Das 40ste Stockwerk von Morphoe ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die knochigen Hände um die dürren Beine geschlungen, saß er auf einem Stapel alter, feuchter Zeitungen. Er hatte sie in einer Mülltonne ein paar hundert Meter entfernt von hier gefunden und war froh, nicht auf dem kalten, von einer leichten Eisschicht bedeckten und bereits von Millionen von Schuhen belaufenen Asphalt zu sitzen. Ganz zu schweigen von den klebrigen, inzwischen von der Kälte hart gewordenen Kaugummis, die ein jeder achtlos auf den Boden spukte, sodass der graue Asphalt im Laufe der Zeit ein seltsames Muster angenommen hatte. Zwar war ihm inzwischen jegliches Gefühl von Ekel abhanden gekommen, er erinnerte sich manchmal noch kopfschüttelnd daran, wie er vor ein paar Monaten, gekleidet in einen teuren Anzug und immer frisch rasiert, vor Menschen, nein, sogar Gesindel hatte er es genannt, wie ihm angewidert zurückgewichen ist, doch auf diesen unbedeutend kleinen Komfort wollte er heute nicht verzichten. Wenn er doch sonst nichts hatte, an dem er sich hätte erfreuen können. Zitternd wiegte er sich hin und her. Seine Ohren waren so kalt, dass sie schmerzten; die zerfetzte Mütze, die er auf seinem stinkenden und fettigen Haar trug, half schon lange nicht mehr. Auch nicht die dünnen Handschuhe, die nur bis zu den Fingerknöcheln reichten, oder der von Blut und Rotz verdreckte Schal oder die viel zu große Jacke, deren Wattierung an machen Stellen herausquillte. Nichts half mehr. Nichts. Er ließ seine Augen über die Menschenmasse wandern, die wie einem Flussstrom gleichend an ihm vorüberzog. Weißer Atem mischte sich mit sinnlosem, freudigem Gerede und Gelächter. Das selige Lächeln, dass er ohne Mühe in den Gesichtern der Menschen zu erkennen vermochte, und keiner von ihnen lächelte alleine, machte ihn eifersüchtig. Würde er an den Weihnachtsmann glauben, dachte er, hätte er ihm bestimmt einen Wunschzettel geschrieben, in all seiner Verzweiflung. Nur einen einzigen Wunsch sollte er ihm erfüllen. Den Wunsch, das Gefühl zu haben, von auch nur einem einzigen Menschen auf dieser Welt geliebt zu werden. Dieser Mensch hätte ihm heute sicherlich schöne Weihnachten gewünscht, und ihn dabei wohlwollend angelächelt. Einsamkeit, das ist das Messer, das immer wieder und mit voller Wucht in mein Herz sticht und sich darin genussvoll wetzt, bis ich den Schmerz kaum noch ertrage; diese Worte schwirrten wie eine Melodie durch seinen Kopf. Unbeholfen erhob er sich, schwankte bei den ersten Schritten ein wenig und versuchte dann, sich einen Weg durch die Menschenmasse zu bahnen. Der Gedanke, dass sie alle in ein paar Stunden an einem festlich gedeckten Tisch sitzen, sich gegenseitig herrlich duftende Speisen reichen und danach ihre Geschenke auspacken würden, enttäuscht von dem, was da unter dem mit dicken Weihnachtsmännern und blondgelockten Engeln bedruckten Geschenkpapier hervorlugen würde, schien für ihn unerträglich. All die blinkenden Lichter an den Häuserfassaden, das gemütlich einladende Leuchten, das von den Fenstern ausging, und die mit roten Kugeln geschmückten Weihnachtsbäume, die in jeder Ecke der Stadt standen, kamen ihm verschwenderisch vor. Die ganze Stadt leuchtete in einem sanften Goldton, und er stellt sich vor, wie sie von oben betrachtet aussehen könnte, diese Stadt. Wie die Sterne an Firmament, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Und da erinnerte er sich an das gewaltige Hochhaus, das mitten in der Stadt stand, und eine Vielzahl von kleinen Firmen beinhaltete. Dort würde er hingehen. Nun, mit diesem Ziel, beschleunigte er seine Schritte, und es dauerte nicht lange, bis er vor einem Klingelkasten mit geschätzten hundert Namen stand. Wahllos fing er an, auf die Klingeln zu drücken, und als sich dann endlich eine Stimme über die moderne Sprechanlage meldete, gab er vor, seinen Schlüssel vergessen zu haben. Anscheinend sind die Menschen an Weihnachten noch leichtgläubiger als sonst, fuhr es ihm durch den Kopf, als er lächelnd aufgrund dieses Erfolges die Eingangshalle betrat. Mit dem glänzend silbernen Fahrstuhl fuhr er in den 40.Stock; weiter nach oben ging es nicht. Eisig kalter Wind schlug ihm entgegen, als er endlich auf den Dach dieses fast schon monströsen Gebäudes stand; er band seinen Schal noch fester um seinen Hals, aber wie erwartet hatte das nicht den gewünschten Effekt. Tatsächlich, flüsterte er leise, als er auf die Absperrung zuging; die Stadt sieht von oben so aus, wie eine Ansammlung von Sternen. Was ihn an diesem Anblick so sehr in den Bann zog, wusste er nicht, vielleicht war es einfach ein Zauber, der davon ausging, ein Zauber, der eine ungewohnte Wärme in ihm aufkeimen ließ wie ein leises Feuer und ein Lächeln, so als schwebe er in einem wundersamen Traum. Eine Weile stand er so da, vielleicht auch eine kleine Ewigkeit, und merkte nicht, dass unweit neben ihm eine Gestalt auf den Boden kauerte. Erst, als dieser ein verlorenes Räuspern entkam, nahm er ihre Anwesenheit wahr und wurde zugleich gezwungen, in die Realität zurückzukehren; am liebsten wäre es ihm gewesen, hätten ihn die ersten Sonnenstrahlen des Tages sanft aus seiner Träumerei gerissen. Intuitiv befohl er sich beim Anblick dieser Gestalt so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, denn auf Ärger wollte er verzichten, doch etwas hielt in zurück. Dieses Etwas rief immer und immer wieder seinen Namen, er war nicht im Stande, es zu überhören, so zu tun, als wäre es nicht da. Seine Gelenke knackten fürchterlich, als er sich vor der Gestalt hinkniete. Zwar sah er aufgrund der Dunkelheit nur schemenhaft, doch das, was er glaubte, zu erkennen, ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken: da saß eine Frau, mit langen, dunklen Haaren, eingehüllt in einen teuren Pelzmantel und ihr süßer Duft verriet ein teures Parfüm. »Hallo?«fragte er unsicher. Keine Antwort. Vorsichtig streckte er die Hand aus, und berührte sie sanft an der Schulter; sie zuckte nur kurz, wehrte sich jedoch nicht gegen diese Berührungen. »Kann ich ihnen irgendwie helfen?« Zugleich wurde ihm die Ironie dieser Frage bewusst; als ob er, bettelarm und mit nichts, in der Lage wäre, jemandem zu helfen! Er konnte ja nicht einmal sich selbst helfen. Die Frau schüttelte den Kopf. »Setzen sie sich«, sagte sie dann. Er tat es, dachte sich dabei jedoch, dass er im Gegensatz zu ihr keinen teuren Mantel trüge, der ihn vor der Kälte hätte schützen können. »Wollen sie etwas Lebkuchen?« Dabei zeigte sie auf eine weiße Papiertüte, die neben ihr lag, und zweifelsohne von dem Weihnachtsmarkt sein musste, der seinem Magen schon seit Wochen mit seinen herrlichen Düften quälte. »Gerne.« Sie reichte ihm die Papiertüte, er machte sich gierig darüber her, bekam gerade noch ein Danke zustande. »Was machen sie hier eigentlich, so ganz alleine?«, fragte er, mit unzerkautem Lebkuchen im Mund. »Gäbe er hier auf dem Dach keine Absperrung, dann wäre ich gesprungen«, stellte sie tonlos fest. »Sie wollten ihr Leben einfach so wegschmeißen, wie andere ein benutztes Taschentuch?« »Ich habe mit dem Gedanken gespielt.« Plötzlich stand er ruckartig auf, die Tüte mit den Lebkuchen fiel zu Boden, und er spürte eine schon halb vergessene Leidenschaft in sich aufkeimen. »Sehen Sie doch einmal mich an! Ich habe nichts, keine Familie, keinen Ort, an den ich gehöre, niemanden, der mich in den Arm nimmt, wenn es mir schlecht geht, ich bin einsam, manchmal so sehr, dass ich mich nicht einmal mehr traue, zu weinen, weil ich nicht wüsste, wie meine Tränen wieder unter Kontrolle bringen könnte- doch trotz alle dem, ich kämpfe jeden Tag. Jeden verdammten Tag kämpfe ich. Und wissen Sie auch, warum?« Er wartet ihre Antwort nicht ab. »Wie könnte ich sterben, ohne zu wissen, ob ich nicht vielleicht eines Tages wieder glücklich sein werde? Wie könnte ich?« Etwas außer Atem ließ er seine Hände sinken. Sie richtete sich nun ebenfalls auf, langsam, bedacht auf jede Bewegung. »Kommen Sie mit«. »Wohin?« Sie antwortete nicht, griff nur sein Handgelenk und hielt die andere Hand in die Luft. »Es schneit«, sagte sie leise, und durch die Art und Weise, wie sie es sagte, wusste er, dass sie lächelte. »Ja, Schnee...« Er schloss die Augen und hielt sein Gesicht den Sternen entgegen. Nicht den Sternen unter ihm, sondern den Sternen hoch über ihm, so unendlich weit entfernt, so ungreifbar. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)