Milchkaffee von lufie ================================================================================ Kapitel 1: Milchkaffee ---------------------- Alicia saß seit acht Stunden hier. Das Polster im Laufe der Jahre plattgesessen, aus den Nähten krümelte speckiger Schaumstoff auf die kalten Fliesen. Gelangweilt starrte sie auf ihre Hände, auf das Lindgrün ihrer glänzenden Fingernägel, gespickt von weißen Pünktchen. Das hatte heute Morgen gedauert, die Pünktchen aufzumalen, beinahe hätte sie deswegen ihren Bus verpasst. Aus den Lautsprechern schallten alte, abgegriffene Achtziger. Sie seufzte. Konnten die nicht mal einen anderen Sender einschalten? Jeden Tag dasselbe. Sie strich sich die schwarzen Haare hinter die Ohren, nur, um sie zwei Minuten später wieder hervorholen zu können. Ein großer, hagerer Mann mit einer riesigen Hornbrille auf der krummen Nase näherte sich ihr zögerlich, die Arme beladen mit seinem Zeug. Kaffee, Dosenschinken, Rasierwasser, Tageszeitung. Süßstoff. Mit mechanischen Bewegungen zog sie alles über das Band, hämmerte auf die Eingabetaste. „7, 43 €“ Ihrem Gesicht war keine Regung abzulesen, während sie den Kaugummi von der linken Backentasche in die rechte schob. Und wieder zurück. Sie unterdrückte ein Gähnen. „Und 2, 57 zurück. Dankeschön. Wiedersehen.“ Mit lautem Knall schlug sie das Geldfach zu. Der Typ quetschte alles liederlich in eine abgewetzte Ledertasche, dann zog er davon auf seinen langen schlaksigen Beinen in den zu kurzen Cordhosen. Die Neonröhre an der Decke flackerte, draußen machte sich Dunkelheit breit, Autoscheinwerfer huschten vorbei. Eine kleine gebückte Oma schob mit trippelnden Schritten ihren Einkaufswagen heran. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihr Handy. 19.50 Uhr. Gleich Feierabend. Zehn Minuten. Margarine. Suppengemüse. Piep, piep. Ratter. Katzenfutter. Milch. Mitteljunger Gouda. Hautschonendes Shampoo. Piep, ratter. Grüne Buchstaben auf dem Display. „11, 07 €“ Ihre Hand ruhte auf der Eingabetaste. Noch 8 Minuten. Die Alte runzelte die Stirn. Verwirrt beugte sie sich ein Stück vor. „Ähm...ich“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, die Hängebäckchen bewegten sich mit. „Entschuldigen Sie, ich hab Sie nicht...“ „11, 07€“ Alicias Stimme klang gereizter, als sie es beabsichtigt hatte. Aber egal, die Oma würde es eh bald vergessen. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf den Tasten herum. Die Hände der Alten zitterten, als sie den Schein aus ihrem Portemonnaie zog. „7 Cent?“ Sekundelang starrte die Frau sie an aus großen wässrigen Augen. Alicia winkte ab. Seufzte. Kratzte die letzten Münzen aus dem Geldfach. Deckel zu. Affe tot. „Wiedersehen.“ Mühselig packte die Oma die Sachen in einen Beutel. Schenkte ihr ein dünnes, faltiges Lächeln, dann trippelte sie davon. Und ließ den Einkaufswagen stehen. Alicia übersah es. Egal, sollte jemand anders sich darum kümmern. Ihre Kollegin quetschte ihren breiten Hintern zwischen den Regalen hindurch, einen Wischmopp schwingend. Sie mochte die Lieder im Radio, sie mochte die Kunden, sie mochte ihren Job, das Wetter. Jeden Tag gut gelaunt, das war doch nervig. Sie stützte den Kopf in die Hände. Sie hatte keine Lust, aufzuräumen. Sie würde sich einfach nach Hause schleichen. Wenn gerade niemand hinsah. Noch 4 Minuten. 36 Sekunden. 35. 34... Umständlich stand sie auf, ihre Beine fühlten sich taub an, das war alles viel zu eng hier. Schob sich aus der Kasse. Ihre Jacke lag hinten in der Lagerhalle. Und ihre Schuhe auch. Die Kollegin stieß zwei Marmeladengläser aus dem Regal. Ein Klirren, als sie über den Boden rollten. Neben der Fleischtheke waren Butterkekse preisgesenkt. 40% günstiger. Wer dachte sich sowas aus? Die Dinger kaufte doch trotzdem niemand. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Gerade wollte sie die Tür zum Lager aufstoßen, als sie innehielt. Ein verschnupftes Schniefen. Von dort hinten, zwischen Gewürzregal und den eingelegten Gurken. „Hallo?“ Ihre eigene Stimme hallte an den Wänden wieder. Sie wartete. Sekunden verstrichen. Tick, tack, tick, tack. Dann wieder. Ein unterdrücktes Husten. Ganz sicher. Mit entschlossenen Schritten näherte sie sich. Vielleicht ein Kind, das seine Eltern verloren hatte? Ihre Schritte wurden schneller. Schlitterte um die Ecke und...ein alter Mann lächelte sie verlegen an. Er saß auf dem Boden, die Beine überkreuzt. Auf dem Schoss einen dicken Stapel Zeitschriften. Eine hielt er in den Händen. Ein riesiges, über beide Seiten gedrucktes Gesicht sprang ihr entgegen. Perfekte, gebräunte Haut, quietschig grüne Augen. Wahrscheinlich in mühseliger Kleinarbeit am Computer retuschiert. Der Typ lächelte noch immer. Ein Lächeln, das man vielleicht als entwaffnend hätte bezeichnen können, hätte er Zähne gehabt. „Ähm...“ Sie zwang sich, nicht laut zu werden. Noch nicht. „Wir schließen gleich. Würden Sie also bitte...?“ Sie machte eine weisende Handbewegung in Richtung Ausgang. Er nickte. Lächelte wieder, wie blöde. Bestimmt ein Penner. „Einen Moment noch“ Dann steckte er seine Nase wieder zwischen die bunt bedruckten Seiten. Sie biss sich auf die Lippe. Schluckte die abfälligen Bemerkungen hinunter, die sich auf ihrer Zunge breit machten. „Sie sollten vielleicht mal zum Augenarzt gehen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Hm?“ Überrascht hob er den Kopf, dann wieder dieses Lächeln. „Nein, nein. Keine Sorge. Meine Augen waren immer fabelhaft und sinds noch immer.“ Alte Leute hatten eine seltsame Art zu reden. Er ignorierte ihre überspannten Nerven. Oder bemerkte sie nicht. „Wissen Sie“, redete er weiter. „Ich suche die Fotografen auf den Bildern.“ „Jaja, gut und schön. Verlassen Sie jetzt bitte die Halle.“ Sie griff nach dem Stapel Hefte, aber er hielt sie mit der einen Hand umklammert. „Nein, nein, jetzt warten Sie doch mal.“ Aus seiner Stimme klang keinerlei Ungeduld, er blieb völlig ruhig. Als würde er einem Schulkind eine Matheaufgabe erklären. Mit beiden Armen riss er das aufgeschlagene Heft in die Höhe, direkt vor ihr Gesicht, so nah, dass sie die Druckerfarbe riechen konnte. Sie wich zurück. „Sehen Sie ihn, sehen Sie ihn?“ Seine Augen leuchteten. Erwartungsvoll. Neugierig. Sie spürte Wut in sich hochkochen. Wie Milch, die jemand zu lange auf dem Herd hatte stehen lassen. Der war doch nicht ganz richtig im Kopf. Verärgert riss sie ihm das Heft aus der Hand. „Ich sehe überhaupt niemanden. Verlassen Sie jetzt bitte sofort das Geschäft!“ Das konnte doch nicht wahr sein, sie hatte seit drei Minuten Feierabend und musste sich hier mit so einem Verrückten herumschlagen. Der Mann ging schneller, als sie vermutet hätte. Wie ein Dieb, ein Schuldiger schlich er sich aus der Tür, gebückt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Den ausgeblichenen Mantel um den schmächtigen Körper gewickelt. Alicia sah ihm nicht hinterher. Idiot. Sie machte sich nicht die Mühe, die Zeitungen wieder ins Regal einzusortieren. Warf sie achtlos auf das Fließband. Rief der Kollegin ein knappes „Tschüss“ zu, was die nicht hörte, weil sie am anderen Ende der Halle noch immer mit dem blöden Wischmopp herumfuchtelte, dann ging sie. Seit geschlagenen zwei Stunden saß Coffee auf seiner Bank. Der Tag neigte sich dem Ende zu, sein Pullover fühlte sich klamm und feucht an, die Kälte kroch an den Häuserwänden hinauf wie Ungeziefer, gefräßiges Getier. Er hauchte in seine Hände. Unterwegs hatte er einen Handschuh verloren. Vielleicht im Zug, eingeklemmt zwischen Sitzen, Fahrrädern, Taschen. Koffern. Bauchschmerzen, Angstschweiß, erwischt zu werden. Erwischt zu werden und von der Polizei persönlich nach Hause gefahren zu werden. Wer achtete da schon auf einen Handschuh. Das Reklameschild auf dem Hausdach gegenüber glomm schwach. Ganz leise hörte er den Verkehr der Landstraße in weiter Ferne. Er verdrängte die Kälte. Den Hunger. Vor allem das schlechte Gewissen, die beißenden Gedanken. Ein Mann näherte sich, den Rücken gebückt und krumm, eine Plastiktüte in der einen, eine zusammengerollte Zeitung in der anderen Hand. Die Bommeln an seiner Mütze schlenkerten im Takt seiner schlurfenden Schritte. Schlammbespritzte Gummistiefel. Er grinste im Näherkommen. Ein zahnloses Grinsen, nur schwarze Leere, faltige, aufgesprungene Lippen. Unrasiert. Zerzaust. „Arizona“ stand auf einem aufgenähten Stoffschildchen an seinem Mantel, direkt über dem Herzen. Coffee lächelte nur schwach zurück. Ihm war nicht nach Lächeln. Ob der Alte überhaupt wusste, wo Arizona lag? Die Plastiktüte raschelte. „Ich darf doch…?“ Er wartete Coffees Antwort gar nicht erst ab. Mit einem lauten Seufzen ließ er sich auf die klapprigen Holzleisten fallen. Sorgfältig stellte er die Tüte zwischen seine Füße. Ein rotes, verblichenes Apotheken-A. Coffee entschied, besser auf seinen Rucksack aufzupassen. Seine Finger zitterten, als er das Feuerzeug an den halb aufgerauchten Zigarettenstummel hielt. Noch einer vom Vormittag. Sein Zigarettenvorrat war nur begrenzt. Sein Geld leider auch. „Hey, weißt du, wo Arizona liegt?“ Coffee sah den Alten nicht an, starrte den aufziehenden Rauchschwaden nach. Es wunderte ihn, dass sie nicht zu Eis erstarrten. Eine Gänseschar zog über ihre Köpfe. Der Alte sah auf. Hob den Blick von seinen verdreckten Gummistiefeln. „Ärrisona?“ Jetzt sah Coffee ihn doch an. Er kniff ständig die Augen zusammen. Kleine, helle Vogelaugen. Eingebettet in ein Meer aus Falten. „Wer is das? Is das ne Freundin von dir?“ Coffee zertrat seine Zigarette. „Ja. Wir sind seit 25 Jahren verheiratet.“ „Oh!“ Der Blick des Alten hellte sich auf. „Dann feiert ihr sicher bald Silberhochzeit!“ „In zwei Monaten.“ Er zündete sich eine neue Zigarette an. Aber die schmeckte auch nicht. „Un? Freuste dich?“ „Klar. Riesig.“ Coffee stand auf. Komischer Typ. Aber er wollte sowieso gehen. „Wiedersehen“ „Ah, warte mal kurz“ Plötzlich wurde er eifrig. Kramte in seiner Tüte. Brummelte irgendetwas vor sich hin. Coffee blieb stehen. Mit ausdruckslosem Gesicht nahm er die Zeitung entgegen. Verknittert. Zerrissen. Von Feuchtigkeit gewellt. Der Alte grinste fröhlich. „Seite 15“ Coffee wurde stutzig. „Hä?“ Die Augen des Mannes leuchteten. „Guck’s dir genau an. Vielleicht entdeckste ja was.“ Coffee sagte nichts. Drehte sich um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen. „Un grüß deine Freundin von mir!“, tönte es hinter ihm. Er seufzte. Seite 15 also. Tat der nur so, oder war er wirklich so? Er würde die Zeitung in seine Schuhe stopfen. Vielleicht würden seine Zehen dann auftauen… Ein Euro und sieben Cent. Die Münzen klirrten in seiner steifgefrorenen Handfläche. Wieder zählte er nach. Ein Euro und sieben Cent. Es blieb dabei. Das war doch wohl ein schlechter Scherz. Das verdammte Busticket kostete 1,30 €. Er stützte den Kopf in die klammen Hände. Eine funkelnde Eisschicht bedeckte das graue Pflaster, die Wände des Bushäuschens waren beschmiert mit Graffiti. Nazis raus. Sozialismus jetzt. Ruf mich an, will ficken. CWR. Sheps. Tina stinkt. Gleichmäßig massierte er seine Schläfen, die Müdigkeit zerrte an seinen Augenlidern. Die Kälte lähmte seine Gedanken, machte sie zäh und träge. Es wurde Zeit, dass er sein Ziel endlich erreichte, nach zwei Tagen Zugfahren, Trampen, zusammengerollt schlafen in Bahnhofshallen. Er hatte die Nase voll, wollte endlich wieder mehr als zwei Stunden am Stück schlafen. Etwas Ordentliches essen. Duschen. Aber davon trennten ihn diese mickrigen 23 Cent. Er seufzte. Er würde wieder Schwarzfahren müssen, obwohl er es hasste. Er traute es sich nicht, die Zigarette in seinem Mundwinkel anzuzünden. Es war die letzte, wer wusste, wann er sie dringender brauchte als jetzt. Das Klackern von Absätzen ließ ihn aufschrecken. Das Gesicht der Frau lag im Schatten, aber die vom ewigen Färben stumpf gewordenen, auftoupierten Haare charakterisierten sie genug. Kurzer, knallenger Rock. Feinstrumpfhosen. Schuhe, die sie mindestens 10 Zentimeter größer werden ließen. Es war dieser Typ Frau, dem 99% aller Männer auf der Straße mit Stielaugen hinterher starrten. Coffee mochte beides nicht. Weder die Frauen noch die Männer, die starrten. „Hey, haste mal 23 Cent?“ Coffee zündete die Zigarette doch an. Um seinen tobenden Magen zum Schweigen zu bringen. Sie bemerkte seine Frage erst betont spät, in gespielter Überraschung zog sie die nachgemalten Augenbrauen in die Höhe. „Entschuldigung?“ „Sie haben mich verstanden, denke ich.“ Er klopfte die Asche von der Zigarette. Sie schürzte die Lippen. „Nein“ Er grinste. „Dachte ich mir.“ Manche Leute waren wirklich berechenbar. Schon aus Prinzip würden sie nichts abgeben. Der Bus kam in 2 Minuten. Oder besser eineinhalb. Er atmete laut aus. Dann also Schwarzfahren. Was blieb ihm auch anderes übrig, hier konnte er nicht bleiben. Dann doch lieber über Nacht in einer Polizeistation. Dennoch quälte ihn die Angst. „Bist du von zu Hause abgehauen?“ Er wandte den Kopf. „Sozusagen“ „Wieso?“ „Wieso nicht?“ Er blieb einsilbig. „Wurdest du geschlagen?“ „Manchmal“ Das war eine Lüge, seinen Eltern war nie die Hand ausgerutscht, kein einziges Mal, aber es war einfacher, Lügen zu verbreiten. Würde er die Wahrheit erzählen, würde ihm niemand glauben, weshalb er sich hier draußen herumtrieb. Er wollte weitere Fragen abwürgen. Der Bus kam. Laut knatternd und brummend bog er um die Ecke, zischend klappten die Türen nach innen auf. Coffee starrte angestrengt auf seine Schuhe, als er am Busfahrer vorbei ging. „Hey, Junge!“ Verdammt. Langsam drehte er sich um, hob den Kopf. Steile Falten hatten sich in die Stirn des Fahrers gegraben, eisblaue Augen durchbohrten ihn. „Deine Fahrkarte bitte!“ Irgendwie war das heute nicht sein Tag. „Ich…“, fing er an. Zögerlich. Als würde der Typ es vergessen, wenn er nur langsam genug mit der Wahrheit herausrückte. So etwas Bescheuertes. „Der gehört zu mir. Zwei Fahrkarten bitte.“ Ihre Stimme klang kalt und schneidend. Sie duldete keinen Widerspruch. Coffee bekam nur ein kratziges „Danke“ zustande, als sie ihm die Karte in die steife Hand drückte. Er wagte nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. Sie sagte kein Wort. Er benahm sich wie ein Grundschüler. Der Bus war fast leer. Nur einige Omas mit dicken Häkelmützen auf den silbernen Dauerwellen, ein Punker mit mindestens drei Ringen in der Nase hatte die Beine auf dem Sitz vor sich verschränkt. Mit schnellen Schritten ging Coffee bis nach hinten und setzte sich in die letzte Reihe. Er mochte es, den ganzen Bus zu überblicken. Die Leute zu beobachten. Und den Autofahrern hinter ihm Grimassen zu schneiden. Sie war taktvoll, sie ließ ihn in Ruhe. Besser so. Kat war diesen Abend allein zu Hause. Eigentlich hatten ihre Eltern sie zu einer Theateraufführung schleifen wollen, nur mit Mühe und vielen ineinander verschachtelten Notlügen hatte sie sich retten können. Gestern Abend hatte Coffee sie angerufen, er kam. Mal wieder. Sie seufzte. Schon den ganzen Tag wartete sie, wahrscheinlich hatte er trampen müssen, auf dem Handy erreichte sie ihn nicht, der Akku war wohl alle. Mal wieder. Aber solange ihm die Zigarette nicht ausgingen, würde er es schon bis hierher schaffen. Sie lächelte, obwohl eigentlich nichts lustig war. Die Türglocke klingelte leise, zögerlich. Kat legte einen Streifen leere Gummibärchentüte zwischen die Seiten ihres Buches. Dafür war ihr letztes Taschengeld draufgegangen. Seitdem zählte sie ungeduldig die Tage bis zum nächsten Zahltag und mied zähneknirschend alle Buchläden. Führe uns nicht in Versuchung, denn wir finden schon selbst hin. Sie beeilte sich nicht, zur Tür zu kommen. Coffee sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Fast. „Coffee“, sagte sie. „Der Junge mit den milchkaffeefarbenen Augen.“ Er lächelte nicht. Sie dagegen schon. „Bist du wieder abgehauen?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Er nickte langsam. „Kann ich reinkommen? Es ist kalt.“ Wortlos hielt sie ihm die Tür auf. An seinen Schuhen klebte Schlamm, matschige, braun gewordene Blätter, sorgfältig darauf bedacht, keine Striemen auf dem glatt polierten Fußboden zu hinterlassen, zog er sie aus. Kat stopfte sie in eine Tüte. Ihre Eltern durften nichts merken, Coffees letzter Besuch hatte für sie mit Taschengeldkürzungen geendet, die sie an den Rand des finanziellen Ruins getrieben hatten. An den seelischen auch. Drei Wochen lang nur mittelmäßige, abgegriffene Bücher aus der Bibliothek, kaum auszuhalten. „Komm“ Er wusste, wo ihr Zimmer lag. Sie öffnete ihren Schrank, um Luftmatratze und Schlafsack hervor zu zerren. „Du stinkst. Du solltest duschen.“ Es war genauso wie beim letzten Mal. Kat hatte aufgehört, sich mit ihm darüber zu streiten, dass er nicht bei jedem winzigen Zoff in seinem Leben gleich abhauen konnte. Es wollte nicht in seinen Kopf und es störte sie nicht. Nicht mehr. Im Gegenteil, sie freute sich fast schon auf seine Besuche, obwohl es eigennützig und egoistisch war. Sie hatte kaum Freunde. „Was war es diesmal?“, fragte sie, als Coffee zurückkam. Auf nackten Füßen, mit feuchten Haaren. Sie sah nicht von ihrem Buch auf. Hörte, wie er sich langsam, fast lautlos auf die Matratze fallen ließ. „Ich hab Hunger.“ „Und ich hab dich was gefragt.“ Sie blickte auf. Er sah schlecht aus, wie ein Gespenst. Mit jedem Abhauen wurde er schmaler. Die Haut bleicher, die Wangen eingefallener. Die schönen Augen glanzloser. Er zuckte mit den Schultern. Starrte auf seine Hände, die auf seinen verschränkten Beinen ruhten. Die Nägel gelb. Feine, blaue Äderchen auf den Handrücken. „Ich bin von der Schule geflogen. Hast du wenigstens Zigaretten?“ „Nein. Du wirst ohne auskommen müssen.“ Das war die Bedingung. Rauchte er während des Besuches, saß er wieder auf der Straße. Er seufzte. Kat klappte das Buch zu. „Wie hastn das geschafft?“ „Was?“ „Na, von der Schule zu fliegen.“ „Geht dich nichts an. Kann ich jetzt was essen? Ich sterbe gleich.“ Sie lachte. Nicos Spiegelbild sah gelangweilt aus. Mürrisch betrachtete er es, während er sich die Nase an der kalten Fensterscheibe platt drückte. Die Zigarette in seiner Hand qualmte, nur selten nippte er daran. Er wartete. Seit Stunden schon. Zumindest fühlte es sich so an. Die Bierdose auf dem Fensterbrett war längst leer. Mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck drehte er sie hin und her. Warf sie in die Ecke. Dort, wo sie gestanden hatte, ein bräunlicher eingetrockneter Ring. Er fuhr sich über den kahlrasierten Schädel. Wo blieb sie denn nur? Diese Frau trieb ihn nochmal in den Wahnsinn. Man konnte gar nicht gut genug auf sie aufpassen, ständig verschwand sie, wohin auch immer. Ungeduldig trommelten seine Finger gegen die Nähte seiner Hose. Als er endlich Schritte draußen im Treppenhaus hörte, das Klirren des Schlüsselbundes, war sein Geduldsfaden bereits zum Reißen überspannt. Es war kalt draußen, Alicias Wangen schimmerten rot, kühle Luft begleitete sie, so wie die Wolke des Parfüms, das sie sich letzte Woche gekauft hatte und das er so gerne mochte. Sie lächelte ihr unwiderstehliches Lächeln. Er verbarg seine Freude. „Du kommst spät.“ Die Hände tief in den Taschen der verwaschenen Jeans vergraben. Das Gesicht ausdruckslos, ein Hauch von Grimm, Ärger. „Ich weiß, tut mir leid.“ Sie kämpfte mit den Reißverschlüssen ihrer Stiefeln, gab ihm einen Kuss zur Begrüßung. Er zog sie in die Wohnküche. „Das ist nicht nett, mich so lange warten zu lassen.“ Sie landete auf dem Sofa, er beugte sich über sie. Sie strich ihm über die Wange, wirkte dennoch seltsam geistesabwesend. „Und, wie war dein Tag-“ Er erstickte sie mit Küssen, eine Hand tastete nach ihrem Ausschnitt, die andere schob den Rocksaum hoch. Den ganzen Tag hatte er darauf gewartet, auf diesen Moment. Auf einen schönen Abend mit Alicia, mit seiner Alicia. Den ganzen Tag. Sie schob ihn weg. Kleine, feine Falten des Ärgers gruben sich in ihre Stirn. „Nico, ich will nicht. Hör auf.“ Er hörte nicht auf. „Lass es sein, hab ich gesagt!“ Ihre Stimme klang schrill. Mit beleidigter Miene ließ er von ihr ab. Ihre Haare mit den Fingern entwirrend richtete sie sich auf. Die Falten auf ihrer Stirn blieben. Als wäre er ein lästiges Insekt, vor dem es sich zu schützen galt. Nico zog die buschigen Augenbrauen zusammen, sein Gesicht verfinsterte sich. „Was ist denn mit dir los?“ „Ich hab einfach keine Lust, okay?“ Sie klang gereizt. Kein gutes Zeichen. Er seufzte. „Und was willst du dann machen?“ Sie schob ihre Träger hoch. „Nichts. Ich glaube, ich leg mich gleich ins Bett. Hab Kopfschmerzen.“ Nico knirschte mit den Zähnen. Frauen und Kopfschmerzen. Immer dasselbe. „Ach, komm, sei nicht böse.“ Sie legte ihm die Arme um den Hals. „Ein andermal, in Ordnung?“ „Ist heute irgendwas passiert?“ „Hm?“ Sie ließ von ihm ab. „Nein, eigentlich nicht. Nichts Besonderes.“ Ein dünnes Lächeln. „Ich hab einem Ausreißer die Buskarte bezahlt. Mehr nicht.“ „Bitte, was? Wieso das denn?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er wäre sonst erwischt worden. Das wollte ich nicht“ Nico nickte. Er sah wütend aus. Zeit, ins Bett zu gehen. „Gute Nacht“ Sie wandte sich zum Gehen. Eine neue Zigarette zwischen den Fingern sah Nico diesem absolut göttlichen Hintern nach, den er heute Abend nicht hatte kriegen können… „Du, Kat?“ „Hm“ Mit einem großen Schritt stieg sie über seine Matratze, ihr Bett knarzte laut, als sie sich darauf fallen ließ. „Was ist denn?“ Schnell würgte er einen viel zu großen Bissen Nutellatoastbrot hinunter. Er hatte nicht ordentlich gekaut, ihr Vater wäre wahnsinnig geworden. „Ich hatte nen Wutanfall.“ Noch ein Bissen. „Hab jemanden zusammengeschlagen.“ „Du?“ „Ja“ Er bemerkte die Ungläubigkeit in ihrer Stimme nicht. „Jetzt liegt der Kerl mit nem gebrochenen Kiefer im Krankenhaus und ich hab nen Verweis und ne Strafanzeige an der Backe.“ Er kaute ungerührt weiter. Ihm war das alles egal, Kat kannte das schon. Er nahm sich ein paar Tage Urlaub hier, danach stürzte er sich wieder in den Alltag. „Ich haue nicht ab. Ich möchte nur ein paar schöne Tage haben, bevor ich sterbe.“ Das waren seine Worte gewesen, vor einiger Zeit. Die Todesursache also diesmal ein Verfahren. Ein Schulwechsel. Aufmerksam betrachtete sie ihn. „Wieso hast du das gemacht?“ Ein bisschen Psychotherapie musste sein, da kam er nicht drum herum. Wieder zuckte er nur mit den Schultern. „Weiß nicht. Ich konnte den Typen noch nie ab. Und die Schule ging mir sowieso auf die Nerven.“ Er stopfte die letzte Ecke Toastbrot in seine linke Backentasche. Kat sagte nichts. Er kaute. „Das geht mir alles so auf die Nerven, dieses ganze System. Ich meine…“ Er schluckte. „Du wirst schon als kleines Kind darein gepresst. Deine ganzen ersten achtzehn Lebensjahre sind vorgezeichnet.“ Er zählte mit den Fingern. „Erst Kindergarten, dann Schule bis zum Umfallen und du hast nicht einmal die Chance, es dir auszusuchen. Sie hämmern dir ein, dass du etwas können musst, um leben zu können. Dass du Grammatik und Trigonometrie und Substitutionsreaktionen und all so n Zeug beherrschen musst, um im Leben glücklich zu sein. Und wenn du das nicht packst, bist du gleich tiefbegabt oder wirst zum Psychologen geschleift oder was weiß ich.“ Er ließ die Hände sinken. „Und wenn du hyperaktiv bist und nicht in ihr System passt, pumpen sie dich solange mit Medikamenten zu, bis du stillsitzt und ordentlich funktionierst.“ „Coffee“, sagte Kat nur. „Du bist müde, schlaf ein bisschen, okay?“ Er sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Massierte seine in steile Falten gelegte Stirn, sein Blick ruhte auf dem Streifenmuster des Schlafsacks. „Ich…ich will doch einfach nur leben! Ich will nicht bis abends um zehn in meinem Zimmer hocken und für Arbeiten lernen oder Vorträge vorbereiten oder Hausaufgaben oder was Lehrer sich sonst noch alles ausdenken, um Schülern die Zeit zu rauben!“ Er hielt kurz inne. „Weißt du, die meisten haben wirklich Ideen, großartige Ideen. In denen steckt was. Aber das kann nicht raus, solange sie mit Lernstoff abgefüllt werden. Verstehst du?“ Kat sagte lange nichts. „Coffee, ich weiß, was du meinst. Ich habe manchmal dieselben Gedanken, glaub mir. Aber…“ Sie holte Luft. „Sag mir einen besseren Weg und ich bin sofort dabei.“ Sie lächelte dünn. Coffee antwortete nicht. Knabberte an seiner Unterlippe. „Gute Nacht“ Sie knipste das Licht aus. Hörte den Reißverschluss des Schlafsacks. Ihre Bettdecke raschelte, als sie sich in die Kissen wühlte. Sie konnte noch nicht schlafen. Sie musste ihre Eltern unten abfangen und sie irgendwie davon abhalten, in ihr Zimmer zu gehen. Sie gähnte. Würde schon werden. Coffee sagte nichts mehr. Andächtig lauschte sie seinen gleichmäßigen Atemzügen, nur mühsam hielt sie die Augen offen. Sie drehte sich auf den Rücken, Mondlicht schien durch die Dachluke, tauchte die Wände in gräulich-gelbes Licht. Sie beneidete Coffee nicht. Die Mutter arbeitslos, entfernte sich den ganzen Tag keinen einzigen Millimeter vom Fernseher, drei jüngere Geschwister, einer davon Asthmatiker, musste ständig zum Arzt, was natürlich Coffee erledigte. Der Vater schon vor langer Zeit abgehauen. Wahrscheinlich mit einer neuen Flamme nach Teneriffa. Und nun der Schulverweis. Vielleicht, überlegte sie. Vielleicht wäre sie da auch abgehauen, sie konnte es nicht sagen. Vielleicht hätte sie da auch die Nase voll vom Leben. Nein, sie beneidete ihn wirklich nicht. Unten hörte sie das Schloss knacken, sofort hellwach schlich sie aus dem Zimmer. „Und das funktioniert wirklich?“ Die blauen Augen des Mädchens leuchteten begeistert. Der Alte lächelte. „Natürlich. Du musst nur fest genug daran glauben.“ Die Kleine hockte sich hin, ihr Wintermantel hing auf den von Matsch nassen Kachelboden. Eine große Zahnlücke zwischen schiefen, krummen Milchzähnen. Hellbraune, getupfte Sommersprossen. „Glaubst du denn da dran?“ Er stopfte seine Schätze zurück in die Plastiktüte. Es raschelte. „Natürlich. Sonst wär ich bestimmt nich so alt geworn, glaub mir.“ Seine faltigen, knochigen Hände blätterten ungeschickt in der letzten Zeitschrift. Voller Eselsohren, Knicke, Risse. „Ah, hier. Sieh nur…sieh dir dieses Foto an. Siehst du den Fotografen?“ Die Kleine beugte sich über das Bild. „Ja, ja, ich sehe ihn, da ist er!“ Aufgeregt tippte sie auf die braunen, von Lichtreflexen übersäten Augen. „Wunderbar“ Der Alte tätschelte ihr die dunklen Kringelhaare. „Aber wenn du genau hinsiehst, dann ist er auch dort hinten. Hier, in dem Spiegelbild.“ „Hey, stimmt. Ist ja cool.“ Er lächelte selig. Endlich mal wieder jemand, der ihn verstand. Seine Begeisterung teilte. Kinder waren eben doch die besseren Menschen. „Was denkst du, was er für ein Mensch ist, dieser Fotograf?“ Jetzt kam sie ins Grübeln. „Ich weiß nicht. Hm…“ In dem Moment näherte sich eine kleine, zierliche Frau mit wachsamen Adleraugen, die das Kind nie unbewacht ließen. „Luisa, komm jetzt.“ Der Alte grinste. „Machs gut, Kleine. Denk mal über meine Frage nach.“ Wenn Blicke töten könnten, dann wäre er jetzt ein kleines, schwarzes Häufchen Asche. Die Kleine winkte ihm nach, bevor ihre Mutter sie an der Hand mit sich zerrte, bevor dieser Penner sie weiterhin mit seinen dreckigen Wurstfingern betatschen und ihr seine kranken Gedanken ins Hirn streuen konnte. Er kannte das, er war es gewöhnt. Verträumt betrachtete er das Foto. „Jaja“, murmelte er leise vor sich hin. „Faszinierende Wesen sind das, diese Fotografen.“ Als Alicia den Supermarkt betrat, um wie jeden Nachmittag zähneknirschend ihre Schicht anzutreten, war der Penner längst da. Er setzte sein unwiderstehlichstes Lächeln auf, zumindest war es das zu seiner Jungendzeit einmal gewesen, alle Mädchen waren nur diesem Lächeln nachgerannt. Herrliche Zeiten, leider längst im grauen Nebel der Vergangenheit verblasst. Auf immer und ewig. „Ich wünsche einen wunderschönen Tag.“ Sie sah ihn nicht einmal an. Er kicherte. Schon alles irgendwie lustig hier. Entspannt lehnte er sich zurück, zog sich Schnupftabak durch die Nase. Leider der billigste, aber er war nicht mäkelig. Amüsiert beobachtete er die Leute, die ihn mit teils irritierten, teils wütenden und verachtenden Blicken bedachten, ab und zu schlurfte er zum Zeitschriftenstand, um sich mit neuem Material einzudecken und ließ sich dann wieder auf seinem Lieblingsplatz, diesem winzigen Spalt zwischen Gewürzregal und den eingelegten Gurken, nieder. So ließ es sich leben. Nicht schlecht. Bis sie vor ihm stand. Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt. Den Blick einer Furie, glühend gelbe Augen, bereit zum Angriff, sollte er es auch nur wagen, ein falsches Wort zu sagen. Er sah Dampfwolken von ihrem Kopf aufsteigen. „Ich bitte Sie, auf der Stelle dieses Geschäft zu verlassen. Wenn Sie sich hier noch ein Mal blicken lassen, rufe ich die Polizei, das schwöre ich!“ Er lächelte gelassen. Sollte sie sie doch rufen, was hatte er schon zu verlieren? Er war doch bloß ein armer Penner. „Schade. Ich werde Sie vermissen.“, sagte er und schmunzelte. Richtete sich auf, absichtlich langsam und umständlich. Ließ seine Tüte dreimal fallen, einmal so ungeschickt, dass sich der gesamte Inhalt über den Fußboden ergoss. Stieß mit dem Ellenbogen die Gewürze aus dem Regal. Ihre Lippen verkniffen sich immer mehr, den Besen in ihrer Hand umklammerte sie so fest, dass ihre Fingerknöchel sich schneeweiß abzeichneten. Er summte einen Schlager aus guten, alten Zeiten, als Musik noch nicht zur allgemeinen Belustigung nebenher im Supermarkt gedudelt wurde. Zumindest kam es ihm so vor. „Hmmmm…“ Er richtete sich auf, seine Tüte unter den Arm geklemmt. „Eine Frage hätt ich allerdings noch. Is Ihnen gestern auch dieser Ausreißer begegnet?“ Plötzlich war sie wach. Aufmerksam. Volltreffer. Er grinste. „Welcher Ausreißer?“ Lässig vergrub er die Hände in den Manteltaschen. „Na, Sie wissen schon, der Kleine, der hier gestern auf der Bank rumsaß. Mit den Kaffeeaugen.“ „Kaffeaugen?“ „Mein Gott, stellnse sich doch nich so an.“ Er zwinkerte. Ihr Gesicht verfinsterte sich, den Besen umkrallend wie eine Waffe. Also ein Mensch, der ernst genommen werden wollte. Der es nicht ertragen konnte, wie ein Kind behandelt zu werden. Wie ein kleines Kind. Von denen gab es viele. Wer konnte schon ernsthaft einstecken, wer konnte schon wirklich über sich lachen, sich selbst zum Deppen machen? Die wenigsten. Er zog die Augenbrauen hoch. „Nun?“ Sie sprach langsam, nur mühsam beherrscht. „Woher kennen Sie diesen Jungen?“ „Schade. Das wollt ich eigentlich Sie fragen. Ich würd ihn gern wieder sehn. Hab vergessen, ihm was Wichtiges zu sagen, soll schon ma vorkommen.“ Er lachte leise. „Er ist mit dem Bus nach Tröbsdorf gefahren. Und jetzt raus!“ Sie schrie. Wieder lachte er. „Wiedersehn. Schönen Tag noch.“ Coffee fiel das Heft erst am nächsten Morgen in die Hände. Es war helllichter Tag, eine warme Wintersonne blinzelte durch die beschlagene Dachlukenscheibe, malte feine Streifen auf Kats Bett, auf den mit Zeitungsartikeln beklebten Schrank, auf die Weltkarte an der Wand. Ein Streifen genau auf Afrika, auf dem immer weiter austrocknenden Tschadsee. Auf Japan, wo Wale in ihrem eigenen Blut verendeten, durchbohrt von japanischen Harpunen. Hohe, spitze Schreie klangen ihm in den Ohren. Im Irak brannte ein Reisebus. Autobombe, 17 Tote, schätzungsweise, die Bewohner hatten aufgegeben, das Feuer zu löschen, ließen es einfach ausbrennen. Ein Streifen auf Sri Lanka, Indien. Die Erde wackelte, bebte, in Panik rissen die Menschen die Arme über den Kopf, kauerten sich auf dem staubigen, rissigen Boden zusammen. Kleine verzweifelte Kugeln inmitten der Macht der Natur. Eine junge Mutter hielt ihr Kind an der Hand, als es von einem Betonpfeiler begraben wurde. Kats Wecker tickte. Er drehte sich um, der Schlafsack raschelte laut. Er durfte noch nicht aufstehen. Kat musste ihre Eltern bei Laune halten, sie durften keinen Verdacht schöpfen. Coffee war gespannt, wie lange Kats Gerüst aus Verstecken, Notlügen und Ausreden halten würde. Er lächelte amüsiert. Sein Rucksack war umgefallen, er bemerkte die zerfledderten, verblassten Seiten. Streckte die Hand aus, beim Herausziehen riss das Titelblatt. Nicht so wichtig. Was hatte der Alte gesagt? Seite 15. Mit fliegenden Fingern blätterte er, jetzt doch irgendwie gespannt. Er drehte sich auf den Bauch, stützte sich auf die Ellenbogen. Seite 15. Ein faltiges Gesicht, hohe Wangenknochen, feine Kränze von Lachfalten um die sanften Augen. Starke, strenge Furchen um den dünnen Mund. Matte, graue Haare. Zurückgekämmt, nicht gelockt wie bei so vielen alten Frauen. Wer war das? Der untere Rand der Seite abgerissen, zerfranst. Dann eben nicht. Lange betrachtete Coffee das Foto, die Worte des Alten hallten in seinem Kopf wieder, während sich die sanften Augen der Frau in seine Netzhaut einbrannten. Das Foto gefiel ihm, dennoch konnte er nichts Außergewöhnliches entdecken. „Hm, wer weiß.“, murmelte er. Dann stand er auf, ging, so leise seine Füße es erlaubten hinüber zur Weltkarte, um Arizona zu suchen. Nur langsam kam der Alte voran. Bis Tröbsdorf war es nicht weit. 2 Kilometer vielleicht. Mehr auch nicht. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, auf der Landstraße brausten die Autos vorüber, niemand bemerkte die humpelnde, gebückte Gestalt, die durch das gelb gewordene, stachelige Gras stapfte. Sie alle waren zu beschäftigt. Nutzten den milden Samstagmorgen, um Ausflüge zu machen. Familienausflüge. Ein bisschen laufen, die Sonne genießen. Vielleicht war es die letzte in diesem Jahr. Wer wusste das schon. Noch drei Tage, dann würde die Adventszeit beginnen. Eigentlich war sein Vorsatz dieses Jahr gewesen, nicht allein zu feiern. Allein mit sich selbst anstoßen, die selbst eingepackten Geschenke wieder auszupacken. Auf Dauer machte das keinen Spaß. Er hustete, das Loch im Bauch war sein ständiger Begleiter, er bemerkte es kaum noch. Plötzlich hörte er das surrende Geräusch eines Motors hinter sich. Eines anhaltenden Motors. Vorsichtig linste er über den Kragen seiner Jacke hinweg. „Was machen Sie denn hier? Steigen Sie ein, Sie holen sich doch den Tod.“ Der Fahrer beugte sich über den Beifahrersatz, sein Arm reichte gerade aus, um die Tür aufzustoßen. Ein dünnes, unsicheres Lächeln. Eine schwarze, dickrandige Brille auf der Nase. Lichtes, sorgfältig gescheiteltes Haar. Der Alte konnte die zu kurzen Cordhosen nicht sehen, aber er war sich ihrer Anwesenheit sicher. Ganz sicher. Der Mann kaufte immer das Gleiche im Supermarkt. Jede Woche. Entweder, er war so überzeugt von den Waren, die er kaufte, oder er hatte zu viel Angst davor, etwas Neues auszuprobieren. Der Alte stieg ein. Mit dem könnte er sich vorstellen, zusammen Weihnachten zu feiern. Aber nur vielleicht. Aus dem Radio tönte Jazzmusik. Sanfte Blechbläser. Ein tirilierendes Saxophon. Der Alte stellte die Tüte auf seinen Schoß. „Könnten Sie mich nach Tröbsdorf bringen?“ Ein stummes Nicken. Der Alte lächelte. „So, da bin ich. Ich habs geschafft.“ Sie lachte fröhlich. Coffee nickte nur kurz, sah nur kurz auf. Er lag noch immer auf seinem Schlafsack, schien sich nicht groß bewegt zu haben. „Wusstest du, dass der Grand Canyon in Arizona ist?“ Sie kletterte über seine Matratze und ließ sich im Schneidersitz auf den flauschigen Teppich sinken. „Ja, wusste ich.“ „Lass mich raten, du warst schon mal da?“ Sie grinste über den mürrischen Klang in seiner Stimme. Ihre Eltern nahmen sie oft auf Weltreisen mit. „Nein, da noch nicht. Nur in der Nähe, in Phoenix.“ Er wandte den Kopf. „Nicht beim Grand Canyon?“ Sie zupfte an ihrem Armband herum. „Nee, der war da gerade überflutet oder so. Ich fands auch schade. Was liest du da eigentlich?“ Neugierig beugte sie sich ein Stück zu ihm hinüber, er hob als Antwort nur die Arme von der Zeitschrift. „Wer ist das?“ „Weiß nicht.“ Ratlos zuckte er mit den Schultern. „Wart mal.“ Kats Interesse war geweckt. Sie nahm ihm das Heft aus der Hand. Betrachtete es eindringlich. Angestrengt. Mit zusammengekniffenen Augen. „Hast du das da geschrieben?“ „Was?“ „Na, das“ Sie tippte auf den weißen Rand um das Foto. Sie schreckte auf, als von unten gedämpft die Türklingel an ihre Ohren drang. „Oh, wer ist das?“ Sie konnte ihre Neugier nicht zügeln. „Ich seh mal nach.“ Sprang auf, Tür auf, Tür zu. Weg war sie. Stille. Coffee konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, während er die dünnen Bleistiftstriche auf dem weißen Rand zu entziffern versuchte. „Entschuldigen Sie.“ Die Stimme der Frau klang nicht unsicher, nicht vorsichtig. Freundlich, bestimmt. Alicia beeilte sich nicht, die Papierrolle in der Kasse auszuwechseln. Sie wollte nichts falsch und dann alles wieder von vorne machen. So viel Zeit musste sein. „Ja?“ Sie schob den Kaugummi in die Backentasche. „Könnte ich heute Abend freinehmen, wäre das möglich? Weil, mein Kleiner hat heute Geburtstag und wenn ich schon nicht den ganzen Tag freinehmen kann, dann…Ich werds nacharbeiten, wirklich!“ Hinter ihren hellblauen Glubschaugen steckte Ehrlichkeit. Aufrichtige Ehrlichkeit. Ihr Sohn schien ihr wichtig zu sein. Alicia winkte ab. „Jaja, kein Problem, ich schaff das schon.“ Von zu viel Gefühlsduselei wurde man auf Dauer kirre. Sie wollte sich auf ihrem Stuhl drehen, sich wieder der Kasse zuwenden, als die Kollegin plötzlich ihre Hände nahm. „Vielen Dank, das ist wirklich lieb. Irgendwann bekommen Sie es zurück, versprochen.“ Überwältigt von so viel Offenheit und Fröhlichkeit zog Alicia ihre Hände nicht zurück. Grummelte noch irgendetwas vor sich hin, dann drehte sie sich ruckartig um und tat so, als würde sie die Zigarettenschachteln sortieren. „Oh, ich wusste gar nicht, dass Sie Kinder haben.“ Die andere Kollegin legte leere Pappkartons zusammen. Die rotgefärbten Haare zu einem lockeren Knoten zusammengebunden, einige Strähnen hingen in die mit bunter Schminke bemalten Augen. Wie Fasching. „Doch“ Die Augen der Kollegin leuchteten und Alicia kam sie nicht mehr ganz so dick vor wie sonst. „Zwei Jungs, Finn und Nick. Mein Ein und Alles.“ Sie lächelte breit. Dann tänzelte sie davon. Summend, so wie immer. „Und 6, 45 zurück. Bitteschön.“ Alicia war so geistesabwesend, dass sie die ausgestreckte Hand des Kunden verfehlte. Klirrend hüpfte und rollte das Geld über die Fliesen. Der Junge reagierte schnell. Bückte sich, sammelte mit flinken Fingern die Münzen auf. „Entschuldigung“ Sie lächelte verlegen. „Halb so wild“ Er hob die karamellfarbene Hand zum Abschied. Schwarze Haare lugten unter der Mütze hervor. Aus seinem Rucksack ragten zwei Malpinsel. Seltsam. Belustigt sah sie ihm nach und vergaß beinahe, den nächsten Kunden abzukassieren. Fotograf. Kaffeetrinker. Liest jeden Tag Zeitung. Keine Frau, keine Kinder. Mag keine Risiken. Übervorsichtig lenkte Pablo den klapprigen Golf, er war ungeduldiges Hupen von hinten gewöhnt. Er ließ sich nicht beirren. Wenn jetzt plötzlich ein 200-Kilo-Wildschwein von rechts aus dem Gestrüpp gestürmt käme, was dann? Er brauchte sich selbst noch. Möglichst noch einige Jahre. Der Obdachlose neben ihm sagte kein Wort. Nervös nagte Pablo an seiner Unterlippe. Suchte nach Worten, die leichtfüßige Musik gab ihm das Gefühl, etwas sagen zu müssen. „Ähm…Sie sitzen doch öfter in der Kaufhalle, oder?“ Die Frage war überflüssig und Pablo hätte sich gern selbst dafür in den Hintern getreten, hätte er nicht das Auto von den weißen Streifen am Rand der Fahrbahn fernhalten müssen. „Sieht so aus.“ Sein Mitfahrer roch unangenehm aus dem Mund, Pablo versuchte, so unauffällig wie möglich, das Fenster einen winzigen Spalt herunterzukurbeln. Unmöglich, natürlich merkte es der Alte. Er grinste und zeigte sein rosafarbenes Zahnfleisch. Abgemagerte Hände klatschten im Takt der Musik auf ebenso abgemagerte Oberschenkel. Pablo lächelte verlegen zurück, sah aber sogleich zurück auf die Straße. „Entschuldigen Sie die Frage, aber…“ Er bremste ruckartig, als ein blitzender Mercedes ihn mit einer galanten Schlängellinie überholte. Er atmete scharf aus. „Aber?“ Er tat so, als wüsste er die Frage nicht schon längst. „Aber…“ Es fiel Pablo schwer, den Faden wiederzufinden. Beinahe hoffnungslos hatte er sich im Wollknäuel verheddert. „Ähm…aber…was wollen Sie in Tröbsdorf?“ Er spürte winzige Schweißtröpfchen seine Schläfen hinunter sickern. „Einen Freund besuchen.“ Die Antwort kam schnell, wie ein Toast aus dem Toaster geschossen. Ungerührt. „Oh“ Mehr fiel Pablo nicht ein. Er hörte den Alten lächeln. Wie auch immer das möglich war. „Wunderts Sie, dass ich Freunde hab?“ Die Provokation war nicht zu überhören. „Ich? Ach was, Quatsch…ich…“, stammelte er. „Es hat mich einfach interessiert.“ Er hatte nichts gegen Obdachlose. Nur ein bisschen vielleicht. Gegen diesen jedenfalls nur wenig. Den Geruch höchstens, mehr nicht. „Sie können mich hier rauslassen.“ Der Alte öffnete die Tür, bevor Pablo den Wagen zum Stehen gebracht hatte. „Dankeschön fürs Bringen. Werd mich irgendwann dafür revanchieren.“ „Ähm…soll ich Sie vielleicht wieder abholen?“ Pablo hatte heute nicht viel vor, leider. „Nee, schon gut. Aber nett, dass Sie fragen.“ Er lächelte. Dann stapfte er davon, ohne die Tür hinter sich zuzuschlagen. Erst im nächsten Ort bemerkte Pablo die vergessene Plastiktüte. Mit nachdenklichem Gesicht drückte Kat hinter sich die Tür zu. Coffee setzte sich auf. „Wer wars?“ Sie zuckte mit den Schultern, strählte sich mit den Fingern die hellen Haare. Sie luden sich elektrisch auf, standen vom Kopf ab wie Lametta. „Irgendein bekloppter Alter, der nach dem Kleinen mit den Kaffeeaugen gefragt hat.“ Immer wieder strich sie sich mit den Fingerspitzen über das Schlüsselbein, wie immer, wenn etwas sie ins Grübeln brachte. Vorsichtig lächelte sie. „Bestimmt ein Obdachloser. Schon komisch, oder? Hey, Coffee!“ Coffee war aufgesprungen. Riss seinen Pullover so heftig von dem Haken an der Tür, dass der klirrend auf den glatten Laminatboden fiel. „Bin gleich wieder da!“ Die zerlederte Zeitschrift in der Hand stürmte er durch die Tür nach draußen. „Coffee!“ Mit lautem Gepolter die Treppen hinunter. „Coffe warte doch, wo willst du hin?“ Völlig verwirrt rannte Kat hinterher. Was hatte er vor? Kannte er diesen Typen etwa? „Coffee!“ Es brachte nichts, seinen Namen zu rufen, er hörte ihn nicht einmal. Zum linken Ohr hinein, zum anderen wieder hinaus. Scheppernd fiel die Haustür ins Schloss. Kat zerrte an der Türklinke, als sie sich von hinten an der Schulter gepackt fühlte. Sie stieß einen überraschten Laut aus, bevor ihr Blut zu Eis gefror. „Katja“ Scharf, schneidend. Ein drohender Unterton. Langsam drehte Kat sich um. Ihre Mutter. Schmale, tadelnde Augen hinter glatt polierten Brillengläsern. Die Lippen zusammengepresst. „Wer war das eben?“ Daran hatte sie nicht gedacht. Vorsorglich zog sie den Kopf zwischen die Schultern, den nahenden Sturm erwartend… Fotograf. Lebt nicht gern allein. Eigentlich ein Genie, aber kaum Anerkennung. Pablos Alter zählte 36 Jahre. Er war allein. Es war nicht so, dass er Frauen nicht mochte, er schätzte sie, sehr sogar. Das schien jedoch auf Einseitigkeit zu beruhen, zerstreute Brillenträger kamen wohl nicht gut an, aber er hatte sich damit abgefunden. Abgefunden mit der Rolle des vereinsamten Künstlers, der sich von Instantnudeln und Kaffee ernährte. Er nahm sein Schicksal wie es kam. Er nörgelte nicht. Im Beruf lief es gut, er bekam Aufträge, seine Bilder wurden veröffentlicht. Nur an den Wochenenden plagten ihn die Zweifel. Wusste er nichts mit sich anzufangen. Manchmal war es zum Heulen, er hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, eine Partnersuche ins Internet zu stellen, aber das würde nichts helfen. Herumjammern machte nichts besser. Den Obdachlosen kannte er schon länger. Vom sehen. Irgendwann hatte man es sich angewöhnt, sich zu grüßen. Der Alte hatte einen guten Draht zu Kindern, sehr zum Argwohn der Mütter. Er erzählte viel wirres Zeug, aber manchmal steckte auch Sinn dahinter. Sachte stellte Pablo die Tüte auf den Telefontisch, als er die Kälte mit in die Wohnung brachte. Stitch ließ sich nicht blicken. Verwöhnte, fette Katze. Vor einigen Jahren hatte der Schlaganfall eine Nachbarin im unteren Stockwerk heimgesucht. Die Enkeltochter war eine junge, freundliche Frau. Hübsch, intelligent und besaß zu allem Überfluss einen umwerfenden Augenaufschlag. Er hatte nicht Nein sagen können. Obwohl er das Fellknäuel, das sie ihm in die Arme drückte, kaum hatte heben können. Er seufzte. Wandelnder Perserteppich. Er wagte nicht, die Tüte zu öffnen. Privatsphäre. Vielleicht warf Stitch sie in seiner Ungeschicklichkeit zu Boden, dann hätte er einen Vorwand, aber…Nein. Unhöflich. Er sah auf die Uhr. Nach Mittag. Was für einen Freund der Alte wohl besucht hatte? Gab es Obdachlose in Tröbsdorf? Dumme Vorstellung. Er krümelte, als er das Kaffeepulver in den Filter löffelte. Die Kaffeemaschine begann zu gluckern. Im Radio lief Mozart. Er mochte Mozart nicht. Zu lasch. Zu fröhlich. Zu durchscheinend. Man konnte gut dazu tanzen, aber das beherrschte er sowieso nicht. In der Zeitung berichteten sie über einen Jugendlichen, der von Zuhause abgehauen war. Vor kurzem sollte er hier in der Gegend gesichtet worden sein. Er zog die Augenbrauen nach oben. Da hatte er es ganz schön weit geschafft. Von Potsdam bis hier runter. Nicht übel. Hob die Tasse an den Mund. Verbrühte sich. Elendes Zeug. Er sollte auf Fruchtsaft umsteigen. Der Artikel war erstaunlich lang. Wahrscheinlich hatten die Zeitungsleute noch irgendwie die Seite füllen müssen. Der Junge stammte aus guten Verhältnissen. Der Vater Architekt, die Mutter Erzieherin. Nie Streit in der Familie. Passable Leistungen in der Schule. Pablo schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, wie man da trotzdem dermaßen ausrasten konnte. Das wollte ihm nicht in den Schädel. Was sollten die Kinder sagen, die jeden Tag vor dem Bahnhofsgebäude herumlungerten und nach halb aufgerauchten Zigarettenstummeln suchten, weil sich kein Mensch um sie kümmerte? Stitch schlich ihm um die Beine. Er hatte Hunger. Pablo warf die Zeitung in den Mülleimer. Vielleicht sollte er den Alten mal zum Kaffeetrinken einladen. Er beschloss, den Gedanken im Auge zu behalten… Eisig und kalt strich der Wind um Coffees nackte Waden, spitze Steine bohrten sich in seine Fußsohlen. Er registrierte es nur am Rande. Suchend wanderte sein Blick die Straße entlang. So weit konnte er doch noch nicht gekommen sein. Das Herz trommelte ihm gegen die Rippen, seine Fingerspitzen pochten. Haarsträhnen hingen ihm in die Augen, er wollte schon umdrehen, als er den winzige, schwarze Gestalt in der Ferne zwischen kahlen Linden entdeckte. „Hey, warten Sie!“ Er kniff die Augen zusammen, als ihm der Wind ins Gesicht blies. Die grob behauenen Pflastersteine verschwammen unter seinen Füßen. „Warten Sie!“ Auch, als die Gestalt stehen blieb, verlangsamte er nicht seine Schritte. Er wusste selbst nicht, warum er so rannte. Es war doch bloß ein armer, im Kopf völlig verdrehter Obdachloser. Ein von der Gesellschaft Verachteter. Ein auf der Straße misstrauisch Beäugter. Der Alte lächelte. „Hier, das gehört Ihnen.“ Seine Lungen schmerzten, jeder Atemzug tat weh wie tausend Nadelstiche. Das kam vom vielen Rauchen, schoss es ihm durch den Kopf. Er schob es beiseite. Drückte den Arm auf den ziehenden Bauch. Seine Hand zitterte, als er dem Alten die Zeitschrift reichte. „Ma ehrlich, körperlich bist du n Wrack.“ „Arschloch, weiß ich selber.“ Der Alte lachte. Laut und fröhlich. Coffee funkelte ihn an. Was für eine Begrüßung. War er extra hierher gekommen, um ihm das mitzuteilen? Er machte einen Schritt auf ihn zu. Wackelig. Drückte seine ausgestreckte Hand hinunter. „Behalt sie, isn Geschenk.“ Er zwinkerte. Aufmerksam sah Coffee ihn an. Nur langsam beruhigte sich sein Herz. Legte sich sein fliegender Atem. Er schwieg. „Hast du das Rätsel denn gelöst?“ „Ich…“ Coffee schluckte, spürte einen Kloß in seinem Hals wachsen. Er holte Luft. „Sie…Sie suchen nach Fotos, auf denen der Fotograf zu sehen ist. Entweder gespiegelt in den Augen des Fotografierten, in einem Spiegel, in einer Fensterscheibe. Wo auch immer. Und dann denken Sie sich aus, was das für ein Mensch sein könnte. Hab ich recht?“ Der Alte grinste. Coffee sah einen schwarzen, verfaulten Zahn. Einen einzigen. „Du bist schlau.“ „Und?“ „Was, und?“ „Was sollte dieses Rätsel? Was machen Sie überhaupt hier?“ Coffee lächelte nicht zurück. Verrückter Alter. Der Mann atmete laut ein, es klang nicht aufgebracht. Eher wie ein Seufzen, nur andersherum. „Glaubst du…“ Kurz hielt er inne. Eine Gedankenpause. „Glaubst du, irgendjemand in dieser Stadt, in diesem Land, hat je diesen Fotografen entdeckt?“ Er betrachtete die dem Erdboden entgegen rieselnden Schneeflocken. Ein sentimentaler, fast schon trauriger Ausdruck lag in seinen Augen. Coffee wartete, bis der Alte fortfahren würde. Er tat es nicht. Irritiert blinzelte der Junge, winzige Schneekristalle hingen an seinen Wimpern. „Denken Sie, dass die Fotografen zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, oder was?“ Der Alte erwachte. „Hm? Ach was!“ Eine wegwerfende Handbewegung. „Darum geht es doch nicht. Hättest du dir dieses Bild so genau angesehen, ohne dieses Rätsel?“ Was sollte die Frage? Coffee fröstelte. Schüttelte schließlich den Kopf. „Wohl nicht.“ „Und warum nicht?“ Die Fragen spannten seine Nerven. Gereizt zuckte er mit den Schultern. „Was weiß ich, vielleicht, weil ich andere Sachen zu tun habe, als auf irgendwelchen Fotos nach Fotografen zu suchen?“ Die Provokation war nicht zu überhören. Der Alte tickte nicht mehr richtig. „Siehst du, genau das ist der Punkt. Die Menschen arbeiten zu viel, als, dass ihnen solche Dinge überhaupt auffallen würden.“ Die blauen Augen leuchteten. Glänzten. Coffee blieb unbeeindruckt. „Wär ich gar nicht drauf gekommen.“ Der Alte lächelte breit, zufrieden. „Denk mal darüber nach. Es lässt sich um einiges leichter leben, wenn man die Arbeit nicht als das Wichtigste im Leben ansieht. Guck mich an. Ich habe mein Leben lang nicht gearbeitet und bin trotzdem so alt geworden.“ Er kicherte. Coffee starrte auf den verfaulten Zahn. „Machs gut, war nett, dich kennen zu lernen, Jungchen. Man sieht sich!“ Kein weiteres Wort. Ein kurzes Winken. Dann drehte er sich um und hinkte davon. Weg war er. Coffee sah ihm nach, bis er hinter der nächsten Hausecke verschwand. Nur allmählich machte er sich auf den Weg zurück. Zurück zu Kat. Ein wirklich seltsamer Typ, lebte völlig in seiner eigenen Welt. Der mit seiner verdrehten Fotografenphilosophie. Er schüttelte den Kopf. Aber er war auch irgendwie glücklich damit. Richtig glücklich… Coffee seufzte. Eigentlich beneidenswert, dieser Mann… In dem Moment, in dem sein Finger das kalte Plastik des Klingelknopfes spürte, fielen ihm Kats Eltern ein und sein Herz rutschte, schwer wie Ziegelsteine, hinunter in seine Magengrube. Er hielt sich am Türknauf fest. Kats Eltern. Daran hatte er nicht gedacht, als er so Hals über Kopf aus dem Haus gestürzt war. So eine…“Scheiße.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Scheiße, Scheiße!“ Hatte er sein Gehirn in Kats Zimmer liegen gelassen? Die arme Kat. Entschlossen klingelte er. Einmal. Zweimal. Hämmerte auf den Knopf, bis ihm der Finger wehtat. Um guten Eindruck ging es gar nicht. Spätestens, wenn die Tür aufging, war er tot. Das war ein kurzer Urlaub gewesen. Aber er war auch selbst schuld daran. Zum Heulen. „Komm rein“ Kat wirkte ruhig und gefasst. Sie musterte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte. Griff nach seinem Arm, zog ihn ins Warme. Unheilvolle. Ein mulmiges Gefühl fraß sich durch ihn hindurch wie ein gieriger Wurm einen saftigen, rotbackigen Apfel. Er presste die Lippen zusammen, zu einem weißen, dünnen Strich. Sein Bauch schmerzte wieder. Kat ließ seinen Arm nicht los. Ihre Mutter stand nur wenige Meter entfernt, die Schultern gestrafft, die Arme zu einem scheinbar unlösbaren Knoten vor der Brust verschränkt. Die Stirn in missbilligende Falten gezogen. Die blondierten Haare wirkten steif. Stocksteif. Als hätte sie mindestens drei Flaschen Haarspray darauf gesprüht. „Katja“ Der Stimme war anzuhören, dass sie seit zwanzig Jahren als Lehrerin arbeitete. Irgendwie schon. Seltsam, wie der Beruf einen Menschen formte. Coffee senkte nicht den Blick. „Ich habe nichts gegen…“ Sie hielt inne. Absichtlich. „…Besuche, aber du musst mir Bescheid sagen und das weißt du auch.“ Kat schlug die Augen nieder. „Ja, ich weiß“ Ihre Stimme klang, als hätte sie stundenlang ununterbrochen gesungen. Oder ziemlich lange geschrieen. Blitzschnell fixierten die Mutteraugen Coffee. Falsch, Kat. Sechs, setzen. Wie sieht es mit dir aus? Du da ganz hinten. Genau du. Weißt du die Lösung? „Du bist Coffee, richtig?“ Die Betonung verriet, was sie von seinem Namen hielt. Nicht viel. Er nickte stumm. Der Name entstammte Kats wilden Fantasiewelten. Er hatte nichts dagegen. „Ich gehe jetzt.“, sagte er. „Gut“ Die Mutter wandte den Blick ab, wahrscheinlich, damit er die Erleichterung und Freude in ihrem Gesicht nicht sah. Ohne ein weiteres Wort drehte Coffee sich um und stieg die Treppe hinauf. „Coffee“, sagte eine leise Stimme hinter ihm. Kat folgte ihm auf leisen Füßen. Er drehte sich nicht um. Sein Bauch fühlte sich an wie ein großes schwarzes Loch. In Kats Zimmer ließ er sich wie ein trotziges Kind auf seine Matratze fallen und begann, seine Sachen zurück in den Rucksack zu stopfen. Er konnte die Wut nicht unterdrücken. Die maßlose Enttäuschung. Über sich selbst. Kat bewegte sich nicht von der Stelle. Sekunden der Stille verstrichen. „Willst du echt schon gehen?“ Sie klang bedrückt. Sie hatte sich gefreut auf ein gemeinsames Wochenende. Ein Wochenende, an dem sie nicht so allein sein würde. Coffee zerrte die Socken über seine mit krümeliger Erde überkrusteten Füße. Krempelte mit fahrigen Bewegungen die Hosenbeine hinunter. Wickelte sich den Schal zu fest um den Hals, erstarrte, als er eine Hand durch seine Haare fahren fühlte. Er drehte sich um. Hob den Blick in Kats bedrücktes Gesicht. „Wo willst du denn hin? Wieder nach Hause?“ Er traute es sich nicht, weiter zu packen. „Ich weiß nicht. Wahrscheinlich.“ Er zog die Mundwinkel auseinander, ein missglücktes, gequältes Lächeln. Sein Rucksack ließ sich kaum noch schließen, er kämpfte mit den Verschlüssen. „Aber, was ist mit dem Verfahren? Und dem Verweis?“ Er richtete sich auf. „Tja. Ich hab’s verbockt, also muss ich da jetzt auch durch. Hey, wieso heulst du jetzt gleich?“ Erschrocken starrte er sie an. Sie wischte sich über die Augen. „Ach nichts. Ich mach mir halt Sorgen. Hier.“ Sie drückte ihm einen Geldschein in die Hand. „Wünsch dir ne gute Reise. Komm gut an.“ Sie lächelte. „Behalt ihn, ich brauch ihn nicht.“ „Lüg nicht, das macht mich wütend.“ Er lächelte, drückte die Türklinke hinunter. „Danke für das Nutellatoastbrot.“ Sie lachte angespannt, wurde aber sogleich wieder ernst. „Willst du nicht noch n bisschen bleiben. Ich will noch nicht Mathe üben.“ „Arbeit?“ „Ja, Montag gleich.“ „Dann solltest du besser gleich anfangen.“ Sie hielt ihn am Ärmel zurück. „Komm schon, meine Mutter wird’s schon nicht merken.“ „Toller Plan.“ Er grinste. Kassiererin im Supermarkt. Berufswunsch mit 10 Jahren: Tierärztin Berufswunsch mit 18 Jahren: / Wie immer lag Dunkelheit über der Stadt, als Alicia das Haus erreichte. „Na“ Nico schien besser gelaunt als noch am Vorabend. Sie lächelte. Manchmal dachte er einfach nicht nach. Handelte und machte sich vielleicht zwei Stunden später mal Gedanken darüber. Wenn überhaupt. Keine Eigenschaft, die sie störte. Besser als andersherum. Stundenlanges Grübeln ohne Ergebnis. „Ich hab Pizza bestellt.“ Stolz schwang in den vier Worten. Er hatte sich Mühe gegeben. „Wie kommt’s?“ Ihre Laune stieg. Kontinuierlich. „Ach weißt du…“ Er lehnte sich gegen den Türrahmen. Das gleiche gerippte Unterhemd wie gestern. Die gleiche verblichene Jeans mit zerfranstem Saum. Unrasiert. Er sah nicht aus, als hätte er heute schon die kühle Winterluft geschnuppert. Sie lauschte in Richtung Wohnküche. Wenigstens den Fernseher hatte er abgeschaltet. „Ich dachte mir, du würdest dich freuen.“ Er machte sich keine Gedanken um seine Zukunft. Oft hatte sie sich gefragt, ob Nico der Richtige für sie war. Oft hatte das Gefasel über das Finden der wahren Liebe im Fernsehen ihr den Kopf verdreht. Sie war sich nicht sicher. Eine Menge mochte sie an ihm, eine Menge auch nicht. Sie wusste nicht, welche von beiden überwog. Eigentlich auch nicht so wichtig, man konnte die Dinge auch kaputt denken. „Tu ich.“ Ein kurzer Kuss, das Essen duftete. Er brachte es nicht fertig, sich für gestern Abend zu entschuldigen. Zumindest nicht mit Worten. Sie nahm es zur Kenntnis. Sein Hartz-IV. war nicht rosig. Müde und abgekämpft lehnte Coffee den Kopf gegen die kühle Glasscheibe. Die Straßenbahn schaukelte leicht, die Scheibe vibrierte kaum spürbar, der Rücken tat ihm weh, er hatte das Gefühl, schon seit Tagen auf den Beinen zu sein. Am Morgen zwei große Arbeiten, ihm zitterten noch immer die Hände, wenn er daran dachte. Halb verrückt hatte er sich gemacht deswegen, gelernt bis zum Abwinken. Seine Nerven lagen blank, er wünschte sich Ferien, jetzt, sofort. Konnte nicht eine Hitzewelle aus der Sahara über Mitteleuropa hinwegfegen? Hitzefrei? Konnte nicht ein tückischer Virus ihn heimsuchen und ihn ans Bett fesseln, nur an den Tagen, an denen Arbeiten anstanden? Eine Epidemie, die nur Lehrer befiel? Er seufzte schwer. Bis zu dem verlängerten Wochenende in zwei Wochen würde er tot sein. Ob auch Schüler Burn-Out-Syndrom bekommen konnten? Beinahe verpasste er seine Station. Er musste umsteigen. Potsdam war eine große Stadt. Studierte mit schläfrigen Augen die Anzeigetafel. Linie 3, 10 Minuten Verspätung. Er war zu kaputt, um sich aufzuregen. Im Wartehäuschen war ein Platz frei. Seine Füße pochten. Die Schuhe drückten, noch ziemlich neu, vor einer Woche gekauft. Seine Mutter hatte ihn in den Schuhladen geschleppt. Widerstand zwecklos. Die alten lagen nun im Müll. Heute hätte er Lust auf Freibad gehabt. Den ganzen Tag auf der Wiese liegen, der Rücken gewärmt von einer sanften Septembersonne. Nach den Mädchen schielen, ab und zu ins kühle Nass hüpfen oder Volleyball spielen. So ließ es sich leben. „Na“, begrüßte ihn seine Mutter. Über dem Herd brutzelte es. „Wie war’s in der Schule?“ Sein Vater saß am Küchentisch. Sein Bruder flitzte durch den Flur. Wie aufgezogen. Das neue Düsenflugzeug in den patschigen Händen. „Tschioooooooo, Käpt’n, wir haben den Feind gesichtet. Gut. Angreifen. Over. Mäp. Niiiiiiio. Bamm, bamm. Bäng.“ Coffee seufzte. So ging das den ganzen Tag. Hoffentlich stürzte das Ding bald ab. „Ganz gut.“, antwortete er halbherzig. Ließ den Rucksack zwischen die ordentlich nebeneinander aufgereihten Schuhe fallen. Wieder einmal war er dem nach Nahrung lechzenden Ungetüm Schule um Haaresbreite entkommen. Morgen standen die nächsten Arbeiten an. Eigentlich müsste er lernen. Er fragte sich, wie die vielen Menschen vor ihm das 12 Jahre lang durchgehalten hatten. „Hallo, Sebastian.“ Sein Vater hob kurz den Blick. Seine Mutter schaufelte munter das Essen auf die Teller. „Wie waren die Arbeiten?“ „Gut“ Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Irgendeine Note bekommen?“ Sie lächelte weiter. „Nee“ Lustlos begann er, mit der Gabel Reiskörner aufzuspießen. Das war gelogen, aber sie brauchte es ja nicht wissen. Bis zur Zeugnisausgabe kriegte er das schon hin. Irgendwie. Das Essen schmeckte ihm nicht. Er hatte Bauchschmerzen. „Ich hab übrigens…“ Der Vater ließ die Gabel sinken. „…meinen Bekannten nochmal gefragt. Der meinte, als Regisseur könne man nicht wirklich seinen Lebensunterhalt verdienen. Da müsste man schon wirklich was drauf haben. Also…“ Ein Schluck Orangensaft. „…die Chancen stehen schlecht. Vielleicht solltest du dir lieber was anderes suchen. Etwas Vielversprechenderes.“ Coffee nickte wie in Trance. „Ich geh nachher ins Freibad.“ Überrascht hob die Mutter den Kopf. „Hast du nicht gesagt, dass ihr morgen noch Arbeiten schreibt?“ „Ich lerne heute Abend.“ Er ignorierte die tadelnden Blicke seiner Eltern. Kat klebten die nassen Haare auf der Stirn, als sie auftauchte. Wasser spritzte auf, eine Fontäne aus winzigen Tropfen in alle Richtungen. Kleine Wellen kräuselten sich um ihre Schultern. Ihre Fingerspritzen umkrallten den Beckenrand. „Och, komm doch rein. Ich dachte, du magst Schwimmbäder.“ Coffee schüttelte den Kopf. Zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern. „Nicht heute.“ Er hatte sich sein T-Shirt wieder übergezogen. „Ach, du bist doch doof.“ Sie zog sich hoch. Wasser schwappte über, versank mit lautem Glucksen im Gulli. Sie hinterließ eine Spur aus plitschenden Wassertropfen, als sie auf ihn zukam. Sich neben ihm auf der Bank niederließ. Er mied es, sie anzusehen. „Was hatn dir jetzt so die Laune verhagelt, hm?“ Aufmunternd stupste sie ihn die Seite. „Freu dich doch. Du kannst nochn Tag hierbleiben.“ Er murrte etwas Unverständliches. Sie seufzte. Lehnte sich ein Stück nach vorn, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können. Er starrte auf die glänzende, spiegelnde Wasseroberfläche. So perfekt blau. So künstlich, vollgepumpt mit Chlor. Er hatte Bauchschmerzen. Normalerweise hätte er Lust gehabt, zu schwimmen. „Was ist denn jetzt los mit dir?“ Sie klang ernst. Besorgt. „War irgendwas?“ Er schüttelte den Kopf. „Was war eigentlich heute Morgen mit diesem Typen?“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Nicht so wichtig.“ Er biss sich auf die Lippen. Morgen musste er zurück. Zurück nach Hause, zurück zu seinen Eltern, der kleinen Nervensäge. Zurück in den Alltagstrott. Zurück in die Schule. Ihm graute davor. Er rieb sich die Stirn. Das war der letzte Tag, der letzte Tag Gelassenheit, Ruhe, Unbeschwertheit. Er konnte es nicht genießen. Der Gedanke an morgen beherrschte seinen Kopf wie ein riesiger Luftballon, der sich immer weiter aufpumpte und alles andere verdrängte. Er spürte ihn gegen die Schädeldecke drücken. Er knirschte mit den Zähnen. Schließlich richtete er sich auf, in einem kurzen Anflug von Entschlossenheit. „Also los, dann komm.“ Er lächelte dünn. Er konnte schließlich nicht den ganzen Tag nur herumsitzen und Trübsal blasen. Ehe Kat einen Ton herausbringen konnte, landete sie mit lautem Platschen im Wasser, zwischen kleinen, faltigen Rentnern, die sie teils überrascht, teils verärgert beäugten. „Du Arschloch“, gurgelte sie wütend im Auftauchen. Sie spuckte Wasser. Coffee lachte, nahm Anlauf und sprang hinterher. Nico vergrub die Hände in den riesigen Taschen seiner Jacke, ein eisiger Wind blies durch die grauen Straßen, jeden, der ihm begegnete, bedachte er mit grimmigen, provokanten Blicken. Starrte ihm jemand zu lange nach, rief er „Is was?“. Sein Leben gefiel ihm nicht. Es gefiel ihm ganz und gar nicht. Irgendwie hatte er sich das alles immer anders vorgestellt. So wie in den Fernsehserien. Gutbezahlter Job, eine liebe Frau, zwei hübsche Kinder. Haus, Garten, Hund. Goldfischteich. Und jetzt lebte er von knapp 400 Euro im Monat, rauchte, trank. Trieb sich nachts auf den Straßen herum, hörte laute Musik. Zerschmissene Glasflaschen. Seltsames Gerede. Protzerei mit etwas, was man gar nicht hatte. Vor einigen Monaten für eine Nacht in Untersuchungshaft. Im Sommer hätte er beinahe im Wahllokal sein Kreuz für die rechtsradikale Partei gesetzt. Seine Kumpel waren stolz auf ihr Hartz IV. Etwas anderes wollten sie nicht. Genügsamkeit oder Rebellion gegen herrschende Zustände. Oder schlichte Faulheit. Wahrscheinlich letzteres. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, er zählte die Stunden bis 20 Uhr. Bis Alicia aus dem Supermarkt kommen würde. Tigerte durch die Straßen. Mal hierhin, mal dorthin. Ohne Ziel, ohne Sinn. Merkte nicht, wie sehr er sein Leben von dem ihren abhängig gemacht hatte. Er hatte es so gewollt. Auf der anderen Straßenseite sah er zwei Umrisse um die Ecke biegen. Einen Jungen, ein Mädchen. Er blieb stehen. Er machte sich nichts daraus, wenn die Leute bemerkten, wie er sie anstarrte. Musterte. Sie hatte sich bei ihm untergehenkelt, das Lächeln passte nicht zu seiner blassen Gesichtsfarbe. Durchschnittlich. Langweilig. Nico ging weiter. Sah sich nicht um, rempelte einen alten Mann im Vorübergehen. Er entschuldigte sich nicht, war sowieso überflüssig. Dachte sich nichts dabei. Manchmal konnten alte Leute nerven. Ein dumpfes Geräusch hinter ihm, etwas Schweres fiel auf den nassen Gehsteig. Er sah die erschrockenen Gesichter der beiden, die großen Schritte, mit denen sie hastig die Straße überquerten ließen Nico sich vorsichtig, zögerlich auf der Ferse seiner Turnschuhe umdrehen. Die Augen des Alten waren geschlossen, nur winzige, kaum sichtbare Zuckungen verrieten, dass noch Leben in ihm steckte. Ein winziger Hauch Leben, Bewegung. Atem. Die schmächtige Brust hob und senkte sich langsam, schwerfällig. Die zerfurchte, von Wind und Sonne gegerbte Haut zitterte, aus dem Mundwinkel rann ein hauchdünner Speichelfaden. Kat reagierte schneller als er, sie hatte einen Sinn für so etwas. Eine Art sechsten Sinn. „Haben Sie sich irgendwas getan? Kommen Sie schon, stehen Sie auf!“ Sie griff nach seinem Arm, wollte ihm aufhelfen, er rührte sich nicht. „Jungchen“, flüsterte er. Leise. Kratzig. Dünn. Wenige Meter entfernt stand der breitschultrige Mann mit dem Kahlschnitt. Die kleinen Augen weit und erschrocken aufgerissen. Genauso steif, genauso hilflos wie er. Coffee hörte sein eigenes Herz monoton schlagen. Wie den Zeiger eines Metronoms, der immer im selben Takt hin- und her pendelte. Tick. Tack. Tick. Tack. Die Zeit verstrich, verrann, wie Sand in einer Sanduhr rieselte sie durch die leeren Straßen. Kat war nervös, ihre Stimme klang schrill, hektisch. Er verstand nicht, was sie sagte, tastete nach seinen Ohren, keine Ohrstöpsel. Sah, wie der Mann mit starrem Blick sein Handy aus der Jackentasche zog, eine Nummer wählte. Langsam, bedacht, wie in Zeitlupe ließ er sich in die Hocke sinken. Der Alte lächelte. Eine knochige, eisigkalte Hand griff nach seiner eigenen. Raue, aufgesprungene Haut. Er wandte den Blick nicht ab. „Hör zu.“ Der Alte röchelte. Hustete. Coffee verstand ihn kaum. „Der Fotograf hat heute in der Kaufhalle sicher meine Tüte abgegeben. Ich möchte, dass du sie dort abholst. Am besten fragste die schwarzhaarige Kassiererin, die wirds wissen.“ Coffee schüttelte unverständlich den Kopf. Ohne dass er es wollte brannten seine Augen. Der Alte wurde immer leiser. „Zieh doch nich son Gesicht, Jungchen. Ich vermache dir mein gesamtes Vermögen, du solltest dich freun.“ Ein schelmisches, zahnloses Grinsen. Kat hatte sich neben ihn gekniet. Als der Krankenwagen endlich kam, war es zu spät. Der Tod hatte sich geholt, was es noch zu holen gab. Der Alte rührte sich nicht mehr. Keine weißen Atemwölkchen mehr vor dem dünnen, zerfurchten Mund. Coffees Blick hing an der blauen Sirene, er sah alles verschwommen. Wie durch einen dünnen Schleier. Kat wechselte einige Worte mit den Sanitätern, Coffee hörte sie nicht. Nicht richtig, nur einzelne Gesprächsfetzen drangen zu ihm hinüber. Todesursache Alter, Erschöpfung, das viele Rauchen. War es kälter geworden? Es schien so. Leute blieben stehen, blickten neugierig auf das weiße Tuch, auf das leblose Bündel, das es bedeckte. Auf die neonroten Westen der Sanitäter. Auf die klaren, glänzenden Pfützen in denen sich die noch immer blinkende Sirene spiegelte. Aus, an. Aus, an. Tuschelten. Fragten voll kindlichem Wissensdurst. Irgendjemand tippte ihm auf die Schultern, er drehte sich um, blickte in große, neugierig leuchtende Augen. Er verstand die Frage nicht, schüttelte hilflos den Kopf. Die Leute hier waren froh, wenn mal etwas Außergewöhnliches geschah. Immer auf der Suche nach Klatsch und Tratsch. Kat ließ seine Hand nicht mehr los. Sie fuhren nicht mit ins Krankenhaus. In Coffees Hals wuchs ein dicker Kloß, wurde mit jeder Minute dicker und dicker. Schnürte ihm die Luft ab. Er sagte kein Wort, auch nicht, als man ihn nach seinem Namen fragte. Es dauerte lange, bis die Menge sich auflöste, viel zu lange, Coffee wusste nicht, ob er laut schreien oder schweigen wollte. Er fröstelte, kalte Schauer huschten über seinen Rücken, als hätte ihm jemand Schnee hinten in den Pullover gesteckt. „Coffee“ Kats leise Stimme weckte ihn schließlich aus seiner Erstarrung. Aus seiner Trance. „Lass uns nach Hause gehen.“ Er nickte mechanisch, schüttelte dann heftig den Kopf, dass ihm nasse Haarsträhnen gegen die Wangen schlugen. Hatte es geregnet? „Ich will erst zum Supermarkt.“, hörte er sich sagen, als hätte ein anderes Ich tief in ihm drin die Steuerung übernommen und das bisherige sich in eine hintere Ecke verkrochen, um dort zu warten. Warten, worauf eigentlich? Warum nur nahm ihn das so mit? Kat stellte keine Fragen. Später erinnerte er sich nicht an den Weg bis zur Kaufhalle. Kein bisschen, an gar nichts, wie ausgelöscht. Ausradiert. Vielleicht war es dunkel gewesen, vielleicht auch noch hell. Vielleicht hatte es geregnet. Vielleicht war der Krankenwagen mit Blaulicht an ihnen vorüber gefahren. Vielleicht hatte der kahlköpfige Mann noch irgendetwas gesagt. Vielleicht aber auch nicht. Er hörte Kats schrille, aufgeregte Stimme, als er sich in den nächsten Vorgarten zwischen zwei Kirschlorbeerbüschen übergab. 18.45 Uhr. Um Pablos Mundwinkel hatten sich zwei steife Falten gegraben, als er die Tüte der Kassiererin überreichte. „Was soll ich damit?“, fuhr sie ihn an. Angesäuert, gereizt. Überlastet. Überarbeitet. Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht kommt er ja noch mal hier vorbei, man kann ja nie wissen.“ Sie ließ sich auf ihren Stuhl zurücksinken. Das verfinsterte Gesicht blieb, die wütend, entnervt funkelnden grünen Augen. „Das glaube ich kaum. Außerdem…“ Mit lautem Knall schlug das Geldfach zu. „…wird das, was da drin ist, ja wohl nicht so wertvoll sein, oder?“ Wäre er kein Kunde gewesen, hätte sie seine Bitte wohl schlichtweg ignoriert. Ihre Zähne knirschten angespannt. Pablo trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, die Tüte einfach wieder mitzunehmen, aber…jetzt war er einmal hier. Er zwang seine Hände dazu, nicht zu zittern. Schob ihr langsam die Tüte auf dem Band entgegen. „Man kann nie wissen, ich bitte Sie.“ Er lächelte sogar. Verlegen. Sie gab ein missbilligendes Schnaufen von sich. „Na, von mir aus.“ Ein flüchtiger Blick auf die flimmernde Handyuhr. Umfasste die Tüte mit beiden Händen, stopfte sie achtlos unter den Automaten, in dem sich Zigarettenschachteln zu meterhohen Stapeln auftürmten. „Wiedersehen.“ Fragte nicht einmal, ob er sonst noch Wünsche hätte. „Eine Frage noch“ „Ja?“ Die dünnen Augenbrauen rutschten in die Höhe, soweit, dass sie unter dem dichten Pony verschwanden. Das Weiße in ihren Augen schimmerte rötlich. „Könnte ich Sie fotografieren?“ Gleich würde sie ihm an die Gurgel springen. Scharf sog sie die Luft ein. „Fotografieren? Mich?“ Pablo zögerte einen Moment, dann nickte er. „Ich arbeite als Fotograf und ich…“ Kurz suchte er nach Worten. Kramte in seinem Gedächtnis. Fuhr sich mit der Zungenspitze über die von der Kälte aufgesprungenen Lippen. „Ich…fotografiere Menschen aus dem Alltag. Ganz normale Leute, wie man sie überall trifft.“ „Und…da wollen Sie mich fotografieren?“ Sie sah nicht überzeugt aus. Skepsis. Misstrauen. Wieder nickte er, zu mehr fühlte er sich nicht imstande. „Wieso nicht.“ Ihre Lippen kräuselten sich zu einem winzigen Lächeln, kaum sichtbar, dennoch da. Mit den Füßen stieß sie sich von den vergilbten Fliesen ab, drehte sich auf ihrem Drehstuhl, damit er ihre Freude, ihre Neugier nicht sah. Wer freute sich nicht über ein bisschen Abwechslung? „Wiedersehen“, sagte er zu ihrem schlanken Rücken. Dann ging Pablo. „Geht es wieder?“ Er blickte in Kats von Sorge gezeichnetes Gesicht, feuchte Haarsträhnen hingen ihr in die Stirn, sie strich sie nicht beiseite. Er nickte, um sie zu beruhigen. Es hatte nicht geregnet, sie waren im Schwimmbad gewesen. Fiel ihm ein. Nur allmählich lichteten sich die zähen, grauen Nebel in seinem Kopf, klarten und ordneten sich die Gedanken. Als hätte jemand ein großes Bücherregal umgeworfen und würde nun langsam anfangen, die verstreuten Bücher aufzusammeln und vorläufig ordentlich auf dem Fußboden übereinander zu stapeln, bis das kaputte Regal repariert wäre. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er gleich in tausende Teile zerspringen. Er schmeckte etwas Bitteres im Mund. Fasste sich gegen die pochende Stirn. Kats Gesicht flimmerte in allen Regenbogenfarben. „Komm, gehen wir.“ Er richtete sich auf, es fiel ihm schwer, sich zu orientieren. Links, rechts, oben, unten. Straße, geparkte Autos. Kahle Bäume. Häuserfassaden. Noch immer wackelig setzte er einen Fuß vor den anderen. Kat sagte noch immer keinen Ton. Umklammerte seine Finger. Ohne, dass er es wollte, kam ihm wieder das Bild des Alten vor Augen. Er schob es beiseite. Verdrängte es. Nicht jetzt. Später. Später konnte er darüber nachgrübeln. Er fühlte sich müde, als er das Supermarktschild in der Ferne schwach glimmen sah. Er erkannte die Kassiererin sofort. Für einen kurzen Moment wanderte sein Blick über den Kassenbereich, in der Hoffnung, eine weitere schwarzhaarige Kassiererin zu entdecken, Fehlanzeige. Eigentlich hatte er gehofft, diese Frau nie wieder zu sehen. Er hatte kein Talent für überschwängliche Dankesreden. Weitere Fragen vorprogrammiert. Nur widerwillig ließ er sich von Kat zur Kasse schleifen. Am Ende war die Tüte wahrscheinlich gar nicht hier und sie völlig umsonst hergekommen. Er seufzte kaum hörbar. Wieder so ein Tag, der nicht ihm gehörte. Hätten sie nicht gleich zurück nach Tröbsdorf fahren können? „Guten Tag?“ Sie sah müde aus, erschöpft. Dennoch setzte sie ein freundliches Lächeln auf. Die überlangen Fingernägel ruhten auf ihren dünnen Oberschenkeln. Lila mit gelben Aufklebern. Er konnte das Motiv nicht erkennen. Amüsiert betrachtete sie ihn, er tat so, als würde er es nicht bemerken. Als würde er ganz beschäftigt das Topangebot der Woche studieren. Kat hatte erwartet, dass er etwas sagen würde, als nichts kam, setzte sie zögerlich zum Reden an. Die Kassiererin hörte nur mit halbem Ohr zu, nickte in kurzen Abständen, ihr Blick haftete an ihm wie die stacheligen Kugeln einer Klette. Ungeduldig verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Unterdrückte ein Gähnen. Starrte auf das Muster der Fliesen. Mit dem Daumen strich sie sich einige mattglänzende Haarsträhnen aus der Stirn, holte eine staubige Plastiktüte mit einem großen roten Apotheken-A hervor. Mit beiden Händen griff Kat danach. „Und, bist du gut angekommen in Tröbsdorf?“ Sie lächelte schelmisch. Ihr Pony rutschte zurück über das rechte Auge. Coffee hatte das Gefühl, als würde Kat seinen Arm fester umklammern. Er nickte. „Danke nochmal für das Ticket“ Ein bereitgelegter, auswendig gelernter Satz. Er war nicht sicher, ob sie erwartete, dass er das Geld zurückzahlte. „Nichts zu danken.“ Sie lachte. „Viel Glück noch!“ Sie wirkte ganz anders als noch am Vorabend. Wie ausgewechselt. Eigentlich hatte er nicht lächeln wollen. Die Schiebetüren öffneten sich sirrend, dann empfing sie eine kalte, sternenklare Nacht. „Vergiss es, ich komm nicht mit.“ Nicos Gesicht blieb ernst, regungslos. Die Augenbrauen zusammengezogen. Sein Gegenüber tat sich schwer daran, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Lachte belustigt. Rückte das schwarze Kopftuch zurecht. Die Lederjacke raschelte. Ein großer Schluck aus der Bierflasche. Es tropfte auf den gekachelten Flurboden. . Kleine dunkle Punkte. „Dann eben nich.“ Zuckte mit den muskelbepackten Schultern. Die Absätze seiner Stiefel klackten laut auf den Steinen. Ein Klacken für jede Stufe. Ein Klirren, als die Haustür unten ins Schloss fiel. Es hallte laut von den Wänden. Nico ging zurück in die Wohnung, er bereute seine Entscheidung nicht. Noch nicht. „Was ist los? Wolltest du nicht mit deinen Freunden weg?“ Alicia brachte warmen Nebel aus dem Badezimmer mit sich. Trocknete die nassen Haare mit einem Handtuch. Deine Freunde. Das sagte sie immer. Sie wollte mit Nicos Leuten nicht viel zu tun haben. Nur das allernötigste. Hey, Tschüss. Fertig. Normalerweise störte ihn das. Heute nicht. Er schüttelte den Kopf. „Keine Lust“ Sie nickte nur. Verschwand wieder. Von drinnen konnte er den Fön rauschen hören. Die Hände tief in den Taschen vergraben schlenderte er zum Fenster. Es war lange dunkel. Schwach leuchtete das goldene Licht der Straßenlaternen. Eine gebückte Gestalt warf ihren langen Schatten auf den Gehsteig. Kam mit schlurfenden Schritten nur wenig voran. Zuerst hielt Nico sie für den Alten, aber dann sah er das weiße Schoßhündchen, das mit trippelnden Schritten an seiner Leine zerrte. Abschätzig zog er die Mundwinkel nach unten. Fußhupe. Konnte froh sein, wenn es nicht zwischen die Stäbe eines Gullis geriet. Er wusste, dass ihn keine Schuld am Tod des Mannes trug. Dennoch plagte ihn das schlechte Gewissen. Gewaltige Zweifel. Hätte er ein bisschen besser aufgepasst und nach vorne gesehen, dann…Mit einer forschen Handbewegung wischte er den Gedanken beiseite. Lästig. Der Alte wäre vielleicht zwei Tage später ohnehin gestorben. Das Alter, die Erschöpfung. Herzinfarkt, Schlaganfall. Was auch immer. Er biss sich auf die Lippen. Er hatte Alicia nichts erzählt. Gar nichts, kein Wort. Sie hatte gute Laune heute. Hüpfte wie ein aufgewecktes Vögelchen durch die Wohnung, sang zu lauter Musik. Ein Fotograf wolle sie fotografieren, hatte sie gesagt. Sie wüsste nicht, wie er hieß, aber er wollte wiederkommen. Sie freute sich wie ein kleines Kind. Er lächelte. Gut darauf bedacht, ihr heute den Abend nicht zu vermiesen, holte er zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. „Coffee?“ Kat flüsterte, schloss die Tür so leise wie möglich hinter sich. Nicht wegen ihrer Eltern, die waren wieder nicht da. Bei Freunden zum Essen eingeladen. Nein. Sie hatte das Gefühl, mit jedem noch so leisen Geräusch oder Wort seine Nerven dem Zerreißen nahezubringen. Sein Gemüt stand auf wackeligen Füßen, mehr schlecht als recht zusammengezimmert aus zittrigen, gutgemeinten Worten, Fürsorge und Selbstbeherrschung. Heute Nachmittag waren Coffee sämtliche Sicherungen durchgebrannt, sie musste gut auf ihn achten. Auf ihn aufpassen. Sie fühlte Verantwortung, obwohl sie nicht musste. Sie stellte ein Glas Wasser neben seine Matratze auf den Fußboden. In der Ecke lehnte die Plastiktüte. Ungeöffnet. Unangerührt. Kat wagte nicht, danach zu fragen. Setzte sich ihm gegenüber. Verschränkte die Beine, eine geschälte Mandarine in den Händen. Bot ihm eine Hälfte an. Sagte kein Wort. Kein einziges. Er griff zu. Knubbelte mit den Fingerspitzen von jedem Stück das Weiße ab. Er sah nicht so aus, als hätte er große Lust auf Mandarinen. Schweigen herrschte. Kat dachte an den alten Mann. War es nicht seltsam? Wie klein auf einmal irdische Probleme wurden, wie klein und nichtig, wenn der Tod mit dürren Fingern nach einem griff? Dann war alles egal. Ob Obdachloser, Anwalt, Jurist, Handwerker oder Präsident, im Tod waren sie alle gleich. Egal ob Hochschulabschluss oder nicht, am Ende war das alles nichts wert, so etwas konnte das Leben nicht verlängern. Sie starrte auf das letzte Stückchen Mandarine. Saft tropfte von ihren Handgelenken, versank zwischen den dichten Teppichfasern. Alicia starrte auf den Wasserhahn. Winzige Tröpfchen hatten im Laufe der Wochen weißliche Spuren auf dem glatten Metall hinterlassen, der Fön rauschte in ihrem linken Ohr, blies lange Haarsträhnen um ihr Gesicht. Sie fühlte sich verwirrt, durcheinander. Der Tod des Obdachlosen bedrückte sie, ohne, dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Es war wieder dieser Irrsinn des Lebens. Man verabscheute einen Menschen. Abgrundtief, wünschte sich nichts Sehnlicheres, als dass er endlich für immer verschwinden würde, und wenn es dann soweit war, vermisste man ihn. Mit einer ruppigen Bewegung riss sie den Stecker aus der Steckdose. So etwas Bescheuertes. Der Alte fehlte ihr, auch wenn sie es nie für möglich gehalten hätte. Nie. Ihre Hände fühlten sich kalt an, so viele Ereignisse an einem einzigen Tag, wer sollte da noch hinterherkommen. Sie verhedderte sich in den Ärmeln ihres Pullovers. Erst der Fotograf, dann der kleine Ausreißer mit dem dünnen, blonden Mädchen, das von dem Tod des Mannes erzählte. Wie ein alter Film ratterte der vergangene Tag in ihrem Kopf vorbei. Spulte, spulte. Blieb hängen. Als sie sich ihre Strümpfe überzog, verlor sie beinahe das Gleichgewicht. Musste sich am Waschbecken festhalten. Woher kannten sich der Junge und der Alte? Sie hatte nicht getraut zu fragen. Schon rätselhaft. Es belustigte sie. Eine ungleiche Freundschaft. Der Junge hatte mitgenommen ausgesehen, noch mitgenommener als noch am Vortag. Mehr tot als lebendig. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, während sie sich in ihre Jeans zwängte. Die Gürtelschnalle klapperte. Was war mit dem blonden Mädchen? Sie drückte auf die Stopptaste. Hielt kurz inne. Irrte sie sich, oder war sie verliebt? Sie lächelte. Zog die Bürste aus dem Ständer. Ihre Haare ziepten, verknoteten, verfilzten. Was wohl in der Tüte gewesen war? Sie erinnerte sich daran, wie der Alte sie einmal versehentlich ausgekippt hatte. Aber nicht auf den Inhalt geachtet. Schade. Zaghaft nahm sie die Filmrolle aus dem Abspielgerät, legte sie sorgfältig in die Hülle, stellte sie in das oberste Regalbrett. Drehte am Schlüssel der Badezimmertür. Auf den Fototermin freute sie sich. Sie hatte vor, sich vor die Schaufensterscheibe zu stellen… „Luisa, sieh mal!“ „Was denn?“ Noch im hellblau gestreiften Schlafanzug, die Haare zerzaust und verwuschelt kam das Mädchen in die Küche gerannt, in der linken Hand eine Barbiepuppe an den Zöpfen umklammert, in der rechten eine quietschig rosafarbene Plastikbürste. „Mama, was ist denn?“ Auf Zehenspitzen linste sie über den Rand der Zeitung hinweg, versuchte, etwas zu erkennen. Schielte fast. Auf dem Kopf lesen war kompliziert. „Der Obdachlose aus dem Supermarkt ist gestern gestorben.“ Die Zeitung raschelte, als die Mutter die Seite ihrer Tochter entgegen drehte. „Wer?“ „Der alte Mann in der Kaufhalle, mit dem du dich manchmal unterhalten hast.“ „Ach so“ Luisa zog die Nase hoch. Schniefte. „Was hatte er denn?“ Die Mutter zuckte mit den Schultern, überflog das dichtbedruckte Papier. „Steht nicht drin. Soll ich den Artikel für dich ausschneiden?“ Die gekringelten Haare wippten, als das Mädchen nickte. Die Mutter lächelte, fuhr ihr über den Kopf. Luisa nagte an ihrer Unterlippe. Griff mit einer groben Bewegung nach dem Hals der Puppe, lief mit unsicheren Schritten zurück in ihr Zimmer, die Bürste vergaß sie. Sorgfältig, akkurat fuhr die Schere durch das dünne, raschelnde Papier, am Rand des Artikels entlang. Wer hätte gedacht, dass es den Alten schon so bald erwischen würde. Wer hätte gedacht, dass es ausgerechnet gestern sein würde. Es hätte auch morgen sein können. Denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Pablo heftete den Artikel mit einem dünnen Streifen Tesafilm an seinen Küchenschrank, neben andere Artikel. Manche schon vergilbt. Es wurde nach Verwandten des Mannes gesucht. Geschwister, Kinder, Enkelkinder. Cousins, Cousinen, was auch immer. Irgendjemand musste die Beerdigung bezahlen. Nicht einmal der Name des Alten war bekannt, er hatte es niemandem erzählt. Schade, dachte Pablo. Schade, dass er nicht daran gedacht hatte, ihn für seine Serie zu fotografieren. Wirklich schade. Er nippte an seinem Kaffee. Schon fast kalt, er kippte ihn in die Spüle. Vielleicht sollte er zurückgehen und die Tüte zurückholen. Aber morgen war keine Zeit. Die Arbeit rief, krallte sich in seine Hosenbeine, auch übermorgen würde er wohl keine freie Minute finden. Er seufzte. Kein Wunder, dass er so viel Kaffee trank. Manche Fotografen nahmen sich für ein Jahr frei, ein ganzes Jahr. Unternahmen Weltreisen, fotografierten dies und das, wonach ihnen der Sinn stand, frei von Bestimmungen und Wünschen von ganz oben. Wirklich frei. Künstlerische Verwirklichung, sozusagen. Und wenn sie Glück hatten, konnten sie nach diesen 365 Tagen einen Fotoband herausbringen, nicht selten mit Erfolg. Stitch maunzte hungrig, folgte ihm mit kleinen Schritten, der fette Bauch hüpfte auf und ab, von links nach rechts. Schlug die Krallen in seine Hose und ließ sich mitschleifen. Ein klägliches, langgezogenes Miauen. Pablo stupste ihn mit der Fußspitze weg. Es war ein klarer Morgen, sogar die Sonne lugte schüchtern und zurückhaltend zwischen den dicken, grauen Wolken hervor. Winzige Staubpartikel schwirrten durch die Luft. Mit einem weichen Tuch wischte er über die Linse seiner Kamera. „Maaaaau!“ Stitch hatte es geschafft, seinen kugeligen Leib auf das Fensterbrett zu hieven und angelte mit seinen kurzen Pfoten nach dem Umhängeband. Abwesend lächelnd strich Pablo über das lange Fell. Fünf Fotos hatte er für seine Serie. Er war perfektionistisch, er nahm nicht jedes. Das Drücken auf den „Alles Löschen“ – Knopf, wenn es ihm nicht hundertprozentig gefiel, hatte er sich inzwischen einverleibt wie das morgendliche Frühstück. Sehr zum Ärger seiner Modelle. 25 Fotos waren sein Ziel. Vielleicht auch mehr. Er war überzeugt, dass er es schaffen würde. „Mach’s gut.“ Kat umarmte ihn kurz zum Abschied. „Komm gut nach Hause.“ „Das ist nicht das Problem.“ Er grinste. Sie lächelte traurig. Er nahm es nicht halb so gelassen wie er vorgab. „Du schaffst das schon. Und wenn nicht, kommst du halt wieder zu mir.“ Er lachte leise. Drehte die Fransen seines Schals zwischen den Fingern. Hinter ihm zischte der Zug. Wartend, abfahrbereit. Reisende hasteten über den Bahnsteig. Wuchteten riesige Koffer die Treppen hoch und runter, studierten mit angestrengten Mienen leuchtend gelbe Fahrpläne. Schoben hektisch Ärmel beiseite, um einen Blick auf tickende Armbanduhren zu werfen. Vergruben fröstelnd die Hände in den Taschen. Fluchten, wenn der Zug sich verspätete. Hüpften ungeduldig auf der Stelle. Knabberten an mitgebrachten belegten Broten. Bahnhöfe waren schon irgendwie eine Welt für sich. Eine verzerrte Lautsprecherdurchsage. Coffee kratzte mit den Spitzen seiner Schuhe das Moos aus den Ritzen der rauen Pflastersteine. „Also dann.“ Er hob den Kopf. „Danke nochmal. Und tut mir Leid wegen gestern. Ich hab dir ganz schön den Tag vermiest.“ Verlegen fuhr er sich durch die Haare. „Ach was.“ Sie vergrub die Hände in den Taschen ihrer Jeans. „Passt schon.“ Ohne ein weiteres Wort drehte sich Coffee um, die Metallstufen klirrten unter seinen Füßen. Er bestieg den Zug mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Sein Mund fühlte sich trocken an. Langsam ließ er sich auf einen der weichen Polstersessel sinken. Die Luft im Abteil war stickig, abgestanden. Er würde sich bald daran gewöhnen. Stellte den prallgefüllten Rucksack zwischen seine Füße. Lehnte den Kopf gegen die kühle Glasscheibe. Seine Finger fühlten sich kalt an. Kat stand noch immer draußen, die Haare zu einem wirren Pferdeschwanz zusammengebunden, Kinn und Mund verschwanden fast gänzlich unter ihrem bunten Schal. Trotzdem sah er, wie sie lächelte. Sein eigenes Gesicht spiegelte sich doppelt in der Scheibe. Irgendjemand hatte mit dem Taschenmesser Buchstaben in das Plastik gekratzt. Der Schaffner überquerte mit großen Schritten den Bahnsteig, fuchtelte mit den Armen herum. Die Uniformen hatten ein hübsches Dunkelblau. Warm, angenehm. Ein Ruck ging durch den Zug, als er sich ruhig, gemächlich in Bewegung setzte. Kat winkte. Er winkte kurz zurück, schob dann die Hände wieder in die Pullovertaschen, während die Bahnhofshalle, menschliche Gestalten an ihm vorüberzogen. Eine Gruppe ununterbrochen grinsender Japaner, sicherlich Touristen. Ein kleiner, dicker Mann mit verbiestertem Gesicht und Hakennase starrte vor sich hin, ungeduldig mit der Spitze eines großen schwarzen Regenschirms auf das Pflaster klopfend. Eine junge Frau mit solariengebräunter Haut und blondierten Strähnen in den Haaren tippte eifrig auf ihrem Handy herum. Ein Kind hüpfte die Stufen auf und ab. Der Bahnsteig wich buntgewürfelten Häuserfassaden, ein Raucher auf dem Balkon, eine dünne, gefleckte Katze im Fenster, Blumenkästen, Satellitenschüsseln. Lagerhallen, beschmiert mit Grafittischrift, silbern, rot, schwarz. Schrilles Pink. Lose Dachziegel, eingeschlagene Fensterscheiben. Güterwaggons, hohes, stacheliges Gras auf den rostigen Gleisen. Kurz schloss Coffee die Augen, er hatte nicht gut geschlafen heute Nacht, wusste selbst nicht so genau, warum. Vielleicht schlechte Träume, er konnte sich nicht erinnern. Schräg gegenüber hörte jemand laut Musik. Ein Handy klingelte. Aufgeregt redete jemand auf seinen Nachbarn ein. Englisch. Der Duft von Früchtetee wehte vorüber. Coffee kramte seinen MP3-Player hervor, obwohl der Akku bald leer sein würde. Dürres Gestrüpp, abgeerntete Felder rasten vorüber, verwischten zu grün-braunen Streifen und Striemen. In der Ferne grasten einige Kühe. Ihm blieben drei Stunden bis zur Ankunft. Seltsamerweise hatte er keine Bauchschmerzen. Er blickte wieder nach draußen, ohne jedoch etwas zu sehen. Er dachte an den vorigen Nachmittag. Schon tausendmal hatte er die Ereignisse in seinem Kopf durchgespult, wieder und wieder. Es hatte zwei Minuten gedauert, bis der Alte tot gewesen war. Zwei Minuten, länger auf keinen Fall. Zwei Minuten und das wars. Sterben war eigentlich das einfachste auf der Welt, trotzdem tat es niemand so einfach. Freiwillig. Schon komisch. Aber vielleicht auch nicht. Er lehnte sich zurück, die Zeit verstrich. Er hatte keine Angst. Nicht mehr. Er würde das schaffen, das war er irgendjemandem schuldig. Wem auch immer, ob dem Alten, Kat oder sich selbst. Vielleicht allen dreien. Es würde schon klappen, könnte schlimmer kommen. Erst nach einer vollen Stunde Fahrt packte Coffee die Tüte des Alten aus seinem Rucksack und öffnete vorsichtig, andächtig die verknoteten Henkel… ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)