Stairway to Heaven von Ling-Chang ================================================================================ Kapitel 10: Confidence ---------------------- Dorothea stand in ihrem Zimmer im Wirtshaus. Es war tiefste Nacht, deshalb lief sie nicht im Kreis, obwohl ihr danach zumute war. Sie wollte die Wirtsfamilie und die Gäste nicht stören, nur weil sie sich selbst so unsicher war, was sie mit ihrer Zukunft anfangen sollte. In ihren Händen hielt sie die Dokumente, die ihr den Eintritt in den Sperrbezirk ermöglichten – die Einladung in ihr neues Leben! Und dennoch hatte sie Lust, die Papiere zu zerreißen und nach Hause zurückzugehen. Egal, ob ihre Familie sie quälte oder nicht, irgendwie war ihr diese ganze Sache nicht geheuer. Wenn ihre Maskerade aufflog, dann befand sie sich direkt der Gnade des Königs ausgesetzt und der galt als nicht sehr gnädig. Eine Frau als Mann verkleidet, die sich in die Drachenreiterausbildung geschlichen hatte, das würde ihr sicherlich mindestens die Todesstrafe einbringen! Würde man ihren Leichnam verstümmeln und den Schweinen zum Fraß vorwerfen?! Bei diesem Gedanken lief ihr erneut ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wollte sie ihr Leben wirklich für einen Mann wegwerfen? In den romantischen Geschichten ihrer Tante waren alle Frauen so blind vor Liebe, dass sie sich ihren Männern ohne Fragen unterwarfen, ihnen hinterherliefen wie treudoofe Schoßhündchen und sie anbeteten. Keine dieser Frauen würde jemals an sich zweifeln und einfach tun, was ihr Herz ihnen sagte. Sie würden ein Abenteuer nach dem anderen bestehen, um zu ihrem Geliebten zu kommen. Natürlich bekamen sie ihn auch. „Aber was ist mit mir? Warum bin ich nicht so?!“, fragte Dorothea sich und ließ sich auf die Bank vor dem Spiegeltisch mit integrierter Waschschale fallen. Ihr Gesicht erhellte und verdunkelte sich durch das Flackern der Kerze, das durch den sanften Luftzug ausgelöst wurde, der unter der Tür durch den kleinen Schlitz kroch und sich ins Zimmer quetschte. „Warum bist du nicht so?!“, warf sie ihrem Spiegelgesicht vor. Doch die Spiegelung blieb still und warf lediglich ein panisches Gesicht zurück, das ihr nicht im Mindesten Mut machte. „Warum kannst du nicht so sein?! Schau dir Pilea an!“, flüsterte sie und hob eine Hand an, bevor sie diese auf die kalte glatte Oberfläche des Spiegels legte. Ihr Zeigefinger strich über ihre Gesichtszüge und verfolgte die Laufbahn der Tränen, die bereits seit einer ganzen Weile aus ihren Augen schossen. Schon die vorigen Tage hatte sie damit verbracht, darüber nachzudenken, ob sie es wagen sollte, den Sperrbezirk als Alan zu betreten. Doch auch nach fünf Tagen war ihr keine Antwort zugekommen. Bald war ihre Woche vorbei und sie musste bis dahin mit ihrem Pass zum Tor gekommen sein, um aufgenommen werden zu können oder ihre Chance war vertan. Dorothea legte die Dokumente vor sich auf die Tischplatte und starrte wieder in den Spiegel. Ihr Blick fuhr über die vertrauten Züge und inspizierte jede Kurve, jede Rundung und jeden Schwung. Genauso hatte sie jahrelang vor dem Handspiegel in ihrem Zimmer zuhause gesessen und gehofft, dass sie von einem Tag auf den anderen plötzlich jemand anderes war. Doch natürlich war das nie passiert. Es würde auch jetzt nicht passieren, niemand würde kommen und die Entscheidung für sie fällen. „Sieh dich an, Dorothea!“, forderte sie ihren Spiegel auf und fuhr wieder mit dem Zeigefinger über die kalte Oberfläche. „Schau dich an und sag mir, wo ist sie geblieben?! Wo ist die Dorothea, die nächtelang davon geträumt hat, dass sie plötzlich Prinzessin wird? Die als Kind immer davon geträumt hat, Drachenreiter zu werden und den Menschen zu zeigen, wie wertvoll wir Frauen sind? Wo ist die Dorothea, die nur den Mann heiraten wollte, den sie liebt? Sag mir, wo ist sie?! Wo bin ich in diesem Abbild von Bitterkeit und Scham?!“, weinte sie ihrem Spiegelbild entgegen, plötzlich losgelöst von aller Zurückhaltung. Schluchzer drangen aus ihrer Kehle und sie presste ihre andere Hand über den Mund, während sie die Augen schloss und versuchte, sich wieder zu fangen. Als es wieder einigermaßen ging, murmelte sie weiter: „Haben sie deine Träume kaputt gemacht, sodass du jetzt nur noch im Stillen weinen kannst und aufgibst, bevor du angefangen hast?! Nein, du weißt genau, dass ihre Häme nicht der Grund war, warum du nicht mehr das tust, was du tun willst. Du hast dich selbst aufgegeben, Dorothea! Dich selbst! Und wofür? Um nicht mehr ausgelacht zu werden? Für solch minderen Gründe hast du den Kampf deines Lebens abgebrochen und hast dich zurückgezogen?! Wo bist du geblieben? Wo ist die Dorothea, die von jeder noch so hohen Stelle gesprungen ist, um das Fliegen nachzuahmen? Die Frau, die den Männern ohne Scheu gezeigt hat, dass sie einen aufgeweckten Geist hat? Wo ist deine Direktheit, deine Frechheit, wo ist dein Mut?! Du hättest für einen Schmetterling alle Arbeit niedergelegt, nur um ihn tagelang zu verfolgen! Du hast niemals einen Schatz aus der Hand gelassen, der dir wirklich viel bedeutet hat! Du hast getanzt und gelacht, ohne dich um die entsetzten Blicke der anderen zu kümmern! Vergisst du nicht? Du hast immer mit den Jungen gespielt, weil du mit Stöcken und Holzschwertern mehr anfangen konntest als mit Puppen und Schmuck! Hast du nicht immer geschimpft wie ein Kutscherssohn? Warst du nicht schneller als der Hirtensohn? Nicht stärker als der Schmiedssohn? Oder fleißiger als der Schneiderssohn? Wo ist die Dorothea, die nie – und damit meine ich, NIE – aufgegeben hat und jedes Negative ins Positive umwandelte?“ Gegen Ende war sie immer lauter geworden und musste sich zusammenreißen, ihr Spiegelbild nicht anzuschreien. Sie verkrampfte ihre Hände und konzentrierte sich darauf, ihre eindringliche Stimme wieder in einen Flüsterton umzuwandeln. „Dorothea, die sich so sicher war, später einmal eine Drachenritterin zu werden, hätte mein heutiges Ich mit Verachtung bestraft. Die Dorothea hätte niemals den Mann gehen lassen und gezögert, ihm hinterherzulaufen. Sie würde auch nie weinen, weil sie Angst davor hat, zurückgewiesen zu werden. Weil sie stark war! Und du bist schwach! Weil du dich selbst vergessen hast, während du aufgewachsen bist! Und weshalb? Weil du dir weismachen wolltest, dass deine Träume nur dummes Kindergeplauder waren! Mit deinen Träumen hast du deine Hoffnung fortgeworfen, mit der Hoffnung deinen Lebenssinn! Dummes Gör!“ Sie riss ihre Hand vom Spiegel weg und funkelte sich durch das Glas hinweg an. Schließlich sprang sie auf und zerwuschelte sich die Haare. Innerlich kochte sie vor Wut. Warum war sie bloß so dumm geworden? Sie war doch intelligent! Zumindest meinten das immer diese alten Frauen, die nichts zu tun hatten außer Tratschen! Mit einem festen Blick schaute sie an sich hinab und drehte sich um die eigene Achse, um ihr Spiegelbild zu betrachten. Das Nachthemd störte, also zog sie es aus und betrachtete sich nun nackt. Wenn sie ihre Brust abband und das Haar ganz kurz schnitt, konnte sie so leicht als Junge durchgehen wie ihr Bruder Isim! Der Junge hatte auch ein mädchenhaftes Gesicht. Wenn sie dann noch ihre Stimme verstellte, dann hätte sie eine reelle Chance, nicht sofort aufzufliegen. Kompliziert wäre es nur, ihre Regelblutungen zu verbergen, aber da konnte sie ja ihre Tante fragen. Die würde sicherlich wissen, was man in solchen Fällen machte, schließlich hatte sich die Gute nicht umsonst öfter als Mann verkleidet. „Was noch?“, fragte sie sich, während sie in den Spiegel schaute. Die Haare! Kurzgeschnitten reichte vielleicht nicht aus – was, wenn einer der anderen Drachenreiter von der Gruppe des Generals sie erkannte! Farbe musste her. Apfelrot war keine Männerhaarfarbe, also schwarz. Schwarz war wie die Stärke! Und die Augenfarbe? Dieses Gelb-braun würde jeder wiedererkennen … „Pilea hat bestimmt auch dafür eine Lösung!“, versicherte sich Dorothea und nickte. Dann zog sie wieder die Männerkleidung an und betrachtete sich noch einmal, bevor sie das Zimmer verließ und den Gang entlangwanderte. Die Nacht hatte sich während ihrer Selbstgespräche zum Ende geneigt und der Himmel hellte sich bereits etwas auf, dennoch war noch keiner unterwegs. „Wo ist ihr Zimmer?“, fragte Dorothea sich und schaute die verschlossenen Türen an. Sie mochte nicht anklopfen und hineinsehen, wer weiß, wer dahinter lebte?! Daher ging sie unerfüllter Dinge hinab in die Wirtsstube. Dort war auch noch niemand, also schaute sie in das Nebenzimmer bei der Theke. Auch dort war keiner. „Was denke ich auch?“, meinte Dorothea ironisch und schnalzte mit der Zunge. Wenn sie jetzt noch länger wartete, dann würde sie sich vielleicht wieder umentscheiden! Jetzt konnte sie sich noch dazu aufraffen, die Vorbereitungen abzuschließen und sich zum Eingangstor des Sperrbezirks zu schleppen – später aber sicherlich nicht mehr! Wo war bloß ihre vermaledeite Tante! „Alan?“, fragte eine weibliche Stimme hinter ihr und Dorothea fuhr herum. Auch das noch! Lira, die Wirtstochter! „Morgen“, grunzte sie als Antwort und tat so als wäre sie bloß etwas früh aufgestanden. Lira nahm ihr das ab und lächelte warmherzig: „Morgen! So früh schon?!“ Heute schien das Mädchen aber sehr gute Laune zu haben, wenn sie plötzlich so offen war, wo sie doch in den Tagen zuvor kaum den Mund aufmachen konnte. „Ja, schlecht geschlafen“, grummelte sie – anscheinend sehr glaubwürdig. „Oh, das ist nicht gut! Aber umso besser! Du kannst mir helfen, ich mache Frühstück!“, antwortete sie fröhlich und grinste. Ah! Das Mädchen dachte, Dorothea könne nicht kochen. Jeder normale Mann hätte wahrscheinlich spätestens jetzt das Weite gesucht. Sie gab sich diesem Spiel hin. „Hä, ja … hm. Ich muss noch … Na, du weißt schon!“ „Ah, genau. Das! Nur zu, geh schon! War ja nur ein Vorschlag“, lachte das Mädchen und machte eine wegscheuchende Geste, doch Dorothea konnte nicht anders und musste noch schnell etwas fragen: „Wo ist das Zimmer meiner Tante?“ „Neben meinem, oben im ersten Stock“, erwiderte diese prompt. „Ah, und wo ist das?“ „Direkt gegenüber der Treppe, du kannst es gar nicht verfehlen! Rechts daneben wohnt Pilea!“, gab sie gerne Auskunft. Dorothea bedankte sich und machte sich auf den Weg dorthin. Auch wenn es noch recht früh war und es ziemlich unhöflich anmutete, wenn sie ihre Tante jetzt weckte, doch Dorothea konnte nicht anders. Sie musste ihren Entschluss jetzt loswerden! Also klopfte sie wenig später an die Holztür, die das Zimmer ihrer Tante vom Flur abtrennte. „Ja?“, fragte eine Stimme von drinnen und Dorothea trat ohne zu Zögern ein. Als die Tür hinter ihr zuschlug, fand sie sich endgültig im völlig erleuchteten Zimmer wieder. Ihre Tante war bereits angezogen und stand vor dem mannshohen Spiegel. „Dorothea“, erstaunte sich diese im Flüsterton. Doch ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Natürlich wusste sie sofort, worum es ging. Warum sonst sollte Dorothea sie aufsuchen? „Und? Wie hast du dich entschieden, meine Kleine?“, fragte sie, ohne zu zögern. Dorothea schluckte und sagte: „Ich will hineingehen!“ „Braves Mädchen“, meinte ihre Tante und lächelte, bevor sie weitersprach: „Ab jetzt heißt es: ‚Abenteuer, hier komme ich!‘ für dich!“ Dorothea nickte und wurde ob der Freude ihrer Tante wieder unsicher. Tat sie das Richtige? „Also? Was willst du machen? Wo sollen wir anfangen?“, holte Pilea sie aus ihren Gedanken. „Ich brauche alles Mögliche, um dort zu Recht zu kommen. Frauenartikel, kurze Haare, schwarze Färbung für die Haare und andersfarbige Augen! Brustbandagen, Seife, Männerkleidung …“, begann Dorothea aufzuzählen. „Klar, das erledigt sich doch von selbst!“ Dorothea schnalzte anerkennend mit der Zunge, als ihre Tante wenig später mit den Armen voller Sachen wieder ins Zimmer kam. Pilea hatte angeordnet, dass sie hierbleiben und warten sollte, während sie losging, um alles Benötigte zu besorgen. Das Meiste davon hatte die Frau – aus irgendeinem unersichtlichen Grund – in ihrem Schrank vergraben. „Schau! Ich habe dir, weil du ja die gleiche Kleidergröße hast wie ich, gleich ein paar Sachen herausgesucht“, frohlockte die Frau. „Warum hast du so was?!“, fragte Dorothea erstaunt und schaute auf die Kleider, die ihren Weg auf das Bett ihrer Tante gefunden hatten. „Weißt du, man kann ja nicht immer in den gleichen Sachen herumlaufen. Selbst Männer nicht!“, summte Pilea lediglich, doch das schelmische Glitzern ihrer Augen verriet sie. Pilea schien sich gut in dieser Richtung auszukennen. „Ah, ja. Und der Rest?“ „Nun mal nicht so eifrig. Bandagen habe ich, Männerkleidung ist hier, Seife, Frauenartikel … Brauchst du noch Haarbürsten oder Waschlappen? Ich hoffe, ich muss dich nicht auch noch mit Bettlaken ausstatten – das ist wirklich teuer!“ „Nein, das ist doch eine Akademie, Pilea-sitoka! Wieso sollten die keine Bettlaken haben?!“ „Warst du jemals in einer dieser Akademie-Gebäude, Schätzchen?! Die leben alles andere als luxuriös, glaube mir“, meinte ihre Tante lediglich und schaute Dorothea abschätzend an. „Zahnbürste, Haarbürste, Waschlappen, Seife, Bandagen, Frauenartikel. Ich habe dir fünf Hosen, fünf Hemden und drei Wamse herausgesucht. Deine Stiefel reichen doch, oder? Kauf dir Neue, wenn sie kaputt gehen – Handschuhe und Mützen sind unwichtig. Ich nähe dir welche, wenn es wieder kalt wird, ja? Aber Umhänge brauchst du noch – zwei sind sicherlich gut.“ „Pilea-sitoka …“, seufzte Dorothea und versuchte ihre Tante zu beruhigen. Doch die ließ sich nicht beeindrucken und eilte weiterhin umher. „Dank meiner guten sozialen Verbindungen habe ich hier ein paar Wundermittelchen und Erfindungen der besten Art, schau her!“, ereiferte sich Pilea und zog aus einer kleinen Box aus dem Schrank ein kleines Fläschchen hervor, indem bis oben hin Pillen lagen. In der anderen Hand hielt sie ein kleines Päckchen. Als sie beides auf den Nachttisch stellte, trat Dorothea näher, um diese Dinge zu begutachten. Pilea lächelte und begann zu erklären: „Eine Pille pro Woche und dein Haar ist pechschwarz – ich habe es selbst ausprobiert. Ah, und das hier sind so genannte Augenlinsen.“ „Augenlinsen, was bitte ist das?!“, antwortete Dorothea skeptisch. „Na, schau doch her!“, rief Pilea und öffnete das Päckchen. Auf dem Innenfutter lagen runde aus Glas gemachte Linsen, wie sie für Lupen verwendet wurden. Sie waren nur viel kleiner. „Was soll ich damit?“, fragte Dorothea und schaute das Glas an. „Dummerchen, die steckst du dir ins Auge! Du schiebst sie dir über den farbigen Teil und der ändert die Farbe – sofort und das, bis du sie wieder entfernst! Toll, nicht?“, meinte Pilea und lächelte. „Wie jetzt?“ „Na, so!“, rief ihre Tante aus und demonstrierte mit einem Glasplättchen, was sie meinte. Weil es rundherum blau war, veränderte sich die Farbe von Pileas Auge sofort. Diese nahm die Linse daraufhin wieder heraus und hatte wieder ihre normale Augenfarbe. „Völlig ungefährlich!“, flötete sie. Dorothea war überrascht. Dass so etwas möglich war, hätte sie nie gedacht! Aber mit Magie gestalteten sich viele Dinge einfacher, als man dachte. Während ihre Tante also ihre Kleidung in einem riesigen Beutel verstaute, die Pillendose ebenfalls hineinlegte und die anderen Sachen dazugab, wandte sich das junge Mädchen seinem Spiegelbild zu. Mit den Geräuschen einer aufgeregten Frau im Hintergrund, übte sich Dorothea am Einsetzen der Linsen. Es war zunächst unangenehm und sie tatschte sich ein paar Mal ungewollt ins Auge, doch schon bald schaffte sie es ohne Probleme, die Linsen hinein und wieder hinaus zu nehmen. Obwohl ihre Augen anfangs immer tränten, konnte sie nach längerer Zeit des Wartens wieder klar sehen. Auch das Glas verminderte nicht ihre Sehfähigkeit – das war eindeutig Magie! Das musste unglaublich teuer gewesen sein! Woher hatte Pilea diese Linsen?! „Und die Haare sollen wirklich ab?“, versicherte sich ihre Tante von hinten. Dorothea nickte und schaute durch den Spiegel zu Pilea. Die Frau betrachtete bemitleidend ihre Locken, schien jedoch nicht lange zögern zu wollen und zückte eine Schere. Strähne für Strähne fiel das apfelrote Haar zu Boden und bildete dort eine herbstlich aussehende Fläche. Nie im Leben hätte Dorothea gedacht, dass ihr einmal als Frau die Scham zugestanden werden musste, kurze Haare zu haben. Sie war doch keine Verbrecherin, der man den Kopf kahl rasierte! Oh, wie schlimm, wie schlimm! „So schlimm sieht es gar nicht aus“, versuchte ihre Tante sie aufzumuntern, doch sie redete eindeutig an einem Kloß im Hals vorbei, sodass sie wenig glaubwürdig klang. Dorothea lächelte schon etwas befreiter. Mit kurzen Haaren konnte sie jetzt nicht mehr zurück – der Rückzug war ausgeschlossen. „Hier, nimm eine Pille“, sagte Pilea und reichte ihr ein kleines weißes Kügelchen und ein Glas Wasser. Dorothea schluckte sie schnell hinunter und starrte sich an. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten und das wenige Haar, was sie jetzt noch auf dem Kopf hatte, wurde schwarz – Magie! Mit den blauen Augenlinsen und dem schwarzen Haar sah sie nun wirklich ganz anders aus. „Ich habe alles eingepackt, wenn du Hilfe brauchst, kontaktiere mich per Brief. Ich komme sofort – deine Vorräte frische ich einmal im Monat auf. Ich schicke dir ein Paket, ja?“, meinte ihre Tante und lächelte traurig durch den Spiegel zu Dorothea. Pilea hasste Abschiede. „Hm! Mach dir keine Sorgen, ich renne um mein Leben, wenn’s eng wird!“, versuchte sie ihre Tante zu trösten. „Tu das! Also … Ich habe ein paar Freundinnen um Hilfe gebeten, sie werden sich um dich kümmern. Eine Heilpriesterin auf der Krankenstation, ihr Name ist Emma. Lisa ist eine der Wasserdamen, sie wird dich ansprechen, sobald ich ihr erklärt habe, wie du aussiehst. Maria ist eine Nonne im Hohen Tempel, glaub mir, sie wird sich um deine Sorgen kümmern. Die Drei haben auch noch andere gute Verbindungen, die dir aus der Klemme helfen können, sollte es einmal eng werden. Aber ich bin immer hier für dich, wenn es also nicht mehr geht, komm zurück, ja?“, erklärte ihr Pilea und sie nickte beflissentlich. „Ah! Bevor du gehst … Hier! Zieh anstatt deiner alten Kleidung das hier an.“ „Aber das ist so neu!“, beschwerte sich Dorothea und starrte ihre Tante an. Doch die nickte nur und lächelte ermutigend. „Mach nur, mach nur. Je besser du aussiehst, desto weniger Probleme wirst du haben. Reiche Leute können manchmal echt anstrengend sein – der Großteil der jungen Burschen in der Drachenreiterausbildung gehört nun einmal dem reichen Volk an, also musst du dich schon ein wenig zurecht machen, nicht wahr?“ Dorothea druckste noch etwas herum, tat dann aber, was man ihr riet und zog sich aus. Ihre alte Kleidung landete auf dem Boden. Mit diesen Kleidern hatte sie eine ziemlich lange Zeit verbracht – ein paar Jahre und Monate und Tage und Stunden … Nein. Das machte jetzt nichts mehr aus. Sie ließ schließlich ihr Leben hinter sich, da durfte sie alten Dingen nicht hinterhertrauern. „Was ist das?!“, fragte ihre Tante plötzlich und Dorothea schaute zu ihr hinüber. „Was ist was?“ „Na, das! Da, auf deinem Bauch! Bist du hingefallen?“ „Nein, wieso?“, erwiderte Dorothea und sah an sich hinab. Und da tatsächlich! Um ihren Bauchnabel herum hatte sich ein verschwommener Schatten gebildet. Es sah aus, wie ein fast verblasster Blauer Fleck. Nur dass, verblasste Blaue Flecken normalerweise gelb-grünlich waren. Dieser hier war jedoch schwarz – oder grau. „Hm“, meinte ihre Tante, schien jedoch nicht erstaunt oder überrascht oder entsetzt. Es war lediglich eine Feststellung gewesen, die von ihr geäußert worden war. Mit einem genaueren Blick auf das kreisrunde Gebilde schnalzte sie anerkennend. „Meine Liebe!“ „Was denn?“, maulte Dorothea und schaute in den mannshohen Spiegel. Kreisrund und schwarz zeichnete sich der Fleck um ihren Bauchnabel herum ab. Es wurde mit jeder Sekunde deutlicherer – ein Symbol! „Bin ich verflucht?!“, fragte sie panisch und rubbelte an ihrer Haut in der Hoffnung, dass es doch nur Schmutz war. Doch es ging nicht ab und sie seufzte, als lediglich ihre Haut rot anlief. „Quatsch! Verflucht sagst du?! Andere in diesem Viertel würden von großer Ehre reden, Schätzchen!“ „Wie bitte?“ „Das ist ein Mal.“ „Ein Mal?“, erwiderte Dorothea bloß und starrte auf das Symbol, das sich nun klar und deutlich mit einer tiefschwarzen Färbung abzeichnete. Um den Bauchnabel herum war eine Kreislinie gezogen und ungefähr drei fingerbreit darum herum, die zweite. Dazwischen befanden sich äußerst symmetrische Schnörkel und Schriftzeichen der Magie – wenigstens das konnte Dorothea verstehen. Magische Schriftzeichen muteten wie ein verworrenes Spiel von Punkten, Kreisen und Wellenlinien an. Alle Zauberformeln waren darin aufgeschrieben, sonst verloren ihre Worte an Kraft. „Ein Drachenreitermal“, stimmte ihre Tante zu und lächelte. Dorothea runzelte die Stirn. „Lach nicht! Was ist das?!“ „Hm, wie soll ich das erklären? Pass auf: Der Legende nach gab es auf der Welt vor langer Zeit keine Drachenreiter wegen eines schrecklichen Kriegs zwischen Menschen und Drachen. Als der Krieg zu seinem Höhepunkt kam, verbündeten sich ein Mensch und ein Drache zu einem Paar, um dem Ganzen ein Ende zu setzen. Das magische Band des Drachen riss den jungen Mann an sich und ließ ihm kaum Spielraum – seine bis dahin große Liebe verwelkte, ohne je erblühen zu dürfen. Als der Drache das sah und durch den Bund die Trauer des Mannes spürte, rief er die große Mutter der Erde, die Göttin Ismira, um Hilfe an. Es heißt, sie erschien und erfüllte der beiden Wunsch: Ein unzertrennbarer Bund zwischen ihnen, doch die Möglichkeit einer Liebe außerhalb. Der Drachenreiter konnte sich fortpflanzen und man dankte seinem Drachen von ganzem Herzen. Die anderen Drachen wurden neidisch und wünschten sich auch bald den Respekt der Menschen. Sie entschlossen sich ebenfalls, Menschen als ihre Mitstreiter zuzulassen. So kam es zu der Entstehung der Drachenreiter.“ „Was hat das mit diesem Mal zu tun?“, murrte Dorothea, die den Sinn der Geschichte nicht verstanden hatte. Pilea lächelte und schaute an die Decke, bevor sie weitersprach: „Drachenreiter erhalten als Form ihres Bundes zu ihrem Drachen ein leuchtend helles Mal auf ihrer Stirn, dass nur zu sehen ist, wenn diese es wünschen. Auf ihren Rücken jedoch, über die Schulterblätter und weiter hinab, erscheinen nach vollendeter Ausbildung und Aufstieg in den Drachenreiterstand zwei Drachenschwingen. Eben ein solches Mal wie das deinige.“ „Hä? Was hat das jetzt mit mir zu tun?“, empörte sich Dorothea, doch Pilea lächelte weiter. Sie schaute liebevoll zu Dorothea hinab und sagte: „Rate mal! Die Antwort liegt in der Geschichte von eben!“ „Bitte?!“, rief Dorothea aus und schaute ihre Tante mürrisch an. Innerlich jedoch überlegte sie. Wo war die Antwort? Drachenreiter erhielten ein Mal für den Bund zu ihren Drachen und ein Mal für den Bund zu ihrer Aufgabe – was also hatte das mit ihrem Mal zu tun? Moment! Mal, das war ein Mal! Pilea meinte, es sei ein Drachenreitermal. Wie konnte Dorothea an ein Solches herankommen, ohne selbst einer zu sein?! Pilea sah das Erkennen in ihren Augen aufblitzen und nickte. „Ich glaube, du verstehst, was ich meine!“ „Du meinst also … Dieses Mal ist Zeichen für meinen Bund zu dem Drachenreiter?!“ „Genau!“ „Bist du sicher?“, fragte Dorothea aufgeregt und strich über das Symbol auf ihrem Bauch. Das war fast wie eine Markierung! Sie gehörte diesem Drachenreiter! Das klang irgendwie nach Markierungsverhalten von Tieren, die ihr Territorium absteckten. Diese Auslegung hätte ihr nicht gefallen dürfen, doch allein der Gedanke, nun zu diesem Drachenreiter zu gehören, hob sie über alle Sphären hinweg in den Siebten Himmel. „Glaube mir, ich habe Ahnung, was das angeht“, antwortete Pilea bloß geheimnisvoll. „Hat er auch so ein Zeichen von mir?“ „Nein.“ „Warum denn nicht?“, maulte Dorothea zurück. „Weil du kein Drachenreiter bist, Schätzchen! Nur Drachenreiter haben die Möglichkeit einen magischen Bund mit ihren Partnern einzugehen, weil Ismira es ihnen erlaubt hat – anderenfalls wäre die Anziehung der Drachen zu stark für die Menschen und sie wären nicht in der Lage, Personen der gleichen Rasse zu lieben.“ „Das heißt also, er hat mich markiert, weil er ein Drachenreiter ist. Mehr hat das Mal nicht zu bedeuten?! Er könnte herumlaufen und jeder Lustdame seine Markierung auferlegen, bloß weil er ein Drachenreiter ist?!“, antwortete Dorothea enttäuscht. „Rede doch keinen Unsinn, Kind!“, wies Pilea sie zurecht. „Was ist denn daran so falsch?!“ „Ich hab’s dir doch gerade erklärt: Drachenreiter sind nicht in der Lage, einen magischen Bund mit einem Partner einzugehen, wenn sie diesen nicht lieben.“ „Was soll das heißen?“ „Ach, Dorothea! Denk doch mal nach! Kein magisches Zeichen würde erscheinen, wenn du nicht in einem magischen Bund mit einem Drachenreiter wärst. Das Mal ist das Symbol für diesen magischen Bund. Der magische Bund wird aber nur ausgelöst, wenn der Mann dich liebt. Keine Lustdame würde nach einer Nacht ein solches Zeichen erhalten. Drachenreitergefühle auszulösen gilt als die höchste Auszeichnung einer Frau, die es gibt! Schau dich bloß an, mein Mädchen! Andere Frauen würden jetzt vor Freude an die Decke springen! Das Zeichen ist der beste Liebesbeweis, den du von einem Mann bekommen kannst – ‚Ich liebe dich!‘ ist schnell gesagt. Das Zeichen zu produzieren, ist unmöglich, wenn es nicht der Wahrheit entspricht. Dorothea, dein Drachenreitergeneral liebt dich von ganzem Herzen.“ Dorothea schluckte und schaute an sich hinab. Der schwarze Kreis stach klar und deutlich hervor, wie eine Warnung an alle anderen Männer. Ein Zeichen, dass die dazugehörige Frau vergeben war. Das ‚Ich liebe dich‘ eines Drachenreitergenerals um ihren Bauch zu tragen, war schöner, als seine geflüsterten Worte in dieser einen Nacht. Tränen rannen ihr hinab – Freudentränen natürlich. „Oh“, meinte die sprachlose Dorothea bloß und Pilea klopfte ihr auf die Schulter. „Ja, oh! Aber genauso, wie es ein Liebesbeweis ist, kann es dir auch zeigen, wie du im Herzen desjenigen stehst, der dir das Mal auferlegt hat. Je schwärzer und stärker das Mal, desto größer seine Liebe zu dir. Wenn es grau wird und verblasst, dann hört seine Liebe auf, zu existieren. Wenn du ihn heiraten willst, versuche immer, das Symbol auf tiefschwarz zu halten.“ Dorothea nickte bloß, überwältigt von dem Erfahrenen. Das enthüllte Geheimnis um dieses Mal gab ihr den letzten Schubs. Nun wollte sie ihren Drachenreitergeneral endlich wiedersehen! Nichts würde sie davon abhalten, wie die Frauen in Pileas Geschichten! Sie hatte ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden – als kleines Kind hatte sie dies in sich selbst gefunden, nun, als fast erwachsene Frau, fand sie ihre Unterstützung in ihm. Diese Veränderung zeigte ihr, dass sie anders war, aber sich selbst nicht aufgegeben hatte. „Geh zu ihm, kleine Doro. Schau wie schön es ist! Seine Liebe zu dir ist so stark! Wie kannst du da einen Fehler machen? Geh schon!“, ermutigte Pilea sie lächelnd. Dorothea grinste zurück und schaute wieder in den Spiegel. Langsam, noch immer verträumt, nahm sie die neue Männerkleidung zur Hand, band sich die Brust ab und zog die Hose an. Gerade wollte sie das Hemd überziehen, da begann das Mal zu prickeln. Es war kein unangenehmes Gefühl, aber dennoch machte ihr das Angst. „Es prickelt, das Mal, meine ich“, sagte sie zu ihrer Tante. Pilea lachte und antwortete: „Ich sagte doch: Es ist ein magischer Bund! Er denkt an dich. Je stärker er an dich denkt, desto stärker wird das Prickeln. Deine Haut wird ganz heiß und kribbelig, wenn … Na ja, wenn halt.“ Dorothea legte ihre Hand über das Zeichen und unterdrückte wieder ihre Tränen, bevor sie hervorwürgte: „Bin ich froh, dass du so viel über die Drachenreiter weißt! Ich hätte mich für schwanger gehalten, hätte das Gefühl angehalten. Es ist angenehm!“ „Schwanger?!“, schnaubte Pilea und winkte ab, sagte dann jedoch: „Du merkst, wenn du von einem Drachenreiter schwanger bist, glaub mir. Angeblich entziehen dir die Kinder eines magiebegabten Mannes die eigene Energie. Deshalb sind die Frauen der Drachenritter auch immer so schläfrig und schlaff während ihrer Schwangerschaft.“ „Echt? Oh, ist es wirklich so schlimm?“ „Das ist doch nicht schlimm! Je mehr du schläfst, desto besser! Außerdem hast du ja dann einen Mann, der für dich sorgt! Aber schwanger bist du nicht, so aktiv wie du bist! Na ja, man bringt den guten Herren übrigens eine magische Formel bei, die verhindert, dass bei einer Verbindung eine ungewollte Schwangerschaft entsteht.“ „Gut, ich dachte, ich muss mir Sorgen machen!“ „Nicht wirklich. Zumindest nicht, wenn der Drachenreiter ein fähiger Magier ist und deiner war das ganz sicher – General der Sturmjägergarde von Saitan. Er muss gut sein!“, versicherte Pilea ihr und Dorothea lächelte. Ihre Tante wurde nachdenklich und meinte plötzlich: „Bist du sicher, dass die anderen ihn nur ‚General‘ nannten?“ „Ja, sehr sicher“, erwiderte Dorothea verwirrt. „Das ist seltsam. Normalerweise hat der zweithöchste Drachenreiter einen anderen Titel.“ „Wie meinst du das?“ „Der höchste General ist der Großgeneral – er herrscht über alle Drachenreiter: Die Kriegsgarden, die anderen Drachenreitergarden für Transport, Botschaften und so weiter und über den Ältestenrat. Als Nächster kommt dann der Lordgeneral. Er ist der Anführer aller Kriegsgarden und Mitglied des Ältestenrats. Der Ältestenrat setzt sich aus allen Anführern der Gardenbereiche zusammen: Krieg, Transport und so weiter. Verstehst du?“ „Ja. Also hätte mein General eigentlich ein Lordgeneral sein müssen?“, fragte Dorothea. „Vom Ding her, ja … Vielleicht wird der Titel aber gerade von einem anderen getragen.“ „Wie das?“ „Wenn ein Drachenreiter versetzt wird, hat er das Anrecht auf eine Position, die ihm würdig ist. Wahrscheinlich hat sich der ehemalige Lordgeneral über die Versetzung beschwert und durfte seinen Titel behalten – so läuft das nun einmal in der Politik. Dumme Waschweiberei!“, meinte Pilea abwinkend, lächelte dann aber wieder und sagte: „Komm, mach dich auf! Geh zu deinem Drachenreitergeneral! Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich für dich freue!“ „Ich danke dir, Pilea-sitoka“, antwortete Dorothea und neigte den Kopf. Sie zog sich zu Ende an, nahm den großen Reisebeutel und verließ das Zimmer ihrer Tante. Pilea folgte ihr und sagte: „Ich bringe dich bis zum Tor. Sollte noch etwas fehlen, sag mir Bescheid.“ Dorothea nickte und schritt stillschweigend neben ihrer Tante zur Stadtmauer des Sperrbezirks her. Innerlich bereitete sie sich auf die Zeit vor, die nun vor ihr lag. Ihre Angst wurde bald jedoch von freudiger Erwartung verdrängt. Bald sah sie ihn wieder! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)