Stairway to Heaven von Ling-Chang ================================================================================ Kapitel 12: Inauguration ------------------------ Die Einweisungswoche in der Akademie war die reinste Hölle gewesen. Hölle mit Großbuchstaben, dick und doppelt unterstrichen. Hölle mit H, Ö, L, L und E. Das war das erste Wort, das Dorothea perfekt zu schreiben beherrschte, seit sie mit dem Unterricht in der Amtssprache begonnen hatte. Kein Wunder. Die meisten Lehrer waren ihr nicht unbedingt sehr freundlich gegenüber getreten, da es sich inzwischen herumgesprochen hatte, dass Lorian-shiarmagistar ihr das Eintrittsticket in die Drachenreiterakademie mit einem Spiel überlassen hatte. Wahrscheinlich fühlte sich der Großteil der Drachenreiter in der Ehre gekränkt. Dorothea seufzte und erinnerte sich unwillig an die letzten sieben Tage ihres neuen Lebens. Das Fach „Amtssprache“ war ihr noch mit am leichtesten gefallen. Dank ihres Drachenreitergenerals hatte sie die Amtssprache und deren Grammatik bereits verstanden, bevor der Unterricht überhaupt begonnen hatte. Glücklicherweise hatte er ihr auch das Schreiben beigebracht, anderenfalls wäre auch dieses Schulfach eine Qual gewesen. Obwohl Pinar, so hieß der barsche Lehrer, dessen Namen sie ständig vergaß, sich nicht häufig gütig gegenüber Anfängern zeigte, musste er doch zugeben, dass sie schnell gelernt hatte: Ihre Schrift sah nun beinahe normal aus und Texte abschreiben und verstehen gelang ihr jetzt auch in den meisten Fällen. Das reichte, um diesen Mann mit ihr zufrieden zu stellen – logisch, er hatte nicht viel mehr von ihr erwartet. Ganz im Gegensatz dazu stand der Gelehrte, der ihr rechnen beibringen sollte. Anfangs schien er beeindruckt von ihrer schnellen Rechengabe hinsichtlich Addieren und Subtrahieren – so nannten Gelehrte das einfache Plus- und Minusrechnen. Doch je mehr Aufgaben er ihr im Bereich des Dividierens und Multiplizierens stellte, desto eher wurde er enttäuscht. Sein enttäuschter Gesichtsausdruck hatte Dorothea immer einen Stich versetzt, doch sie konnte nichts dagegen unternehmen: Wenn man vier Äpfel hatte und zwei Personen sie untereinander aufteilen wollten, dann musste man Vier-Durch-Zwei rechnen. Das war ihr klar. Aber im praktischen Leben rechnete man doch nicht erst aus, wie viele Äpfel jedem zustehen würden – man nahm sie sich einfach und wer mehr Hunger hatte, bekam mehr und wer weniger wollte, überließ einen Teil halt dem anderen. So etwas nannten Landbewohner gerecht! Nach dieser deprimierenden Ausbeute musste sie sich auch mit den Gesellschaftsregeln plagen. Ein Jungspund hatte die Arbeit als ihr Lehrer übernommen und war mit viel Elan an sie herangetreten – irgendwie hatte er sie ziemlich schnell mit seiner faszinierenden Art angesteckt. Seine Liebe zur Etikette wirkte sich jedoch nicht sehr positiv auf den Unterricht aus: Mit einer ungeahnten Strenge bestrafte er Haltungsfehler beim Gehen oder Stehen, Schrittfehler bei Gesellschaftstänzen und ihre Tischmanieren brachten ihn fast um. Immerhin erreichte er, dass Dorothea sich spielerisch einfach die Gesellschaftsregeln einprägte und innerhalb einer Woche für deren Umsetzung in ihrem Alltag gelobt wurde. Wenigstens etwas … Dann waren da noch die Unterrichtsstunden über Moral. Sie waren genauso langweilig, wie der Name sagte. Ein paar Mal war sie sogar eingeschlafen, während ein Gelehrter ihr einen Vortrag über Kriegermoral hielt. Die Antworten auf dessen Fragen konnte man sich denken. Im Endeffekt war die Belegung dieses Fachs reine Zeitverschwendung gewesen. Die Priesterlehre brach in überwältigender Dunkelheit über ihr zusammen – auf dem Land nahm man diese ganze Ich-verehre-Ismira-Religion nicht ganz so ernst, doch hier in der Stadt galt das als größter Frevel, den es gab. Kein Wunder also, dass sie absolut gar keine Ahnung von irgendwelchen Legenden hatte! Der Priester, der sich netterweise bereit erklärt hatte, ihr zu helfen, wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als sie auf seine Frage („Du glaubst doch sicherlich auch an Ismira?“) geantwortet hatte: „Als ob hier irgendwo eine Göttin mit überwältigender Schönheit herumschwirren würde und gute Taten vollbringt – dafür gibt’s zu viel Leid auf der Welt. Ismira ist doch bloß die Personifizierung der menschlichen Hoffnung auf eine bessere Zeit.“ Dorothea stöhnte über ihre eigene Dummheit. Hätte sie doch bloß den Mund gehalten! Nun wussten alle Bewohner des Regierungsviertels, dass sie ungebildet und noch dazu ungläubig war! Die kühlen Blicke, mit denen man sie bedacht hatte, hatten sich schon ziemlich bald entmutigend auf sie ausgewirkt und sie wünschte sich bereits, wieder nach Hause zu gehen. „Hätte ich auf den Wächter hören sollen?“, zweifelte sie weiter und wollte sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr klemmen, nur um mitten in der Bewegung inne zu halten, weil dort kein Haar mehr war. Das versetzte ihr einen Stich. Ihr Drachenreitergeneral hatte ihr Haar so sehr geliebt und was tat sie? Bei der ersten Gelegenheit ließ sie sich scheren wie ein Schaf! Es war Sonntagmorgen und die Sonne schien wärmend auf die Akademie hinab – erst gestern war es hier wieder richtig geschäftig geworden, als alle Novizen aus dem Familienurlaub zurückgekehrt waren. Zu allem Überfluss waren auch ihre neuen Kameraden darunter gewesen. Jeder Jahrgang wohnte in den Novizenunterkünften auf einer Etage, sodass immer ein Stockwerk für eine Novizengarde reserviert war. So hatte Dorothea im Verlauf des Vortags schon einen Blick auf die neuen Gesichter werfen können. Ausnahmslos alle waren adeliger Herkunft: Einige trugen noch protzige Kleider, während andere bereits die Novizenuniform angezogen hatten, um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Dennoch strahlten sie alle eine gewisse Erhabenheit aus, die sie über jegliche niedere Klasse hinweghob. Und es waren alles Tratschtanten. Von dem Moment an, an dem die jungen Männer realisiert hatten, wer sie war, wurde heftig hinter ihrem Rücken geflüstert und mit großer Wahrscheinlichkeit auch gelästert. Das war nichts Neues für sie. Mit langsamen, bleischweren Schritten schleppte sich Dorothea nach dem Glockenschlag, der das Ende des Frühstücks verkündete, in Richtung des großen Audienzsaals der Drachenreiterakademie zur Einweihungszeremonie. Inzwischen kannte sie die Karte des Regierungsviertels insofern auswendig, als sie sich im Tempel grob und in der Akademie sehr gut zurechtfand. Den Palast hatte sie nie betreten und auch keinerlei Informationen darüber erhalten – im Grunde wusste sie nur, dass der Thronsaal der einzige Raum war, den sie in ihrem Leben betreten würde. Wenn überhaupt. Der breiten Masse folgend schlurfte sie unwillig in die Vorhalle, an die sich der Audienzsaal anschloss. Die Bewohner des Viertels strömten bereits auf ihre Plätze im Saal, während die Neulinge vor den großen Holztorflügeln stehen blieben. Sie schlich sich von hinten an die Gruppe und versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Es klappte recht gut. Keiner kümmerte sich um sie. Nur langsam wanderte der große Zeiger der Uhr über dem Eingang zum Audienzsaal zur Zwölf hinauf. Um fünf Minuten vor Acht trat im Saal Stille ein. Die Novizen zitterten nervös und versuchten, ihre Uniform zu Recht zu rücken, um ehrwürdigerer auszusehen. Unter den Novizen befanden sich zwei Gruppen: Die mit den schlammig-braunen Uniformen gehörten eindeutig zur Drachenreiterakademie, die mit den weißen Tuniken zum Tempel. Zwei Gelehrte traten an sie heran: Lorian-shiarmagistar wandte sich mit einem schelmischen Lächeln den Drachenreiternovizen zu, während sein Kollege, Seran-sorarmagistar, sich mit einem ernsten Gesicht zu den Tempelnovizen drehte. Unter den neugierigen Blicken erkannte Dorothea den Jungen, der ihr seine Drachenreiterausbildung überlassen hatte und Priester werden wollte. Wie hieß er noch gleich? Klarn oder so. Der junge Mann bemerkte sie und zwinkerte kurz – sie lächelte schwach. „Novizen, eure Zeit ist gekommen! Betretet diese Halle, schwört den Eid und werdet Teil einer Welt, die fantastischere Abenteuer bietet als das ewige Kinderspiel der jungen Adeligen, die versuchen, einer Frau unter den Rock zu schauen.“ Die Novizen lachten teilweise laut los und Lorian fing sich einen bösen Blick von seinem Kollegen, was logisch war. Nach allem, was man wusste, würden die zukünftigen Priester ja im Zölibat leben. Was für ein Pech! Dennoch lachten auch diese. „Wenn man euch aufruft, antwortet mit ‘Ja, ich schwöre.‘ und ihr seid Teil unserer Gemeinschaft. Ihr könnt euch auch noch in letzter Sekunde umentscheiden und hinauslaufen, das bleibt aber euch überlassen.“ Wieder Lachen. Dorothea wusste, dass hinter diesem Satz mehr stand. Lorians Augen waren ernst, während sein Mund nur belustigt zuckte. Das war eine Warnung gewesen, die keiner ernst genommen hatte. Sie schluckte. „Folgt mir in Reih‘ und Glied genauso, wie ich euch aufrufe“, sagte Lorian dann und begann, die jungen Männer aufzurufen. Diese stellten sich ordentlich hin – die Aufstellung ging nach Familiennamen, daher befand sich Dorothea ziemlich in der Mitte der Drachenreiternovizen. Die Jungs neben ihr verzogen angewidert das Gesicht, sagten aber nichts weiter. Besser so. Der Tempelstudienleiter tat es Lorian gleich und formte aus seinen Novizen ebenfalls eine Schlange – Klarn war relativ weit vorne, daher konnte sie nicht noch einmal einen Blick austauschen. Dann erfolgte der Einmarsch in den Audienzsaal, den Dorothea für ein gewaltiges Erlebnis hielt und wahrscheinlich für immer im Gedächtnis behalten würde. Der Saal war riesig und an den Wänden befanden sich in ansteigender Höhe Ränge mit unzählbaren Stuhlreihen. Ganz weit oben waren Fenster, durch die jedoch nur wenig Licht und Luft in den Raum gelangte, daher verwendete man eine beträchtliche Menge an Fackeln, um den Saal zu erleuchten. Die Atmosphäre war schwer aber nicht bedrückend. Feierlich war vielleicht der richtige Ausdruck dafür. Gegenüber der Flügeltür, am anderen Ende des Saals, hing Ismiras Symbol: Die heilige Rosette. Darunter waren ebenfalls in Stufen Sitzreihen. Dort saßen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Höhergestellten: Priester, Drachenreiter, Adelige von Rang und die Königsfamilie. Alle Plätze waren restlos belegt. Dorothea starrte wie die anderen Novizen die Zuschauerränge hinauf und hinab, nicht um ihre Familie zu suchen, sondern um ein Zeichen von ihrem General zu sehen. Als General und im inoffiziellen Sinne ‘Lordgeneral der Armee‘ müsste er eigentlich auf den höheren Rängen sitzen. Sie schaute also nach vorne und versuchte, zu erkennen, ob dort irgendwo ein ihr bekanntes Gesicht hervorstach. Doch das Oval des Audienzsaals war so groß, dass sie nicht gut sehen konnte, da fast alle Zuschauer im Halbdunkel saßen. Sie erreichten das Ende des von Zuschauerrängen gesäumten Ganges und Dorothea erkannte, dass dieser Weg zu einem Platz führte, auf dem in der Mitte ein Podium stand. Selbst wenn dort jemand stehen würde, würde die erste Reihe der höheren Ränge ihn überragen, sodass man von dort alles überblicken konnte. Dorothea erkannte, dass in einer extra Loge ganz oben die Königsfamilie untergebracht war: Sie sah den massigen Schatten des Königs, dessen Krone von einer flackernden Fackel ab und zu erhellt wurde. Daneben musste sich seine Frau befinden, denn die Andeutung eines gewaltigen Schleiers war keinem anderen zu zuschreiben. Die Prinzen fand sie nicht. Man wies den Novizenschlangen, am Ende des Gangs stehen zu bleiben, sodass niemand außer den beiden Studienleitern den Platz betrat. Lorian und Seran erklommen das Podium und wandten sich von ihren neuen Novizen ab. Dann knieten sie nieder, küssten ihre rechte Hand, ballten diese zur Faust und legten sie auf ihr Herz. Sie verneigten sich vor dem König. Einige Sekunden später erhoben sie sich, nur um eine ähnliche Verbeugung zu machen: Ismiras Ehrerbietung. Erst dann neigten sie gefasst ihre Köpfe vor den höheren Herren. Je niedriger diese auf den Rängen saßen, desto eher erwiderten sie diese Geste. Lorian bedeutete den Novizen, es ihnen gleichzutun: „Neigt das Haupt vor der strahlenden Macht der Oberhäupter dieses Landes! Heil ihnen, die wir die Höheren nennen! Neyantear, Neyantea, Neyanmonar, Neyanmonar, Miyankerear, Miyankerear, Soireyliar, Ruireyliar, Ireyliar, Imireyliar, Sorar!“ Plötzlich fielen alle neuen Novizen auf ihre Knie und legten ihre Hände flach auf den Boden, bevor sie die Stirn auf den kalten Stein legten. Die vollkommene Unterwerfung! Dorothea brodelte innerlich, tat es den anderen aber schnell genug nach, um nicht aufzufallen. Und diese Aufzählung an Titeln! Shiarireyliar kannte sie. So hatten die anderen ihren Drachenreitergeneral angesprochen, aber den Rest … Könnte sie sich doch bloß daran erinnern! Sie war leider viel zu nervös. Lorian unterbrach ihre Gedanken und sagte: „Erhebt euch! Hiermit beginnen wir die Einweihungszeremonie. Seran-sorarmagistar segnet heute zwölf Novizen, ich, Lorian-shiarmagistar, segne heute zweiunddreißig Novizen. Begrüßen wir unsere neuen Mitglieder der Gemeinschaft!“ Applaus brandete auf, aber nur von den Zuschauerrängen. Die höheren Ränge blieben still, keine Regung verriet die Gedanken der Höheren. Dorothea erhob sich mit den anderen Novizen und schaute die höheren Ränge an. Ireyliar war gesagt worden. Also mussten dort auch einfache Generäle sitzen! Mit zusammengekniffenen Augen tastete sie Zentimeter für Zentimeter die Plätze ab, während Seran zu sprechen begann: „Wendet euren Novizen das Gesicht zu!“ Alle drehten sich zur Seite, um den jeweils anderen Novizen ins Angesicht zu blicken. Die beiden Schlangen standen jeweils an einer Seite des mittleren Gangs – Dorothea verlor ihre Chance, nach ihrem Geliebten zu suchen. „Das sind von nun an eure Mitschüler. Ihr gehört verschiedenen Disziplinen an, doch ihr seid vom selben Jahr! Ihr wohnt im selben Stockwerk in den Novizenunterkünften, esst das gleiche Essen und lernt den gleichen Stoff. Ihr seid Novizen – als solche sollt ihr euch verhalten! Werdet eine Gemeinschaft, die nicht auf Status beruht, sondern auf Freundschaft und Respekt!“ Applaus brandete auf und die Novizen neigten den Kopf, um ihr Einverständnis anzudeuten. Seran sprach weiter: „Euer Ziel in dieser Akademie ist die Erlangung von Wissen und vielleicht für einige Weisheit. Euer Ziel in dieser Akademie ist die Überschreitung der Grenzen, die euch Körper und Geist auferlegen. Euer Ziel in dieser Akademie ist das Beschützen des Wohls der Allgemeinheit.“ Applaus. „Novizen! Einige von euch, werden vor Beendigung eines Monats aus der Ausbildung ausscheiden, weil sie verstehen, dass vieles außerhalb des eigenen Machtbereichs steht. Andere von euch sind vielleicht klug genug, um diese Ausbildung zu überstehen. Es mag sogar sein, dass es unter euch ein Wunderkind gibt, das sich durch das Leben hier durchbeißt, obwohl es alles hier schwer hat, um im Nachhinein als gefeierter Gelehrter ins Leben zurückzugehen. Aber behaltet dabei immer Folgendes in eurem Herzen: ‘Können ist das Ergebnis von harter Arbeit und Talent gemischt mit Willenskraft.‘. Wer eines davon nicht besitzt, sollte sich schleunigst nach einer neuen Beschäftigung umsehen.“ Kein Applaus. Totenstille. Die Novizen starrten entsetzt zu Seran-sorarmagistar auf. Lorian neben ihm grinste aus vollem Herzen, bevor er das Sprechen übernahm: „So viel zur Vorgeschichte. Kommen wir zur Einweihung. Novizen! Ihr werdet vor den Höheren ein Gelübde ablegen, einen Schwur besiegeln und somit rechtlich in die jeweilige Disziplin aufgenommen werden. Die erste Phase der Ausbildung ist die A-Ausbildung – das Basiswissen und Basiskönnen steht hier im Vordergrund, egal welcher Disziplin ihr angehört. Erst in der B-Ausbildung werden allen von euch Mentoren zugesprochen – es gibt aber auch die Möglichkeit, bereits jetzt einen Mentor zu erhalten, doch diese Entscheidung liegt allein bei den jeweiligen Personen. Kommt nach vorne auf das Podium, um euch vor den Höheren einweihen zu lassen – ich rufe euch auf.“ Wieder ergriff Nervosität die Reihen der Novizen und man trat ängstlich von einem Fuß auf den anderen. Besonders die ersten Beiden waren plötzlich furchtbar blass. „Anderssohn Kuon – Tempelnovize. Adrianssohn Hem – Drachenreiternovize“, rief Lorian die beiden Namen auf und die zwei hasteten stolpernd ans Podium heran, wo sie stehen blieben. Erst segnete man Kuon, dafür musste er zwischen Seran und Lorian aufs Podium klettern und dort niederknien. Der Schwur und das Gelübde waren im Grunde nichts Atemberaubendes. Das Einzige, was man sagen musste, war: ‘Ja, ich schwöre.‘. Sobald der Novize sich aufgerichtet hatte, fragte der jeweilige Disziplinherr, ob man sich seiner annehmen würde. Doch keiner erklärte sich bereit, in der A-Ausbildung ein Novizenlord zu werden. Die Reihen wanderten immer weiter auf den Platz zu, während die Novizen aufrückten, weil die vorigen aufgerufen wurden. Die Eingeweihten stellten sich wieder hinten an ihre Schlange an. Irgendwann war auch Klarn an der Reihe, der vor Angst stolperte und hinfiel, sich jedoch aufraffte und dann tapfer die Zeremonie überstand. Dorotheas Knie wurden schwach und ihr Magen rumorte unheilvoll – das käme sicherlich gut an! Ganz vorne in der ersten Position auf den Aufruf mit einem Würgen zu antworten und sich vor allen versammelten Menschen zu übergeben. Die Reihe der Tempelnovizen war schon eine ganze Weile durch, als Dorothea die zweite Stelle erreichte. Kein Wunder: Es waren nur zwölf, während die Drachenreiternovizen zweiunddreißig umfassten! Der Junge vor ihr trug die Einweihung mit Fassung und stellte sich brav hinten an, nachdem ihn keiner als Novizen persönlich unterstützen wollte. Keiner hatte sich als Mentor gemeldet. Das allein war jedoch keine ungewöhnliche Sache. Ein Novizenlord sah seine Mentoren-Aufgabe im Allgemeinen als Qual und nervige Arbeit an. „Luiranssohn Alan“, rief Lorian sie auf und sein schelmisches Grinsen kehrte zurück – obwohl er zuvor noch ernst gewesen war, musste er jetzt grinsen und sie verunsichern! Ihre Knie zitterten, als sie sich den Rängen der Höheren wieder zuwandte und mit dem Blick auf das Podium und wackeligen Beinen unendlich langsam den Platz überquerte. Alle Aufmerksamkeit ruhte auf ihr und sie spürte die Neugierde und die Feindseligkeit, als man herausbekam, wer sie war. Murmeln durchlief die Ränge und selbst die Höheren richteten sich stellenweise auf. Innerlich verfluchte Dorothea Lorian. Hatte er andere Novizen vor ihr in ähnliche Situationen gebracht oder war sie die erste, die ihr Eintrittsticket per Glücksspiel gewonnen hatte? Langsam erklomm sie die Stufen des Podiums und stellte sich zwischen den beiden Studienleitern auf. Erst dann richtete sie den Blick von ihren Füßen auf die Ränge über sich. Alle starrten sie an – ausnahmslos alle. Sie holte tief Luft. Lorian faselte. Sie warf sich hastig auf den Steinboden. Seran faselte. Sie legte das Gelübde ab. Lorian sang. Seran sang. Ihre Augen richteten sich vom Boden auf die Höheren und suchten die nun deutlicheren Gesichter ab. Sie schwor. Man klatschte verhalten. Seran segnete sie. Lorian segnete sie. Sie erhob sich. Und fand ihn. „Möchte einer der Höheren der Mentor von Alan Luiranssohn werden?“ In der Reihe unter der königlichen Loge neben dem Großgeneral – nach dessen Thron zu schließen – saß der junge Drachenreitergeneral. Beinahe ganz oben. Ihre Tante hatte Recht gehabt! Er war ein verdammt hohes Tier! Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass keiner sich regte. Lorian grinste weiterhin schelmisch und sagte auf die nicht vorhandene Begeisterung schließlich nur: „Willkommen in der Gemeinschaft, Alan Luiranssohn.“ Dorothea schluckte und wandte sich ganz langsam ab in der Gewissheit, dass er sie beobachtete. Er hatte sie nicht erkannt. Wie auch? Sie verließ das Podium durchmaß den Platz und die wenigen Meter des Gangs bis zum Ende der Drachenreiternovizen und stellte sich an. Dann tat sie so, als würde die Einweihungszeremonie der anderen sie interessieren und schaute dorthin, obwohl ihre Augen auf seinem Gesicht ruhten. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch den anderen Novizen, wenn überhaupt. Er sah gelangweilt aus, falls Dorothea seinen starren, verschlossenen Gesichtsausdruck richtig deutete. Ihn hier zu sehen, rief in Dorothea eine alte Zweigespaltenheit hervor. Auf der einen Seite Enttäuschung und sogar ein bisschen Hass und auf der anderen Seite Liebe und Treue, sowie Freude und Stolz. Er sah prächtig aus in seinen feinen Hofkleidern. Sie schimmerten im Fackelschein grünlich und passten sich wunderbar seiner schlanken Körperform an. Die langen Haare hatte er im Nacken zusammengebunden. Obwohl er dadurch strenger wirkte, konnte Dorothea nicht anders, sie musste ihn einfach anschmachten. Irgendwie verabscheute sie ihn und sich selbst dafür. Vlaindar wusste nicht recht, warum seine Anwesenheit bei der Einweihungszeremonie der neuen Novizen so wichtig war. Am liebsten hätte er sich jedes Jahr davor gedrückt, doch Pflicht war nun einmal Pflicht und er erfüllte sie stets mit Perfektion. Seine edelsten Hofkleider hatte er hervorgeholt und sich zurechtgemacht wie ein feiner Herr. Obwohl er gerne allen Schmuck und jeden Stoff gegen seine Drachenreiteruniform ausgetauscht hätte, musste er sich für die lange Dauer dieser Zeremonie mit den zwickenden, ungemütlichen Kleidern des Adels herumschlagen. Es wurde nur noch schlimmer: Schön, dass es zweiunddreißig neue Novizen gab, die Drachenreiter werden wollten, schlecht, dass das die Zeremonie ungefähr eine Stunde in die Länge zog, wenn man die Tempelnovizen dazurechnete. Zu allem Überfluss war die Zeremonie natürlich nur für Betroffene spannend: Novizen und deren Familien. Kein anderer war gerne hier. Ruiyan zappelte bereits die ganze Zeit mit seinen eingeschlafenen Beinen umher, Palinor rutschte unruhig neben Vlaindar herum, um eine gemütlichere Sitzposition zu erlangen und er selbst langweilte sich zu Tode. Und das taten sie alle auf so ruhige, elegante Art und Weise, dass man es ihnen nicht ansah. Er würde sich später wieder mit begeisterten Adeligen beschäftigen müssen, die ihn ob seiner Disziplin bewundert anstarrten – wie würde er sie dieses Mal abwimmeln? ‘Von wegen Disziplin‘, schnaufte Hairima in seine Gedanken und er unterdrückte ein Schmunzeln. Die Reiter von grünen Drachen galten als diszipliniert, aufmerksam, selbstbeherrscht und gefasst. Manchmal stimmte das bei ihm jedoch nicht im Geringsten. Ein Raunen ging durch die Zuschauerränge und die Sitzreihen der Höheren, als ein schmächtiger junger Mann vortrat – Alan Luiranssohn. Das war der Novize, über den alle heimlich sprachen und der seine Zugangsbescheinigung durch ein Glücksspiel mit Lorian-shiarmagistar gewonnen hatte. Irgendwie fand Vlaindar das lustig. Das hatte er zwar nicht öffentlich gezeigt, doch der Rest seiner Garde hatte genug darüber gelacht, um das Fehlen seiner Belustigung zu verschmerzen. Der Junge schien genauso nervös wie die anderen auch, doch seine Augen wanderten ununterbrochen über die Ränge der Höheren. Geistig war er ebenfalls leicht abwesend, denn er antwortete immer mit einer kleinen Verzögerung – suchte er nach etwas oder jemandem? Vlaindar beugte sich leicht vor, um einen genaueren Blick auf den Jungen zu werfen, während dieser sich auf den Boden kauerte. Beinahe hätte die Dreistigkeit dieses Bengels seinen Sitznachbarn zum Lachen gebracht: Ruiyan hatte bemerkt, dass Alan alles andere als aufmerksam seiner Einweihung folgte und unter seinen Wimpern hervorlugend weiter Ausschau hielt. Ruiyan unterdrückte das Lachen, bebte jedoch leicht. Vlaindars Mundwinkel zuckten ob dieser Reaktion und er spürte, wie Palinor ihm einen Ellbogen in die Seite stieß. Die Drei schauten weiter zu dem Jungen hinab, der gerade seinen Segen von Lorian erhalten hatte und sich erhob. Vlaindar ließ sich ganz langsam zurücksinken und in dem Moment, in dem er seine Stuhllehne in seinem Rücken fühlte, begegnete der Blick des Jungen seinem. Sie hielten sich fest und Alan schien es als nicht unhöflich zu empfinden, zu starren, denn er gab in diesem Blickduell keineswegs nach, wenn er dieses überhaupt registrierte. Wahrscheinlich konnte man von da unten nicht so viel sehen wie von Vlaindars Platz aus. Vlaindar behielt seine nichtssagende Miene bei. Ein kurzes Runzeln von Seiten Alans und der junge Mann drehte sich um, nachdem auch hier niemand Mentor werden wollte und verließ das Podium. Vlaindar folgte erst der Gestalt des Jungen und richtete dann seinen Blick auf den nächsten Novizen, immer noch über Alan nachdenkend. Palinor stieß ihm drucksend den Ellbogen in die Seite und die beiden schmunzelten im Gleichklang, bevor das jeweilige Lächeln so schnell verschwand, wie es aufgekommen war. ‘Irgendwie war das Bürschchen ja ganz niedlich‘, meinte Hairima zu ihm und Vlaindar wandte sich seiner Drachendame zu. ‘Vielleicht nicht niedlich aber interessant …' Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)