Die lebende Lüge von Jeschi (Ich bitte nicht um Vergebung) ================================================================================ Prolog: Atemwölkchen -------------------- Blut floss von den kahlen weißen Wänden und trübes Dämmerlicht beleuchtete den Raum. Sein Atem ging nur stoßweiße und Atemwölkchen bildeten sich in der Kälte der ankommenden Nacht und zogen durch das Zimmer. Schlaff lehnte der Körper an der nackten Wand und immer mehr Dunkelheit schien von diesem Besitz zu ergreifen. Die Dämmerung wandelte sich in Finsternis, bis alles Licht, welches durch das kleine vergitterte Fenster drang, von der Schwärze verschluckt worden war. Blasse, lange Finger schlidderten an der Steinmauer entlang, hinterließen Striemen, dunkelroten Blutes und formten Wörter ungeahnter Bedeutung. Kleine Tropfen perlten von der Hand ab und fielen zu Boden, bildeten Lachen und letztlich kleine, dunkelrote Seen. Die Gestalt sank an der Wand gen Boden, kein Geräusche, außer das stoßweise Atmen des Verwundeten, waren zu hören. Draußen war der Nachthimmel wolkenverhangen und kein Stern beleuchtete die Nacht. Der Mond war verborgen hinter dem undurchdringlichen Schwarz. Eisblumen bedeckten das Fenster und leise sank der Schnee außerhalb des alten Gebäudes zu Boden und bedeckte sämtliche Pflanzen, Häuser und Straßen unter einer dicken weißen Schicht. Ein Keuchen durchdrang die Stille und draußen fing eine Eule an, zu schreien. Die verdreckte und zerrissene Kleidung der Gestalt hatte sich mit Blut vollgesogen und der metallische Geruch mischte sich mit dem des abgestanden, modrigen Raums. Immer leiser wurde der Atem, die kleinen Wölkchen aus gefrorenem Atemhauch, wurden immer kleiner und seltener. Ein letztes Mal noch hob die Gestalt die Hand und vollendete den letzten Buchstaben, den sie so mühevoll an die Wand gepinselt hatte. Mit Blut geschrieben, zeugten sie von der Ehrlichkeit, mit der sie verfasst worden waren, aber auch von der Verzweiflung, welche die Gestalt ergriffen hatte. Der Atem war kaum mehr zu hören, nur noch ein leiser Windhauch zeugte von dem nicht enden wollenden Kampf der Person mit dem Tod. Draußen schrie wieder die Eule, ein herzzerreißender Schrei, welcher die Ruhe der Nacht durchschnitt, ungewöhnlich laut und das Ende eines Lebens ankündigend. Die gelben Augen der Eule fixierten das Fenster, ehe sie ihre Flügel öffnete und davon flog. Der Wind fing an zu heulen und die letzten Blätter raschelten, lösten sich von den Bäumen, ehe sie vom Schnee bedeckt wurden. Dann legte sich der Wind und die Nacht war wieder ruhig und seelenlos. Kein Atem war mehr zu sehen und das letzte Wölkchen machte sich auf, flog durch eine kleine Ritze in der Wand, ins Freie, hinauf gen Himmel und wurde nie wieder gesehen… Er schlidderte an der Wand entlang, seine Finger waren wund, da er sie mit einer Intensität gegen die rauen Steine drückte, die er selbst kaum noch wahrnahm. Blut floss über sein Handgelenk, aber genug perlte auch von seinen Fingern ab und fand den Weg an die weiße Wand. Seine Fingerkuppen begannen zu bluten und sofort wurden die Linien, die er schrieb wieder dicker und dunkler. Lächelnd beendete er das letzte Wort. Draußen schrie eine Eule und kündigte den Anfang vom Ende an. Er warf einen letzten Blick auf die Worte, die er voller Verzweiflung an die Wand gepinselt hatte. Worte, die niemals jemand geglaubt hätte, hätte er sie frei ausgesprochen. Nun aber waren sie seine letzten Worte, sein Vermächtnis. Und er konnte nur hoffen, das irgendjemand sie hinaus tragen würde, in die weite Welt, sie verkünden würde, laut schreiend, so dass sie jeder vernehmen würde. Ja, das war sein Plan. Und sein letztes Gebet war die Bitte darum, das dieser Wunsch Wirklichkeit wurde. Tala schloss seine blauen Augen und sein Finger, der bis eben noch an die Wand gepresst gewesen war, glitt langsam gen Boden, fiel mit ihm, als sein Körper die steinernen Fließen berührte. Draußen brach die Wolkendecke auf und ein blasser Lichtstrahl erleuchte den dunkeln Raum, fiel auf die Wand, an der in blutroten Lettern seine letzte Botschaft stand. Kapitel 1: Das letzte Sandkorn ------------------------------ Ich habe lange überlegt, ob ich das hier aufschreiben soll oder nicht. Und letztlich habe ich beschlossen, es allen zu verkünden. Um die Erinnerung an ihn zu halten, die sich mir entziehen, schnell wie Sand in der Sanduhr. Denn ich wünschte nichts mehr, als etwas zu tun, um den Sand, die Erinnerungen, erneut rieseln zu lassen. Aber es geht nicht mehr. Deshalb schreibe ich es auf – ehe auch das letzte Korn gefallen ist… Es begann alles damit, das… Kai stand auf der Brücke und blickte hinab in das glitzernde Wasser des Flusses, der sich durch Moskau zog. Mondstrahlen wurden reflektiert, ein silberner Schimmer neben den schwarzen Konturen seiner Gestalt. Der Halbrusse blickte auf seinen Zwilling im Wasser, sah das tiefe Schwarz, was sich noch von der Dunkelheit abzuheben schien. Und er fragte sich, ob nicht das Wasser sein Innerstes offenbarte. Den Schatten, den er in sich trug. Traurig schloss er die Augen. Er hörte das plätschern des Wassers. Welches unruhig war und, vom Wind angetrieben, kleine Wellen ans Ufer trieb. Es traf auf das gefrorene Gras neben dem Fluss, welches es nicht geschafft hatte, der eisigen Kälte Russlands, zu dieser Jahrezeit, zu entkommen. Kai vergrub die Hände in der Manteltasche und seufzte, starrte weiter hinab in die Tiefe, zu seinem Schatten. Noch immer hallten Talas letzte Worte in ihm nach. “Ich kann nicht mir dir zusammen bleiben,“ hatte er gesagt. Dabei hatte er betrübt vor sich hingestarrt, nicht seiner selbst. Kai hatte es nicht verstanden, aber er hätte es wohl auch nicht verstehen wollen, denn diese Worte rissen sein Herz aus ihm und zerquetschten es, bis nichts mehr davon übrig war. Wie hatte es nur so weit kommen können? Hatten sie sich so weit voneinander entfernt, in diesem einen Jahr, in dem sie getrennt gewesen waren. War er so naiv gewesen, zu glauben, dass ihre Liebe stärker war. Er hatte Tala nicht mehr zugehört. Er hatte ihn nur verletzt angesehen, hatte auf dem Absatz kehrt gemacht und war gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Ja, er war nicht einmal nur gegangen. Er war gerannt, nicht nur aus Talas Wohnung, sondern ganz aus dessen Leben, dass so lange seines gewesen war und welches er nun für immer hinter sich lassen wollte. Ja, das wollte er. Es hinter sich lassen. Tala hinter sich lassen. Jetzt, wo er an der Brücke stand und sich der Situation klar wurde, da überkamen ihn jedoch Zweifel an der Situation. Und er fragte sich noch einmal, ob er sich ein Leben ohne Tala je vorstellen könnte. Die Antwort lautete Nein, aber das zählte nicht. Tala wollte ihn nicht mehr – das hatte er mehr als deutlich gesagt! Es tat weh, zu wissen, dass Tala mich nicht wollte. Das ich führ ihn nur ein Spielzeug war, eine unterhaltsame Affäre, die es nicht wert war, mit ihm zusammen zu leben. Hatte ich mir all die Jahre nur eingebildet, dass er mich wirklich liebte? Hatte er so gut schauspielern können? Ich konnte es nicht glauben, aber abstreiten konnte ich es auch nicht. Doch war ich nicht gewillt, mich von ihm brechen zu lassen. Also habe ich angefangen, mein Herz mit Pflastern zu kleben. Notdürftig, um den ersten Schmerz zu stillen, aber in dem Wissen, dass mein Herz nicht mehr lebte. Und nie mehr leben würde. Nicht, so lange Tala nicht bei mir war. Und deshalb lebte ich vor mir hin, mit dem Gewissen, nie wieder jemanden so lieben zu können, wie ich ihn geliebt habe – und noch immer liebe… Der erste Tropfen des kalten Novemberregens fiel aufs Kais Handrücken und er zog energisch seine Hand vom Geländer der Brücke und stopfte sie zurück in seine Tasche. Langsam machte er sich auf den Weg zurück, zu seiner kleinen Wohnung, die er gemietet hatte, in dem Plan, mit Tala dort einzuziehen. Nun würde Tala in seiner Wohnung bleiben, in der Wohnung, in der Kai ihn vor einigen Stunden zurückgelassen hatte. Das Geräusch des Schlüssels, als er seine Wohnungstür aufschloss, hallte seltsam dumpf im dunklen, grauen Flur wieder und Kai fragte sich, ob er von nun an sein ganzes Leben in Watte gepackt erleben musste. Denn so fühlte er sich. In Watte gepackt. Kein Geräusch klang zu ihm durch, keine Farbe erreichte mehr seine Augen. Hilflos sank er auf das mottenverseuchte Sofa des Vormieters und zog die Knie dicht an seinen Körper. Er hatte die Wohnung mit Tala herrichten wollen. Er hatte klare Vorstellungen davon gehabt, wie sie hier leben hätten können. Sie hatten genug Geld von der WM letzen Jahres. Sie hätten sich alles leisten können. Nun sah er für sie keine Zukunft mehr – und für die Wohnung auch nicht. Ihm war klar, dass er sie nicht mehr brauchte. Dass er hier in Russland nicht mehr erwünscht war. Traurig schloss er erneut die Augen und sank langsam in einen unruhigen Schlaf. Als Kai wieder erwachte, wusste er, dass er alleine war. Drückend lastete die Stille der Wohnung auf ihm und er glaubte, in einem dunklen Loch zu sitzen, weit ab, von allem Leben auf dieser Welt. Weit weg von Tala. Langsam stand er auf und betrat das Schlafzimmer. Noch immer herrschte draußen Dunkelheit. Er blickte auf seinen Wecker, doch konnte er die Ziffern nicht erkennen. Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, war die Zeit auch stehen geblieben. Und die ewige Nacht hatte die Sonne verschluckt, sein Licht verschluckt, auf dass er für immer in den Schatten leben müsste. Doch als er wenig später seinen Koffer gepackt hatte, dämmerte es draußen und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die grauen Wolken am verregneten Himmel. Wenn Kai nun nach draußen blickte, auf die Straße blickte, sah er die Welt von einer anderen Seite. Er sah die verdreckten Straßen, sah die Leute, die sich mehr für sich selbst, als für etwas anderes interessierten. Ihm offenbarte sich die gesamte, grausame Wahrheit. Er konnte nichts schönes mehr an ihr feststellen. Er sah nicht mehr das Lachen der Kinder oder das leise Zwitschern der Vögel im einzigen Baum dieser Straße. Es war, als wäre all das schöne im Leben verschwunden, zusammen, mit Tala. Ja, so musste es gewesen sein, dachte Kai bitter und lächelte freudlos. Tala war gegangen und hatte alles Schöne in seinem Leben mit sich genommen. Kai verließ ein letztes Mal seine Wohnung und verspürte einen leisen Funken Wehmut in sich, als er die Tür verschloss. Jedoch verdrängte er diesen, so wie er alles zu verdrängen versuchte, was mit Tala in Verbindung stand. Diese Wohnung war nicht mehr länger Teil einer glücklichen Zukunft mit dem Rothaarigen. Diese Wohnung würde bald einer neuen Familie gehören, die bessere Pläne für ihr Leben hatten. Er war den Schlüssel in den Briefkasten seines Vermieters, zusammen mit dem Geld für die Miete diesen Monats. Dann trugen ihn seine Füße langsam Richtung Flughafen. Hätte er gewusst, dass er Tala noch einmal begegnen würde, hätte er ein Taxi genommen. Aber der Wunsch, alleine sein zu wollen, hatte ihn dazu gebracht, die wenigen Straßen zum Flughafen zu laufen. Als er jedoch Tala vor sich stehen sah, ihn aus großen, traurigen Augen anstarren sah, da wünschte er sich nichts mehr, als im Taxi zu sitzen, wenn auch der Taxifahrer ihn mit sinnlosen Geschichten zugetextet hätte. “Du reist ab?“, wollte der Russe wissen und Kai nickte knapp. Erinnerungen drängten sich in seinen Kopf, Bilder verlorener Stunden, verlorener Tage. All der Zeit, die er für Tala geopfert hatte. Für einen Menschen, den er geliebt hatte, und der ihn nun alleine ließ. Er wusste nicht, was er fühlen sollte, als er Tala nun wieder sah. Sollte er traurig sein, weil er ihn verloren hatte, oder sollte er nicht doch wütend sein, wütend dafür, dass der Rothaarige ihn sein bisheriges Leben genommen hatte. Er hatte Kai doch schon immer besessen, auch, als sie noch nicht zusammen gewesen waren. Er war schon immer das Wichtigste in Kais Leben gewesen. Erst als Freund, dann wie als Bruder und letztlich als Lover. Nun hatte er ihr gesamtes gemeinsames Leben weggeworfen. Wie konnte er sich da nur einbilden, ihn jetzt vorwurfsvoll anzusehen? Kais Augen verengten sich und er setzte sich wieder in Bewegung, zog seinen Koffer energisch hinter sich her. “Kai, lass uns doch nur noch einmal ganz kurz reden,“ bat Tala und lief hinter ihm her. Kai beschleunigte seine Schritte und endlich blieb der Rothaarige stehen. “Lass es mich dir wenigstens erklären!“, rief er ihm nach, aber Kai ignorierte ihn. Er hätte ihm zuhören können, aber er wollte es nicht. Er wollte nicht die fadenscheinigen Ausreden Talas hören, welche doch nicht mehr Wahrheit in sich trugen, wie dessen Lüge, ihn niemals alleine zu lassen. Ein letztes Mal blickte Kai zurück, warf einen letzten Blick auf den Jungen, dem er sein Leben hatte zu Füßen legen wollen. Er blickte in Talas blaue Augen, in das tiefe Loch darin, und wandte sich ab. Er wollte es nicht sehen. Wollte dessen Tränen nicht sehen. Diese Traurigkeit Talas – sie war doch auch nur eines seiner Spielchen! Es versetzte mir natürlich einen Stich, diese Leere in seinen Augen zu sehen. Und es tat weh, zu sehen, dass er wegen mir weinte. Ja, sein ganzes Auftreten verletzte mich. Fast so sehr, wie es mich verletzte zu wissen, dass er mich nie geliebt hatte. Kapitel 2: Seelenlos -------------------- Zurück in Tokio, stellte Kai seinen Koffer lieblos im Flur ab und trat durch diesen in das geräumige Wohnzimmer. Aus den großen Panoramafenstern seines Apartments, blickte er hinab auf die überfüllten Straßen Tokios und lächelte bitter. Hier gehörte hier hin. Und nicht nach Moskau. gab es dort doch keinen Platz mehr für ihn. Es war an der Zeit gewesen, ein neues Leben anzufangen. Ein eigenes Leben. Ohne Tala. Vielleicht ohne irgendjemandem. Aber war denn ein Leben in Einsamkeit nicht besser, als ein Leben voll Schmerz? Natürlich hatte ich Angst davor, alleine zu sein. Aber noch mehr hatte ich Angst davor, dass mich meine Erinnerungen an Tala überwältigen würden. Verschlingen würden, bis ich vollkommen verloren war. Aber natürlich hätte ich wissen müssen, dass sich die Erinnerungen nicht vertreiben ließen... Kai schlich zurück in den Flur, holte seinen Koffer und packte dessen Inhalt gedankenverloren zurück in den Schrank. Er war froh, diese Wohnung noch nicht verkauft zu haben, wie er es eigentlich geplant hatte. Vielleicht hatte ihn damals schon ein innerer Instinkt davon abgehalten, es zu tun. Ja, vielleicht hatte er es schon immer gewusst. Schon immer gewusst, dass Tala ihn nicht liebte. Und sein Herz war nur nicht gewillt gewesen, zu sehen, was sein Verstand schon längst wusste. Liebe machte blind. Er hatte ja nicht glauben wollen, wie blind sie machen konnte… Als alle Arbeit erledigt war, ließ er sich auf sein weißes Designersofa nieder und ließ die Stille seiner Wohnung auf ihn wirken. Hier in Tokio hatte das Schweigen nicht mehr den Klang der Verzweiflung. Vielleicht, weil Tala so weit entfernt war. Vielleicht aber auch, weil es nicht komplett ruhig war, im großen Haus. Aus der Wohnung über ihm Drang der Streit eines Pärchens zu ihm und leicht lächelte er. Er kannte die Beiden, wusste, dass sie sich jeden Tag stritten und ihren Streit dann mit Sex versöhnten. Auch dies war deutlichst zu hören, zumindest, wenn man zur gleichen Zeit ins Bett ging, wie sie. Am Anfang hatte es ihn gestört, dass die Wohnung nicht komplett Schalldicht war. Und als er hier seine erste Nacht mit Tala gehabt hatte, hatte er den Nachbarn danach nicht mehr in die Augen blicken wollen. Nun kam ihm diese Tatsache wie eine Nebensächlichkeit vor. Ja, er war sogar dankbar, dass er aus den Nachbarwohnungen Geräusche hörte, die seine düsteren Gedanken überdeckten, ihn glauben machten, nicht völlig alleine auf dieser Welt zu sein. Als das Pärchen über ihm verstummte, brach die Einsamkeit über ihn herein, wie eine eiskalte Welle. Sie riss ihn mit sich in ein Loch, aus welchem es kein Entkommen gab. Kai schauderte und drückte sich fester in die Kissen der Couch, als könnten diese ihn vor dem vollkommenem Untergang bewahren. Nein, er hatte sich getäuscht. In dieser Wohnung konnte er Tala nicht vergessen, nur weil er hier weit entfernt war. Im Gegenteil. Denn Tala hatte diese Wohnung bereits mit seiner Anwesenheit versucht. Wenn Kai ins Schlafzimmer blicken würde, würde er das Bett sehen, in dem er so viele Nächte mit dem Russen verbracht hatte. Er würde im Bad die zweite Zahnbürste finden, die immer für Tala bereit gestanden hatten. Er würde diese furchtbaren Horrorfilme finden, die Tala so liebte und ständig angeschleppt hatte. Tala hatte ihn nur ein paar Mal besucht. Aber es war viel zu oft gewesen. Diese Wohnung – sie war voll von Tala. Kai ließ sich zur Seite fallen, presste das Gesicht in das Kissen, so lange, bis er atemringend den Kopf hob, um wieder Luft zu bekommen. Diese Nacht schlief er auf dem Sofa, nicht gewillt, in das Bett zu gehen, welches durchzogen war, vom Duft nach Schnee und Vanille, nach Tala. Die Zigarette fest zwischen den Fingern, blickte Kai nach oben, gen Himmel. Der Rauch folgte seinem Blick, spielte im Wind, ehe er verpuffte. Genau so fühlte sich Kai. Als würde er vom Wind hin und her geschubst, als würde er immer weniger werden, bis er letztlich ganz verschwunden war. Die erste Nacht in Tokio hatte ihm einen steifen Nacken gebracht, aber der war noch immer eher zu ertragen, wie der Schmerz über den Verlust Talas. Er würde heute die Bettwäsche wechseln müssen, wenn nötig, würde er die ganze Matratze auswechseln müssen, nur um den Geruch seines Ex-Lovers loszuwerden. Und er würde die Zahnbürste im Bad wegschmeißen. Zusammen mit den Horrorfilmen, die seine DVD-Sammlung ausmachten. Vielleicht sollte er sie auch Tala schicken. Immerhin gehörten sie diesem. Und vielleicht hatte der sich schon wieder ein neues Opfer gesucht, an dass er sich mit gespielter Ängstlichkeit drücken konnte, immer auf Sex aus, wohingegen seine Augen voller Belustigung über den Film glänzten. Kai zog an der Zigarette, ließ den Rauch tief in seine Lungen wandern und verdrängte den Gedanken an die Augen des Rothaarigen. Stattdessen wandte er den Blick nach unten auf die Straße, um das ein verliebtes Pärchen zu beobachten. Fast hatte er befürchtet, wieder an den Russen erinnert zu werden, aber letztlich musste er nur feststellen, dass sich diese zwei Verliebten einfach nur unmöglich kitschig benahmen. Wie sie Händchen hielten, sich alle zwei Meter küssten, sich anlächelten. Kai schauderte. Wie konnte man nur so peinlich sein? Er warf die Zigarette über die Brüstung und begann sein Vorhaben. Als er die letzte DVD in einer Kiste verstaut hatte, ließ er sich erschöpft zu Boden sinken, lehnte sich mit den Rücken gegen die Schlafzimmertür neben dem Schrank mit seinen Filmen. Was hatte er überhaupt je an Tala gefunden? Dieser war immer nur anstrengend gewesen. Und immer viel zu beschäftigt mit sich selbst, als sich um Kai zu kümmern. Aber – so bescheuert es nun klingen mochte – genau das hatte er geliebt. Das war überhaupt der Grund gewesen, warum er sich in Tala verliebt hatte… Tala war für ihn immer wie ein Bruder gewesen. In der Abtei war er es gewesen, der ihm beigestanden hatte. Sie hatten sich gegenseitig Trost gespendet, hätten sich Nähe geschenkt, in einer Welt, in der man zu allem immer nur Distanz halten musste. Mit der Zeit hatte es ihre Seele zerfressen. Talas mehr, wie seine, war er es doch nie anders gewöhnt gewesen. Er hatte keine Erinnerung an seine Eltern. Sie waren zu früh gestorben, er hatte sie nie richtig kennen gelernt. Sein Großvater hatte ihm damals erzählt, dass es ein Unfall gewesen war. Aber er wusste es besser. Sie waren ermordet worden, von Voltaire Hiwatari. Kai biss sich auf die Lippen. Tala hingegen hatte ihm oft von seinen Eltern erzählt. Hatte geschwärmt, wie sie mit ihm Schlitten fahren gegangen sind. Das war vielleicht eine der wenigen Erinnerungen, die er noch an sie hatte, aber er hatte noch welche. Und diese bedeuteten ihm alles. Kai hatte das gewusst. Und deshalb hatte er dem Rothaarigen auch nie die Schattenseite aufgezeigt. Hatte ihn nie gefragt, warum seine Eltern ihn dann einfach weggegeben hatten, an die Abtei. An Boris. Er wusste, dass Tala wusste, dass seine Eltern ihn loswerden wollten. Aber er wusste auch, wie wichtig es Tala war, nur die schönen Seiten zu sehen. Wie wichtig es ihm war, alles andere zu verdrängen. Neben Kai waren wohl die wenigen schönen Erinnerungen alles, was ihn noch am Leben erhielt. Um so härter traf ihn die Wahrheit, als er es ausgerechnet von Boris an den Kopf geworfen bekam. Der Lilahaarige hatte bemerkt, dass er Tala mehr verletzte, wenn er ihm psychisch zusetzte, als wenn er ihn bewusstlos prügelte. Nach dem jemand diese Tatsache ausgesprochen hatte, war der Rothaarige nicht mehr der selbe gewesen. Kai hatte ihn danach immer öfter vollkommen zurückgezogen erlebt. Er hatte sich abgekapselt, von der Außenwelt, vom Team und vom ihm. Man sah ihn nicht mehr lächeln, und wenn, dann freudlos. Ja, manchmal hatte er den Anschein erweckt, keine Seele mehr zu haben. Die Verzweiflung, die ihn überkommen hatte, als er seinen Freund so sah, hatte ihn fast den Verstand gekostet und ihm war klar gewesen, dass er alles dafür geben musste, Tala wieder ins Leben zu holen. In dieser Zeit war ihm zum ersten Mal klar geworden, wie wichtig der Rothaarige ihm war. Dann war der Tag gekommen, an dem er den Russen in ihrem gemeinsamen Zimmer – wenn man es denn so nennen wollte – antraf. Er hatte auf dem Steinboden gesessen, gegen die raue Wand gelehnt. In seinem Schoß hatte ein Buch gelegen, aber er las es nicht. Kai kam es vor, als hätte er stundenlang auf die gleiche Seite gestarrt. Seine roten Haare waren ihm unordentlich ins Gesicht gefallen, ihre Schatten hatten seine Augen bedeckt, unsichtbar gemacht. Das Bild war herzzerreißend gewesen, kam es Kai in den Sinn. Und es war der Moment gewesen, in dem er sich eingestanden hatte, dass er Tala liebte. Das er ihn vom Unheil befreien wollte, welches den Russen überkommen hatte. Er hatte es ihm gesagt. Einfach so. In die stille des Raumes, auch wenn es völlig unpassend gewesen war. Eigentlich hatte er ihm etwas anderes sagen wollen. Er hatte ihn aus seiner Trance reißen wollen, in dem er ihn tröstete. Aber er hatte ihm nur gesagt, dass er ihn liebte. Ich habe Tala vor der Dunkelheit bewahren wollen, in dem ich bei ihm war. Sie hatte ihn immer mehr zu einem Nichts gemacht und das habe ich aufzuhalten veruscht. Und das nicht, in dem ich ihn davor beschützte, sondern, in dem ich ihn davon befreite. Deshalb hat es auch so viel mehr gebracht, ihm zu zeigen, dass es jemanden gab, der ihn liebte, und nicht nur jemanden, der ihn tröstete. Als Tala aufgeblickt hatte, hatte Kai in seine Augen sehen können, wie durch offene Türen. Sie zeigten ihm eine ganze Gefühlswelt. Es war Talas Geist, der da vor ihm lag, offenbart, roher Natur. Eine kalte Welt, in welcher er verweilte. Trauer, Angst und Schmerz. Doch er konnte sehen, wie die Eisschicht darin anfing, Risse zu bekommen. Er konnte sehen, wie sie schmolz. Tala hatte Angst davor gehabt, je wieder jemandem zu vertrauen. Aber er war gewillt, es noch mal zu versuchen. Und warum das alles? “Weil er mich geliebt hat.“ Kai starrte auf das Parkett unter ihm und verdrängte diese Erkenntnis. Tala hatte ihn nicht geliebt. Er hatte ihm vielleicht vertraut und sich nach Nähe und Liebe gesehnt. Aber selbst geliebt, hatte er ihn nicht. Sonst hätte er ihn nie alleine gelassen. Damals war es ihm gelungen, Tala wieder zum lachen zu bringen. Wenn auch nur für ihn. Strahlend hell und glücklich, so dass es ihn Tränen in die Augen getrieben hatte, als er ihn in die Arme nahm. Wenigstens in den paar Minuten, in denen er bei ihm war, gab er dem Rothaarigen seine Seele zurück. Als würde dieser irgendwo in der Dunkelheit auf sein Licht warten, dass ihr den Weg zu Tala leuchtete. Tala war abhängig von ihm geworden. Zumindest hatte er das geglaubt. Nun war er eines Besseren belehrt worden. Vielleicht hätte Kai noch länger seinen depressiven Gedanken nachgehangen, aber das schrille Leuten seiner Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Einen irrwitzigen Moment lang dachte er, Tala würde davor stehen und ihn auf Knien anbetteln, zurückzukommen, aber natürlich war dem nicht so. Es waren Tyson und Max, die ihn aus großen Augen ansahen. “Hillary meinte, sie hätte dich gesehen, aber wir konnten es nicht glauben. Wir dachten, du wärst in Russland!“, plapperte Tyson sofort los und drängte sich an Kai vorbei in dessen Wohnung. Max folgte ihm zusammen mit dem Graublauhaarigen. “Ich dachte, du wolltest zu Tala ziehen,“ meinte Tyson und beschlagnahmte das Sofa für sich. “Tja, falsch gedacht,“ erwiderte Kai nur und blieb im Türrahmen stehen, versperrte Max somit den Zugang zum Wohnzimmer. “Hört zu, ich wäre jetzt wirklich lieber alleine,“ murrte er und Tyson sah ihn belustigt an. “Was ist los? Habt ihr euch gestritten? Ich hab ja schon immer gewusst, dass ihr nicht zusammen passt!“, langsam stand der Japaner wieder auf. “Tyson, lass uns gehen,“ maulte Max, aber der blauhaarige Japaner schüttelte nur den Kopf und blieb direkt vor Kai stehen. “Du hast immer gedacht, dass du ohne ihn vollkommen alleine bist, Kai. Aber dem ist nicht so. Du hast uns! Du brauchst ihn nicht, um glücklich zu werden, dein Leben existiert auch ohne ihn. Du hast dich viel zu sehr von Tala abhängig gemacht. Vielleicht solltest du da ändern,“ damit drückte er sich an Kai vorbei. Kai blickte ihm überrascht nach, sah dann zu Max. Der blonde Amerikaner lächelte ihn nur entschuldigend an und lief Tyson nach, welcher sich bereits aus dem Staub gemacht hatte. Kai sah seiner Tür dabei zu, wie sie langsam ins Schloss fiel. Vielleicht hatte Tyson Recht – vielleicht aber auch nicht. Ich habe damals versucht, mir etwas vor zu machen. Mir einzureden, Tyson hätte Recht und mein Leben wäre auch ohne Tala toll. Und klar war ich nicht vollkommen alleine. Ich hatte Freunde und das wusste ich auch. Aber Tyson hatte auch bei etwas anderen Recht gehabt. Ich war abhängig von Tala. Trotzdem versuchte ich zwei Jahre lang, ohne ihn klar zu kommen. Ihn zu verdrängen und mich nie wieder an ihn zu erinnern. Zwei Jahre voller Qual! Allen anderen spielte ich vor, wie glücklich ich doch sei. Aber in Wirklichkeit verzweifelte ich an der kleinen Tatsache, dass etwas in meinem Leben fehlte. Und war dieses Etwas auch noch so klein, es machte mich einsam… Kapitel 3: Die klaffende Lücke ------------------------------ In den ganzen zwei Jahren, in denen Kai nun schon wieder in Tokio war, verging kein Tag, an dem er nicht an Tala dachte. Er hatte schon lange nichts mehr von dem rothaarigen Russen gehört. Natürlich hatte dieser zu anfangs versucht, ihn anzurufen. Aber er hatte die Gespräche nicht in Empfang genommen oder gleich wieder aufgelegt. Was hätte er auch sonst tun sollen? Sich wieder einlullen lassen, nur um noch weitere Jahre seines Lebens zu verschenken? Stattdessen hatte er etwas aus sich gemacht, wie er fand. Noch immer trainierte er Tyson und Co. – sie wollten an der nächsten WM teilnehmen – und gleichzeitig arbeitete er bei der BBA. Kein schlechtes Leben, wie er fand. Doch die klaffende Lücke, die Tala in seinem Herzen hinterlassen hatte, blieb. Und sie ließ sich nicht mehr füllen. Weder mit der hübschen Sekretärin von Mr. Dickenson, die ein Auge auf ihn geworfen hatte, noch mit einem anderen Jungen. Er wollte niemanden außer Tala. Lange hatte er diese Erkenntnis verdrängt, aber nach und nach wusste er, dass er es nicht verdrängen konnte. Es mochte sein, dass er sein Leben damals verschenkt hatte, aber er war dabei glücklich gewesen. Nun hatte er alles unter Kontrolle, aber glücklich war er dabei nicht. Jetzt musste er sich entscheiden, ob er lieber weiterhin eine Lüge lebte, oder ob er ehrlich zu sich selbst war und sich eingestand, dass er Tala noch immer liebte und endlich anfangen sollte, zu kämpfen! Wenn es nicht nach zwei Jahren schon zu spät war… Ich war gewillt, über meinen Schatten zu springen und zu Tala zu gehen, mich mit ihm auszusprechen und ihm endlich zuzuhören. Und ich war gewillt, ihn zu fragen, ob er nicht doch noch einmal alles überdenken und zu mir zurückkehren möchte. Vielleicht, so hoffte ich damals wage, liebe er mich ja doch noch. Vielleicht hatte er nur Angst vor seinen Gefühlen gehabt. Aber mir war auch klar, dass es nur der dumme Wunsch eines naiven Jungens wie mir war, der mich dies glauben ließ. Und trotzdem ließ ich alles stehen und liegen und kehrte zurück nach Moskau! Kai blickte sich an Moskaus Bahnhof um und vernahm nur dumpf das vorbeirauschen eines ICEs. Es hatte sich so viel verändert, seit Tala ihn damals verlassen hatte – oder als er ihn verlassen hatte. Tala lebte nicht mehr in seiner alten Wohnung, sondern war weggezogen, wohin auch immer. Kai wusste nicht, wo er Tala suchen sollte, aber er wusste, wen er fragen konnte, um das heraus zu finden. Langsamen Schrittes ging er auf den Imbiss zu, welcher zum Bahnhof gehörte und in welchem er sich mit Bryan treffen wollte. Wenn einer etwas über den verbleib seines Leaders wusste, dann ja wohl der Lilahaarige. Und zu Kais Glück lebte Bryan noch da, wo er vor zwei Jahren gelebt hatte und besaß auch noch die gleiche Telefonnummer. Ansonsten wäre er wirklich aufgeschmissen gewesen, hielt doch keiner seines ehemaligen Teams etwas davon, sich im Telefonbuch eintragen zu lassen. Bryan saß schon in dem muffigen Raum, in welchem es nach Bratfett und alten Pommes roch. Gelangweilt blickte der Russe auf sein Bierglas und schwenkte den Inhalt nachdenklich hin und her. “Hi,“ meinte Kai und ließ sich auf dem Stuhl, gegenüber Bryans, nieder. “Hey. Lange nicht gesehen, was?“, doch es war keine Frage, sondern eine reine Feststellung, weshalb Kai nur zustimmend brummte und sich bei der mageren, pickelgesichtigen Kellnerin einen Kaffee bestellte. “Was willst du hier? Bist du auf der Suche nach deinen Wurzeln, oder was?“, Bryan grinste freudlos und Kai erwiderte seinen Blick starr, wusste er doch, worauf der Lilahaarige hinaus wollte. “Glaubst du, ich würde freiwillig noch einmal hier her kommen, nur um eine Besichtigung in der Abtei zu machen?“, fauchte der Graublauhaarige ungehalten und Bryan zuckte nur die Achseln. “Hast du das nicht damals auch gemacht, als du hier plötzlich mit deinem Team aufgetaucht bist und dich angeblich nicht mehr erinnern konntest?“ “Ja. Aber wie du bereits sagtest: Ich konnte mich nicht erinnern. Sonst wäre ich doch niemals so blöd gewesen, auf Boris’ Angebot einzugehen!“, giftete Kai und riss den Kaffee, den die Kellnerin brachte, an sich. “Wie auch immer. Ich dachte ja nur, dass du es vielleicht noch einmal probieren möchtest. Und vielleicht bleibst du dann auch hier, bei Tala. Anstatt ihm Hoffnungen zu machen und abzuhauen – wie du es nun schon drei Mal getan hast, Kai!“, Bryans Blick wurde hasserfüllt und Kai fragte sich in seinem tiefsten Inneren, warum Bryan so sauer wurde, was Talas Liebesleben anging. Außerdem… “Tala hat mich verlassen, nicht ich ihn!“, konterte er und Bryan zog die Brauen nach oben. “Ach? Ich dachte immer, du bist nach Tokio abgehauen und nicht Tala, aber das würde das Verschwinden unseres Leaders natürlich erklären,“ seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Obwohl Kai ihn nun gerne mit Schimpftiraden bombardiert hätte, riss er sich zusammen, denn etwas an Bryans Satz hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. “Willst du damit sagen, du weißt nicht, wo Tala steckt?“, wollte Kai wissen, ignorierte somit die Sticheleien des Anderen und Bryan zuckte sogleich erneut mit den Schultern. “Nein, ich weiß nicht, wo er steckt. Er meinte zu mir, er würde mit seinem neuen Freund wegzeihen. Wir sollten nicht nach ihm suchen. Und dann war er weg. Von Heute auf Morgen – einfach weg,“ um seine Aussage zu unterstreichen machte Bryan ein Geräusch, dass wohl ein ‚Peng’ werden sollte, jedoch so bryanuntypisch klang, dass Kai nur die Brauen hochziehen konnte und sich fragte, was in den Lilahaarigen gefahren war. Er war wohl doch länger weg gewesen, als gedacht. “Das heißt… er hat einen neuen Freund?“, hakte Kai nach und der Russe nickte nur, ließ den Graublauhaarigen dabei nicht aus den Augen. Das war das erste Mal gewesen, wo mir bewusst wurde, dass es nicht an mir lag, dass er mich nicht wollte. Er hatte also die ganze Zeit schon einen anderen Lover gehabt. Und mich letztlich für diesen verlassen. Der Schmerz, der mich bei diesem Gedanken überkam, war mehr, als ich aushalten konnte… “So ist das also. Du wolltest ihn treffen und auf Knien vor ihm kriechen, nur damit er dir noch eine Chance gibt. Das ist doch gar nicht deine Art, Kai. Ich bin enttäuscht von dir!“, Bryans hämisches Grinsen lud dazu ein, die Faust darin zu versenken, aber Kai unterließ es und blickte nur stumm in seinen – mittlerweile wohl kalten – Kaffee. “Ich wollte nur mit im reden,“ rechtfertigte er sich stattdessen, obwohl er sich am liebsten dafür geohrfeigt hätte, sich vor Bryan ins richtige Licht setzen zu wollen. Dieser ignorierte Kais Ansage und trank von seinem Bier. “Ich hätte dir ja gerne bei deiner Romeo-Aktion geholfen, aber ich hab keine Ahnung, wo sich deine Julia – oder soll ich sagen, dein Julian? - aufhält,“ Bryan grinste erneut hämisch. “Halt dein dreckiges Maul, Kuznetsov! Sag mir lieber, ob du weißt, ob Spencer mehr von Tala erfahren hat!“, forderte Kai und Bryan grinste schief. “Seit dem er sich – blind wie er war – in dich verknallt hatte, war ich sein bester Freund. Glaubst du etwa, er würde Spenc mehr erzählen, als mir?“, fragte Bryan und Kai murmelte etwas davon, dass er selbst Spencer auf jeden Fall mehr erzählt hätte, als Bryan. Aber er war ja auch nicht Tala. “Tsss,“ machte Bryan nur und stand auf. “Ich kann dir nicht weiterhelfen, Kai. Und ich wüsste auch keinen Grund, warum ich das tun sollte. Außer vielleicht Tala zu liebe, aber meiner Meinung nach, ist er ohne dich besser dran,“ damit ließ er den Halbrussen stehen und dieser blickte wieder hinab auf seinen Kaffee. “Scheiße!“ Nach dem ich das Alles von Bryan erfahren hatte, wurde mir klar, dass es zu spät für mich war. Vielleicht hatte Tala auch etwas besseres verdient, als mich. Vielleicht war sein neuer Freund mehr für ihn da, als ich es sein konnte. Obwohl ich immer mein Bestes gegeben hatte, um Tala aufzufangen, hatte ich manchmal das Gefühl gehabt, dass es nicht reichte. Vielleicht auch deshalb nicht, weil ich selbst mit meiner eigenen Vergangenheit zu kämpfen hatte. Ich war mir sicher, dass Tala nun jemanden gefunden hatte, der ihm zuhören konnte, ohne selbst an grausame Dinge erinnert zu werden. Der ihm den Rücken sichern konnte, ohne selbst Schutz zu verlangen. Er hatte jemanden gefunden, der nicht ihr war. Allein lief Kai die Straße entlang zu seinem Hotel. Er war wirklich naiv gewesen zu glauben, Tala würde mit im Schluss machen, nur um ihn dann zwei Jahre hinterher zu trauern. Und dennoch hatte er sich Hoffnungen gemacht. Vielleicht auch, weil Tala sich so bemüht hatte, noch einmal mit ihm zu sprechen. Der Graublauhaarige dachte an Bryans Worte und verwarf den Gedanken. Sicher hatte Tala einfach nur ein schlechtes Gewissen gehabt, ihn zu verlassen, für einen Anderen. Es war wahrscheinlich das Beste gewesen, nicht mit ihm darüber zu sprechen. Vom Rothaarigen zu hören, dass er ihn verlassen hatte, weil er mit einem anderen Jungen in die Kiste sprang, wäre mehr gewesen, als Kai verkraftete hätte… Die junge Dame an der Rezeption begrüßte ihn mit einem überschwänglichen Lächeln und zwitscherte ihm ein ‚Guten Abend!’ entgegen, wofür Kai sie am liebsten umgebracht hätte. Sah er so aus, als würde er diese gespielte gute Laune jetzt ertragen können? Barsch forderte er seinen Zimmerschlüssel und bewegte sich dann schnurstracks zu den Aufzügen. Als er endlich in seinem Zimmer, auf seinem Bett, lag, überkamen ihn all die Gefühle, all das Chaos, dass von seinem Inneren besitzt ergriffen hatte. Und er verwarf die fixe Idee, Tala zu suchen und noch einmal mit ihm zu sprechen, nur um ihm die Chance zu geben, ihm zu sagen, dass er ihn liebte. Seine Hoffnungen waren zunichte gemacht. Kai schloss verbittert die Augen. Er hätte es ja eh nicht gesagt, rügte er sich selbst. Wahrscheinlich, dachte er zynisch, hatte Tala ihn schon längst vergessen. Und dennoch zog sich damals alles zu ihm, jedoch verweigerte ich es mir. Ich tat das, was ich am Besten konnte: Weglaufen! Ich reiste am nächsten Tag ab, ließ Moskau und Tala hinter mir, wie ich es schon einmal vor zwei Jahren getan hatte. Mit der Gewissheit, dass ein Teil von mir, von meinem Herzen, immer bei ihm sein würde! Kapitel 4: Die lebende Lüge --------------------------- Zurück in Tokio lebte er das Leben, dass er vor einigen Tagen zurückgelassen hatte, als er kopflos zum Flughafen gerannt war, um Tala noch eine letzte Chance zu geben. Und er lebte dieses Leben gut. Versteckte seine zersprungene Seele hinter seiner kalten Maske und dachte nicht im Traum daran, jemals wieder sein Herz zu verschenken. Weder an Tala, noch an irgendwen anders. “Wo warst du die letzten Tage?“, wollte Tyson wissen, als Kai plötzlich wieder bei ihm auftauchte und sein Team zum Training scheuchte. “Weg,“ gab der Graublauhaarige nur wortkarg zurück und Tyson verzog den Mund zu einer Schnute, antwortete jedoch nichts darauf. Es war Max, der fragte, wo genau er gewesen war. Aber Kai gab keine Antwort darauf. Was hätte er auch sagen sollen? Das er nach Moskau gereist war, um Tala zurückzugewinnen und bis auf eine unschöne Begegnung mit Bryan nichts gewonnen hatte? Dazu besaß er noch immer zu viel Stolz. “Weißt du, ich hätte dir gleich sagen können, dass Tala nichts mehr von dir will,“ meinte Ray plötzlich, der entweder Gedanken lesen konnte, oder aber Kais verbitterte Miene richtig zu deuten wusste. “Immerhin hat er Schluss gemacht.“ “Du machst es dir ziemlich einfach, Ray,“ erwiderte Kai und sah den Chinesen wütend an: „Denn ich war es gewesen, der abgehauen ist. Und nicht Tala.“ “Ja, aber er hat mit dir Schluss gemacht!“, sprang Tyson dem Schwarzhaarigen nun bei und Kai sah in die Gesichter seiner Teamkollegen und wusste, was sie von Tala hielten und wie gern sie sahen, dass aus ihnen nichts geworden war. Auf einmal überkam ihn ein gewisser Hass auf sie und er ballte die Hände zu Fäusten. “Ihr solltet euch nicht in Dinge einmischen, die euch nichts angehen,“ raunte er und wandte sich abrupt ab. Er wartete darauf, dass jemand auf seine Provokation eingehen würde, aber eine Antwort blieb aus. Kai schnaubte und startete Dranzer. Während er einige Moves vollführte, um warm zu werden, spürte er die Blicke der Anderen in seinem Rücken. Letztlich war es Max, der den Mund aufbekam: „Es tut uns Leid, Kai. Du hast Recht. Es geht uns nichts an, wir hätten uns nie einmischen dürfen.“ Außer einem ‚hm’ erhielt der Blonde jedoch keine Antwort. “Auch wenn wir Tala nicht mögen – wir hätten es dir gegönnt, Kai, ehrlich,“ fügte Ray hinzu und Kai schloss kurz die Augen und sammelte sich. “Wisst ihr was, ihr habt ja Recht. Ich war naiv und Tala ist ein Idiot. Und jetzt reden wir gefälligst nicht mehr davon!“, gestand Kai es sich erneut ein – und diesmal endgültig. “Was steht ihr da noch so dumm rum? Macht euch warm!“ Bei jedem Klingen seines Telefons erwartete er, dass Tala dran sein würde. Bei jeder Person, die sich nach ihm umdrehte oder seinen Namen rief, erwartete er, dass es Tala sein würde. Natürlich war dem nicht so. Als ein weiteres Jahr vergangen war, war Kai von sich selbst überrascht, dass er schon so lange ohne Tala aushielt und ihn überkam die fixe Idee, dass er Tala vielleicht nie richtig geliebt hatte, sondern sich immer nur etwas vorgemacht hatte, war doch der rothaarige Russe alles gewesen, was er besessen hatte. Vielleicht hatte Tala genau das selbe schon vor Jahren erkannt und hatte ihm deshalb verkündet, nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen. Immer wenn Kai derartige Gedanken ergriffen, schloss er deprimiert die Augen und sah sein Leben vor sich, was er all die Jahre geführt hatte. War das alles nur ein Mittel zum Zweck gewesen, zum Schein, um sich vor der Realität zu verstecken? Vielleicht hätte ich noch länger solchen Gedanken nachgehangen, hätte mich Jahr um Jahr tiefer in diesen wirren Gedankenkreis gedrängt… Vielleicht, hätte sich nicht eines Tages alles geändert – absolut und abrupt. Als Kai an einem verregneten Aprilmorgen die Augen aufschlug, hatte er das dumpfe Gefühl, dass der heutige Tag anders werden könnte. Er hatte das Gefühl, dass sich sein gesamtes Leben ändern würde. Über drei Jahre lebte er nun schon in Abstinenz – und sein aufgewühltes Inneres gab ihm zu verstehen, dass es sich nun ändern würde. Er sprang auf und schlitterte barfuss über seinen Holzboden. Doch der magische Moment wurde jäh zerstört, als er im Wohnzimmer zum stehen kam und sich eingestand, dass sich heute rein gar Nichts ändern würde. Was auch? Würde es jetzt Klingeln und Tala würde ihm um den Hals fallen – so bald er die Türe öffnete. Er lachte kurz und bitter, über sich selbst, ehe er entspannt in die Küche ging und Kaffee kochte. Doch so sehr er sich auf zur Vernunft rief, das Gefühl blieb. Als dann die Post endlich da war, ging er hinaus, holte die Rechnungen und die Zeitung und warf all das achtlos auf den kleinen, gläsernen Küchentisch. Mit einer Kaffeetasse bewaffnet ließ er sich daran nieder und trank vom dem schwarze Gebräu, ehe er sich der Tageszeitung zuwandte. Interessante Artikel standen darin allerdings nicht und auch der Sportteil fiel mager aus. Frustriert warf er die Zeitung von sich. Jeden Morgen begann er gleich. Immer der selbe Ablauf – Kaffe koche, Kaffee trinken, Zeitung lesen, duschen. Wenn er aber keine Zeitung zu lesen bekam, saß er nur trostlos am Küchentisch und trank murrend seinen Kaffee. Dann hatte er den gesamten Tag über schlechte Laune. Wenn das kein Grund war, die Zeitung für ihre mangelnden Artikel zu hassen! Wütend riss er die erste Rechnung auf und als er den Betrag las, scheuerte er diese mit zur Zeitung und es folgten noch einige Weitere, welche den Haufen Papier komplett machten. Die letzten paar Briefe riss er gar nicht erst auf, sondern ließ sie gleich dem Rest folgen. Dann stand er auf und ging duschen. Noch während das heiße Wasser sich über seinen Körper ergoss, ärgerte er sich maßlos über die vielen Rechnungen, Versicherungen und sonstigen Müll. Er hatte zwar mehr als genug Geld, all das ohne Probleme zu bezahlen. Aber es kam ihm vor, als würden all diese Briefe ausgerechnet heute zu ihn ins Haus flattern, nur um ihn zu ärgern. Und dass ärgerte ihn wirklich! Vor allem, da der letzte Brief eine Mahnung gewesen war, hatte er doch vergessen, dass Geld für sein Flugticket nach Russland zu überweisen. Mussten ihn denn sogar schon die Rechnungen an Tala erinnern? Um sich auf andere Gedanken zu bringen, drehte er den Wasserhahn kurzerhand auf kalt und ließ das eisige Wasser über seinen Körper brausen, eher aus der Dusche stieg und sich in ein weiches Frottéhandtuch hüllte. Kurze Zeit später trat er angezogen wieder in die Küche und schmierte sich halbherzig ein hartgewordenes Brot, welches er mit zur Arbeit nehmen würde. Er hatte zwar keine Lust auf Brot, aber es schmeckte wohl immer noch besser, als das widerliche Kantinenessen, mit dem die BBA sie quälen wollte. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihn in der Vermutung, dass er spät dran war, also schnappte er sich noch einen Apfel, den er auf dem Weg essen müsste und war im Begriff die Wohnung zu verlassen, als ein Brief auf dem Tisch seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Langsam ließ er den Apfel sinken und das nervöse Gefühl nahm wieder Besitz von ihm. Auf den ersten Blick unterschied sich der Brief nicht von den anderen. Es war ein schlichter weißer Umschlang, darauf stand in japanischen Lettern seine Adresse. Aber wenn er genauer hinsah, fiel ihm zuerst auf, dass die japanischen Schriftzeichen ziemlich krakelig geschrieben waren, überhaupt handgeschrieben und nicht maschinengedruckt. Er stürzte zum Küchentisch und hob den Brief an sich, besah sich den Poststempel und ihm kam es vor, als würde sein Herz einen Moment lang aussetzen. Er riss den Umschlag auf und zog dessen Inhalt hervor. Und dann ließ er sich zurück auf einen Stuhl fallen und starrte eine ganze Zeit lang nur auf das Geschriebene, blickte ewig lange auf die kleinen, sauberen kyrillischen Buchstaben, saugte jedes winzige Detail der Handschrift auf, die er nur zu gut kannte. Es gab wohl nur einen Menschen, der so einfach schrieb und dessen Schrift dennoch so besonders aussah, zumindest für ihn. Und wohl auch nur, weil er sie vermisst hatte, genauso, wie er die dazugehörige Person vermisst hatte. “Tala.“ Ich habe nicht lange überlegt, ob ich den Brief lese oder einfach wegschmeiße. Natürlich las ich ihn sofort. Doch was ich da las, tat mir weh, unendlich sehr. Tala schrieb mir, wie enttäuscht er von mir war, dass ich ihm nie zugehört hatte. Er schrieb, dass ich ihn nie hatte erklären lassen und ihm somit jede Chance auf Hilfe verwehrt hatte. Und dann erzählte er mir, was er mir schon so lange hatte erzählen wollen. Davon, dass Boris Leute ihn geschnappt hatten. Ihn erpressten, für sie zu arbeiten, weil sie mir sonst etwas antun würden. Dass er deshalb keine Beziehung zu mir gewollt hatte, aus Angst, sie würden ihre Drohung war werden lassen. Er hatte gewollt, dass ich mich in Sicherheit brachte. Und versuchte ihm zu helfen. Doch da ich einfach gegangen war, ohne all das je zu erfahren, habe ich ihn auch nie retten können. Irgendwann hatte er dann wohl eingesehen, dass es so am Besten war und er hatte Bryan gebeten, mir zu sagen, dass er einen neuen Freund hatte und weggezogen war. Obwohl dem gar nicht so war. Ich hätte gerne noch weiter gelesen, aber es ging nicht mehr. Tränen standen mir in den Augen und machten blind. Ich wischte sie energisch weg, um die letzten Sätze lesen zu können: “Ich habe lange gehofft, dass du es irgendwie erfährst und mir hilfst, auch wenn du dich dann in Gefahr gebracht hättest. Aber irgendwie war ich auch froh, dass du es nicht getan hast, weil ich dann zumindest wusste, dass du in Sicherheit bist, Kai. Jetzt weiß ich, dass ich bald sterben werde und hoffe, dass du wenigsten eine einzige Träne um mich weinst, auch wenn ich dich damals verletzt habe. Doch wenigstens kann ich mit dem ruhigen Gewissen sterben, dass es dir gut geht. Und das du jetzt alles weißt!“ Es folgte kein Wort des Abschieds. Der Brief hörte einfach auf. Und mit ihm, so erschien es mir, mein Leben. Kai ließ den Brief sinken und Tränen bahnten sich einen Weg über seine Wange. All die Jahre hatte er Tala unrecht getan. All die Jahre hatte er ihn umsonst gehasst, dafür, dass er ihn verlassen hatte. Nun schien ihm das Herz zu brechen und die Angst um Tala wuchs. Was nur meinte der Rothaarige damit, dass er bald sterben würde? Kai biss sich auf die Lippen und las noch einmal den Brief. Aber eine Antwort auf seine Frage fand er nicht. Langsam stand er auf und traf eine Entscheidung! Ich hatte ihm immer vorgeworfen, mich nicht zu lieben. Nun musste ich feststellen, dass ich mich selbst belogen hatte. Ich hatte ein Leben gelebt, bestehend aus einer einzigen Lüge! Epilog: Blutrote Lettern ------------------------ Kai packte nur das nötigste zusammen und bestellte ein Taxi. Er bekam ein Last-Minute-Ticket nach Russland und hastete zum Gate. Er durfte jetzt keine Zeit mehr verlieren. Er musste Tala von Boris wegholen, ehe es zu spät war. Dennoch dauerte es viel zu lange, bis er endlich vor den alten Gemäuern standen, die seine Vergangenheit ausmachten. Nein, er musste sich verbessern. Die nun auch seine Gegenwart ausmachten. Grimmig blickte er nach oben, zum höchsten Turm der Abtei, und fragte sich, ob es denn niemals aufhören würde?! Ihm war unwohl, als er zum Tor schritt und um Einlass bat. Aber er hatte keine Zeit mehr zu verlieren, aus dem Hinterhalt anzugreifen. Er hatte keine Zeit, zu planen. Er konnte nur hinein marschieren, bitten, Tala zu sehen und Boris zu fragen, was er tun musste, um Tala mit sich zu nehmen. Auch auf das Risiko hin, dass er selbst nie wieder die Mauern der Abtei verlassen durfte! Als er wenig später in Boris Büro stand und dieser ihn hämisch grinsend anblickte, empfand er nichts als Abscheu vor dem Mann vor ihm. “Wieder draußen, aus dem Knast?“, höhnte er dennoch und Boris Lippen zogen sich zusammen. “Im Gegensatz zu deinem Großvater, ja.“ Vielleicht hatte Boris vorgehabt, ihn damit eins rein zu würgen, aber Kai war es nur Recht, dass zumindest Voltaire noch hinter Gittern saß, hatte seines Ermessens nach jedoch Boris viel mehr Unheil angerichtet. “Was willst du, Kai?“, wollte der Lilahaarige wissen und der Halbrusse hasste es, wie dieser seinen Namen aussprach. Aber er ließ sich nichts anmerken und meinte nur: „Tala.“ “Klar. Was auch sonst,“ nun stand Boris auf und kam um seinen Schreibtisch herum. Fest sah er Kai in die Augen, focht mit ihm ein Duell aus, von dem Beide nicht als Verlierer hervor gehen wollten. Ohne das Kai jedoch seinen Blick abwenden musst, wurde er besiegt, in dem Boris nur einen einfachen Satz sagte, der seine gesamte Welt in Schutt und Asche riss. “Es tut mir Leid, Kai,“ meinte er, klang dabei aber nicht so, „aber Tala ist gestern Nacht gestorben.“ “Arschloch,“ er wollte so viel mehr sagen, so viel mehr, dass seine Wut und seinen Hass und allen voran seine Trauer ausdrücken konnte, aber nichts Weiter kam über seine Lippen. “Oh, ich kann da nichts dafür. Es war eine Schlägerei unter den Schülern, wegen eines sinnlosen Streites. Eine der Verletzungen war wohl zu viel für den Guten.“ Aber Kai glaubte ihm kein Wort, hatte er noch die Zeilen in Talas Brief vor Augen. Woher hätte Tala wissen sollen, dass irgendwelche Schüler sich mit ihm prügeln würden, wegen irgendeiner Belanglosigkeit? Er wusste, wer Tala geschlagen hatte, bis diesen die Kräfte verlassen hatten, einfach nur, weil er den Rothaarigen nicht mehr brauchte oder als Gefahr angesehen hatte. Boris zu Bitten, in Talas Zimmer sehen zu dürfen, war mehr, als sein Stolz vertrug und wie ein geschlagener Hund folgte er Boris durch die Gänge. Er war sich bewusst, dass der Lilahaarige sich nun als Sieger sah, aber da war ihm egal. Ihm war alles egal. Als er dann alleine in dem Raum stand, den Tala bewohnt hatte, in dem Tala gestorben war, fühlte er sich auf einmal klein und hilflos. Und am liebsten hätte er sich selbst dafür geschlagen, Tala nicht hatte retten zu können, einfach nur, weil sein eigener Stolz es ihm damals verboten hatte, dem Rothaarigen zu zuhören. Er sah sich in dem kleinen Zimmer – in der kleinen Zelle – um. Tala hatte also nicht mehr weiter in ihrem gemeinsamen Doppelzimmer wohnen dürfen, sondern man hatte ihm ein Einzelzimmer gegeben. Noch kleiner und kahler, als es ihr gemeinsames Zimmer gewesen war. Während er sich nun in dem karg eingerichteten Zimmer umsah, kam es ihm vor, als sähe er alles genau vor sich. Er sah das Bett, welches noch ungemacht war. Sah das zerknitterte Lagen, in welchem Tala geschlafen hatte, ehe Boris Männer in sein Zimmer gestürmt waren. Förmlich konnte er vor sich sehen, wie Tala sie aus großen Augen angesehen hatte, wie er dann resignierend die Augen geschlossen hatte, wissend, was nun kam. Er blickte zu der Blutlache, die noch immer am Boden war, auf dem Fleck Erde, auf dem er seinen letzten Atemzug getan hatte. Er konnte vor sich sehen, wie sie auf ihm eingeprügelt hatten, wie er sich zu anfangs sicher noch gewehrt hatte, ehe er ganz aufgegeben hatte, vielleicht, weil er wusste, dass es sinnlos war, weiter zu kämpfen, oder weil ihm bereits die Kräfte versagten. Er sah vor sich, wie Tala an der Wand heruntergerutscht war, in seinem eigenen Blut liegen geblieben war und letztlich… Es waren nur wenige Augenblicke gewesen, die Kai in Talas Zimmer verbracht hatte, aber diese wenigen Augenblicke genügten, um ihm zu nehmen, was Jahre ihm gegeben hatten. Mit einem Mal überkam ihm die Gewissheit, zu spät gekommen zu sein. Er hatte wirklich gedacht, er hätte noch zeit, würde her fliegen und ihn retten, ehe er sterben würde. Nun riss die Wahrheit ihm mit eiskalter Hand den Atem aus den Lungen und der Schmerz, welchen er nun fühlte, war schlimmer als der Tod. Er hatte es nicht geschafft. Und es tat ihm unendlich Leid, ihn nicht angehört zu haben, ihn nicht sofort rausgeholt zu haben. Ja, jetzt tat es ihm Leid. Aber nun war es auch zu spät. Langsam wandte er sich zum Gehen. Als er sich jedoch umdrehte, fiel ihm in den Augenwinkeln ncoh etwas auf und er drehte sich noch einmal um. Das letzte Licht des Tages ließ das Zimmer düster wirken und fast hätte er es übersehen. Aber nun schien es, als würde die Wand förmlich Leuchten, nur damit er Talas letzte Worte fand. Er blickte auf die blutroten Lettern, die in der feinsäuberlichen Schrift an die Wand gepinselt worden waren. Sah Tala vor sich, wie er eine letzte Botschaft hinterlassen hatte, nur für ihn. Er blickte auf die drei Worte, ehe er gequält die Augen schloss. Doch auch vor seinem inneren Auge leuchteten sie rot auf, hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt: ‚Ich liebe dich’ Er hatte ihn verloren, aber er würde ihn nie vergessen. Ich wollte nie um Vergebung bitten, weil ich glaubte, dass man mir nicht vergeben kann. Aber wenn ich jetzt zurückblicke und mich wieder vor der Wand stehen sehe, an welcher sein Blut seine Botschaft verkündete, sie stumm in die Welt hinaus schrie, da möchte ich ihm nur noch sagen, wie Leid es mir tut. Auch wenn ich es nicht mal vor mir selbst entschuldigen kann, so bitte ich doch ihn: Tala… Bitte… Vergib mir… The End Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)