Die lebende Lüge von Jeschi (Ich bitte nicht um Vergebung) ================================================================================ Kapitel 1: Das letzte Sandkorn ------------------------------ Ich habe lange überlegt, ob ich das hier aufschreiben soll oder nicht. Und letztlich habe ich beschlossen, es allen zu verkünden. Um die Erinnerung an ihn zu halten, die sich mir entziehen, schnell wie Sand in der Sanduhr. Denn ich wünschte nichts mehr, als etwas zu tun, um den Sand, die Erinnerungen, erneut rieseln zu lassen. Aber es geht nicht mehr. Deshalb schreibe ich es auf – ehe auch das letzte Korn gefallen ist… Es begann alles damit, das… Kai stand auf der Brücke und blickte hinab in das glitzernde Wasser des Flusses, der sich durch Moskau zog. Mondstrahlen wurden reflektiert, ein silberner Schimmer neben den schwarzen Konturen seiner Gestalt. Der Halbrusse blickte auf seinen Zwilling im Wasser, sah das tiefe Schwarz, was sich noch von der Dunkelheit abzuheben schien. Und er fragte sich, ob nicht das Wasser sein Innerstes offenbarte. Den Schatten, den er in sich trug. Traurig schloss er die Augen. Er hörte das plätschern des Wassers. Welches unruhig war und, vom Wind angetrieben, kleine Wellen ans Ufer trieb. Es traf auf das gefrorene Gras neben dem Fluss, welches es nicht geschafft hatte, der eisigen Kälte Russlands, zu dieser Jahrezeit, zu entkommen. Kai vergrub die Hände in der Manteltasche und seufzte, starrte weiter hinab in die Tiefe, zu seinem Schatten. Noch immer hallten Talas letzte Worte in ihm nach. “Ich kann nicht mir dir zusammen bleiben,“ hatte er gesagt. Dabei hatte er betrübt vor sich hingestarrt, nicht seiner selbst. Kai hatte es nicht verstanden, aber er hätte es wohl auch nicht verstehen wollen, denn diese Worte rissen sein Herz aus ihm und zerquetschten es, bis nichts mehr davon übrig war. Wie hatte es nur so weit kommen können? Hatten sie sich so weit voneinander entfernt, in diesem einen Jahr, in dem sie getrennt gewesen waren. War er so naiv gewesen, zu glauben, dass ihre Liebe stärker war. Er hatte Tala nicht mehr zugehört. Er hatte ihn nur verletzt angesehen, hatte auf dem Absatz kehrt gemacht und war gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Ja, er war nicht einmal nur gegangen. Er war gerannt, nicht nur aus Talas Wohnung, sondern ganz aus dessen Leben, dass so lange seines gewesen war und welches er nun für immer hinter sich lassen wollte. Ja, das wollte er. Es hinter sich lassen. Tala hinter sich lassen. Jetzt, wo er an der Brücke stand und sich der Situation klar wurde, da überkamen ihn jedoch Zweifel an der Situation. Und er fragte sich noch einmal, ob er sich ein Leben ohne Tala je vorstellen könnte. Die Antwort lautete Nein, aber das zählte nicht. Tala wollte ihn nicht mehr – das hatte er mehr als deutlich gesagt! Es tat weh, zu wissen, dass Tala mich nicht wollte. Das ich führ ihn nur ein Spielzeug war, eine unterhaltsame Affäre, die es nicht wert war, mit ihm zusammen zu leben. Hatte ich mir all die Jahre nur eingebildet, dass er mich wirklich liebte? Hatte er so gut schauspielern können? Ich konnte es nicht glauben, aber abstreiten konnte ich es auch nicht. Doch war ich nicht gewillt, mich von ihm brechen zu lassen. Also habe ich angefangen, mein Herz mit Pflastern zu kleben. Notdürftig, um den ersten Schmerz zu stillen, aber in dem Wissen, dass mein Herz nicht mehr lebte. Und nie mehr leben würde. Nicht, so lange Tala nicht bei mir war. Und deshalb lebte ich vor mir hin, mit dem Gewissen, nie wieder jemanden so lieben zu können, wie ich ihn geliebt habe – und noch immer liebe… Der erste Tropfen des kalten Novemberregens fiel aufs Kais Handrücken und er zog energisch seine Hand vom Geländer der Brücke und stopfte sie zurück in seine Tasche. Langsam machte er sich auf den Weg zurück, zu seiner kleinen Wohnung, die er gemietet hatte, in dem Plan, mit Tala dort einzuziehen. Nun würde Tala in seiner Wohnung bleiben, in der Wohnung, in der Kai ihn vor einigen Stunden zurückgelassen hatte. Das Geräusch des Schlüssels, als er seine Wohnungstür aufschloss, hallte seltsam dumpf im dunklen, grauen Flur wieder und Kai fragte sich, ob er von nun an sein ganzes Leben in Watte gepackt erleben musste. Denn so fühlte er sich. In Watte gepackt. Kein Geräusch klang zu ihm durch, keine Farbe erreichte mehr seine Augen. Hilflos sank er auf das mottenverseuchte Sofa des Vormieters und zog die Knie dicht an seinen Körper. Er hatte die Wohnung mit Tala herrichten wollen. Er hatte klare Vorstellungen davon gehabt, wie sie hier leben hätten können. Sie hatten genug Geld von der WM letzen Jahres. Sie hätten sich alles leisten können. Nun sah er für sie keine Zukunft mehr – und für die Wohnung auch nicht. Ihm war klar, dass er sie nicht mehr brauchte. Dass er hier in Russland nicht mehr erwünscht war. Traurig schloss er erneut die Augen und sank langsam in einen unruhigen Schlaf. Als Kai wieder erwachte, wusste er, dass er alleine war. Drückend lastete die Stille der Wohnung auf ihm und er glaubte, in einem dunklen Loch zu sitzen, weit ab, von allem Leben auf dieser Welt. Weit weg von Tala. Langsam stand er auf und betrat das Schlafzimmer. Noch immer herrschte draußen Dunkelheit. Er blickte auf seinen Wecker, doch konnte er die Ziffern nicht erkennen. Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, war die Zeit auch stehen geblieben. Und die ewige Nacht hatte die Sonne verschluckt, sein Licht verschluckt, auf dass er für immer in den Schatten leben müsste. Doch als er wenig später seinen Koffer gepackt hatte, dämmerte es draußen und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die grauen Wolken am verregneten Himmel. Wenn Kai nun nach draußen blickte, auf die Straße blickte, sah er die Welt von einer anderen Seite. Er sah die verdreckten Straßen, sah die Leute, die sich mehr für sich selbst, als für etwas anderes interessierten. Ihm offenbarte sich die gesamte, grausame Wahrheit. Er konnte nichts schönes mehr an ihr feststellen. Er sah nicht mehr das Lachen der Kinder oder das leise Zwitschern der Vögel im einzigen Baum dieser Straße. Es war, als wäre all das schöne im Leben verschwunden, zusammen, mit Tala. Ja, so musste es gewesen sein, dachte Kai bitter und lächelte freudlos. Tala war gegangen und hatte alles Schöne in seinem Leben mit sich genommen. Kai verließ ein letztes Mal seine Wohnung und verspürte einen leisen Funken Wehmut in sich, als er die Tür verschloss. Jedoch verdrängte er diesen, so wie er alles zu verdrängen versuchte, was mit Tala in Verbindung stand. Diese Wohnung war nicht mehr länger Teil einer glücklichen Zukunft mit dem Rothaarigen. Diese Wohnung würde bald einer neuen Familie gehören, die bessere Pläne für ihr Leben hatten. Er war den Schlüssel in den Briefkasten seines Vermieters, zusammen mit dem Geld für die Miete diesen Monats. Dann trugen ihn seine Füße langsam Richtung Flughafen. Hätte er gewusst, dass er Tala noch einmal begegnen würde, hätte er ein Taxi genommen. Aber der Wunsch, alleine sein zu wollen, hatte ihn dazu gebracht, die wenigen Straßen zum Flughafen zu laufen. Als er jedoch Tala vor sich stehen sah, ihn aus großen, traurigen Augen anstarren sah, da wünschte er sich nichts mehr, als im Taxi zu sitzen, wenn auch der Taxifahrer ihn mit sinnlosen Geschichten zugetextet hätte. “Du reist ab?“, wollte der Russe wissen und Kai nickte knapp. Erinnerungen drängten sich in seinen Kopf, Bilder verlorener Stunden, verlorener Tage. All der Zeit, die er für Tala geopfert hatte. Für einen Menschen, den er geliebt hatte, und der ihn nun alleine ließ. Er wusste nicht, was er fühlen sollte, als er Tala nun wieder sah. Sollte er traurig sein, weil er ihn verloren hatte, oder sollte er nicht doch wütend sein, wütend dafür, dass der Rothaarige ihn sein bisheriges Leben genommen hatte. Er hatte Kai doch schon immer besessen, auch, als sie noch nicht zusammen gewesen waren. Er war schon immer das Wichtigste in Kais Leben gewesen. Erst als Freund, dann wie als Bruder und letztlich als Lover. Nun hatte er ihr gesamtes gemeinsames Leben weggeworfen. Wie konnte er sich da nur einbilden, ihn jetzt vorwurfsvoll anzusehen? Kais Augen verengten sich und er setzte sich wieder in Bewegung, zog seinen Koffer energisch hinter sich her. “Kai, lass uns doch nur noch einmal ganz kurz reden,“ bat Tala und lief hinter ihm her. Kai beschleunigte seine Schritte und endlich blieb der Rothaarige stehen. “Lass es mich dir wenigstens erklären!“, rief er ihm nach, aber Kai ignorierte ihn. Er hätte ihm zuhören können, aber er wollte es nicht. Er wollte nicht die fadenscheinigen Ausreden Talas hören, welche doch nicht mehr Wahrheit in sich trugen, wie dessen Lüge, ihn niemals alleine zu lassen. Ein letztes Mal blickte Kai zurück, warf einen letzten Blick auf den Jungen, dem er sein Leben hatte zu Füßen legen wollen. Er blickte in Talas blaue Augen, in das tiefe Loch darin, und wandte sich ab. Er wollte es nicht sehen. Wollte dessen Tränen nicht sehen. Diese Traurigkeit Talas – sie war doch auch nur eines seiner Spielchen! Es versetzte mir natürlich einen Stich, diese Leere in seinen Augen zu sehen. Und es tat weh, zu sehen, dass er wegen mir weinte. Ja, sein ganzes Auftreten verletzte mich. Fast so sehr, wie es mich verletzte zu wissen, dass er mich nie geliebt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)