Shades von X66 ([KaRe // Drabble-Sammlung]) ================================================================================ Kapitel 7: Hinter dem Schleier jeder Nacht ------------------------------------------ Hinter dem Schleier jeder Nacht Für . „In jedem Winter steckt ein zitternder Frühling und hinter dem Schleier jeder Nacht verbirgt sich ein lächelnder Morgen.“ (Khalil Gibran) Rei hatte sich gerade eine Pyjamahose und ein ausgewaschenes T-Shirt übergestreift, als es an der Tür schellte. Sein erster Blick glitt zu dem Digitalwecker, der auf seinem Nachttisch stand und in roten Lettern 01:17 anzeigte. Ohne die geringste Ahnung, wer zu dieser späten Stunde noch bei ihm klingeln mochte, machte er sich auf den Weg in den Flur und betätigte den Summer. Gegen den Türrahmen gelehnt wartete er in der geöffneten Wohnungstür, nur um nach einigen Momenten Kai vor sich stehen zu haben. „’llo“, sagte Kai und griff schwankend nach dem Treppengeländer. Das reichte schon, um Rei zu zeigen, wie betrunken Kai war, aber er trat dennoch zur Seite und sagte: „Komm rein.“ Als Kai an ihm vorbeiging, schlug ihm dessen Alkoholgeruch in diese Nase, und er fragte sich besorgt, was geschehen war, dass der andere so viel getrunken hatte, dass er kaum noch geradeaus laufen konnte. Im Flur blieb Kai stehen und versuchte wenig erfolgreich, sich die Schuhe von den Füßen zu streifen. Rei schloss die Wohnungstür und seufzte. Er trat neben Kai, legte ihm locker seinen Arm um die Taille und führte ihn in sein Zimmer. Kai machte einen erneuten Versuch, sich die Schuhe auszuziehen, aber Rei drückte ihn gleich auf sein Bett. „Ist schon gut, Kai, leg dich einfach hin.“ Rei setzte sich auf die Bettkante, als Kai sich zurück fallen ließ, und zog ihm vorsichtig die Schuhe aus. Er brachte sie zum Schuhregal neben der Wohnungstür und kehrte in sein Zimmer zurück. Kai hatte seinen Handrücken auf seiner Stirn abgelegt und lag ruhig da, doch als Rei näher trat, sah er, dass seine Augen offen waren. "Kai? Alles in Ordnung?", fragte Rei, nachdem er von der anderen Seite auf sein Bett geklettert war und dem anderen zögerlich die Hand auf die Schulter gelegt hatte. „Ist dir schlecht? Soll ich dir einen Eimer holen?“ „Hm“, machte Kai. Dann: „Keinen Eimer, brauch ich nich’.“ Er verschmolz die Wörter beim Sprechen, lallte. Jetzt sahen Kais Augen fast rot aus, als hätte er - Rei verwarf den Gedanken. “Was ist passiert, Kai?“, fragte Rei nach. Das „zur Hölle“ nach dem Fragewort sparte er sich. Angesprochener fuhr sich mit seinen Händen über das Gesicht, bevor er antwortete: „Er will mich nich'.“ Ob dieser - unerwarteten - Antwort begann Reis Herz wild in seinem Brustkorb zu pochen und sein Mund war plötzlich staubtrocken. „Was?“, brachte er schließlich krächzend hervor. „Yuriy“, antwortete Kai hilfreicherweise. Es folgte ein langes Schweigen, während Kai regungslos an die Decke starrte. Rei stand kurz davor, eine weitere drängende Frage zu stellen, um seiner brennenden Neugier Abhilfe zu verschaffen, als Kai von sich aus weitersprach. „Bin zu ihm gegangen. Wollte ihm 'ndlich sagn, dass ich...dass ich ihn- ach, verdammt.“ Innerlich beschwor Rei sich, weiterzuatmen, hoffte, dass Kai ihm nicht gerade das zu sagen versuchte, was er glaubte. „Aber Yuriy hat gsagt, er – er liebt mich nich’.“ Nach diesen Worten lachte er bitter auf, während es Rei das Herz zusammenzog. Es tat weh, Kai so zu sehen – betrunken, verletzlich und offensichtlich voll von Liebeskummer. Nicht nur, weil es dem Russen einfach schlecht ging und Rei selbst wusste, dass er wenig dagegen tun konnte. Denn wie lange schon empfand er mehr für Kai, ohne jemals irgendwem davon erzählt zu haben? Rei versuchte, den Kloß hinunterzuschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte, doch es wollte ihm kaum gelingen. Am liebsten wäre er jetzt allein gewesen, um sich die Augen aus dem Kopf und den Schmerz von der Seele zu heulen. Doch ein Blick zu Kai und er wusste sofort, dass er den anderen nicht allein lassen konnte. Immerhin war er, Rei, es gewesen, bei dem Kai nach dem Fiasko mit Yuriy vor der Tür gestanden hatte. Er rutschte also näher an Kai heran, der mittlerweile mit geschlossenen Augen da lag und zu dösen schien, und fuhr ihm vorsichtig durch die Haare. Daraufhin hob Kai noch einmal den Kopf, sah Rei an. „Kann ich...?“, fragte er und bettete seinen Kopf ohne die Antwort abzuwarten in Reis Schoß. „Hmm, sicher“, murmelte Rei und blickte mit tränenverschleierten Augen hinunter auf Kai, der sich offensichtlich schon wieder auf dem Weg ins Reich der Träume befand. Erneut strich er dem anderen durch die Haare, während er das Gewicht von Kais Kopf warm und schwer auf seinen Beinen spürte. Irgendwann erkannte Rei an den langsamen und entspannten Atemzügen Kais, dass dieser eingeschlafen war. Erst dann erlaubte er, dass die Tränen seine Wangen hinunterrollten und in Kais dichtes Haar tropften. Rei verlor bald das Zeitgefühl dafür, wie lange er versuchte, gegen den Gefühlssturm in seinem Inneren anzukämpfen, während er mit Kai so da saß, starr. Er wusste jetzt, warum Menschen immer von gebrochenen Herzen sprachen, denn dort war es, wo es so unfassbar schmerzte, dass auch seine Tränen verschwendet versiegten. Es blieb ihm nur ein Einziges. Er würde für Kai da sein, egal, wie sehr es ihn selbst quälen mochte, und er würde hoffen, dass Kai irgendwann auch für ihn etwas empfinden konnte. Denn vielleicht – vielleicht verbarg sich der lächelnde Morgen erst hinter dem Schleier einer noch kommenden Nacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)