Shades von X66 ([KaRe // Drabble-Sammlung]) ================================================================================ Kapitel 1: Peace of Mind ------------------------ where do I go? where do I run? where do I find peace of mind? All In Good Time, Tiger Lou Es gab nicht gerade wenige Erlebnisse in seiner Kindheit, die Kai am liebsten für immer vergessen hätte. Er müsse akzeptieren anstatt zu vergessen, sagten die Therapeuten, all diese Erfahrungen seien ein Teil seiner Identität. Kai hasste das Wort Identität fortan, aber weder dies noch die Stunden mit den Therapeuten änderten irgendetwas daran, dass er viele Abschnitte seines Aufwachsens gar nicht vergessen konnte, soviel Mühe er sich auch gab. Verdrängung klappte derweil recht gut und entwickelte sich zur bewährten Methode. Wenn es nur nicht diese kleinen Momente gegeben hätte, in denen alles wieder hoch kam, ausgelöst durch dieses oder jenes Detail, das ihm über den Weg lief. Die Erinnerungen überfielen ihn, ließen ihn erstarren und machten es unmöglich, sich dagegen zu wehren. Er hatte gelernt, diese Ausfälle zu verstecken, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen. Über die Jahre war er ausnehmend gut darin geworden - niemandem war je etwas aufgefallen. Zumindest, bis er Rei kennen lernte. Natürlich bemerkte Rei nicht gleich von Beginn an etwas. Erst an einem regnerischen Tag kurz nach ihren ersten Weltmeisterschaften, deren Ereignisse noch frisch in Kais Gedanken, durchblickte Rei die Fassade, griff nach einem Zögern unauffällig nach Kais Hand und fragte, ob alles in Ordnung sei. Nichts war in Ordnung, aber Kai nickte, während er Reis Hand nur noch fester umfasste, sich daran festhielt wie an einem Geländer vor dem Abgrund, und irgendwie machte das allein die Erinnerungen schon etwas erträglicher. Als es das nächste Mal passierte, Monate später, war Rei nicht zur Stelle, aber Kai wusste, dass er sich im Garten des Dojos aufhielt, nur zwei Türen weiter. Rei beschwerte sich nicht, obwohl Kai dessen Finger eisern mit den seinen umklammerte, und er sagte und fragte auch nichts, war einfach nur da, während sie gemeinsam darauf warteten, dass es vorbei ging. Es war in diesen Augenblicken zwischen all den bunten Sommerblüten des Gartens und mit Rei an seiner Seite, dass Kai feststellte, wie gut es sich anfühlte, nicht mehr nur noch vergessen zu wollen. Kapitel 2: Brushes ------------------ Prompt: Pinsel Schwungvoll zog Kai mit einem dicken Pinsel mehrere Striche über die Leinwand, auf der sich kraftvolle Farben mit düsterem Schwarz mischten. Kleine Farbspritzer landeten dabei auf seiner Jeans und auf seinen nackten Füssen, aber er bemerkte es kaum. Versunken betrachtete er sein Bild, spielte gedanklich mehrere Farbtöne und Muster durch, die seine Komposition vervollständigen konnten. Doch seine Ruhe wurde gestört, als er Schritte vernahm, denen der metallische Klang der Wendeltreppe anhaftete, die in sein Atelier hoch führte. Kai runzelte die Stirn. Er erwartete niemanden – aber eigentlich konnte es nur... Ein Schopf schwarzer Haare erschien zuerst am Treppenansatz und nach einer weiteren Runde auf der Wendeltreppe kam ein lächelnder Rei auf der letzten Treppenstufe an. „Hey“, sagte er. „Hey. Was machst du denn hier?“, fragte Kai und griff nach einem Tuch, um seinen Pinsel abzuwischen. Sie waren erst später zum Essen verabredet gewesen. „Ich hab dir was aus der Stadt mitgebracht und dachte, ich bring es dir gleich vorbei.“ Rei kramte in seiner Tasche, während er auf Kai zukam, und beförderte ein längliches, in Leinen eingeschlagenes Bündel zu Tage. „Hier.“ Mit diesen Worten drückte Rei ihm das Paket in die Hand und kam ihm für einen Kuss entgegen. Kai ahnte schon, was das Paket enthielt – er hatte die vertrauten Gegenstände darin durch Fühlen gleich erkannt. Er rollte den Leinenstoff auseinander und zum Vorschein kam eine Reihe von neuen Pinseln, jeder in einer eigenen Stoffkammer. „Du hast doch immer gesagt, dass du neue Pinsel brauchst, weil du deine alten kaum mehr sauber bekommst“, sagte Rei. „Danke dir“, erwiderte Kai schlicht, den Hauch eines Lächelns in seinen Mundwinkeln. Behutsam strich er mit seinem Daumen durch die Pinselhaare des größten Pinsels. Sie waren sogar weicher als Reis Haare, wenn sie frischgewaschen waren und fühlten sich fast an wie eine federleichte Berührung einer Fingerspitze auf der Haut. „Es sind die weichsten Pinsel, die ich je hatte.“ „Wirklich?“, fragte Rei. Er streckte die Hand aus, um ebenfalls zu fühlen, doch Kai ergriff diese mit seiner freien Linken und setzte den Pinsel stattdessen auf Reis Wange an, wo er kleine Kreise malte. „Oh“, sagte Rei, schwelgend die Augen schließend. „Tatsächlich...sehr weich.“ „Hmm“, machte Kai bestätigend. Er ließ den Pinsel weiterwandern, hinunter zu Reis Schlüsselbeinen und wieder hoch zu der Stelle direkt hinter seinem Ohr, wo er so empfindlich war. Als Reaktion erfolgte ein unterdrücktes Stöhnen, ganz wie Kai erwartet hatte, und Rei versuchte, seinen Körper näher an Kais zu drängen. Kai ließ seinen Blick an Rei hinunterwandern und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als dieser auf halber Strecke hängen blieb. „Ich glaube“, sagte er, während er mit dem Pinsel sanft über Reis Lippen hinweg fuhr, „meine alten Pinsel tun es noch eine Weile, hm?“ Kapitel 3: Behind the Scenes ---------------------------- Prompt: Back to the roots!, dh. es geht wieder ums gute alte Bladen. Dies ist eine Art missing scene zu Beyblade G-Revolution, Episode 23: "Rei and Kai: The Ultimate Face Off!". ~*~ Das graue Blade landete mit einem metallischen Klacken außerhalb der Bowl. Im selben Moment verließ Rei endgültig alle Kraft und er sackte zurück. Kai verfolgte, wie Rei aufgefangen und gestützt wurde, wie eine schwarze Locke von Reis offenen Haaren Rai daraufhin an der Wange kitzelte, wie Rei von seinen restlichen Teammitgliedern umringt wurde. Den Blick senkend ballte Kai seine Hände zu Fäusten. Er wusste, dass niemand diese Geste richtig deuten würde. Kai hatte sich gerade zum Gehen gewandt, als Rei von gegenüber seinen Namen rief. Er hielt inne, ohne sich umzudrehen. „Viel Glück im Finale!“, kam es von Rei, ein wenig zögerlich. Kai fragte sich, ob er daran erkennen sollte, dass Rei viel lieber etwas ganz anderes gesagt hätte, aber er streckte kommentarlos seine linke Hand als Dankesgeste empor und ließ Rei und die Bowl mit langen Schritten hinter sich zurück. Sowohl Yuriy als auch einen Seitenkommentar von Boris ignorierend, machte er sich auf in Richtung Teamumkleide. Er brauchte einen Moment für sich. Die langen neonerleuchteten Gänge unter den Rangtribünen der Arena waren menschenleer und jeder seiner Schritte hallte zu laut in seinen Ohren. Als Kai eine halbe Stunde später und frisch geduscht die Kabine der White Tigers betrat, stand Rei gleich neben seinem Spind und war dabei, seine Haare zu bürsten. Das lebhafte Gespräch der anderen verstummte, als sie erkannten, wer eingetreten war. „Ich muss mit dir sprechen, Rei“, sagte Kai. „Allein.“ Er sah aus dem Augenwinkel, dass Rai und Mao einen Blick tauschten, doch sein Blick ruhte weiterhin auf Rei. Dieser lächelte nun und bedeutete seinen Teamkameraden mit einem Neigen seines Kopfes, dass sie ihn allein lassen konnten. Bevor Mao die Tür hinter sich schloss, fing Kai den Blick auf, mit dem sie ihn bedachte, und er musste sich daran erinnern, dass sie sich nur aus Sorge um Rei so verhielt. Einen Moment lang sahen sie einander an, dann suchte Kai sich seinen Weg zwischen all den Sporttaschen und dem Beybladezubehör, die auf dem Boden verstreut lagen, um Rei einen Augenblick später gegen seinen Spind zu drängen. Rei hatte seine Bürste längst fallen gelassen und verschränkte seine Arme in Kais Nacken, während Kai sich zu ihm herunterbeugte und ihn viel zu stürmisch auf den Mund küsste. Rei schien das nichts auszumachen, aber schließlich hatte er noch genauso viel Adrenalin von ihrem Kampf in seinen Adern wie Kai selbst. Am liebsten hätte er Rei noch viel länger so geküsst, wäre gern mit seinen Händen unter Reis T-Shirt gefahren, nur um es ihm gleich darauf auszuziehen, doch er wusste, dass sie nicht so viel Zeit hatten. Nachdem sie sich soweit voneinander gelöst hatten, dass sie wieder sprechen konnten, fragte Rei grinsend: „Noch unauffälliger hättest du nicht sein können, oder?“ Kai zuckte mit den Schultern, bevor sich auch bei ihm ein Grinsen in die Mundwinkel schlich. „Ich konnte nicht mehr länger warten. Und wer weiß, wann die anderen dich aus den Augen gelassen hätten.“ Er lehnte sich vor, so dass seine Stirn gegen Reis ruhte und ihr Atem sich vermischte. „Du warst ein hervorragender Gegner, Rei“, sagte Kai irgendwann. „Trotz allem.“ „Trotz allem?“, hakte Rei nach. „Ich nehme an, du konntest dich genauso schlecht konzentrieren wie ich. Aber ich bin sicher, dass niemand das gemerkt hat.“ Rei lächelte. Nach einer Weile, noch immer Stirn an Stirn mit Kai, murmelte er: „Lass uns nie wieder so ein offizielles Match austragen“, während er mit einer Strähne von Kais Nackenhaar spielte. „Hmm“, stimmte Kai zu. „Ich könnte nicht noch einmal tatenlos zusehen, wie du auf der anderen Seite der Bowl fast umkippst. Garantiert nicht.“ „Du hättest auch nichts machen können, wenn ich einen anderen Gegner gehabt hätte. Es wäre wieder einmal zu auffällig gewesen.“ „Ständig ist alles zu auffällig!“ Kai stieß verärgert Luft aus. Nach einer Pause, während der Rei ihn nur schweigend ansah, fügte er hinzu: „Ich weiß, ich weiß. Es lässt sich nicht ändern. Aber diesmal war ich der Gegner, der dafür verantwortlich war und nicht irgendwer.“ „Danke, dass du trotzdem dein Bestes gegeben hast, obwohl du wusstest, dass es mir schlecht ging.“ Rei beugte sich vor und küsste Kai. Diesmal war es ein langsamer Kuss, sanft und auskostend, weil sie beide wussten, dass der Moment, den sie sich gerade stahlen, schon zu lange andauerte. Zum Abschied sagte Rei leise: „Irgendwann müssen wir uns nicht mehr verstecken, Kai, ganz sicher nicht.“ Ja, dieser Zeitpunkt würde kommen – vielleicht, wenn sie ihre Beybladekarrieren hinter sich hatten und nicht mehr so im Rampenlicht standen. Bis dahin galt es allerdings noch jede Menge Matches zu gewinnen. Zum Beispiel eines gegen Takao. Kapitel 4: Stay with me ----------------------- Sometimes, someone says something really small, but it fits right into this empty place in your heart. ~*~ „Kai, geh nicht!“ Angesprochener sah hoch zur Tür, in der Rei stand und seine rechte Hand krampfhaft gegen den Türrahmen presste. Sie hielten einen Moment Blickkontakt, bevor Kai sich wieder seinem halbgepackten Koffer zuwandte, der neben ihm auf dem Boden stand. Seine Füße schmerzten vom langen Knien auf den Holzdielen des Dojos und er dachte mit Missfallen an den langen Flug mit zu wenig Fußraum, der ihn morgen nach St. Petersburg bringen sollte. Noch bevor er eine Antwort für Rei hatte finden können, hörte er leise Schritte näher kommen und einen Augenblick später kniete dieser sich neben ihn. Rei streckte eine Hand aus, ließ seine Finger unter Kais Handfläche gleiten, um die Hand zu fest zu umfassen. Kai sah ihn wieder an, erwiderte den Druck von Reis eiskalten Fingern. Er ahnte, wie viel Überwindung es Rei gekostet hatte, überhaupt zu ihm zu kommen und der Gedanke, dass Rei jetzt trotzdem neben ihm saß, erwärmte ihn von innen heraus. Kai ging nicht - weder am nächsten Tag noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt. Kapitel 5: Beneath the blue --------------------------- Beneath the blue. ~*~ Nachdem Rei dem Bootsführer mit einem aus Daumen und Zeigefinger geformten O signalisiert hatte, dass sein rückwärtiger Fall vom Boot gut verlaufen war, justierte er noch einmal seine Taucherbrille und ließ sich dann langsam ins Meer hinabsinken. Mit einer Hand entließ er Luft aus seiner Tauchweste, während er sich mit der anderen Hand immer wieder die Nase zudrückte, um für einen Druckausgleich zu sorgen. Ihm gegenüber, ein kleines Stück tiefer, befand sich Kai, der ein wenig schneller sank als er selbst. Kai war der erfahrenere Taucher und hatte schon jegliche Unsicherheit, ob der lebenswichtige Druckausgleich jedes Mal auch wirklich funktionierte, verloren. Rei war noch immer vorsichtig und wartete stets, ob sich nicht ein Schmerz in seinen Ohren einstellte, der ihn davor gewarnt hätte, weiter hinab zu sinken. Aber bei diesem Tauchgang lief der Abstieg problemlos und es dauerte nicht lang, bis sie ihre endgültige Tauchtiefe erreicht hatten und Rei entspannt hinter Kai herschwamm. Wenn Rei tauchte, fühlte er sich von der Welt über der Wasseroberfläche völlig entrückt. Still und endlos zog sich das Blau um ihn herum in alle Richtungen, nur durchbrochen von Korallenformationen, wogenden Wasserpflanzen und exotisch bunten Fischen. Es hätte unheimlich sein können, mit seinen von der Sauerstoffmaske unnatürlich verstärkten Atemzügen als einziges Geräusch in den Ohren und achtzehn Meter Wasser über ihm. Doch es erstaunte Rei selbst, wie wenig Angst er beim Tauchen empfand. Vielmehr genoss er jede Sekunde davon und jeden einzelnen Anblick, der sich ihm in der Unterwasserwelt bot. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Kai ihm mit einer Handbewegung bedeutete, näher zu kommen. Mit wenigen Flossenschlägen erreichte Rei ihn und im selben Moment sah er auch schon, was Kai ihm hatte zeigen wollen. In nur wenigen Metern Entfernung schwamm eine Schildkröte – so langsam und doch mühelos und mit einer Ausstrahlung von Würde, die Rei einer Schildkröte vorher nicht zugetraut hätte. Erst als sie davon geschwommen war, wandte er sich mit einem breiten Lächeln zu Kai, neben dem er all die Zeit verharrt hatte. Auch Kai lächelte, vermutlich weil Rei ihm erzählt hatte, wie gern er einmal eine Schildkröte hatte sehen wollen, und fragte dann mit einem Handzeichen, ob alles okay war. Rei bestätigte dies, indem er das Zeichen wiederholte, und formte im Anschluss mit beiden Händen ein Herz. Als Antwort sah er Kai grinsen und nach einigem Zögern und einem Augenverdrehen erwiderte dieser die Geste mit demselben Handzeichen. Und gerade weil er ahnte, dass Kai gezögert hatte, weil er von solcherlei Bekundungen normalerweise wenig hielt, wusste Rei die Geste umso mehr zu schätzen. Kapitel 6: When You Stupidly Forget Sunscreen --------------------------------------------- Prompt: Sonnencreme ~*~ „Ach du Scheiße“, war das Erste, was Rei einfiel, als Kai abends vom Einzeltraining wiederkam. Kai warf erst ihm einen bösen Blick zu und dann der Haut auf seinen Armen, als könnte sie etwas dafür, dass sie zu viel Sonne abbekommen und sich krebsrot gefärbt hatte. Kais Gesicht sah nicht viel besser aus, stellte Rei fest. Da würde auch ein bisschen Après-Sun nichts mehr ausrichten können. „Sag einfach nichts, ja?“, brummte Kai. „Jeder vergisst mal seine Sonnencreme.“ Rei biss sich auf die Lippe, antwortete aber dann doch: „Es sieht wirklich übel aus – ich hab gehört, dass Quark sehr gut helfen soll und wir haben noch welchen da…“ Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann nickte Kai abrupt. „Gut, ich hol den Quark. Zieh dich schon mal aus, okay?“, sagte Rei, während er sich zur Tür wandte, um die bei diesem Ausspruch in seinem Gesicht aufsteigende Hitze zu verstecken. Kai lag mit geschlossenen Augen auf seinem Bett, als Rei zurückkehrte. Er kniete sich neben ihn auf das Bett und öffnete vorsichtig den Quarkbecher. „Jetzt wird’s kalt“, warnte er. Kai schlug seine Augen für einen Moment auf, gab dann ein zustimmendes „Hmm“ von sich. Mit zwei Fingern dippte Rei in den Quark und begann damit, Kais Arme mit der kühlen weißen Masse zu bestreichen. Anfangs noch etwas zögerlich, gewann er mit der Zeit an Sicherheit und verteilte den Quark großzügig auf Kais bereits warmglühender Haut. Erst als es darum ging, den Quark auch in Kais Gesicht aufzutragen, wurde er wieder etwas nervöser. Seine Finger mit neuem Quark bedeckt, fuhr er sanft über Kais Nasenrücken, weiter über die empfindlichen Stellen unter seinen Augen. Mehrmals berührte er fast die Lippen Kais, und jedes Mal musste er schlucken, um gegen das trockene Gefühl in seinem Hals anzukämpfen. Zu nah kamen diese Berührungen seinen Fantasien, die er sich manchmal unter leisen Schuldgefühlen gönnte, wenn er nachts im Bett lag. Er war nur froh, dass Kai seine Augen noch immer geschlossen hatte, so dass es ihm unmöglich war, seinem Gesicht solcherlei Gedanken abzulesen. Der Geruch von Quark stieg ihm aus allen Richtungen in die Nase, als er schließlich das letzte bisschen davon verstrich und sie nun nur noch darauf warten konnten, dass dieser seine Wirkung tat. „Fertig“, sagte Rei und nahm mit leisem Bedauern seine Finger von Kais Haut, um den Quark abzuwischen. Angesprochener öffnete seine Augen und brummte ein „Danke“. Einen Moment schien es, als wollte Kai noch etwas sagen, aber dann wandte er seinen Kopf ab. „Kein Ding“, antwortete Rei dann, schob dabei seine Beine von Kais Bett. Erst als er so abrückte, fiel sein Blick von Kais oberer Körperhälfte hinunter zu seiner Körpermitte und blieben dort an der Beule hängen, die sich ganz offensichtlich unter dem Stoff von Kais Hose abzeichnete. „Oh“, machte Rei, bevor er sich davon abhalten konnte. Seine Berührungen waren der Auslöser dafür...? Er sah hoch zu Kai, der offensichtlich seinen Blick verfolgt hatte und diesen nun unverwandt hielt. Rei fragte sich, ob Kai wusste, welche Gedanken in seinem Kopf umher schwirrten – ob er Kai berühren sollte oder ob das gar nicht das war, was Kai wollte, aber hätte er ihn dann so angesehen und nicht eine einzige Ausflucht angebracht, um den unangenehmen Moment zu überbrücken? Und nachdem sie sich noch weiter angesehen hatten und ihr Schweigen sich fast schmerzhaft zwischen ihnen anstaute, sagte Kai endlich: „Wenn ich keinen Sonnenbrand hätte...“ Seine Stimme klang rau. Aufregung begann in Reis Magen zu kribbeln und er konnte nicht verhindern, dass sich ein übermäßig breites Lächeln in seinen Zügen ausbreitete. Der angefangene Satzteil hatte schon gereicht, seine Zweifel zu zerstreuen. Er ergriff Kais Hand, drückte sie einen Augenblick lang und sagte dann: „Ich – sag Bescheid, wenn du vom Sonnenbrand keine Schmerzen hast, dann-“ Das herausfordernde Grinsen, das sich in seine Mundwinkel schlich, beendete den begonnenen Satz nur allzu deutlich. Es dauerte kaum einen Tag, bis Kai bei Rei im Zimmer stand und sich mit unbewegter Miene als völlig kuriert erklärte. Der Quark musste wahre Wunder gewirkt haben. Kapitel 7: Hinter dem Schleier jeder Nacht ------------------------------------------ Hinter dem Schleier jeder Nacht Für . „In jedem Winter steckt ein zitternder Frühling und hinter dem Schleier jeder Nacht verbirgt sich ein lächelnder Morgen.“ (Khalil Gibran) Rei hatte sich gerade eine Pyjamahose und ein ausgewaschenes T-Shirt übergestreift, als es an der Tür schellte. Sein erster Blick glitt zu dem Digitalwecker, der auf seinem Nachttisch stand und in roten Lettern 01:17 anzeigte. Ohne die geringste Ahnung, wer zu dieser späten Stunde noch bei ihm klingeln mochte, machte er sich auf den Weg in den Flur und betätigte den Summer. Gegen den Türrahmen gelehnt wartete er in der geöffneten Wohnungstür, nur um nach einigen Momenten Kai vor sich stehen zu haben. „’llo“, sagte Kai und griff schwankend nach dem Treppengeländer. Das reichte schon, um Rei zu zeigen, wie betrunken Kai war, aber er trat dennoch zur Seite und sagte: „Komm rein.“ Als Kai an ihm vorbeiging, schlug ihm dessen Alkoholgeruch in diese Nase, und er fragte sich besorgt, was geschehen war, dass der andere so viel getrunken hatte, dass er kaum noch geradeaus laufen konnte. Im Flur blieb Kai stehen und versuchte wenig erfolgreich, sich die Schuhe von den Füßen zu streifen. Rei schloss die Wohnungstür und seufzte. Er trat neben Kai, legte ihm locker seinen Arm um die Taille und führte ihn in sein Zimmer. Kai machte einen erneuten Versuch, sich die Schuhe auszuziehen, aber Rei drückte ihn gleich auf sein Bett. „Ist schon gut, Kai, leg dich einfach hin.“ Rei setzte sich auf die Bettkante, als Kai sich zurück fallen ließ, und zog ihm vorsichtig die Schuhe aus. Er brachte sie zum Schuhregal neben der Wohnungstür und kehrte in sein Zimmer zurück. Kai hatte seinen Handrücken auf seiner Stirn abgelegt und lag ruhig da, doch als Rei näher trat, sah er, dass seine Augen offen waren. "Kai? Alles in Ordnung?", fragte Rei, nachdem er von der anderen Seite auf sein Bett geklettert war und dem anderen zögerlich die Hand auf die Schulter gelegt hatte. „Ist dir schlecht? Soll ich dir einen Eimer holen?“ „Hm“, machte Kai. Dann: „Keinen Eimer, brauch ich nich’.“ Er verschmolz die Wörter beim Sprechen, lallte. Jetzt sahen Kais Augen fast rot aus, als hätte er - Rei verwarf den Gedanken. “Was ist passiert, Kai?“, fragte Rei nach. Das „zur Hölle“ nach dem Fragewort sparte er sich. Angesprochener fuhr sich mit seinen Händen über das Gesicht, bevor er antwortete: „Er will mich nich'.“ Ob dieser - unerwarteten - Antwort begann Reis Herz wild in seinem Brustkorb zu pochen und sein Mund war plötzlich staubtrocken. „Was?“, brachte er schließlich krächzend hervor. „Yuriy“, antwortete Kai hilfreicherweise. Es folgte ein langes Schweigen, während Kai regungslos an die Decke starrte. Rei stand kurz davor, eine weitere drängende Frage zu stellen, um seiner brennenden Neugier Abhilfe zu verschaffen, als Kai von sich aus weitersprach. „Bin zu ihm gegangen. Wollte ihm 'ndlich sagn, dass ich...dass ich ihn- ach, verdammt.“ Innerlich beschwor Rei sich, weiterzuatmen, hoffte, dass Kai ihm nicht gerade das zu sagen versuchte, was er glaubte. „Aber Yuriy hat gsagt, er – er liebt mich nich’.“ Nach diesen Worten lachte er bitter auf, während es Rei das Herz zusammenzog. Es tat weh, Kai so zu sehen – betrunken, verletzlich und offensichtlich voll von Liebeskummer. Nicht nur, weil es dem Russen einfach schlecht ging und Rei selbst wusste, dass er wenig dagegen tun konnte. Denn wie lange schon empfand er mehr für Kai, ohne jemals irgendwem davon erzählt zu haben? Rei versuchte, den Kloß hinunterzuschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte, doch es wollte ihm kaum gelingen. Am liebsten wäre er jetzt allein gewesen, um sich die Augen aus dem Kopf und den Schmerz von der Seele zu heulen. Doch ein Blick zu Kai und er wusste sofort, dass er den anderen nicht allein lassen konnte. Immerhin war er, Rei, es gewesen, bei dem Kai nach dem Fiasko mit Yuriy vor der Tür gestanden hatte. Er rutschte also näher an Kai heran, der mittlerweile mit geschlossenen Augen da lag und zu dösen schien, und fuhr ihm vorsichtig durch die Haare. Daraufhin hob Kai noch einmal den Kopf, sah Rei an. „Kann ich...?“, fragte er und bettete seinen Kopf ohne die Antwort abzuwarten in Reis Schoß. „Hmm, sicher“, murmelte Rei und blickte mit tränenverschleierten Augen hinunter auf Kai, der sich offensichtlich schon wieder auf dem Weg ins Reich der Träume befand. Erneut strich er dem anderen durch die Haare, während er das Gewicht von Kais Kopf warm und schwer auf seinen Beinen spürte. Irgendwann erkannte Rei an den langsamen und entspannten Atemzügen Kais, dass dieser eingeschlafen war. Erst dann erlaubte er, dass die Tränen seine Wangen hinunterrollten und in Kais dichtes Haar tropften. Rei verlor bald das Zeitgefühl dafür, wie lange er versuchte, gegen den Gefühlssturm in seinem Inneren anzukämpfen, während er mit Kai so da saß, starr. Er wusste jetzt, warum Menschen immer von gebrochenen Herzen sprachen, denn dort war es, wo es so unfassbar schmerzte, dass auch seine Tränen verschwendet versiegten. Es blieb ihm nur ein Einziges. Er würde für Kai da sein, egal, wie sehr es ihn selbst quälen mochte, und er würde hoffen, dass Kai irgendwann auch für ihn etwas empfinden konnte. Denn vielleicht – vielleicht verbarg sich der lächelnde Morgen erst hinter dem Schleier einer noch kommenden Nacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)