagte Seishirou. Sie hat wohl schon ganz vergessen, wo sie sich befindet. Nicht dass die Personen im Raum grundsätzlich gefährlich gewesen wären. Das war reiner Aberglaube. Gefährlich waren diese Leute nur, wenn ihnen jemand den Auftrag dazu gegeben hatte. Sonst waren es sehr umgängliche Menschen. Er schloss sich selbst in diesen Kreis mit ein. AnToiNe hätte ihm wohl hierbei widersprochen. Sie hatten keine Ahnung. In dieser Hinsicht mochte er sie nicht. Diese Einstellung erinnerte ihn zu sehr an die Behörde, der er unterstand. Und die Mitarbeiter dieser Behörde konnte er weniger als alle anderen Menschen leiden.

Maria nahm den Mund bei jedem Mal viel zu voll. Erst als sie die Hälfte des Schnitzels verputzt hatte und einmal mit der Serviette über den Mund gewischt fing sie an zu tun, was normale Menschen beim Essen ständig taten. In der Regel fand es Seishirou ärgerlich, denn er genoss sein Essen lieber, statt zu tun, was man eben tat. Nämlich sich über völlig uninteressante Dinge zu unterhalten, als ob sie wichtiger als nichts anderes wären.

Maria redete allerdings nicht um den heißen Brei herum: „Tut mir leid wegen deinem Shiki.“

Seishirou legte den Löffel auf den Rand des Tellers und schluckte seinen letzten Bissen herunter. „Das ist nicht deine Schuld und abgesehen davon auch kein Problem.“ Er lächelte leicht. „Ein paar Tage komme ich auch ohne, wie sagtest du, Piepmatz aus. Mach dir keinen Kopf.“

„Mache ich nicht“, sagte Maria leise und zuckte mit den Schultern. „Oder… na ja.“ Sie sah ihn an. Ihre Stirn zeigte tiefe Sorgenfalten.

Seishirou tat es ihr gleich und runzelte die Stirn.

„Machst du dir denn keine Sorgen wegen Subaru? Immerhin kannst du ihn so ja nicht mehr die ganze Zeit überwachen, wie du es sonst immer getan hast.“ Sie grinste. „Du kannst sehr nett erstaunt schauen, weißte das eigentlich?“

Seishirou lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Hatte er tatsächlich erstaunt ausgesehen? Er hatte keine Anzeichen dafür in seinen Gesichtsmuskeln spüren können. Dass andere Menschen es nicht merkten, wie sie gerade aussahen, wenn die Reaktion völlig natürlich und aus einem inneren, chemisch bedingten Reflex herauskam wusste er. Dass das bei ihm biologisch betrachtet ein Ding der Möglichkeit war, auch – aber dass es je passieren könnte?

Maria nahm einen Schluck Cola. Sie verzog das Gesicht. „Kohlensäure“, nuschelte sie und wackelte mit der Nase. „Also, wenn du magst könnte ich ihn als nach der Schule ein bisschen im Auge behalten.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Seishirou schüttelte den Kopf. „Das wird nicht nötig sein. Ich bekomme stets nur einen Auftrag, bis dieser erledigt ist nie einen anderen. Also habe ich genug Zeit. Aber danke.“ Er lächelte. An seinen Lippen schmeckte er die Bolognese und leckte die Soßenreste ab. „Solange du lebst, kann ich Subaru weiterhin im Auge behalten wie gewohnt.“

Maria schnaubte und spießte einen zerfetzten Schnitzelbissen auf. „Das find ich jetzt aber nicht romantisch.“

„Das hier ist auch keine Verabredung. Du bist mir zu jung.“ Er lachte.

„Und mir fehlt ein Schniedel.“

Jetzt spürte er die Verwunderung in seinem Gesicht und das obwohl sie unkontrolliert, aus Reflex, aufgetreten war. Die Haut seiner Stirn rollte sich wegen der hochgezogenen Augenbrauen auf und die Falten, die dadurch entstanden, waren nicht zu übermerken.

Maria schnaubte und prustete vor Lachen. Panierkrümel spritzten auf die Tischdecke. „Du häffst dein Fesischt sehen scholln.“ Sie lachte kreischend laut.

Die anderen Gäste drehten sich alle zu ihnen um. Seishirou räusperte sich und stand auf. „Ich werde mich mal kurz frisch machen gehen.“

„Muss dir doch nicht peinlich sein.“ Maria lehnte sich über den Tisch. Ihr T-Shirt hing auf den Teller und sog den Ketchup und die Salatsoße gierig auf.

Seishirou verzog keine Miene. Er biss steif die Zähne zusammen. „Nein“, sagte er. AnToiNe kicherten hinter vorgehaltener Hand, als er an ihnen vorbeilief, andere schmunzelten oder stiegen in Marias Lachen mit ein.

Seishirou ging die Treppenstufen zu den Toilettenräumen hinunter. Dort angekommen schloss er die Haupttür hinter sich ab. Er lehnte sich ans Waschbecken und stierte in den verspritzten Spiegel. Hier putzte sehr oft jemand, aber es gab immer wieder Gäste, die aus physikalischen Gründen nicht in der Lage waren, sich normal die Hände zu waschen.

Seishirou betrachtete sein Gesicht zwischen den Wasser- und Seifespritzern. Seine Wangen waren rot, sie fühlten sich warm an, seine Stirn schwer und dicht, als ob ihm Zement in den Schädel gefüllt worden wäre. Er drehte den Wasserhahn auf und beugte sich nach unten. Das Wasser war angenehm eiskalt auf seiner heißen Haut. Er wusch sich minutenlang das Gesicht. Als er den Kopf wieder hob war die Röte verschwunden. Seine Haare waren nass geworden und auch der Anzug hatte an den Schulterteilen und am Kragen etwas abbekommen. Seishirou kämmte sich die vorderen Haarsträhnen mit zwei Fingern zur Seite. Für einen Moment sah er jemand anderen aus dem Spiegel herauslächeln. Die Person hatte ein grünes Auge und ein bernsteinfarbenes.

Seishirou wandte sich um. Hinter ihm klatschten die Flügel eines schwarzen Kolibris aneinander. „Haben dich die Moiren geschickt?“ Er packte den Kolibri und zerquetschte ihn zwischen seinen Fingern. Er löste sich in schleimiges Ektoplasma auf, das schwer auf den Boden tropfte.

„So ist es überhaupt nicht“, sagte er leise. Das Ektoplasma löste sich nur langsam wieder auf. Es war zäh und nicht so flüssig, wie das seines Shikis gewesen war. Was in aller Welt hatte ihn nur angegriffen – wer und wieso? Seishirou wusch sich das Ektoplasma von den Händen. Im Spiegel, zwischen Seife und Wasser, sah er einen Meuchelmörder lächeln.

Früher oder später…
 

Irgendwann würde er seine Kollegen von der Pforte umbringen. Sie kannten ihn seit Jahren und dennoch wollten sie jedes Mal seinen Ausweis sehen, den er nie bei sich trug, weil das zu riskant war. Nur falsche Ausweise steckten immer in seiner Tasche.

Haskell schob die Unterlippe vor. „Ich bitte dich, Stuart!“

Doch Stuart blieb hart. „Ohne Ausweis kommt hier keiner rein. Anweisung vom Obersten.“

„Nenn ihn nicht immer so.“ Haskell lehnte sich an die Theke des Pfortenschalters. „Immerhin ist er auch nicht der allermächtigste Mann Amerikas, nur weil er gerne so tut. Das ist immer noch unser Präsident.“

„Angeblich“, sagte Stuart, „hat der Boss mal für den Posten kandidiert, aber dann hat man ihm diesen Posten angeboten und den fand er besser, weil er damit tatsächlich mächtig ist und nicht nur scheinmächtig.“

Aha, dachte Haskell. Vor allem hassen einen so nur die Mitarbeiter und nicht gleich die ganze Welt. Würde sie aber, wenn sie wüsste, was man in dem Job tun muss.

Haskell streckte sich vor und erwischte haargenau den Knopf, der die Pforte öffnete. Gut, dass ich auf meine alten Tage noch so gelenkig bin, dachte er.

Er huschte durch das geöffnete Gatter ohne auf Stuarts beleidigtes Jammern zu hören. In zwanzig Minuten hatte er beim Boss auf der Matte zu stehen. Wenn der Aufzug immer noch nicht oder schon wieder nicht funktionierte, musste er bis in den höchsten Stock laufen und obwohl er sportlich war, war Treppensteigen nicht seine liebste Beschäftigung. Besonders bei diesen Treppen. Im Hauptgebäude war man darauf bedacht, seine Mitarbeiter möglichst lange am Schreibtisch zu halten, deswegen waren die Stufen so schmal und der Aufzug meist defekt (oft mit Absicht, munkelten zumindest die weiblichen Kolleginnen), dass sich niemand die Mühe machen wollte auch nur zur Mensa im untersten Stockwerk zu gehen um sich etwas zu essen zu holen. Das mochte wohl auch der Grund sein, warum alle Angestellten der Behörde wahnsinnig schlank waren und die meisten Todesfälle nicht wegen Selbstmord oder dem gefährlichen Job waren, sondern weil sie schlicht verhungerten. Um etwas zu trinken musste man sich allerdings keine Sorgen machen. An jeder Ecke stand ein Getränkeautomat. Die Getränke waren kostenlos für alle Mitarbeiter und die, die es werden wollten. Was viele waren, denn wenn man das Gebäude einmal betreten hatte, fand man als Neuling und Bewerber nicht mehr heraus. Schließlich ließ man sich dann anstellen und jemand zeigte einem, wie man herausfand.

So war es damals auch Haskell ergangen. Er erinnerte sich gut an seinen ersten Tag. Hier hatte er sich verlaufen; Stock 5, Treppenhaus 2. Er war dem Chef über den Weg gelaufen, fast in ihn hineingestolpert. Er war ja noch so jung gewesen. Haskell legte die Hand aufs Treppengeländer und strich mit dem Daumen über das kalte Metall. Es hatte sich überhaupt nichts verändert in der langen Zeit, in der er nun schon dieser Behörde zu Diensten stand. Er war in der Hierarchie weit aufgestiegen, der Boss war immer noch eine der furchtbarsten Personen, die er je kennen gelernt hatte, der Aufzug war defekt, die Handys alt und die Sekretärinnen konnten fast alle Sprachen der Welt fließend sprechen und problemlos in allen möglichen Schriftarten schreiben, während sie sich nebenher schminkten oder auf magische Weise Essen aus der Mensa bekamen; letztendlich waren sie so hübsch, dass zumindest für einen kurzen Fick mit ihnen jeder die Treppen hinab stieg und ihnen etwas zu essen holte. Für sich selbst vergaßen sie es.

Haskell war ein einziges Mal darauf hereingefallen. In seiner ersten Woche. Haskell lächelte bei der Erinnerung daran. So hatte er seine Frau kennen gelernt. Es war nicht die Sekretärin gewesen, für die er das Essen geholt hatte, sondern die Bedienung in der Kantine. Er hatte sich sofort in sie verliebt und völlig vergessen, dass er jemandem ja etwas zu essen versprochen hatte. Sie hatten sich die ganze Pause über unterhalten und es war ihm nicht wegen der steilen und zahlreichen Treppen ein Graus gewesen, zurück zum Schreibtisch zu gehen, sondern weil er sie hatte verlassen müssen. Drei Monate später hatten sie geheiratet und wieder neun Monate später war ihre süße Tochter zur Welt gekommen.

Haskell fühlte in seiner Brusttasche nach. Das Foto mit der Geheimtinte, das seine Tochter zeigte, wenn man es mit menschlichem Speichel einrieb, war dort sicher verstaut. Er schaute es sich nur selten an, aber das Wissen, es bei sich zu haben, half ihm in jeder Situation.

Er öffnete die Tür im siebten Stock und ging auf seinen Schreibtisch zu. Bevor ich ihm gegenübertrete sollte ich lieber eine Kopie der Akte machen, dachte er. Haskell stellte sich vor das Kopiergerät und legte die Blätter der Akte nach und nach darauf. Das Gerät war nicht das schnellste seiner Marke. Haskells Blick schwenkte zur großen Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Noch zehn Minuten. „Mach schneller, du blödes Ding“, murmelte er.

„Husky“, sagte eine vertraute Frauenstimme.

Haskell wandte sich um. Ein Lächeln trat auf seine Lippen. Es war sogar ein ehrliches. „Mija.“ Sie war letztes Jahr aus der Ukraine gekommen, hatte sich eine Green Card besorgt und sofort in der Behörde angefangen. Haskell mochte sie. Mija war zielstrebig und fleißig, nicht wie die meisten anderen, die mit auf seinem Stockwerk arbeiteten. Als Abteilungsleiter konnte man da schon mal ins Schwitzen geraten. Nicht so bei Mija. Wenn er nicht da war, leitete sie die Abteilung mit eiserner Hand.

Sie umarmte ihn fest. „Seit wann bist du wieder da?“

Ihr Körper roch nach Rosmarin und Lavendel. Haskell sog den Geruch tief in sich ein. Das gleiche Parfüm verwendete auch seine Frau. Wie lange hatte er sie schon nicht mehr gesehen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Haskell seufzte. „Seit zwei Stunden.“

„Da bist du aber ganz schön gerast“, sagte Mija lachend.

„Kann man so sagen.“ Er nahm die ausgedruckten Kopien aus dem Gerät. Endlich fertig, dachte er. „Weißt du, ob wir noch leere Ordner haben?“

„Mhm“, machte Mija und tippte den Zeigefinger an ihr Kinn. „Ich denke schon. Auf alle Fälle hab ich mir mal fünf zur Not geklaut.“

„Vorsorge“, sagte Haskell.

„Das auch“, sagte Mija. Sie lief zu ihrem Schreibtisch und zog einen Ordner heraus, den sie ihm gleich reichte. Sie hielt ihn aber noch fest in ihren kleinen Händen.

Überhaupt reichte sie Haskell kaum bis über den Bauch. Er hätte ihr ohne Probleme den Ordner aus der Hand reißen können; er hatte es eilig und sie war selbst oft sehr ruppig. Aber er tat es nicht und legte stattdessen den Kopf schief. „Ist noch etwas, Mija?“

„Husky“, sagte sie leise. „Der Boss ist überhaupt nicht gut drauf. Irgendwas ist letztens schief gelaufen.“

Haskell wurde hellhörig. Wenn er nicht da war, lief oft etwas schief, aber war es so ernst, dass es nicht mehr nachhaltig berichtigt werden konnte? Das kam so gut wie nie vor. „Hat das irgendeine besondere Bewandnis?“

„Ja“, sagte Mija. „Du weißt doch, diese Aktion. Die Kooperation mit Japan.“ Sie ließ den Ordner los.

„Deswegen war ich dort, ja.“ Haskell heftete die Blätter in den Ordner.

Mija nickte und sah sich um. Es war niemand im Raum außer ihnen. „Da ist etwas in Umlauf gekommen, das noch nicht hätte rauskommen dürfen. Die Japaner sind ziemlich sauer.“

„Von wem?!“

„Koreaner“, sagte Mija.

Haskell hielt inne. Koreanische Behörde und japanische Behörde. Die beiden konnten sich noch weniger leiden als die amerikanische und die japanische. Wobei das eine persönliche Fehde zwischen mir und dem Kerl sein könnte, dachte Haskell milde amüsiert. „Was ist es denn dieses Mal?“

„Sie werden demnächst jemanden umbringen“, sagte Mija.

„Das tun sie ständig.“ Haskell zuckte die Achseln. „Was ist daran so schlimm? Die Japaner haben doch genügend Streitkräfte, damit es nicht wen trifft, der noch weiterleben soll.“

Mija schüttelte heftig den Kopf. „So ist es dieses Mal aber nicht!“, zischte sie.

Die Uhrzeiger waren knapp vor der nächsten Stunde. „Also, ich muss los.“

Mija verzog das Gesicht. „Husky, hör mir nur kurz zu!“

„Wir reden nachher“, sagte er und lächelte. Er steckte sich den Ordner unter die Achseln und reichte ihr das Original. „Pass bitte darauf gut auf, ja?“

Mija starrte die Akte an. „Zweiunddreißig“, sagte sie atemlos.

Haskell runzelte die Stirn. „Du kannst sie dir ruhig durchlesen.“ Er flitzte aus der Tür und die übrigen zwei Treppen hinauf.

Er rutschte mehrfach aus und legte sich beinahe auf den Hosenboden. Glücklicherweise war sonst niemand in diesem Treppenhaus unterwegs und er musste sich nicht weiter darum scheren oder sich gar schämen.

Vor der Tür des Chefzimmers angekommen rückte er seine Kleider zurecht und begradigte seine Haltung. Er zog die Schultern an und hob die Brust. Dann klopfte er an.
 

„Herein“, sagte der Boss. Seine Stimme war rau und kratzig.

Hat er wieder getrunken, dachte Haskell. „Jawohl.“ Er betrat das Büro. Es war unwahrscheinlich dunkel; normalerweise liebte der Boss ein von Licht durchflutetes Zimmer. Das bestärkte nur noch Haskells Vermutung, dass sich sein Boss mal wieder etwas mehr Whiskey erlaubt hatte, als für ihn gut war. Auch noch zur Arbeitszeit und wenn es wichtige Dinge zu besprechen gab. Vielleicht gerade deswegen.

Haskell legte die kopierte Akte auf dem Schreibtisch ab.

„Setzen Sie sich doch, Husky.“

Haskell verbeugte sich knapp und setzte sich in einen der weich gepolsterten Sessel. Der Chef wollte wenigstens ein Gutes für seine Mitarbeiter tun: wenn er sie zusammenschiss, sollten sie wenigstens weich sitzen. Haskell versank in dem nachgiebigen Stoff. Er kam sich wahnsinnig klein vor, setzte sich aber möglichst gerade hin und ließ sich sonst nichts anmerken. „Sie wollen mit mir etwas besprechen, sehe ich das richtig, Boss?“

„Oh bitte, nennen Sie mich endlich Jamie, wie alle anderen hier.“

Haskell zuckte mit den Achseln. Er mochte es nicht, den Boss mit Vornamen anzusprechen. „Jamie“, sagte er widerwillig.

„Schon besser“, sagte Jamie und lächelte. Seine Augen waren verhangen, das konnte Haskell selbst in der finsteren Dunkelheit sehen, mit der sich der Boss vor dem Migräne verursachenden Sonnenlicht verbarg.

„Also, was ist denn nun dermaßen wichtig? Es muss ja etwas Dringendes sein, wenn Sie den Termin auf einen bestimmten Zeitpunkt legen.“

Jamie griff nach einem Glas, in dem durchsichtige Flüssigkeit schwappte. Ob es Wasser oder Alkohol war konnte Haskell nicht sagen. Es roch im ganzen Raum nach Alkohol, Wasser hätte er bisweilen nicht herausschmecken können. Er wehrte sich gegen seine Hand, die die Fahne des Chefs wegwedeln wollte. Immer wieder stieg ihm der Whiskey-Atem ins Gesicht.

Jamie trank das Glas leer und stellte es wieder ab. Er seufzte. „Es ist in der Tat äußerst dringend, Husky.“

Haskell kniff die Augen zusammen. „Ach ja?“

„Sie müssen wieder zurück nach Japan. Und zwar schnell.“

Haskell klappte unfreiwillig der Mund auf. Er war gerade eben erst wieder in Amerika angekommen und sollte schon wieder zurück fliegen? Kam gar nicht in die Tüte. Nicht mit mir, dachte Haskell. Er hatte schließlich auch seine Prinzipien und nach zweimonatiger Auslandsreise war es absolut unmöglich, gleich wieder zu verschwinden. „Haben Sie denn nichts hier für mich zu tun? Mija erzählte mir, dass es Probleme gegeben hat.“

„Die lassen sich aber nur dort lösen“, sagte Jamie. Er rieb mit der einen Hand über die faltige andere. „Tut mir sehr leid. Ich weiß, Sie vermissen Ihre Frau sehr.“

Haskell schnaubte so leise wie möglich. Wie sehr er seinen Chef verachtete, konnte er mit Worten nicht ausdrücken und wenn er es mit Taten zu sehr ausdrückte, würde ihm etwas schlimmeres bevorstehen als eine einfache Kündigung; er musste auch an seine Tochter denken. Sie brauchte ihn, seine Familie brauchte diesen Job. Haskell hielt sich also zurück und seinen Hass zusammen mit allen anderen negativen Gefühlen, die er dem Chef entgegenbrachte, in seinem Herzen eingeschlossen. Irgendwann würde er hier rauskommen, sich einen einfachen Beamtenjob suchen und sein Leben lang nie wieder um seine Familie Angst haben müssen. Haskell merkte, dass er anfing zu schwitzen. Konnte er es sich erlauben, sich mit einem Taschentuch die Stirn abzuwischen? Lieber nicht, beschloss er schnell.

Jamie stand auf und ging um den Tisch herum. „Die Koreaner mal wieder. Hat Ihnen Mija bestimmt schon gesagt.“ Jamie betrachtete ihn aufmerksam.

Haskell nickte.

„Sie wollen, dass da jemand umgebracht wird. In Japan.“

Soviel war ihm auch schon klar gewesen, nachdem er mit Mija gesprochen hatte. Und dazu war er nun das Treppenhaus hochgejoggt? Haskell stieg Magensäure die Kehle hinauf bis hinten in den Mund. Er schluckte sie herunter ohne eine Miene zu verziehen.

„Allerdings ist diese Person schon etwas älter. Ein Clanoberhaupt.“

Etwas älter konnte bei Jamie viel heißen. Obwohl er schon auf die siebzig zuging, hielt er sich für einen Zwanzigjährigen, der sogar Fünfundzwanzigjährige für alt hielt. Haskell fragte nicht nach. Er würde es letztendlich ja gesagt bekommen oder in einer Akte lesen.

„Das ist sehr pikant, diese Angelegenheit, wissen Sie? Sehr pikant“, murmelte Jamie und schenkte sich ein Glas Whiskey ein.

Haskell rümpfte die Nase. „Die Angelegenheiten, die wir behandeln, sind stets sehr pikant“, sagte er.

Jamie lachte trocken. Dann musste er husten. „Ach“, machte er und rieb sich die Kehle. „Da haben Sie natürlich vollkommen Recht. Aber es ist ja nun nicht so, als ob wir jedem alles durchgehen lassen könnten. Das meiste, ja, aber nicht alles.“

„Und diese Sache gehört dazu?“

Jamie nickte. Er reichte Haskell ein Glas.

Haskell hob ablehnend die Hand und schob das Glas von sich. „Aber ich habe in Japan schon einen Auftrag zu erledigen.“

„Den können Sie gleich mit dazupacken.“

„Er war erst für Ende des Sommers geplant!“ Es war doch erst Frühjahr.

Jamie sah ihn streng an. „Wollen Sie mir etwa widersprechen? Finden Sie nicht, dass das viel Zeit spart? Sie könnten endlich mal wieder Winterferien machen.

Winterferien hatte er eine Ewigkeit nicht mehr gehabt.

„Sie könnten zu ihrer Frau und Tochter“, sagte Jamie. „Die würden sich doch bestimmt sehr freuen.“

Haskell knirschte mit den Zähnen. „Na gut. Um was genau geht es? Haben Sie schon eine ausformulierte Akte für mich?“

Jamie schwenkte sein Glas umher. „Ja, die habe ich. Sie wurde allerdings schon an das Hotel geschickt, in dem Sie dieses Mal residieren werden. Es wird Ihnen gefallen. Sehr schick eingerichtet.“

Also wieder nur Bed&Breakfast mit ein paar Kakerlaken hier und da, dachte Haskell grimmig. „Meinetwegen“, sagte er.

„Ihr Flug geht in einer Woche.“ Jamie grinste ihn an. „Enttäuschen Sie mich nicht.“

„Habe ich das je?“

„Genau deswegen bitte ich Sie darum.“

Ha ha, dachte Haskell. Der Humor seines Chefs war eigenartig. Er hätte ihm am liebsten in den Magen geschlagen, wie dem Terroristen wenige Stunden zuvor. Wie hatte er geheißen? Abu, genau. Ob er es berichten sollte? Nein, dachte Haskell, das geht die Amerikaner gar nichts an.

Haskell stand auf und verbeugte sich, dieses Mal etwas tiefer. Jamie war nicht mehr der Größte und es ihm aufzuzeigen, wenn er betrunken und schlecht gelaunt war… Haskell konnte darauf verzichten. „Die Tickets?“

„Liegen auf ihrem Schreibtisch“, sagte Jamie. „Gehen Sie jetzt.“ Er winkte zur Tür.

„Auf Wiedersehen.“ Haskell wartete nicht darauf, dass Jamie ihn auch verabschiedete. Er verließ das Zimmer und rannte die Treppenstufen herunter. Verdammt, dachte er. Warte nur noch ein bisschen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  2you
2010-01-01T16:26:09+00:00 01.01.2010 17:26
echt cool die ganze Geschichte und ich bin echt gespannt, wies weiter geht. wäre schön wenns endlich spannend werden würde vorallem zwischen Subaru und Seishirou. Ich liebe die zwei und bin mir sicher, dass noch echt viel passieren wird. Ich bin gespannt - schreib schnell weiter - es icht echt super!!!!!!!!!!!!!!!!!!


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